Leutnant Searle stand auf der langen Leiter und spähte zu dem komplizierten Arrangement aus Flaschenzügen und Blöcken auf, das vom Dach herabhing. Offenbar gehörte es zu der Metallstruktur oben auf dem Turm, dem Semaphor. Er rief nach unten:»Kein Wunder, Oliver, daß sie für diese Arbeit Seeleute brauchen. Keine Landratte könnte diese Wulings jemals entwirren. «Er tätschelte die feuchten Mauersteine und verzog das Gesicht.»Wir brauchen eine mordsgroße Sprengladung, wenn wir den ganzen Turm umlegen wollen. «Browne starrte zu ihm hoch.»Den ganzen Turm?»
Searle winkte schon den einen seiner beiden Sprengmeister heran.»Hier hinauf, Jones! Aber ein bißchen schnell, Mann!«Zu Browne gewandt fuhr er fort:»Diese Kirche hat Mauern, so dick wie eine Festung. Was glauben Sie, wie lange die Franzosen brauchen würden, um neue Signalarme zu installieren?»
Searle sprang auf die Plattform und rief zu seinem Sprengmeister Jiinunter:»Pack die Ladung fest unter die Treppe an der Außenwand. Das sollte reichen. «Als der andere schwieg, fuhr er ihn an:»Oder nicht?»
Jones rieb sich das Kinn und warf einen schrägen Blick auf die Falltür über ihm.
«Ich schätze schon, Sir.»
Damit kletterte er wieder hinunter und besprach sich mit seinem Kameraden am Fuß der Leiter.
«Alberner Narr!«Searle stieß die Falltür auf.»Macht sich in die Hosen, bloß weil's eine Kirche ist! Man könnte meinen, wir hät-ten's plötzlich mit lauter Heiligen zu tun.»
Sowie Searle durch die Falltür nach oben verschwunden war, folgte ihm Browne ins Freie, wo ihn sofort ein eisiger Wind empfing.
Aber Searle kochte immer noch.»Die Kirche hat mehr Sünden begangen als alle Seeleute zusammen, wette ich.»
«Für einen so jungen Mann sind Sie sehr zynisch.»
Browne trat zu einer Schießscharte und starrte auf die See hinaus. Noch konnte er sie in der Dunkelheit nicht sehen, aber er roch ihren scharfen Salzgeruch; die Mauerkrone war dick besät mit Möwendung.
Hinter sich hörte er Searle leise auflachen.»Mein Vater ist Pastor — ich weiß Bescheid.»
Von unten drang das dumpfe Poltern herauf, mit dem ein Körper über Stufen geschleift wurde, und Browne erinnerte sich daran, daß der französische Seemann nicht einmal eine Waffe getragen hatte, als er von Cooper niedergemacht worden war. Dann fielen ihm die neugierigen Blicke der Franzosen ein, die die Straße gesäumt hatten, auf der sie als Gefangene abtransportiert worden waren. Warum hätten sie auch mit dem Schlimmsten rechnen sollen? Genausowenig würde ein Engländer im Norden oder Westen des Landes erwarten, plötzlich vor einem Franzosen zu stehen.
«Sir!»
«Nicht so laut!«Searle warf sich hin und spähte durch die Falltür hinunter.»Was ist los?«»Da kommt jemand!»
Browne lief schnell zu einer anderen Schießscharte, die über dem Eingang zum Turm liegen mußte, und spähte hinunter. Ein Pfad aus helleren Steinen führte auf die Tür zu, und noch während er hinsah, glitt eine Gestalt heran; gleich danach erklang ein metallisches Klopfen.
«Hölle und Teufel!«Searle hastete die Leiter hinunter.»Der kam schneller als gedacht!»
Browne folgte ihm zum oberen Ende der Steintreppe und hörte Searle unten schon kommandieren:»Scharr mit den Füßen, Mou-bray! Und du machst die Tür auf, wenn ich dir ein Zeichen gebe!»
Browne hielt sich an der Leiter fest und wagte kaum zu atmen. Nach der Dunkelheit auf dem Dach wirkte die Szene vor der Tür grell und dramatisch. Searles Breeches hoben sich sehr weiß von den alten Steinen der Mauer ab; neben ihm scharrte Moubray mit den Füßen, als schlurfe er auf die Tür zu. Dann drehte sich der Schlüssel knirschend im Schloß, und der Türflügel schwang langsam nach innen auf. Mit einem ungeduldigen Ausruf trat der Neuankömmling hastig ins windgeschützte Innere.
Dann ging alles blitzschnell, und doch kam es Browne so vor, als dehnten sich die Sekunden zu einer Ewigkeit. Der Fremde — ein französischer Matrose — stand erstarrt mit offenem Mund da und stierte den Halbkreis geduckter Figuren an, der ihn umgab. Searle hatte seinen Säbel gezogen, Jones hielt die Muskete, zum Zuschlagen bereit, hoch über seinen Kopf.
Plötzlich ein wirres Durcheinander: Mit einem Aufschrei fuhr der Franzose zur Tür herum, während Jones den Kolben seiner Muskete auf ihn niedersausen ließ. Aber keiner hatte an die Blutlache gedacht, die sich am Fuß der Treppe, wo der erste Matrose abgeschlachtet worden war, gesammelt hatte. Jones schrie entsetzt auf, als die Füße unter ihm wegrutschten; in weitem Bogen flog die Muskete aus seinen Fäusten, ein Schuß löste sich und knallte in dem engen Raum betäubend laut. Die Kugel traf Jones ins Gesicht und fuhr danach splitternd in die Steinmauer.
Searle brüllte:»Aufhalten den Mann, ihr Narren!»
Wie der Blitz stürzte Cooper die Außentreppe hinab, und gleich danach hörten sie draußen einen entsetzlichen Schrei, der aber sofort erstickt wurde.
Schweratmend kehrte Cooper in den Turm zurück, das blutige Entermesser noch in der Faust.»Es kommen mehr von den Kerls, Sir«, keuchte er.
Jones wälzte sich auf dem Boden, sein Blut mischte sich mit dem des französischen Matrosen.
Scharf befahl Browne:»Kümmert euch um ihn!«Und zu Searle gewandt, setzte er gepreßt hinzu:»Wir müssen hier schleunigst verschwinden!»
Searle hatte seine äußerliche Ruhe wiedergefunden.»Harding, mach weiter mit den Lunten«, befahl er.
Der Sprengmeister warf einen schiefen Blick auf seinen Kameraden.»Und das alles in einer Kirche«, murrte er heiser.»Es ist nicht recht, Sir.»
Searles rechte Hand hielt plötzlich eine Pistole.»Gib acht, wie du mit mir redest, du abergläubisches altes Weib«, sagte er kalt.»Ich sorge dafür, daß du einen gestreiften Rücken kriegst, wenn wir wieder an Bord sind, verlaß dich drauf!»
Von draußen hämmerten Fäuste und Fußtritte gegen die Tür, und Browne warnte:»Weg mit euch, Jungs. «Er hatte kaum ausgesprochen, da knallte ein Schuß, eine Kugel schlug in die dicken Türbohlen, und ein Chor von aufgeregten Stimmen brandete gegen die Außenmauern, als seien die Toten aus den Gräbern gekrochen und schrien nach Rache.
Cooper sagte:»Auf der anderen Seite ist noch eine Tür, Sir. Aber sehr eng. Wahrscheinlich nur 'ne Ladeluke für Holz und Kohle.»
«Das sehe ich mir an. Komm mit und zeig sie mir, Cooper. «Searle sah warnend zu Browne hinüber.»Behalten Sie die Leute im Auge, Oliver. Wenn sie glauben, daß es ihnen an den Kragen geht, werden sie davonrennen.»
Damit verschwand er zwischen zwei abgewetzten Säulen nach hinten, und Browne hörte nur noch seine Stiefel auf die Steine knallen wie bei der Parade.
Vor der Kirche war jetzt alles still; Browne konnte Harding unregelmäßig atmen hören, während dieser seine Lunten zurecht-schnitt, und ab und zu scharrte ein Fuß auf der Leiter über ihm, wo die Seeleute ihre Sprengladungen feststopften.
Flüsternd fragte Harding:»Was die da draußen jetzt wohl machen, Sir?«Er blickte dabei aber nicht hoch, sondern arbeitete weiter, und seine vernarbten, schwieligen Pranken bewegten sich so vorsichtig wie Chirurgenhände.
Browne schätzte, daß von den französischen Seeleuten oder Wachsoldaten einige davongeeilt waren, um die Kürassiere zu alarmieren. Die konnten nicht lange brauchen, bis sie eintrafen. Wieder dachte er an die schwarzen Federbüsche und die langen Säbel, an die Drohung, die von den Kürassieren ausging, selbst damals, als er sie nur von fern gesehen hatte.
Aber laut antwortete er:»Sie warten ab, was wir vorhaben. Schließlich können sie ja nicht wissen, wer wir sind oder woher wir kommen.»
Jones stöhnte wie ein Tier, und Browne kniete sich neben ihn. Die Musketenkugel hatte ein Auge weggerissen und einen daumengroßen Knochensplitter aus der Stirn. Der Seemann namens Nicholl drückte einen Fetzen auf die schreckliche Wunde, aber selbst in dem schwachen Licht konnte Browne erkennen, daß der
Sprengmeister im Sterben lag.
«Es ist aus mit mir«, flüsterte Jones.»Wie konnte mir das nur passieren?»
«Ruhen Sie sich aus, Jones. Bald geht's Ihnen besser.»
Cooper kehrte zurück und starrte wütend auf den Verwundeten hinab.»Hättest du nicht die Muskete fallen gelassen, du dummer Hund, wäre das nicht passiert.»
Auch Searle trat aus dem Dunkel heran, Knie und Brust mit Schmutz beschmiert.
«Es gibt wirklich noch eine andere Tür. Winzig klein und seit Monaten nicht mehr benützt. Wahrscheinlich seit die Marine die Kirche besetzt hat. «Er sah zu Harding hinüber.»Wie lange?»
«Ich habe sie auf eine halbe Stunde geschnitten, Sir.»
Searle sah Browne an und seufzte.»Haben Sie das gehört? Es ist hoffnungslos. «Scharf fuhr er Harding an:»Kürzen auf zehn Minuten, nicht mehr!»
Browne untersuchte seine Pistolen, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Searle hatte recht, wenn er die Lunten so kurz machen ließ. Sie waren hier, um den Semaphor zu zerstören, um die Signalkette zu unterbrechen, und wahrscheinlich hatten die meisten von ihnen nicht einmal damit gerechnet, bis hierher durchzukommen. Aber er bezweifelte, daß er selbst diesen Befehl mit so kühlem Nachdruck in der Stimme hätte geben können.
«Also, gehen wir. «Als sich zwei Männer bückten, um den stöhnenden Jones aufzuheben, fügte er noch hinzu:»Der kommt nicht weit.»
«Ein guter Kanonier«, meinte Searle.»Aber kaum ist er an Land. «Er vollendete den Satz nicht.
Mit dem unglücklichen Jones zwischen sich, ertasteten sie ihren Weg zur Hintertür. Als sie knarrend aufgedrückt wurde, rechnete Browne mit einem Kugelhagel, und als der schmächtige Cooper sich als erster ins Freie warf, erwartete er mit zusammengebissenen Zähnen, daß eine Säbelschneide auf seinen Nacken niederfahren würde. Aber nichts geschah. Searle murmelte:»Die Franzosen sind an Land auch nicht besser als Jones, scheint mir.»
«Moment mal. «Browne sah in den Turm zurück, wo Harding neben seinen Leuten wartete.»Ich mache das. Danach schlagen wir uns zum Strand durch. Man kann ja nie wissen.»
Als Searle sich durch die enge Tür nach draußen gequetscht hatte, fühlte Browne sich plötzlich sehr allein und unbehaglich. Mit hallenden Schritten ging er zu Harding zurück.»Fertig?«fragte er.
«Aye, Sir. «Der Kanonier schob eine Scheibe der Laterne hoch und hielt ein langsam brennendes Zündholz an die Flamme, das er in seiner Jackentasche mitgebracht hatte.»Man kann sich nie darauf verlassen, Sir. Nicht, wenn sie so kurz sind. «Er starrte in die Finsternis und fügte bitter hinzu:»Aber manche Leute wissen ja alles besser.»
Gebannt sah Browne zu, wie der Kanonier das Zündholz so lange im Kreis schwang, bis der Kopf zu glimmen begann. Dann sagte er:»Jetzt!»
Laut zischten die Lunten, und die Zündfunken schienen Browne mit wahnwitziger Geschwindigkeit nach oben zu prasseln.
Harding packte ihn am Ärmel.»Los jetzt, Sir! Nichts wie weg hier!»
Ohne sich um den Krach oder ihre Würde zu scheren, rannten sie polternd durch das Turmzimmer nach hinten. Fäuste zerrten sie an die kühle Nachtluft hinaus, und Browne fand sogar noch Zeit, zu den fahlen Sternen aufzublicken.
«Wir haben Hufschlag gehört!«keuchte Searle.
Browne richtete sich auf.»Mir nach!«rief er, denn für Vorsicht war es nun zu spät. Geduckt rannten sie davon und zerrten Jones mit sich, der schlaff wie ein Toter zwischen ihnen hing.
Vor sich erkannte Browne die Gefängnismauer. Scharf bog er ab und hörte die anderen hinter sich stolpern und fluchen. Sie machten eine Menge Lärm, aber das war nur gut, dachte er, denn so wurde der Hufschlag übertönt, der jetzt unaufhörlich näher kam.
Keuchend stieß er hervor:»Sie reiten zuerst zur Kirche!»
«Hoffentlich fliegen sie mit in die Luft!«schnaufte Searle.
Browne rutschte fast auf nassem Gras aus, als er den Kamm der Steilküste erreichte. Der Strand unten würde leer sein, aber wenigstens waren sie am Meer.
Der Hufschlag klapperte lauter, und Browne schloß daraus, daß die Kürassiere die Straße erreicht hatten.
«Warten Sie, Sir!«rief einer seiner Männer.»Der arme Jones stirbt!»
Keuchend und rasselnd wie alte Männer blieben sie stehen, aber Browne drängte:»Wir müssen weiter, das ist unsere einzige Chance!»
Der Kanonier namens Harding schüttelte den Kopf.»Zu spät, Sir. Die kriegen uns ja doch. Ich bleibe bei meinem Kumpel.»
Wütend funkelte Browne ihn an.»Sie hacken dich in Stücke, Mann, weißt du das nicht?»
Aber Harding blieb dabei.»Ich bin Soldat, Sir, und trage eine Uniform. Ich habe nur Befehle ausgeführt.»
Browne versuchte, wieder klaren Kopf zu bekommen, sich daran zu erinnern, wieviel Zeit seit dem Anbrennen der Lunten vergangen war.
Er wandte sich ab.»Kommt weiter, ihr anderen!»
Sie erreichten das Ende des Pfades und hörten das vertraute Rauschen der Brandung.
Als sie durch den Strandhafer auf den Sand hinaus stürzten, glaubte Browne hinter sich einen Schrei zu hören, aber er wurde sofort vom Donnern vieler Hufe übertönt: Die Kürassiere hatten Harding und seinen sterbenden Kameraden gefunden.
Sekunden später folgte die Explosion, betäubend, vernichtend — wie Hardings Rache an seinen Mördern. Die ganze Steilküste schien zu erbeben, kleine Steine prasselten wie Musketenkugeln auf sie herab.
«Lauf voraus, Cooper«, befahl Searle und griff haltsuchend nach Browne.»Wenn sie uns kriegen, gibt es kein Pardon für uns. Hoffentlich war's die Sache wert.»
Der Lichtschein über ihnen erlosch so schnell, wie er aufgezuckt war, und Browne roch Pulvergestank, den der Wind herantrug.
Cooper kam schon wieder zurück.»Ich habe ein Boot gefunden,
Sir«, meldete er.»Nur 'ne Jolle, aber besser als nichts.»
Searle grinste im Dunkeln.»Ich würde sogar schwimmen. Alles, nur nicht hier verrecken.»
Cooper und Nicholl verschwanden in Richtung des Bootes, und Browne mahnte:»Ich glaube, da oben treiben sich noch Kürassiere herum.»
Zwanzig Meter im Umkreis des Turms mußte die Explosion tödlich gewesen sein, überlegte er. Aber sowie es dämmerte, würden Hunderte von Soldaten ausschwärmen und weit und breit jede Höhle, jedes Loch absuchen. Ob irgendein Schiff ihres Geschwaders nahe genug gewesen war, um die Explosion zu bemerken?
Searle riß ihn aus seinen Gedanken.»Jetzt kriege ich wieder Luft, Oliver. Gehen Sie voran.»
An dem höckerförmigen Felsen vorbei hasteten sie zum Strand hinunter, wo jemand ein kleines Boot zwischen die Steine gezogen hatte. Es mochte einem Schmuggler oder Fischer gehören, aber darüber dachte Browne nicht lange nach. Zwar war es unwahrscheinlich, daß sie sich darin in Sicherheit bringen konnten, aber schon der Versuch war beser, als sich hier abschlachten zu lassen.
«Halte lä!»
Der Ruf aus dem Dunkeln überraschte sie wie ein Schuß.
Browne riß Searle neben sich zu Boden und deutete in die Richtung.»Dort, links oben!»
Wieder der Anruf: «Qui va lä?«Und diesmal folgte ihm ein metallisches Klicken.
Searle stieß einen Seufzer der Verzweiflung aus.»Zur Hölle mit ihnen allen!»
Füße trampelten und schlitterten über die Felsen, dann hörte Browne einen seiner Seeleute brüllen:»Das ist für dich, du Hund!»
Ein Mündungsblitz zuckte auf und beleuchtete grell Nicholls Gestalt mit erhobenem Entermesser, die aber, von der aus nächster Entfernung abgefeuerten Kugel getroffen, zusammenbrach und die Waffe klirrend fallen ließ.
Doch in dem kurzen Lichtschein hatte Browne drei oder vier französische Soldaten ausmachen können.
«Fertig?«Seine eigene Stimme klang ihm fremd.»Die oder wir!»
Searle nickte krampfhaft; die beiden Offiziere sprangen gleichzeitig auf und rannten mit gezückten Pistolen die letzten Meter zum Strand hinunter.
Noch mehr Rufe, in die sich schrille Schmerzensschreie mischten, als die Pistolen aufbellten und zwei Franzosen in den nassen Sand warfen, wo sie mit zuckenden Beinen liegenblieben.
Coopers drahtige Gestalt sprang vor, und wieder verriet ein erstickter Aufschrei, daß sein Entermesser ein neues Opfer gefunden hatte.
Der letzte Überlebende warf seine Muskete von sich und verschwand kreischend in der Dunkelheit.
Browne versuchte, seine Pistolen nachzuladen, doch seine Hände zitterten so stark, daß er es aufgeben mußte.
«Schiebt das Boot ins Wasser, Leute.»
Er sah, daß Cooper sich über einen Gefallenen beugte und seine Kleider durchwühlte; zweifellos wollte er ihn bestehlen. Er riß ihn an der Schulter zurück und stieß ihn zum Boot.»Hilf den anderen! Es wird gleich hell.»
Dann ließ er sich neben dem Toten auf ein Knie nieder und betrachtete ihn genauer. Es war der kleine Festungskommandant, der sie seinerzeit auf eben diesem Strand verabschiedet hatte. Also hatten sie sich doch noch einmal getroffen.
Searle rief herüber:»Was ist los?»
«Nichts. «Browne erhob sich mit weichen Knien.
Searle hatte keinerlei Probleme beim Nachladen seiner Pistolen.»Sie sind wirklich eine Offenbarung für mich, Oliver«, sagte er.
Glaubt er das im Ernst? fragte sich Browne. Er folgte Searle zu dem kleinen Boot hinunter, blieb aber noch einmal stehen, um sich nach der hingestreckten Gestalt umzusehen, an der schon die ersten Wellen der auflaufenden Flut leckten. Einen Augenblick kam er sich so schmutzig und betrogen vor, als ließe er einen toten
Freund und nicht einen Feind zurück.
Aber dann sprang er ins Boot und rief:»Pullt tüchtig, Jungs! Da draußen wartet ein ganzer Ozean auf uns!»
«Nordwest zu Nord liegt an, Sir. Voll und bei!»
Bolitho blickte zu dem protestierend schlagenden Großbramsegel auf. Unter diesen Bedingungen wäre ein schwerfälligeres Schiff wie die Benbow längst in Schwierigkeiten geraten.
Inch meinte:»Ich habe meine besten Ausguckleute nach oben geschickt, Sir.»
Bolitho beobachtete, wie das weiße Wasser am Leerumpf ablief, als sich die Fregatte mit ihren 64 Geschützen in einer Bö stärker überlegte. Schon konnte er das helle Muster der brechenden Wellenkämme erkennen, während vor kurzem noch völlige Finsternis geherrscht hatte. Auch einzelne Gesichter hoben sich bereits ab, und die Uniformröcke der Seesoldaten, die eben noch schwarz gewirkt hatten, waren allmählich wieder als rot erkennbar.
«Neun Faden!«Der Wind wehte den Ruf des Lotgasten nach achtern.
Bolitho warf M'Ewan, dem Master, einen kurzen Blick zu. Er schien die Ruhe selbst zu sein, obwohl neun Faden Wasser unter Odins Kiel nicht gerade viel waren.
Dann sah er zum erstenmal die Umrisse von Land an Steuerbord, gezackte, dunklere Schatten, die die Einfahrt zur Bucht markierten.
«Der Wind ist stetig, Sir. «Inch machte sich wohl so dicht unter Land Sorgen um die Sicherheit seines Schiffes.
Bolitho sah Stirling und den Signalfähnrich der Odin mit ihren Helfern warten, umgeben vom ganzen Sortiment ihrer Signalflaggen, damit sie für jeden Befehl gerüstet waren.
Ohne den Kopf zu wenden, wußte er auch, daß Allday nur wenige Schritte entfernt stand; die Arme über der Brust verschränkt, starrte er finster über den Bug hinaus, der sich immer weiter dem oberen Ende der Bucht entgegenarbeitete.
«Sieben Faden!»
Inch wurde es unbehaglich.»Mr. Graham!«rief er.»Fallen Sie zwei Strich ab! Neuer Kurs Nordwest zu Nord. «Graham hob seinen Schalltrichter. Lautlosigkeit war nicht mehr entscheidend, denn entweder befanden sich die Landungsfahrzeuge in der Bucht oder nicht.»Bemannt die Brassen, Mr. Finucane!»
Inch trat zum Kompaß und beobachtete die Scheibe, als das Schiff aufs Ruder ansprach und dann stetig den neuen Kurs hielt. Es war nur eine kleine Abweichung, aber sie brachte den Kiel aus dem Gefahrenbereich hinaus. Auch die Segel über ihren Köpfen reagierten auf die Änderung, schlugen kurz und füllten sich dann wieder, bis sie eisenhart gewölbt standen.
«Zehn Faden!»
Der Midshipman der Wache kaschierte sein erleichtertes Aufatmen mit einem Husten hinter vorgehaltener Hand, und ein paar Scharfschützen der Marineinfanterie warfen sich belustigte Blicke zu.
«An Deck! Ankerlichter in Luv voraus!»
Bolitho folgte Inch und seinem Ersten Offizier an die Steuerbordreling.
Bis zur Morgendämmerung konnte es nur noch Minuten dauern. Hätten sie ihren alten Plan beibehalten, wären sie jetzt noch meilenweit von der Bucht entfernt gewesen und hätten bei Tagesanbruch jedes französische Kriegsschiff oder Wachboot alarmiert.
Bolitho versuchte, den Gedanken an Browne und die Vorgänge bei der alten Kirche zu verdrängen; er konzentrierte sich ganz auf die schwindenden Schatten und die blinkenden Lichter, die den Ankerplatz der Invasionsflotte bezeichnen mußten.
In der Ferne dröhnte ein Kanonenschuß und widerhallte rollend in der engen Bucht: ein Alarmsignal, das aber zu spät kam. Es war schon in dem Augenblick zu spät gewesen, als sie sich an Remonds schlafendem Geschwader vorbeigeschlichen hatten.
Da der Wind fast genau dwars einkam und das Schiff dabei stark nach Backbord überlegte, bekamen die Rohre der Steuerbordbatterie für die ersten Breitseiten den höchstmöglichen Winkel — besser konnte man es sich gar nicht wünschen. Schon trieben die Stückmeister ihre Leute mit Fausthieben und Tritten an, bis sie fieberhaft mit Taljen und Handspaken arbeiteten.
Inch befahl:»Feuern in der Aufwärtsbewegung, Mr. Graham, aber erst, wenn ich's sage!»
«Großsegel wegnehmen!»
Als das mächtige Segel zu seiner Rah emporstieg und dort beschlagen wurde, mußte Bolitho an eine Bühne denken, vor der sich der Vorhang hob. Nun war auch die Sonne aufgegangen und tastete vom Land her mit ihren ersten Strahlen nach ihnen, während Morgennebel und Holzrauch wie tiefhängende Wolken dicht über das Wasser drifteten.
Vor ihnen lagen die verankerten Schiffe der Invasionsflotte.
Einen Augenblick glaubte Bolitho, das schwache Frühlicht spiele ihm einen Streich; er wollte seinen Augen nicht trauen. Während er etwa hundert Landungsfahrzeuge erwartet hatte, lagen vor ihm nun mindestens dreimal soviel, jeweils zu zweit oder zu dritt so verankert, daß sie den Knick der Bucht ausfüllten wie eine schwimmende Stadt.
In ihrer Nähe ankerte ein mittelgroßes Kriegsschiff; im Fernrohr erkannte Bolitho, daß es sich um ein verkürztes Linienschiff handelte. Er spähte so angestrengt hinüber, daß das Blut in seinen Augäpfeln zu pochen begann.
Aus der Ferne schienen die dicht an dicht gepackten Fahrzeuge friedlich dazuliegen, aber Bolitho konnte sich die Panik vorstellen, die von der zielstrebig heransegelnden Odin ausgelöst wurde. Das Unmögliche war eingetreten: Ein feindliches Schiff befand sich mitten unter ihnen!
«Phalarope ist in Position, Sir«, meldete Inch.
Bolitho schwenkte das Glas, bis er die Fregatte einfing, die ihre Karronaden schon ausgefahren hatte: eine lange schwarze Reihe häßlicher, kurzer, dicker Rohre. Er glaubte, Pascoe auf dem Achterdeck zu erkennen, war sich aber nicht sicher.
«Signal an Phalarope: > Achteraus vom Flaggschiff auf Position gehen!<»
Ohne sich von den bunten Flaggen ablenken zu lassen, die hastig zur Signalrah aufstiegen, konzentrierte er sich wieder ganz auf den Feind.
Von fern scholl ein klagender Trompetenstoß herüber, und kurz danach rannte das Wachschiff die Kanonen aus, machte aber keinen Versuch, den Anker zu lichten und Segel zu setzen.
Inch vergaß sich vor Erregung und packte Bolithos Arm; er deutete zum Land.
«Da sehen Sie, Sir! Der Turm!»
Bolitho stellte sein Teleskop auf den Turm ein, der wie ein einzelner Wachtposten auf dem Hügelkamm aufragte. Über seiner Mauerkrone fuchtelten wild die Metallarme des Semaphors — ein weithin sichtbarer Hilferuf.
Doch wenn es Browne gelungen war, den anschließenden Telegraphen auf dem Kirchturm zu zerstören, dann würde niemand diese Signale empfangen und an Remonds Geschwader weiterleiten können. Wenn der Alarm andererseits in die Gegenrichtung weitergegeben wurde, die ganze Strecke entlang bis Lorient, dann war es zu spät, die Invasionsflotte noch zu retten.
Odins Klüverbaum glitt am einen Ende der verankerten Reihen vorbei, die etwa eine halbe Meile voraus eine undurchdringliche Barriere bildeten.
Pulverdampf stieg vom Wachschiff auf, und dann verriet rollender Kanonendonner, daß die Franzosen nun hellwach geworden waren.
Einzelne Kugeln warfen querab von Odin hohe Gischtfontänen auf, bewirkten aber nichts weiter als Hohn- und Spottgeschrei in den Batteriedecks.
Graham wandte kein Auge von Inch, der seinen Säbel jetzt langsam über den Kopf hob.
«Bei der Aufwärtsbewegung! Zielt genau, Leute!»
Eine Bö griff in die oberen Segel von Odin und drückte das Schiff noch stärker nach Lee, so daß sein Kupferbeschlag sichtbar wurde. Darauf hatte Inch nur gewartet. Sein Säbel zischte nieder.
Ein Midshipman, der sich in die offene Luke zum unteren Batteriedeck geklemmt hatte, schrie:»Feuer!«riedeck geklemmt hatte, schrie:»Feuer!»
Aber seine schrille Stimme ging unter im betäubenden Aufbrüllen der Achtzehnpfünder des Hauptdecks.
Bolitho beobachtete die Einschläge, die zwischen und hinter den verankerten Landungsbooten lagen. Die Gischtsäulen sanken noch zusammen, da sandten auch die Zweiunddreißigpfünder des unteren Batteriedecks ihr tödliches Eisen donnernd hinüber. Zerrissene Planken und ganze Deckstücke wirbelten durch die Luft, und als sich der Pulverrauch hob, wurde erkennbar, daß einige der kleineren Fahrzeuge schon schwere Schlagseite hatten. Rettungsboote pullten verzweifelt von ihnen weg. Aber auf einigen der näher an Land verankerten Boote hatten die Mannschaften schon die Trossen gekappt und versuchten freizukommen.
«Ausrennen!»
Wieder knarrten und quietschten die Lafetten das ansteigende Deck hinauf und schoben die Rohre durch die Stückpforten ins Freie.
«Klar zum Einzelfeuer!»
Wieder fuhr Inchs Säbel nach unten.»Feuer!»
Diesmal lagen Pausen zwischen den einzelnen Abschüssen, denn jeder Stückmeister faßte erst genau sein Ziel auf, ehe er an der Abzugsleine riß.
Auf dem französischen Wachschiff entfalteten sich die Bramsegel, aber es hatte zwei abtreibende Landungsboote gerammt. Trotzdem feuerte es zurück und traf Odin zweimal dicht oberhalb der Wasserlinie. Rauch hüllte das Wachschiff ein, der nicht von seinen Kanonen stammte, und Bolitho erkannte, daß eines der driftenden Landungsfahrzeuge Feuer gefangen hatte. Der Brand mochte sogar von einem glühenden Ladepfropfen ausgelöst worden sein, der aus einer Kanone des Wachschiffs gefallen war. Bolitho sah rennende Gestalten, die aus der Ferne winzig und hilflos wirkten, mit hastig gefüllten Eimern gegen die Flammen vorgehen. Aber die ineinander verhakten Riggs und der starke, ablandige Wind erwiesen sich als zu große Hindernisse: Die Flammen sprangen auf den Rumpf über und erfaßten schließlich die Stagsegel. Nur noch eine
Stagsegel. Nur noch eine Kabellänge trennte Odin vom vordersten Landungsboot, als der Lotgast in ihren Ketten gellend aussang:»Wassertiefe sechs Faden!»
Inch blickte nervös zu Bolitho hinüber.»Nahe genug, Sir?»
Dieser nickte.»Drehen Sie ab.»
«Klar zur Wende!»
Alle freien Deckshände sprangen an die Brassen und Schoten, obwohl sich mancher Mann noch die vom Pulverrauch tränenden Augen rieb.
«Alles klar!»
«Hartruder!»
Die Radspeichen glitzerten im Sonnenlicht, als das Ruder hart gelegt wurde, und dann rief M'Ewan:»Ruder am Anschlag, Sir!«Mit hart Leeruder begann sich Odins Bug langsam nach Luv zu drehen.
Vor Bolithos Blicken zog das Panorama der abtreibenden oder zerschossenen Fahrzeuge vorbei, bis es ihm vorkam, als müsse der Klüverbaum sie im nächsten Augenblick aufspießen. Oben knallten und schlugen die Segel im Wendemanöver, während schließlich auch der letzte Mann, die Decksoffiziere nicht ausgenommen, mit ganzer Kraft in die Brassen einfiel, um die Rahen herum- zuholen und das Schiff auf den neuen Kurs zu bringen.
Inch überschrie das Getöse:»Achtung — Backbordbatterie! Mr. Graham, bei der Aufwärtsbewegung!»
«Feuer frei!»
M'Ewan wartete, bis auch das letzte Segel unter Kontrolle gebracht war und sich wieder eisenhart mit Wind füllte. Dann meldete er:»Neuer Kurs Südost zu Ost liegt an, Sir!«»Feuer!»
Zum erstenmal in diesem Gefecht brüllten nun auch die Backbordkanonen und fuhren im Rückstoß binnenbords, während der Pulve rrauch durch die Stückpforten zog. Die Breitseite schlug mit furchtbarer Wirkung mitten in der Landungsflotte ein.
Achteraus sah Bolitho Phalaropes Rumpf länger werden, als sie mit schlagenden Segeln durch den Wind ging, um dem Beispiel des
Flaggschiffs zu folgen. Sie war noch näher an den Feind herangekommen, und Bolitho konnte sich lebhaft vorstellen, welches Inferno ihre Karronaden anrichten mußten.
Das Wachschiff war jetzt völlig außer Kontrolle geraten und brannte vom Bug bis zum Großmast, an dem die Flammen emporleckten und die Segel in Sekundenschnelle zu Asche verwandelten. Während Bolitho noch hinübersah, erzitterte plötzlich der Rumpf, und eine Maststenge fiel wie eine Lanze in den Rauch hinunter. Das Schiff mußte auf Grund gelaufen sein. Schon trieben mehrere Gestalten im Wasser davon, andere schwammen verzweifelt auf eine Felsgruppe zu.
«Feuer einstellen!»
Stille breitete sich auf Odin aus; selbst die Männer, die nach der letzten Breitseite noch die Kanonenrohre auswischten, richteten sich auf, um Phalarope bei ihrer langsamen und eleganten Annäherung zu beobachten.
Gepreßt sagte Allday:»Seht sie euch an, wie dicht sie rangeht! Die Franzosen könnten einem beinahe leid tun.»
Emes ging auf Nummer Sicher und riskierte weder einen Fehlschuß noch sein Schiff. Eine nach der anderen, vom Bug bis zum Heck fortlaufend, feuerten seine Karronaden, nicht mit dem hallenden Krachen der langen Kanonen, sondern mit flachem, hartem Knall — wie mächtige Hämmer, die auf den Amboß schlugen.
Die Karronaden selbst konnte Bolitho nicht sehen, wohl aber die Einschläge, die wie ein Orkan zwischen die restlichen Landungsboote fuhren. Ein Orkan aus großen hohlen Eisenkugeln, die beim Aufprall barsten und einen tödlichen Kartätschenhagel verspritzten.
Wenn eine einzige dieser Kugeln im geschlossenen Raum unter Deck explodierte, verwandelte sie ihre Umgebung in ein Schlachthaus. Ihre Wirkung auf die leichten, dünnwandigen Landungsboote mußte verheerend sein.
Emes ließ sich Zeit und nahm bis auf die Bramsegel alles Tuch weg, damit seine Stückmannschaften in Ruhe ihre Karronaden nachladen konnten. Dann ließ er sie eine letzte Salve abfeuern.
Als das Echo verhallt war und der Rauch sich hob, schwammen nur noch ein knappes Dutzend Boote im Wasser, und auch sie hatten Beschädigungen und Verletzte aufzuweisen.
Bolitho schob sein Fernrohr zusammen und reichte es einem Midshipman. Übers ganze Gesicht grinsend, schlug Inch seinem Ersten Offizier auf die Schulter.
Der ahnungslose Inch. Bolitho blickte auf, als ein gellender Ruf von oben kam:»An Deck!«und dann:»Segel in Lee voraus!»
Ein Dutzend Teleskope hoben sich fast gleichzeitig, und so etwas wie ein Aufseufzen lief über das ganze Oberdeck.
Allday neben Bolitho flüsterte:»Er kommt zu spät, Sir!«Aber in seiner Stimme lag kein Triumph.
Sorgsam ließ Bolitho sein Glas über die glitzernden Wellenkämme wandern. Es waren drei Linienschiffe, die auf diese Entfernung dicht zusammengedrängt wirkten; ihre Wimpel und Flaggen setzten bunte Farbtupfer auf den grauen Himmel. Ein viertes Schiff, wahrscheinlich eine Fregatte, rundete gerade erst die Landzunge.
Die Seesoldaten begriffen, daß die ganze Arbeit noch vor ihnen lag, und traten mit scharrenden Stiefeln näher an die Finknetze heran.
Allday hatte das von Anfang an gewußt, ebenso wie Inch. Aber den hatte die Rolle seines Schiffes im Gefecht so begeistert, daß er diese Erkenntnis verdrängt hatte.
Midshipman Stirling beschattete die Augen, um besser nach der Gruppe heller Segelpyramiden ausspähen zu können. Er spürte Bolithos Blick im Rücken und drehte sich um; in seinen Augen lag nicht mehr Siegesgewißheit, sondern kindliche Verwirrung.
«Kommen Sie näher, Mr. Stirling. «Bolitho deutete auf die fernen Schiffe.»Das ist Remonds Geschwader. Wir haben es heute morgen ziemlich unsanft aufgescheucht.»
«Stellen wir uns zum Gefecht, Sir?«fragte Stirling.
Bolitho blickte ernst auf ihn hinunter.»Sie sind Marineoffizier, Mr. Stirling, ebenso wie Mr. Inch oder ich selbst. Was sollte ich Ihrer Ansicht nach tun?»
Stirling versuchte sich vorzustellen, wie sich all dies im Brief an seine Mutter ausnehmen würde. Aber kein Bild entstand vor seinem geistigen Auge, und plötzlich fürchtete er sich sehr.
«Kämpfen, Sir!«sagte er.
«Dann gehen Sie zu Ihren Signalgasten und halten Sie sich bereit, Mr. Stirling. «Und zu Allday gewandt sagte Bolitho:»Wenn er trotz seiner Angst so sprechen kann, dann sollte das uns allen neuen Mut geben.»
Allday warf ihm einen seltsamen Blick zu.»Wenn Sie meinen, Sir?»
«An Deck! Zwei weitere Schiffe runden die Landspitze!»
Bolitho verschränkte die Hände auf dem Rücken. Also fünf gegen eins. Inchs Verzweiflung war berechtigt.
Es hatte keinen Sinn, umsonst zu kämpfen und zu sterben, Menschenleben grausam zu opfern. Sie hatten schon erreicht, was vorher fast unmöglich geschienen hatte. Neale, Browne und die vielen anderen waren nicht sinnlos gestorben.
Andererseits — fast ebenso grausam wie der Tod würde Inch den Befehl empfinden, die Flagge zu streichen und zu kapitulieren.
«An Deck!»
Bolitho starrte angestrengt zu dem Ausguckposten auf der Be-sansaling hinauf. Der Anblick des heransegelnden Feindes mußte ihn so gefesselt haben, daß er vergessen hatte, seinen eigenen Sektor zu beobachten.
«Mein Glas!»
Bolitho riß das Teleskop dem Midshipman fast aus der Hand, ignorierte die verblüfften Blicke der Umstehenden, rannte zu den Wanten und enterte in den Webeleinen so weit auf, bis er hoch über Deck stand.
«Drei Linienschiffe in Lee achteraus!»
Bolitho, der keinen Blick von den Neuankömmlingen wandte, spürte einen Kloß im Hals. Irgendwie hatte es Herrick trotz der widrigen Windverhältnisse geschafft. Bolitho wischte sich die überanstrengten Augen trocken und richtete das Glas wieder aus.
Benbow hatte die Führung übernommen. Mit ihrem vollen
Rumpf und der kühnen Galionsfigur war sie unverkennbar. Hoch oben wand sich Herricks Kommodorewimpel gequält hin und her, als das Führungsschiff und mit ihm der Rest des Geschwaders abermals über Stag gingen — wohl zum hundertsten Male — , um mühsam nach Luv aufzukreuzen und zu ihrem Admiral aufzuschließen.
Bolitho enterte aufs Achterdeck nieder und merkte, daß die anderen ihm wie Fremde entgegensahen. Leise fragte Inch:»Ihre Befehle, Sir?»
Bolitho blickte kurz zu Stirling und seinem Sortiment bunter Signalflaggen hinüber.
«Signal an alle, Mr. Stirling: >In Schlachtlinie ansegeln!<»
Allday sah den Signalflaggen nach, die knatternd zur Rah aufstiegen.»Ich wette, das haben die Musjös nicht erwartet!»
Bolitho mußte lächeln. Der Zahl nach waren sie zwar noch immer unterlegen, aber er hatte schon unter schlechteren Voraussetzungen gekämpft. Genau wie Herrick. Zu Stirling gewandt, sagte er:»Sie sehen, ich befolge Ihren Rat!»
Allday mußte den Kopf schütteln. Er verstand nicht, wie Bolitho das fertigbrachte. Denn in einer Stunde, vielleicht schon eher, würden sie alle um ihr Leben kämpfen müssen.
Den Blick auf den Wimpel im Masttopp gerichtet, ließ Bolitho ein Bild des bevorstehenden Gefechts vor seinem geistigen Auge entstehen. Wenn der Wind durchstand, konnte Schiff gegen Schiff kämpfen, aber das bot Remond einen Vorteil. Besser war es, den einzelnen Kommandanten freie Hand zu lassen, wenn die Schlachtlinie des Feindes erst einmal durchbrochen war.
Sein Blick schweifte übers Deck nach vorn, streifte die nackten Rücken der Kanoniere und die Bootsmannsgehilfen, die alles für das Aussetzen der Beiboote vorbereiteten. An Deck bedeuteten Boote nur erhöhte Splittergefahr im Falle eines Treffers, und diesmal hatten sie es nicht mit hilflosen, überraschten Landungsfahrzeugen zu tun.
Bolitho sah, daß einige Neulinge seiner Mannschaft flüsternd beisammenstanden; die Freude an ihrem ersten Sieg war ihnen wohl seit der Ankunft des starken französischen Geschwaders verdorben.»Kapitän Inch!«rief er.»Die Pfeifer sollen uns zum Gefecht aufspielen. Das gibt bessere Laune!»
Inch, der seinem Blick gefolgt war, nickte eifrig.»Dieser Krieg dauert schon so lange, Sir, daß ich es manchmal vergesse, aber es gibt tatsächlich noch Matrosen, die kein einziges wirkliches Seegefecht erlebt haben.»
Und so segelte Odin mit ihren 64 Kanonen und der Admiralsflagge im Besantopp dem Feind entgegen, während die Pfeifer und Trommler munter aufspielten und dabei auf ihrem teppichgroßen Stückchen Deck unaufhörlich auf und ab marschierten.
Die Mannschaft, die bisher gespannt den feindlichen Schiffen entgegengestarrt hatte, wandte sich um, sah ihnen zu und begann, mit den Füßen den Takt zu schlagen.
Im Kielwasser, das Odin und Phalarope durch die Bucht zogen, blieben schwelende Trümmer und Treibgut zurück: Bruchstücke eines zerstobenen Traums von der Invasion Englands.