IV Kampfgeist

Sieben Tage nach dem Treffen der Kommandanten wartete Bolitho immer noch ungeduldig auf neue Nachrichten. Ihm kam es so vor, als hätte die Welt jenseits von Styx ihn vergessen oder schon abgeschrieben.

Die beiden anderen Fregatten hatte er absichtlich nach Belle Ile geschickt, damit sie die Insel und ihre Zufahrten für alle sichtbar kontrollierten. So mußten die Franzosen glauben, die Blockade sei in vollem Umfang aufrechterhalten. Und während Styx im Süden auf einem Dreieckskurs mit jeweils zwanzig Meilen langen Seiten langsam hin und her kreuzte, hielt die kleine Brigg Verbindung zwischen den drei Schiffen.

Die Untätigkeit machte Bolitho fast verrückt; nur mit Mühe hielt er sich zurück, wenn er bei jedem Ruf aus dem Ausguck oder bei jeder ungewohnten Unruhe draußen an Deck stürzen wollte. Auch das Wetter war keine große Hilfe. Der Wind war abgeflaut und nur noch eine schwache Brise, die kaum die blaugraue Oberfläche des Golfs kräuselte. Die Mannschaft hatte sich an die Gegenwart ihres Admirals gewöhnt und wurde allmählich nachlässig und schnodderig. Es gab gelegentlich Seeleute, die über dem Spleißen und Betakeln, dem Polieren und Nähen sich ein schnelles Nickerchen erlaubten, und manche enterten nur auf, um oben an einem sicheren Platz ungestörter schlafen zu können.

Bolitho war es nicht entgangen, daß weder Neale noch Browne die ausbleibende Unterstützung erwähnten, die sie aus dem Süden oder dem Norden längst hätte erreichen sollen. Beauchamps Befehle hätten inzwischen in Aktionen umgesetzt werden müssen, selbst aus Gibraltar hätten die versprochenen Mörserboote längst eintreffen sollen, deren Hilfe er so dringend benötigte. Wenn Browne schwieg, dann bedeutete das, daß er und nicht sein Konteradmiral recht behielt: Sie hatten keine Unterstützung mehr zu erwarten, denn Beauchamps sorgfältig ausgearbeiteter Einsatzplan blieb offenbar absichtlich in irgendeiner Stahlkassette der Admiralität liegen, bis man ihn unbeschadet vergessen konnte.

Allday betrat die Kajüte und nahm Bolithos Säbel von der Wand, um ihn wie jeden Tag zu polieren. Zögernd blieb er stehen, während seine mächtige Gestalt leicht mit den Bewegungen des Schiffes hin und her schwankte.

«Die Brigg könnte auch aufgehalten worden sein, Sir«, sagte er schließlich.»Sie hat den Wind von vorn, und es braucht Zeit, durch den Kanal zu kreuzen. Ich weiß noch, als wir…»

Bolitho schüttelte den Kopf.»Jetzt nicht mehr. Ich weiß, du meinst es gut, aber sie hatte viele Tage Zeitreserve, selbst bei schlechtestem Wetter. Diese Kuriere verstehen ihr Handwerk.»

Allday seufzte.»Trotzdem brauchen Sie sich keine Vorwürfe zu machen, Sir. «Er wartete ab, ob Bolitho ihm diese Bemerkung verübeln würde.»Seit Tagen kommen Sie mir vor wie ein Falke an der Fessel, der fliegen will, aber nicht kann.»

Bolitho ließ sich auf die Bank unter den Heckfenstern sinken. Seltsam, daß er mit seinem vierschrötigen Bootsführer über so vieles sprechen konnte, was er Neale oder seinen anderen Offizieren gegenüber niemals auch nur angedeutet hätte. Es hätte auf sie gewirkt wie Schwäche oder Unsicherheit — beides Eigenschaften, die den Ausschlag gaben, wenn die Luft voll Eisen war und Mut so nötig wie nie zuvor.

Vielleicht hatte Allday ja recht gehabt, und dieser neue Auftrag war zu früh gekommen nach der kräftezehrenden Ostsee. Schließlich mußte Allday das besser wissen als alle anderen, denn er hatte ihn auf seinen Armen davongetragen, als seine Wunde wieder aufgebrochen und er fast daran gestorben war.

Also fragte er nur:»Und was tut dein gefesselter Falke, Allday?»

Allday hob den alten Säbel vor die Augen und ließ die Sonnenreflexe darauf spielen, bis die Schneide wie ein Goldfaden glänzte.

«Er wartet auf den richtigen Moment, Sir. Wenn sein Los die Freiheit ist, dann wird er sie auch irgendwann gewinnen.»

Beide blickten zur Decke, überrascht vom Ruf des Ausgucks, dessen Stimme durch das offene Skylight zu ihnen herunterdrang:»An Deck! Segel Backbord achteraus!»

Schritte polterten über die Decksplanken, und eine andere Stimme bellte:»Verständigen Sie den Kommandanten, Mr. Man-ning! Mr. Kilburne, entern Sie auf, aber blitzartig!»

Bolitho und Allday wechselten Blicke. Jetzt kam das, was Bo-litho am meisten haßte: warten, untätig bleiben, statt an Deck zu stürzen zu den anderen und sich selbst ein Bild zu machen. Aber nein, der Kommandant war Neale.

Stimmen erklangen auf dem Achterdeck, blieben jetzt aber unverständlich. Entweder hatte Neales Erscheinen die Lautstärke gedämpft, oder es lag an der Tatsache, daß das Skylight über der Achterkajüte zugeklappt war.

Allday murmelte:»Hol sie der Teufel — die brauchen eine Ewigkeit.»

Doch als dann endlich ein atemloser Midshipman hereinstürzte und mit besten Empfehlungen des Kommandanten meldete, daß ein Segel von Backbord achteraus zu ihnen aufschloß, fand er seinen Admiral gelassen und seelenruhig auf der Heckbank sitzen und seinem ganz aufs Säbelpolieren konzentrierten Bootsführer zuschauen.

Oben auf dem Achterdeck brannte die Sonne und warf den Schatten des Riggs wie ein riesiges Gitternetz auf die weißgescheuerten Decksplanken.

Bolitho trat zu Neale an die Finknetze. Wie alle anderen Offiziere hatte er seinen schweren Rock abgelegt und trug nur Hemd und Breeches, weshalb er sich in nichts von seinen Untergebenen abhob. Wenn irgendeiner von den rund zweihundertvierzig Männern an Bord den Admiral nach zwei Wochen immer noch nicht erkannte, dachte Bolitho, dann war ihm eben nicht mehr zu helfen.

Neale berichtete:»Der Ausguck rief etwas von zwei Schiffen, Sir. Aber bei dem Hitzeflimmern läßt es sich noch nicht genau sagen.»

Bolitho nickte; vor lauter Ungeduld war ihm entgangen, daß er den Kommandanten fast grimmig angefunkelt hatte.

«An Deck! Es ist eine Brigg, Sir!«Nach einer Pause setzte Kilburne hinzu:»Und — und noch eine Brigg, Sir!»

Der Master brummte mißbilligend:»Da soll doch der Teufel dreinfahren!»

Neale legte die Hände trichterförmig um den Mund und rief nach oben:»Was soll das heißen, verdammt noch mal — Sir?»

Der Zweite Offizier, der die Wache hatte, wollte in die Bresche springen.»Ich könnte aufentern, Sir, und.»

«Sie bleiben hier!«Neale fuhr zu seinem Ersten Offizier herum.»Mr. Pickthorn, da ich offenbar von lauter Blinden und Krüppeln umgeben bin, muß ich Sie bitten, oben nach dem Rechten zu sehen.»

Pickthorn ve rbiß sich ein Grinsen und war schon halbwegs die Webeleinen aufgeentert, ehe Neale sein seelisches Gleichgewicht wiedergefunden hatte.

Die Luft vibrierte unter den Schallwellen eines entfernten Kanonenschusses, und Bolitho mußte sich nach Lee abwenden, um seine Ungeduld zu verbergen.

«Deck! Es ist die Rapid, Sir! Sie verfolgt ein anderes kleines Schiff, vermutlich eine Yawl.»

Neale spähte zum Toppstander hinauf und zu den lustlos killenden Segeln.»Hol's der Henker! Wir haben keine Chance, sie einzuholen!»

Scharf fragte Bolitho:»Welcher Kurs zur Ile d'Yeu?«Neale dachte offenbar immer noch an die unerreichbare Prise, deshalb beantwortete der Master Bolithos Frage.»Genau Ost,

Sir.»

Bolitho kam quer übers Deck heran, wobei er die neugierigen Blicke der Umstehenden völlig ignorierte.

«Wenden Sie das Schiff, Kapitän Neale, und kreuzen Sie nach Luv auf!«befahl er.»Wenn Sie auf Signaldistanz an Rapid heran sind, befehlen Sie ihr, die Verfolgung abzubrechen.»

Pickhorn landete mit einem Poltern an Deck. Heiser berichtete er:»Die Yawl läuft um ihr Leben, Sir. Aber Rapid kommt schnell auf!«Er erntete nur gespanntes Schweigen.»Sir?»

«Signal an Rapid: Verfolgung abbrechen! Dann alle Mann an Deck und klar zur Wende. «Neale warf Bolitho einen schnellen Blick zu.»Die Verfolgung übernehmen jetzt wir.»

Pickthorn konnte ihn nur anstarren.»Verstehe«, sagte er dann.»Aye, Sir, sofort!»

Die Pfeifen schrillten, und innerhalb von Minuten warfen sich die Männer in die Brassen, holten die Rahen herum, bis die Segel fast back standen. In wildem Aufruhr schlug und knallte die Leinwand, die von ihren Spieren gerissen worden wäre, hätte der Wind zugelegt.

Der zweite Midshipman der Wache schob sein Teleskop zusammen und meldete: «Rapid hat bestätigt, Sir.»

Er brauchte nicht hinzuzufügen, was ohnehin alle Umstehenden dachten: Es war tabu für jedes Schiff, erst recht für eines, das unter der Flagge eines Konteradmirals segelte, einem anderen befreundeten Schiff die Prise abzujagen. Da Styx im Augenblick fast im Wind stand und mühsam gegenankreuzen mußte, konnte die flinke Yawl möglicherweise nun beiden Verfolgern entkommen. Das mußte abends in einem französischen Hafen ein ziemliches Hohngelächter geben.

«Nordnordwest, Sir!«rief der Master.»Voll und bei!»

Bolitho hätte auf den Hinweis verzichten können. Die Fregatte lag so stark über, das Rigg ächzte und stöhnte so laut unter der extremen Belastung, daß jedem klar war, sie segelten mit optimaler Geschwindigkeit.

Doch Bolitho verschloß sich dem und konzentrierte sich nur auf das ferne Bild der Segel in seiner Teleskoplinse. Für eine Yawl war sie groß, zumal sie jetzt auch den letzten Fetzen Tuch gesetzt hatte, um mit dem Wind zu entkommen. Ob nun Kurier- oder Schmugglerschiff, sie mußte sich in Sicherheit bringen, und die Ile d'Yeu war nun einmal der nächste Hafen, den sie anlaufen konnte.

Säuerlich sagte Neale:»Wenn ich wenden lasse und auf Steuerbordbug gehe, werden wir schneller und können sie vielleicht noch abfangen. Bis zur Dunkelheit bleiben uns noch sechs Stunden. «Aber er konnte seine Enttäuschung und Verwirrung nicht verbergen.

«Bleiben Sie auf diesem Bug, Kapitän Neale. Im Gegenteil, ich muß Sie gleich bitten, noch mehr anzuluven. Segeln Sie sich fest.»

«Aber. «Neale fand keine Worte mehr. Einem anderen die Prise abzujagen und sie dann absichtlich entkommen zu lassen — das ging über sein Fassungsvermögen.

Bolitho sah ihn ruhig an.»Auf dieser Yawl soll man glauben, daß wir uns festgesegelt haben.»

Neale nickte ruckartig.»Aye, Sir. Mr. Pickthorn! Drehen Sie das Schiff in den Wind! Klar bei Halsen und Schoten!«Heiser murmelte er wie zu sich selbst:»Fehlt nicht viel, und ich glaube es selber.»

Als das Ruder noch stärker nach Luv gelegt wurde, bäumte Styx sich auf wie ein Pferd, das mitten im Sprung von einer Kugel getroffen wurde. Unter Pickthorns Befehlen und den Flüchen und Schlägen der nervösen Decksoffiziere manövrierte die Mannschaft das Schiff in ein tiefes Wellental, wo es sich mit killenden Segeln festfuhr wie ein voll Wasser geschlagener Kutter.

Ein Toppsgast fiel von den Webeleinen, strampelte wild über dem schäumenden Wasser, ehe er von seinen Kameraden an Bord und in Sicherheit gezerrt werden konnte. Aber keine Spiere brach, keine Segelnaht platzte, als die unglückselige Fregatte, scheinbar außer Kontrolle geraten, wild in den Seen rollte.

Wieder hob Bolitho sein Fernrohr und suchte die hellbraunen Segel der Yawl. Sie stand jetzt weit an Steuerbord, ihr Rumpf verschwand fast schon hinter der Kimm.

«Noch einen Augenblick, Kapitän Neale.»

Bolitho reichte Allday sein Teleskop. Falls der seinen Admiral für meschugge hielt, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken.

Endlich sagte Bolitho:»Bringen Sie sie wieder auf Kurs und nehmen Sie erneut die Verfolgung auf. Aber setzen Sie nicht die Bramsegel. Ich will sie zwar jagen, aber wenn Sie sie einholen, dann sollen Sie an Ihrem Prisengeld ersticken, so wahr ich hier stehe!»

Neale ging endlich ein Licht auf; voll verblüffter Bewunderung starrte er Bolitho an.

«Wir folgen dem Franzmann bis zur Insel, Sir?»

Bolitho sah zu, wie die verwirrten Seeleute systematisch wieder an die Brassen und Schoten gescheucht wurden.»Ja, bis zur Insel«, nickte er.

Während Neale davoneilte, um den Befehl an seine Offiziere weiterzugeben, wandte Bolitho sich zu Allday um.»Na?«fragte er.

Allday fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund.»Tja, Sir, ich schätze, der Falke ist frei, so wahr mir Gott helfe!»

«An Deck! Land voraus! Land in Lee voraus!»

Während die Offiziere und Steuerleute zur Querreling drängten, um ihre Teleskope auf das ferne Land auszurichten, bemühte Bo-litho sich, seine wachsende Erregung zu beherrschen.

Besorgt bemerkte Neale:»Der Wind läßt nach, Sir.»

Bolitho blickte zu den Marssegeln auf, die sich widerstrebend mit Wind füllten und schnell wieder lose flappten. Die Jagd dauerte jetzt schon zwei Stunden, und die Fregatte hatte ihr Opfer immer in gerade Linie vor ihrem Bugspriet gehalten. Es jetzt, da schon Land in Sicht war, wegen des abflauenden Windes zu verlieren, wäre eine nicht zu überbietende Dummheit gewesen.

«Also setzen Sie schon die Bramsegel. Notfalls auch die Leesegel, wenn Sie es für richtig halten.»

Damit wandte Bolitho sich ab, während Neale seinen Ersten Offizier heranwinkte und nach achtern zum Ruderrad trat.

Bolitho nickte dem Master zu.»Was wissen Sie über das Fahrwasser zwischen der Ile d'Yeu und dem Festland, Mr. Bundy?»

Der Master war ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem Gesicht wie aus rissigem Leder. Aus dem alten Ben Grubb, Master auf der Benbow, hätte man viere seinesgleichen machen können, überlegte Bolitho.

Aber seine Antwort kam völlig selbstsicher.»Sieht schlecht aus, Sir. Etwa zehn Meilen breit, aber schlechter Grund, und bei Niedrigwasser kaum tiefer als drei Faden.«[10] Er starrte an den killenden Segeln vorbei nach vorn, als sähe er die Insel bereits vor sich.»Nur gut als Ankerplatz für eine Flottille leichter Fahrzeuge, schätze ich. «Nachdenklich rieb er sich das Kinn.»Auf meiner Karte ist die ganze Insel nicht länger als fünf Meilen.«»Danke, Mr. Bundy.»

Bolitho wandte sich ab, um zu Neale zurückzukehren, deshalb entgingen ihm die Erleichterung und Genugtuung in Bundys Gesicht. Der Admiral hatte ihn nicht nur um seine Meinung gefragt, er hatte es auch so getan, daß seine Steuerleute und Rudergänger es hören mußten.

«Ich kann sie gerade so erkennen. «Neale wartete, bis Bolitho ein Teleskop ans Auge gesetzt hatte.»Aber im Dunst verschwimmen die Konturen.»

Mit angehaltenem Atem wartete Bolitho darauf, daß das Deck wieder eine Aufwärtsbewegung machte. Dann sah er ihn, den Flek-ken dunkleres Blau vor dem helleren Blau der See: die Insel, wo das spanische Schiff seine Ladung Bausteine gelöscht hatte.

Die Yawl steuerte augenblicklich zwar die Nordspitze der Insel an; sobald sie diese aber gerundet hatte, konnte sie in ihrem Schutz auch dichter unter Land gehen und an der Küste entlang nach Süden segeln — bis Nantes. Bei der herrschenden Windrichtung hatte ihr Kapitän auf diesem Kurs jeden Vorteil, sollten die Verfolger ihm in letzter Minute den Weg abzuschneiden versuchen oder von einer weiter südlich patrouillierenden Einheit Verstärkung erhalten. Bei dieser Überlegung konnte Bolitho ein bitteres Lächeln nicht unterdrücken: Er hätte jede Wette gehalten, daß sich zweihundert Meilen im Umkreis kein anderes britisches Kriegsschiff befand.

Er ließ sein Fernrohr sinken und beobachtete, wie die Toppsgasten auf den oberen Rahen auslegten, um die Bramsegel zu setzen und vorzuschoten, auch wenn sie sich in der leichten warmen Brise nur lustlos füllten. Noch blieben ihnen vier Stunden Tageslicht, das mußte reichen. Wenn sie bis zum nächsten Morgen warten wollten, hätten sie ebensogut selbst die nächste französische Garnison alarmieren können.

Bestimmt folgten viele Blicke der eiligen Yawl und der drohenden Segelpyramide, die sie jagte. Ein reitender Boote mußte schon zum Kommandeur der Garnison unterwegs sein. Eine Festlandbatterie würde sich bereit machen, dem toll gewordenen englischen Kommandanten, der für eine magere Beute so viel riskierte, ein paar Schüsse vor den Bug zu setzen.

Wie beiläufig erkundigte sich Neale:»Was haben Sie als nächstes vor, Sir?»

Vielleicht deutete er Bolithos Schweigen als Unsicherheit, deshalb schlug er vor:»Wir könnten Kurs ändern und den Wind somit besser ausnützen. Wenn wir die Südseite der Insel ansteuern, gelingt es uns vielleicht, die Franzosen abzufangen, sobald sie aus dem Sund zu entkommen versuchen.»

«Ja. Aber wenn die Yawl gar nicht weiter nach Süden will?»

Neale zuckte die Schultern.»Dann entkommt sie uns.»

Wieder hob Bolitho sein Fernrohr und richtete es auf die ferne Insel.»Sie ist uns bereits entkommen, Kapitän Neale.»

Neale starrte ihn an.»Demnach wollen Sie so nahe wie möglich an die Insel heran, um ihre Verteidigungsanlagen zu erkunden?»

Bolitho lächelte.»Wir werden noch sehr viel mehr tun: nämlich in den Sund selbst einfahren. Da wir dort günstigen Wind haben, sollten wir die Franzosen ordentlich überraschen können.»

Neale mußte schlucken.»Aye, Sir. Aber Mr. Bundy sagt.»

«Ich weiß: drei Faden bei Ebbe. Also müssen wir uns besonders geschickt anstellen. «Lächelnd griff er nach Neales Arm und war insgeheim dankbar, daß es ihm offenbar gelungen war, seine eigene Besorgnis vor dem jungen Kommandanten zu verbergen.»Mein Vertrauen in Sie ist unbegrenzt.»

Dann wandte Bolitho sich zum Niedergang.»Allday, bring mir etwas Kühles aus unserem Weinvorrat. Ich muß nachdenken. «Mit einem Nicken verabschiedete er sich von den umstehenden Offizieren. Allday folgte Bolitho in die Achterkajüte, während das Deck über ihnen unter dem Getrampel der plötzlich aufgescheuchten Seeleute erzitterte.

«Bei Gott, Sir«, grinste er bewundernd,»die haben Sie aber auf Trab gebracht!»

Bolitho schritt zu den Heckfenstern und beugte sich hinaus, um einen Blick auf die Wirbel und Strudel zu werfen, mit denen das Wasser vom Ruderblatt abfloß. Über sich hörte er gedämpft Kommandorufe und das Quietschen der Lafetten, als weiter vorn die Buggeschütze für die ersten Schüsse des Treffens ausgefahren wurden.

Wie sehr hätte er sich gewünscht, an Deck bleiben und an allem teilhaben zu können! Aber er mußte sich damit abfinden, daß Neale als sein verlängerter Arm fungierte. Ohne den großen Zusammenhang zu kennen, hatte er Bolithos Anweisungen akzeptiert und würde sie in die Tat umsetzen — komme, was wolle. Zum Beispiel konnte er binnen weniger Stunden gefallen sein oder schreiend auf dem Tisch des Schiffsarztes liegen; aus seinem geliebten Schiff mochte ein entmastetes Wrack geworden sein, oder es konnte mit hoher Fahrt auflaufen, wenn die Seekarte trog. Und das alles, weil der Admiral es so befohlen hatte.

Bolitho sagte:»Bitte Mr. Browne auf ein Glas zu mir, Allday.»

Als die Tür sich hinter seinem Bootsführer schloß, begann sich Bolitho allmählich zu entspannen. Browne war anders als alle Menschen seiner Umgebung, vielleicht schaffte er es, ihn von dem Gedanken an einen drohenden Mißerfolg eine Weile abzulenken.

Als Bolitho aufs Achterdeck zurückkehrte, war die Insel schon sehr viel größer geworden und lag jetzt an Steuerbord voraus, langgestreckt wie ein rundrückiges Seeungeheuer.

Neale berichtete:»Wir überholen sie, Sir. «Er machte eine Pause, um Bolithos Reaktion abzuwarten.»Aber sie steht schon fast auf der Höhe des Vorlands.»

Bolitho studierte die hügelige Insel, die weißen Grundseen über einem Riff und ein Eiland, das wie ein gekalbter Eisberg vor der Hauptinsel lag. Die Yawl hielt sich so dicht an der Landzunge, daß es aussah, als wolle sie gleich aufs trockene Land klettern.

Scharf befahl Neale:»Einen Strich höher, Mr. Bundy!»

«Aye, Sir. Ost zu Nord liegt an.»

Bolitho schwenkte sein Fernrohr so vorsichtig, daß er darin den killenden Klüver einfing und zwei Seeleute auf der Back, die in der Vergrößerung riesig wirkten. Danach einige niedrige Gebäude unten am Ufer der Insel, wahrscheinlich mehr auf der dem Festland zugekehrten Seite. Dann fuhr er auf, weil er auf dem Rücken des Vorlandes graue Mauern entdeckt hatte. Eine Batterie? Während er noch hinüberstarrte, leuchtete ein winziger Farbfleck in der Sonne auf wie ein bunter Schmetterling. Der Fahnenmast war noch unsichtbar, aber über der Mauer wehte zweifellos die Trikolore.

Er befahl:»Klar Schiff zum Gefecht, Kapitän Neale. Und bitte sagen Sie Ihrem Stückmeister, er soll der Yawl dort ein paar Kugeln hinterherjagen.»

Als die Trommelbuben ihre Stöcke tanzen ließen und die Bootsmannsmaaten schrien:»Alle Mann auf Stationen — klar Schiff zum Gefecht«, da spürte Bolitho die plötzliche Erregung wie eine Flutwe lle über die Decks rollen.

Die Bugkanone an Steuerbord feuerte ihren ersten dröhnenden Schuß ab und krachte auf ihrer Lafette binnenbords, während die Bedienungsmannschaft schon wieder vorsprang, um auszuwischen und nachzuladen. Mittlerweile sah Bolitho die Kugel in direkter Verlängerung zur Yawl einschlagen, wobei sie eine Gischtfontäne aufwarf, als hätte dort ein Wal geblasen.

Die andere Bugkanone spie Feuer und Rauch, und eine zweite Wasserfontäne löste bei den Toppsgasten und allen an Deck, die sie sehen konnten, erneutes Jubelgeschrei aus.

Neale blieb gelassen.»Keine Chance, daß wir einen Treffer landen, nicht auf diese Distanz.»

Der Erste Offizier eilte herbei und griff grüßend zum Hut.»Schiff ist gefechtsklar, Sir.»

Demonstrativ zog Neale seine Taschenuhr und studierte sie gründlich. Dann sagte er trocken:»Zwölf Minuten, Mr. Pickthorn. Sie enttäuschen mich. Nächstesmal bitte zehn Minuten oder weniger!«Bolitho mußte sich abwenden. Genau das gleiche hatte er selbst gesagt, als er Kommandant der Phalarope und Neale sein jüngster Midshipman gewesen war.

Die Bugkanonen feuerten weiter hinter der Yawl her, und obwohl die Schüsse eine Kabellänge zu kurz fielen, begriff der Franzose nicht sein Glück, sondern begann, wie wild Zickzack zu laufen, um der nächsten Kugel zu entgehen.

Neale grinste.»Beachtlich, Sir. Wenn er so weitermacht, kriegen wir ihn vielleicht doch noch.»

Rauch stieg von der grauen Mauer auf dem Vorland in die Höhe, und nach scheinbar endloser Zeit spritzten weit vor der Fregatte Fontänen in die Höhe. Harmlos.

Bolitho lauschte den Schüssen der versteckten Batterie nach. Nur eine Kostprobe, eine Warnung war das gewesen.

«Luven Sie jetzt an, Kapitän Neale.»

Neale nickte, in Gedanken bei den nächsten zehn oder zwölf Problemen, die ihm auf den Nägeln brannten.»Vier Strich nach Backbord, Mr. Pickthorn. Neuer Kurs Nordost zu Nord.»

«Bemannt die Brassen!»

Als das große Doppelrad langsam nach Lee gedreht wurde, reagierte Styx gehorsam auf Segel- und Ruderdruck. Die Insel schien nach Steuerbord davonzugleiten.

Wieder hob Bolitho das Teleskop. An Steuerbord voraus öffnete sich jetzt die Einfahrt zum Sund. Weit entfernt, nur ein dunklerer Schatten im Dunst, ließ sich dahinter das Festland erahnen, die Küste Frankreichs.

Die Inselbatterie hatte das Feuer eingestellt, und während die Yawl weiterhin an der Nordseite der Insel entlang das Weite suchte, drehte Styx zielstrebig ab, als habe sie die Verfolgung aufgegeben.

Bolitho trat an die Querreling und musterte das Batteriedeck. Unter beiden Seitendecks sah er die Stückmannschaften sich hinter den noch geschlossenen Pforten ducken, ihr Handwerkszeug in Reichweite neben sich. Jeder Stückmeister war dort ein kleiner König, jede Kanone ein Reich für sich.

Die Decks waren mit Sand bestreut worden; hoch über den eifrig arbeitenden Seeleuten und Marinesoldaten war jede Rah mit Kettenschlingen gesichert, und etwas tiefer waren Netze aufgespannt worden, um die Mannschaft vor herabfallenden Wrackteilen zu schützen.

Neale sah zu ihm herüber.»Noch fünfzehn Minuten, Sir. «Zögernd fügte er hinzu:»Ich habe meine zwei besten Lotgasten in die Ketten vorn geschickt. Wir haben schon ablaufendes Wasser, fürchte ich.»

Bolitho nickte. Neale hatte an alles gedacht. Zu Allday sagte er:»Hol meinen Rock. «Unten an den nächststehenden Kanonen starrten einige Männer zu ihm auf, als wollten sie aus seinem Benehmen ablesen, was dieser Tag ihnen bringen würde.

Allday hielt ihm den Rock hin, und er schlüpfte hinein. Als er

Neale einen Seufzer ausstoßen hörte, sagte er:»Keine Sorge, heute wird es keine Scharfschützen geben.»

Der Admiralsrock tat sofort seine Wirkung. Einige Seeleute riefen hurra, und die Seesoldaten, die im Großmars die Drehbassen bemannten, schwenkten ihre Hüte, als feierten sie ein besonderes Ereignis.

Leise sagte Neale:»Sie danken es Ihnen, Sir. Solche Beweise brauchen sie.«»Und Sie? Was brauchen Sie?»

Neales Gesicht überzog ein breites Grinsen, das ebenso spontan hervorbrach wie eben noch das Jubelgeschrei.

«Ihre Flagge weht auf meinem Schiff, Sir. Das erfüllt alle an Bord mit Stolz, ganz besonders aber mich. «Sein Blick blieb auf Bolithos glänzenden Epauletten haften.»Eine Menge Leute würden heute gern mit mir tauschen.»

Bolitho schaute an ihm vorbei ins schäumende Wasser.»Dann also los. «Er sah Browne herzueilen, der seine Seekrankheit offenbar völlig überwunden hatte.»Sind Sie soweit, Kapitän Neale?»

Neale legte beide Hände um den Mund und rief:»Klar zur Wende, Mr. Pickthorn! Kurs Südost!»

Als die Rahen herumschwangen und der Rumpf unter dem stärkeren Winddruck tiefer eintauchte, wandte Styx den Bug gehorsam nach Steuerbord, bis er auf die Mitte der Einfahrt zeigte. Von dem Manöver überrascht, zeigte die Yawl sich zum erstenmal in ganzer Länge, wie in der Bewegung erstarrt und vom Klüverbaum der Fregatte aufgespießt.

«Südost liegt an, Sir!»

«Setzen Sie die Royals, Mr. Pickthorn. Dann lassen Sie laden und ausrennen!»

Bolitho stand dicht an der Reling und sah die Insel wieder von Steuerbord herangleiten; über ihr hing vom Wind zerfaserter Rauch: brennendes Unkraut oder eine Feueresse, in der schon Kugeln erhitzt wurden? Styx näherte sich dem Sund mit sehr schneller Fahrt, weil Royals und Bramsegel jetzt voll zogen. Auf ein Pfeifensignal hoben sich zu beiden Seiten die Klappen über den Stückpforten. Ein zweites Signal, und die Kanonen wurden ausgefahren. Die schwarzen Rohre schimmerten gefährlich wie Hauer im Licht der schon tiefstehenden Sonne.

Trotz des warmen Uniformrocks fröstelte Bolitho. Falls die Franzosen über ihre Absichten bisher noch Zweifel gehegt hatten — jetzt mußten sie klarsehen.

Ohne sich nach ihnen umzuwenden, wußte er Allday und Browne dicht hinter sich und Neale in seiner Nähe. Die beiden anderen Offiziere der Fregatte gingen hinter den Kanonen unten langsam auf und ab, ihre Säbel wie Spazierstöcke geschultert. Das waren die Männer, die das Volk, das sie verteidigten, nie so zu Gesicht bekam. In der Admiralität mochten Strategien und Einsatzpläne entwickelt werden — in die Tat umgesetzt wurden sie von Männern und Knaben wie diesen mit ihrem Kampfgeist. Bolitho lächelte in sich hinein, weil ihm einer seiner früheren Kommandanten einfiel, der diesen Gedanken schon vor ihm formuliert hatte.

Einige der Umstehenden sahen des Admirals Lächeln und wußten, daß es ihnen galt. So wie dieser Tag ihnen gehörte.

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