Katja Lange-Müller
Böse Schafe

«Stehaufmännchen,

Stehaufmännchen,

zeig mal deine Beine«

(aus dem Japanischen; Verfasser unbekannt)

I

Wir liegen auf den beiden Matratzen, nicht Seite an Seite, dennoch Kopf an Kopf. Die Arterie über deinem Schläfenbein pulst gegen meine Wange. Dein Haar berührt meine Nase, doch es kitzelt nicht, riecht bloß — nach Shampoo und nach dir. Seit Minuten oder Stunden bewegen wir uns kaum, sagen nichts, atmen flach. Deine Augen sind geschlossen, meine schauen hoch zum offenen Fenster, in dem sich nichts zeigt als ein Stück des wolkenlosen, weder hellen noch dunklen Himmels. Und wollte ich mich überhaupt etwas fragen, dann nur, ob der Morgen herandämmert oder der Abend. Ich fühle mich weder müde noch wach, weder schwer noch leicht, muß weder rauchen noch essen, noch trinken, noch zum Klo. Ich habe nicht das Bedürfnis nach Distanz, aber auch keine Lust, dich zu umarmen. Ich bin frei, nicht zu, sondern von allem, und trotzdem nicht einsam …

Dieser Film läuft, sobald ich an dich, an uns denke. Ich sehe ihn und gleichzeitig mich darin vorkommen (mitspielen wäre wohl das falsche Wort), nicht als die Frau, die ich jetzt bin, sondern so, wie ich vor vielen Jahren war: jünger, schöner und meistens neben dir.

Ich kann den schon ein wenig verblichenen und zerkratzten Film nicht zurückspulen, nur beschleunigen oder strecken, Sequenzen, die mir gefallen, anhalten, bis sich der ganze Spuk auflöst, weil das Telefon wieder klingelt oder der Postbote oder weil ich, von keiner weiteren Störung behelligt, das heute nähere, morgen fernere Ufer des Schlafs erreicht habe.

Je länger der Film dauert, um so ereignisloser wird er; und vielleicht ist der Vergleich mit einem stotternd abgespulten Kino- oder Fernsehfilm nicht der beste, vielleicht gehören diese Bilder, die mir eins nach dem anderen über die Netzhäute flimmern, ja eher zu einer Serie nicht sehr scharfer, auch deshalb einander ähnlicher Diapositive, deren unwillkürliche, nie identische Reihenfolge von meinen Wimpernschlägen abhängt, davon, wann und wie oft sich meine Augen schließen, öffnen, schließen … Das fenstergroße Stück Dämmerungshimmel ohne Wolken und Gestirne, die signalrot bezogenen Matratzen im Hintergrund meines Zimmers, unsere ruhenden Körper, wir auf den Straßen Berlins, du bei Joe, ich vor einer Kiste alten Krempels …, nur mehr die Kraft meines Vorstellungsvermögens erzeugt jedes einzelne dieser Bilder und alle zusammen, was die Filmmetapher ebenso rechtfertigte wie die von der Diaserie, wäre da nicht noch der Geruch deines Haars, die klebrige Wärme deiner Schläfe und meiner Wange, unser asynchrones Atmen und die Freiheit verheißende Bedürfnislosigkeit, die ich empfand und immer wieder erneut empfinde, die ich, seit ich sie zum ersten Mal erlebte, Glück nenne, ein betörend undramatisches Glück, das zu mir zurückkehrt, mit jeder Erinnerung daran.

Hätte ich mich, als unser Film in Echtzeit lief, als wir zu fotografieren gewesen wären, nach deinen Empfindungen erkundigen sollen, obwohl du meist so tatest, als gingen die nicht einmal dich etwas an? Konntest du deine Gefühle überhaupt zur Sprache bringen? Oder fandest du es nur bequemer, Derartiges physisch auszudrücken, mit Blicken, Gesichtsregungen, Gebärden — und manchmal mit dem Schwanz? Habe ich je gewagt, dich zu fragen, was hinter deiner stolzen Eisbärmiene, deinem abwesenden Gleichmut, deinen seltenen Aktionismus- oder Liebesanfällen steckte? Wenn ich das wissen wollte, und ich wollte oft genug, maskierte ich den entsprechenden Satz als den angeblich typischsten aller einfachen Frauenfragesätze: Was denkst du? Deine noch sparsamere und klassisch männliche Antwort lautete fast immer:»Nichts. «Oder:»Nichts Bestimmtes.«

Sicher, zu den Mitteilungsbedürftigen gehörtest du nicht, warst schweigsam und, was noch wichtiger ist, verschwiegen. Du hieltest es — in deinen besseren Momenten — mit den Stich- und Schlagwörtern, den pointierten Sprüchen, aber du hast gerne gelesen, Fantasyromane, die dicksten, die sich auftreiben ließen. Dir ging das Wort eben leichter ins Auge und von der Hand als über die Lippen; du hattest Schriftsetzer gelernt, wie ich.

«Gestern abend habe ich mir zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder einen Schleck auf den Schnabel getan. Es ist wunderbar, frei zu sein, und die Sonne so warm. Aber das Hobby muß ich weiter bleibenlassen, ganz konsequent. Auf dem Plan steht: Kohle besorgen, Karate machen, eigene Bude suchen.«

Du fragst dich, warum ich dir zitiere, was du doch selbst geschrieben hast? Weil das Schulheft mit deinen undatierten Eintragungen, das ich während all der Zeit, die wir miteinander verbrachten, nie bei dir gesehen habe, damals mir zufiel und ich nicht weiß, ob — und wenn ja, wie gut — du dich erinnerst an deine genau neunundachtzig Sätze, in denen mein Name nicht auftaucht und die ich dir dennoch oder gerade deshalb wiederholen werde, nicht chronologisch, aber Wort für Wort, bis zum Ende unserer Geschichte.

Ach, Harry, wäre dieses Heft bei jemand anderem gelandet und der neugierig genug gewesen, es auch zu lesen, er hätte nicht einmal ahnen können, daß es mich in deinem Leben, das meines war und ist, jemals gab.

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