XX

Leibhaftig, in Fleisch und Blut, wie meine Oma gesagt hätte, sah ich dich zum letzten Mal am dreißigsten Januar 1990. Ich war nach Berlin gekommen, weil ich für die bevorstehende Hochzeit mit Urs einige Papiere brauchte, ein Ehefähigkeitszeugnis, eine beglaubigte Kopie meiner Geburtsurkunde, das Dokument über meine» Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR«; und natürlich wollte ich dich auch besuchen.

Ich stieg U-Bahnhof Kochstraße aus, ging zu Fuß, sah mich um. Der Potsdamer Platz war noch nicht zur Kraterlandschaft geworden, die gespenstische Stille, die dort geherrscht hatte, noch nicht dem Baulärm gewichen; doch sie würde auch nicht zurückkehren, sowenig wie die Vögel und das Unkraut. Ich fragte mich, wer von uns zweien den sich ankündigenden enormen Veränderungen besser entzogen wäre, ich in Allschwil oder du hier, obwohl du ja mitten in der Keimzelle des Künftigen lagst. Ich war weggegangen, weil ich nicht zu Hause sein wollte, wenn sich beides auflöste, mein Ost- und unser Westberlin, hatte befürchtet, daß ich mich ebenso auflösen und womöglich verschwinden würde; da war ich lieber woandershin verschwunden. Fremd zu sein in der Schweiz fand ich normaler, als fremd zu werden in zwei Städten, die nicht bleiben konnten, was sie waren, und schon gar nicht wieder zu jener einen Stadt werden würden, die Berlin einst gewesen war, sondern etwas Neues, etwas, das noch keiner kannte und das mir, wenn es einmal fertig wäre, vielleicht gefiele; doch nicht jetzt, nicht am Anfang, der Chaos bedeutete, Abriß, Spekulation, Unsicherheit. Die meisten von uns» Aborigines«, egal, ob Ost-, West- oder Doppelberliner, das sah ich selbst aus der Ferne, fühlten sich während jener schwierigen Monate wie Asseln, die nach Asselart unter Steinen in einem verwilderten Garten gelebt hatten. Aber eine große Hand war gekommen, hatte die Steine fortgenommen, und nun irrten sie kopfscheu herum, die kleinen Wesen, oder stellten sich tot — und wünschten sich nur ihre Heimatsteine zurück; die Dunkelheit, die Ruhe, eben das, was sie gewohnt waren.

Du saßest vor deinem Minifernseher, löffeltest eine klare Brühe. Es schien dir viel besser zu gehen, und ich freute mich. Auch du strahltest mich an und legtest mir deine abgeheilten Arme um den Hals, dann erst hattest du einen Blick für die Geschenke übrig, die ich auf deinem Bett ausbreitete.

«So ein kleines Land und so große Schokoladentafeln«, nuscheltest du; deine Nase steckte in einem roten Kaschmirpullover, den ich dir vor die Brust hielt, um zu sehen, ob er paßte. Laß den Quatsch, sagte ich und tat, als wolle ich dir den Pullover wieder wegnehmen, doch du protestiertest lachend:»Nee, das ist meiner, der riecht so schön qualmig, wie du, Bärchen.«

Dann kamen die Nachrichten. Die ersten Bilder, die wir sahen, zeigten den Exstaatschef Erich Honecker, der am Vortag verhaftet worden war. Er stand, in Handschellen gelegt, zwischen zwei Polizisten, hatte einen Kaschmirmantel an und seine übliche Schapka auf und stierte trotzig, wenn nicht stolz, direkt in die Kamera. — Oder in deine Augen?

Denn mit dir ging eine seltsame Verwandlung vor; du legtest den Löffel, den du wieder zur Hand genommen hattest, wie in Trance neben die Schweizer Schokoladentafeln und erstarrtest. Ich schaute zwischen dir und dem Fernsehapparat hin und her. Und wahrhaftig, deine Augen füllten sich mit Tränen, ganz langsam, bis das Wasser die Barriere der Lidränder überwand und dir, Tropfen für Tropfen, die eingesunkenen Wangen hinablief. Du wischtest die Tränen nicht weg; du weintest, vollkommen lautlos. Noch nie hatte ich dich weinen sehen und wollte es kaum glauben. Die Bilder miteinander streitender Parlamentarier hatten die Honeckerbilder längst verdrängt; du weintest weiter. Ich griff nach deinem Arm. Harry, sagte ich, was ist denn bloß? Warum weinst du? Du schütteltest meine Hand ab, ließest dir aber ein Tempo — Tuch reichen.

«Kapierst du das nicht«, sagtest du — und blicktest mich nicht an,»den schmeißen sie wieder ins Loch. Dabei hat er schon zehn Jahre Knast hinter sich, genau wie ich. Ihm haben sie die ganze Jugend versaut, mir haben sie meine ganze Jugend versaut, er ist krank, ich bin es auch. Als er damals rauskam, gehörte die Macht seinesgleichen, und nach dem Spitzbart übernahm er die Führung. Hat mißtrauisch wie nur ein Knacki die Leute regiert und gewußt, ein paar von denen haben ihn ans Messer geliefert. Bloß, welche? Hat er eben vorsichtshalber alle eingesperrt, zur Strafe und aus Rache. Als sie mich endlich freiließen, mußte ich diese bescheuerte Therapie machen, doch wenn irgend jemand auf die Idee gekommen wäre, mir die Macht zu geben, ich hätte alles genauso gemacht wie er.«

Ich war, ob deiner seit zwei Jahren längsten und mir unbegreiflichsten Rede, zu verblüfft, um mit dir eine Diskussion anzufangen; außerdem hatte Wolfgang am Telefon von den Toxoplasmoseschüben erzählt, die du gehabt hättest. Womöglich, dachte ich, ist dein Verstand tatsächlich zu Schaden gekommen. Warum sonst konnte dich das Schicksal eines alten Knochens, der unsereins lange genug drangsaliert hatte, derart erregen? — Man würde diesen abgesägten Unbelehrbaren bald wieder laufenlassen, gerade weil er krank und hinfällig war, und den traurigen Rest seines Lebens würde er, wennschon nicht in Wandlitz, so doch im Schoße eines Rechtsstaates verbringen. — Nein, ich wußte damals noch nicht, daß sich der Maßstab, nach dem der Mensch urteilt, vor allem aus der Summe seiner ureigenen Erfahrungen ergibt; auch diese Erkenntnis verdanke ich dir. Anders als ich hattest du in dem gefesselten Honecker nicht den gestürzten Despoten gesehen, der für seine Taten nun endlich zur Verantwortung gezogen wird, sondern den Knastbruder, der zurück ins Gefängnis muß, dem also das widerfuhr, was ein ehemaliger Häftling offenbar mehr fürchtet als den Tod.

Du starbst am vierzehnten April 1990, zwei Tage nach deinem sechsunddreißigsten Geburtstag, um 21 Uhr 48.

Am zwölften April hatte ich, gepiesackt von meinem schlechten Gewissen, im DIK angerufen und dir gratulieren wollen. Zufällig oder nicht hatte Wolfgang den Hörer abgenommen. Nein, sagte er, ich könne dich jetzt nicht sprechen. Du wärst zu schwach, um aufzustehen. Deine Leber sei in einem kritischen Zustand, du hättest wieder eine Lungenentzündung und Fieber, so hohes, daß dir sicher egal wäre, welcher Tag heute sei. Sie hätten erwogen, dich in die Klink einzuweisen, doch du hättest dich geweigert und euch dies auch schriftlich bestätigt;»keine lebensverlängernden Maßnahmen«. —»Komm her«, sagte Wolfgang,»es kann jetzt sehr schnell gehen.«

Wie lange noch, fragte ich.

«Ich wage keine Prognose, aber bald«, lautete seine Antwort.

Ich flog am fünfzehnten April nach Berlin und ließ mich von einem Taxi in die Bernburger Straße bringen. Dich hatte man schon» weggebracht«. Ich weinte, wollte wissen, wo Wolfgang sei und warum mich gestern niemand angerufen hätte.»Wolfgang?«sagte eine Pflegerin, die ich nicht kannte, mit kaum verhohlener Empörung:»Der hatte ein freies Wochenende, endlich mal. «Er sei auch noch nicht» informiert«, weil er erst morgen wiederkäme. Aber sowieso müsse ich mit Wolfgang sprechen, denn er habe» das Letzte mit Herrn Krüger abgemacht«. Sie jedenfalls sei neu, und sie habe gestern keinen Dienst gehabt, dich also nicht» begleitet«.

Am nächsten Tag übergab mir Wolfgang dein handschriftliches Testament, das mich zur» Universalerbin «bestimmte, und zwei volle Umzugskartons.»Schau nach, was du sofort haben willst. Das andere kann vorläufig hierbleiben. Ich hebe es für dich auf«, sagte er.

Als ich ihn bei einer Zigarette fragte, wer denn nun an deinem Bett gesessen hätte und mir schildern könnte, wie du gestorben bist, gab er zur Antwort:»Robert, auch ein Neuer, ein Student, doch der kommt wohl nicht wieder. Zu mir sagte er heute morgen nach seiner Nachtwache, Harry sei unter Schmerzen, aber ohne Zaudern in den Styx gesprungen, ja, er habe sich dem Tod regelrecht in die Arme geworfen.«

Ich steckte dein Testament ein und schenkte Wolfgang oder dem DIK das wenige, das hier weiterhin gebraucht werden würde: deine gelben Vorhänge, den Plattenspieler, den Fernseher, die Bettwäsche. Er hatte gefragt; von selbst wäre mir das sicher nicht eingefallen.

Das, was ich 1990 nicht mitgenommen hatte, holte ich erst ein Jahr später ab, nachdem mich DIK — Chef Sören Arnold per Einschreiben dazu aufgefordert und mir angedroht hatte, die Sachen ansonsten zu vernichten. — In einem der beiden Umzugskartons lag ganz zuunterst auch dein Heft, das ich jedoch erst las, als ich endlich mal alles ausgepackt hatte.

Jahrelang wollte ich mit deinen Hinterlassenschaften nichts zu tun haben. Ich konnte mich nicht überwinden, die verblichenen Bildchen, die Dokumente mit deinen Paßfotos, Julis Kette, die Porzellanpferde, die Stofftiere, die Doors — Platten anzuschauen, deine Hemden, Hosen, Pullover, Bademäntel, Schlafanzüge … zu berühren und zu riechen.

Doch eines Tages kurz vor der Jahrtausendwende, ich war längst von Urs geschieden und schon seit 1992 wieder allein in meiner Moabiter Wohnung, wuchtete ich die Kartons vom Hängeboden, streifte meinen Bademantel ab, schlüpfte in deinen mottenzerfressenen roten Kaschmirpullover, setzte mich auf ein Kissen und fing an zu wühlen. Zuerst betrachtete ich die Fotos, die von dir als Kind, die von dir und den Klingsbrüdern, die von Friede in deinem Schoß, die von uns beiden vor dem Moabiter Karstadt — Warenhaus. Ich studierte jede Seite deines Reisepasses, deines Personalausweises, deines Facharbeiterbriefes, untersuchte — aufs neue erstaunt — deinen Führerschein, der selbst einem Expolizisten völlig unverdächtig gewesen war, und das Kunstlederetui, in dem deine Postbankkarte, zwei Zettelchen mit Telefonnummern, ein paar Briefmarken und eine aus irgendeinem Karateprospekt oder einem Kalender herausgerissene Weisheit steckten; »Es gibt drei Wege, um klug zu werden: durch Nachdenken, das ist der Edelste, durch Nachahmung, das ist der Einfachste, durch Erfahrung, das ist der Bitterste.«(Konfuzius)

Und schließlich zog ich aus einem kleinen, unter einer Lasche zwischen zwei Fächern verborgenen Schlitz, den ich erst gar nicht bemerkt hatte, zu meiner nicht geringen Überraschung noch einen Fünfhundertmarkschein, junkiespezifisch gefaltet, einmal quer, zweimal längs. Ich schaute auf den rotbraunen Schein, streichelte den Löwenzahn und die eines seiner Blätter fressende, wunderschöne Raupe des Grauen Streckfußfalters, dann das sanft lächelnde Gesicht der Maria Sibylla Merian und dachte daran, wie du einmal gesagt hattest, die Fünfhunderter seien dir die liebsten, nur für sie empfändest du» fast was Erotisches«. Ich weinte, schon die ganze Zeit, aber nun erst recht, und versunken in den Anblick der feenhaft zarten Wespe neben dem Porträt der Künstlerin, fragte ich mich, ob sie vielleicht ein Zeichen sei, und wenn ja, wofür.

Nichts Gravierendes ist mehr geschehen; mein Leben geht einfach weiter. Ich erledige, sowie sich eine Gelegenheit bietet, diesen oder jenen Job, koche mir abends eine Suppe und trinke eine Flasche Wein. Der Lottogewinn ist verbraucht, deine Soja auch. Ich habe es noch mit drei, vier Männern versucht und ihnen nicht nachgetrauert, als sie mich verließen, weil ich, wie der letzte sagte,»immer so abwesend und abweisend «sei. Mittlerweile beziehe ich Sozialhilfe und Wohngeld und mache keine Diäten mehr. Ich war dabei, mich aufzugeben, bis ich dein Heft las und entdeckte, daß ich ja mit dir reden, dir sogar schreiben kann. Vielleicht nehme ich irgendwann einmal deinen Fünfhunderter und finde heraus, was nun eigentlich dran ist an dem Zeug, das uns getrennt hatte, schon ehe der Tod es tat, und vor dem du mich bewahrt hattest wie vor der Infektion. Ich habe manches probiert, aber Dope noch nie. Und wenn ich, morgen oder übermorgen, erfahren sollte, daß ich Krebs hätte, nicht zu retten wäre, würde dein Schein wohl reichen für einen grandiosen Abschied. Bis dahin gucke ich unseren Film: Wir liegen auf den Matratzen, Kopf an Kopf, bewegen uns kaum, atmen flach. Deine Augen sind geschlossen, meine schauen hoch zum offenen Fenster … Wir haben einander und Zeit; nichts sonst, doch davon ganz viel, obwohl es scheint, als existiere sie gar nicht mehr.

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