Wann warst du zurückgekommen? Hatte Marlene mit dir sprechen können und dich später bis zu meiner Haustür begleitet? Wovon war ich an jenem Abend noch einmal wach geworden? Davon, daß du im Zimmer das Licht eingeschaltet hattest? Wahrscheinlicher davon, daß sich auf meiner Bettdecke etwas bewegte, leichter und schneller und insgesamt ganz anders als eine Menschenhand. Noch ehe ich es erblickte, wußte ich, das, was da auf mir herumspazierte, konnten nicht deine Finger sein. Doch erst als für Sekunden nichts mehr tapste und ich, selbst durch die Decke hindurch, ein geringes, aber dennoch irgendwie körperliches Gewicht auf meiner Brust verspürte und dann ein seltsames, von etwas sehr Filigranem verursachtes Kitzeln im Mundwinkel, öffnete ich die Augen und erkannte, weil es so nahe war, nicht gleich, daß mich ein Tierchen beschnupperte. Ich schüttelte den Kopf, nicht vor Ekel, nur erstaunt; ich glaubte ja nicht zu träumen, wer träumt schon, er würde gekitzelt, da sprang das Tierchen, als habe es sich erschrocken, mit einem Satz zur Seite, und nun sah ich, was es war: Eine Ratte, eine kleine oder noch sehr junge schwarze Ratte mit glänzenden schwarzen Augen und langen, ein wenig zitternden Schnurrbarthaaren an der weißen Schnauze und weißen Pfoten und einem weißen Fleck am Bauch, der mir auch nicht lange verborgen blieb, denn sie machte Männchen, hob witternd die Nase — und eroberte mein Herz, sozusagen aus dem Stand.
Du griffst dir die Ratte, die sich das offenbar gerne gefallen ließ. Mein Blick folgte ihr, bis sie auf deiner Schulter saß und aus ihren Knopfaugen zu mir hinunterblickte, wie du.
«Das ist eine skandinavische Weißfußratte, kein gewöhnlicher Kanalfreak. Ich habe sie in der Zoohandlung am Mierendorffplatz gekauft, sie heißt El-Friede«, sagtest du — seltsam väterlich,»El-Friede wie El-Hakim, arabische Schreibweise, wenn du verstehst, was ich meine.«
Mir fiel wieder ein, wie du heute morgen in der Pose eines Matadors vor der Duschkabine auf mich gewartet, das rote Badetuch geschwenkt und» Friede «gerufen hattest, und ich knurrte: Gut, dann werde ich sie Friede nennen. Ich hab’s nicht so mit dem Orientalischen, und Friede ist eine hübsche Kurzform von Elfriede oder meinetwegen auch El-Friede, und die Schreibweise kann mich mal; ich muß ihr ja wohl keine Briefe schicken.
«Warum nicht?«sagtest du.»Die wird sie sicher alle lesen und beantworten, klug wie sie aussieht.«
Ich wunderte mich, daß der Trick mit der Ratte (denn für etwas anderes als den neuesten deiner vielen Tricks hielt ich diesen Zirkus nicht) so gut funktionierte. Das putzige, zutrauliche Tierchen lenkte mich tatsächlich ab, dämpfte irgendwie den Aufruhr in meinem Gemüt. Gib sie mal her, sagte ich.
«Aber bitte, mein Baby«, sagtest du erfreut und reichtest mir Friede, mit beiden Händen, also wirklich wie ein ganz kleines Baby.
Ihr Fell war weich, ihr Herz schlug schnell, und sie roch so gut, wie ich es von einer Ratte nicht erwartet hatte: nach Wollpullover, frisch aus dem Wäschetrockner; als ich ihren Duft tiefer inhalierte, auch ein wenig nach Patschuli und Pfefferminze.
Die nächsten Tage verbrachten wir, wenn es nicht gerade nötig war, etwas überzuziehen und zur Triade zu fahren, auf unseren Matratzen, ziemlich einsilbig und einander die Füße zustreckend, und nur zwei, drei Vormittagsstunden lang, in denen ich zaghaft versuchte, dir Fragen zu stellen, auch wieder Kopf an Kopf.
Friede, die den Kohlenkasten des alten Beistellherds zu ihrer Haupthöhle erkoren und mit dem von mir bereitgelegten Heu ausgepolstert hatte, konnte sich frei in der ganzen Bude bewegen, kam aber gerne zu dir oder zu mir, besonders am Abend. Und manchmal durfte sie bleiben, selbst über Nacht, denn sie war erstaunlich schnell stubenrein, pinkelte und schiß ausschließlich in eine ganz bestimmte, so weit wie möglich von ihren Vorräten entfernte Ecke des Kohlenkastens, knabberte bloß unser Bettzeug an und» befreite «dich, wie du es deutetest, von deiner Uhr, deren Lederarmband sie durchnagte, während du schliefst, so behutsam, daß du nichts davon merktest. Friede wollte Nüsse, Kekse, Schokolade und spielen. Sie liebte es, Anlauf zu nehmen, dir oder mir auf die Brust zu springen und sich dann nicht ergreifen zu lassen, sondern zu entkommen und das Ganze zu wiederholen. Wurde sie irgendwann doch erwischt, quiekte sie, vergnügt, wie du meintest. Und tatsächlich sah es so aus, als ob sie womöglich Humor hatte; ihr Quieken jedenfalls klang übermütig wie das eines Kleinkinds, das in die Luft geworfen und wieder aufgefangen wird.
Marlene hatte beschlossen, uns künftig fernzubleiben, und begründete es am Telefon damit, daß du ihr keine einzige Antwort gegeben, nur Ausreden gebraucht hättest, versprach aber, am letzten Treffen teilzunehmen. Juli, Clara und Hanna zogen sich ebenfalls zurück, Hanna per Klartext; Juli und Clara erklärten sich nicht näher. Clara, die betonte, daß sie auch in Julis Namen spreche, sagte vage, es täte ihnen leid. Doch zum Treffen kämen sie trotzdem, weil sie dir, wie Clara es formulierte,»nichts vermasseln «wollten; du wärst» so schon genug gestraft«. Aber Frank blieb uns erhalten, meinte, daß ihn dein» Schicksal nun erst recht und vor allem als künstlerische Herausforderung, also auf der professionellen Schiene «interessiere, und ebenso Marc, der sich am wenigsten Sorgen machte, seine Angst zumindest nicht zeigte.»Kommt doch aus meiner Heimat, die Scheiße. Kommt aus den Staaten, wie so mancher Ärger und ich. Hat garantiert der CIA verbockt oder die NASA. Aber das kriegen die wieder hin, müssen sie ja. Wird allerdings ’ne Weile dauern, diesmal«, erklärte er lachend, fast ein wenig stolz, als er, ohne daß er sich vorher angekündigt hätte und auch schon etwas betrunken, spät am Abend des ersten Sonntags nach Joes Bombe mit einer Flasche Whiskey unterm Arm vor unserer Tür stand.
Obwohl — von Ausnahmen abgesehen — nur noch ich dich zur Triade brachte oder von dort abholte und doch immer öfter hinnahm, daß du allein unterwegs warst, und eine Menge regelte, klärte, organisierte, meistens für dich, und jedes Wochenende Blumen verkaufte, kann ich mich kaum daran erinnern, wie dieser zweite Wohngruppenmonat verging, schnell sicher nicht. Wir Übriggebliebenen, du, Frank, Marc, ich, sogar Joe, besprachen miteinander gerade mal das Nötigste, wollten, denke ich, den Zeitdruck, den Zwang, die Kontrolle los und nicht länger Kind oder Kindermädchen sein, wünschten den Tag herbei, von dem an du allein für dich verantwortlich wärst.
Doch soweit er mich betraf, war dieser Wunsch halbherzig. Halbherzig ist ohnehin das Wort, mit dem sich immer noch am besten fassen läßt, wie mir zumute war. Ich wollte bei dir bleiben, dir nahe, aber nicht ganz nahe sein. Die Angst vor und die Liebe zu dir attackierten einander pausenlos; mal gewann die eine Oberhand, dann wieder die andere, was mich alles in allem auf schwer beschreibbare Art lähmte, den Schmerz betäubte und mich diese Taubheit als schmerzlich empfinden ließ. Ich war von Kopf bis Fuß wie ein einziger, großer Backenzahn, der nicht wirklich weh tut, auf den zu beißen man aber möglichst vermeidet. Es gab Phasen, in denen mich die Verzweiflung derart im Griff hatte, daß ich schon wieder tollkühn wurde. Dann fummelte ich, mit den Tränen kämpfend, an dir herum, und wenn ich ein standhaftes Ergebnis erzielte, was trotz der grimmigen Miene, die ich dabei machte (denn sie spiegelte sich ja wider in deinen weit geöffneten, mich unglücklich anschauenden Augen), meist immer noch der Fall war, zog ich dir ein Kondom über und ritt deinen Schwanz, der sich kühl anfühlte und undefiniert glatt, wie ein Fremdkörper, zunächst dildoartig, doch bald weißwürstchenweich; und genau so sah er aus — einen Moment nachdem ich endlich aufgegeben und mich von dir runtergerollt hatte, auch weil ich fürchtete, durch meine hektisch-verklemmten Bewegungen könnte sich das Kondom gelöst und in mir verkrümelt haben. Aber jedesmal hing die Pelle noch an deinem …, laß es mich Glied nennen, das sich zu schämen schien, unter dem Gummi und meinem mitleidigen Blick.
Du warst in dieser Zeit unbeirrbar sanft, ja demütig, hocktest im Morgengrauen neben meiner Matratze, strichst mir das Haar aus dem Gesicht, küßtest meine Wangen, meine Stirn und glaubtest wohl, ich schliefe. Manchmal legtest du sogar den Bademantel ab, krochst zu mir unter die Decke, gebrauchtest, wenngleich erfolglos, deine Finger oder schmiegtest dich nur an mich mit deinem so gesund wirkenden, kräftigen Leib, dessen Wärme mich noch trauriger machte, als ich eh schon war, doch irgendwie auch tröstete.
Genug. Angst bleibt Angst, sich also gleich. Es ist vielleicht nicht ganz sinn-, aber völlig zwecklos, sie immer wieder zu beschwören, in ostinaten Wiederholungen.