In der folgenden Zeit warst du kaum einen Moment solo. Einander abwechselnd brachten wir dich zu den Therapiestunden, die du mit vier weiteren, uns nicht näher bekannten Süchtigen oder einer Triade-Kraft, meist Joe, alleine zu bestreiten hattest. Wenn du fertig warst, wartete derjenige von uns, der gerade dran war, schon draußen vor der Tür, und du mußtest ihm folgen, wohin auch immer er wollte — oder sie, in ein Kino, ein Lokal, eine Wohnung, seine, ihre, meine … Du durftest nicht mehr ohne Begleitung unterwegs sein, auch nicht zu den Urinkontrollen, die aber bald bloß noch alle zwei Tage fällig waren und manchmal nicht vom strengen Joe, sondern von diversen Praktikanten beaufsichtigt wurden.
Diese morgendlichen Reisen in die Eisenacher Straße unternahmen fast immer wir beide, weil es sich die anderen Groupies zur Gewohnheit machten, dich prinzipiell samstags und sonntags und oft auch für die Nächte unter der Woche bei mir ab- oder einzuliefern. Ich habe nie gefragt, warum. Womöglich war ihnen, während sie schliefen, die Verantwortung zu groß, oder sie befürchteten, du könntest ihr Liebesleben belauschen, ihre Kühlschränke leer fressen, mit ihren Geldbörsen durchbrennen … Doch vielleicht wähnten sie dich bei mir, deiner festen Freundin, auch einfach nur am besten aufgehoben.
Der erste Monat lief ganz gut. Wir lebten von meinem Arbeitslosengeld und dem Teil der schwarz verdienten Blumenkohle, die ich nicht an Christoph abdrücken mußte. Wenn ich nicht mit dir zum Pinkeln fuhr oder du anderweitig vergeben warst, putzte ich die Bude und anschließend mich heraus, kochte Suppen, erwartete dich und Clara oder dich und Juli oder dich und Frank, denn die kamen gerne noch mit hoch auf einen Teller Linsen und ein Glas Wein.
Sobald wir dann wieder zu zweit waren, schauten wir fern, hörten Marlenes Platten oder lagen still im Dunkeln; du trankst deine Coke, ich meinen Roten. Und spätestens bei der dritten Flasche griff ich nach deinem Schwanz, von dem ich ja glaubte, er gehöre mir. Und eines Abends, ich hielt es im ersten Moment für eine akustische Halluzination, nanntest du mich Baby — und brachtest mich in Schwierigkeiten. Von dir herunterkletternd, stöhnte ich: Nenn mich nicht so, nicht Baby!
«Warum denn nicht«, fragtest du,»Babys sind rosa, weich und süß, genau wie du. Und ein bißchen nach saurer Milch riechst du auch, mein großes, rundes Baby.«
Darauf ich: Ich rieche nicht sauer, ich bin sauer. Sag sonstwas, nur nicht Baby.
Doch du, Harry, hörtest gar nicht hin, sondern wiederholtest unablässig das eine blöde Wort.»Baby, Baby, Baby …«, sagtest du leise und küßtest meine Mundwinkel, derart raffiniert, daß es mir die Sprache und beinahe den Atem verschlug. Du legtest mich aufs Kreuz und dann dein Gesicht in meinen Schoß, endlich einmal. Und die unartikulierten Töne, die ich von mir gab, gegen meinen Willen, wenn ich so etwas überhaupt noch hatte, klangen wie das Weinen eines Babys, also nicht glücklich, obwohl ich es war.
Irgendwann schliefst du ein, hast ja ohnehin nichts lieber getan als schlafen; ich aber blieb wach und dachte an etwas, das ich Jahre zuvor erlebt hatte. In jener Nacht glaubte ich, diese Geschichte sei das Pendant zu deiner, wenn nicht die Antwort drauf, und wollte sie dir erzählen; doch dabei blieb es. Denn obwohl du dich dazu nie geäußert hast, gewann ich mit der Zeit den Eindruck, daß du Geschichten nicht sonderlich mochtest, weder erzählen noch hören. — Jetzt, Harry, kann ich dich nicht mehr langweilen, kannst du nicht mehr wegpennen, während ich rede, nicht mehr mitten in einem meiner Sätze aus dem Zimmer latschen, Minuten später zu mir zurückkehren und auf deine unnachahmlich sanft abweisende Art fragen:»Und nun?«
Es war an einem Sonnabend im Oktober 63 gewesen. Ich war morgens mit der S-Bahn nach Königs Wusterhausen gefahren, um Pilze zu sammeln, aber eigentlich, um die Schwermut zu zerstreuen, die mir seit Tagen auf dem Gemüt kniete, ohne daß ich den Grund dafür wußte. Doch weil es zu regnen begonnen hatte, kam ich nicht einmal bis zum Waldrand, sondern ging in die Bahnhofskneipe — und blieb dort hängen.
Die Kneipe war voller Männer, merkwürdiger Männer, deren Augen blitzten, obgleich nicht wenige von ihnen schon doppelt zu sehen schienen. Und alle waren sie tätowiert, manche nicht nur an den Armen, auch an Händen und Hals, ja, sogar im Gesicht. Ich erfuhr, daß der längliche tiefblaue Fleck neben dem rechten Nasenflügel eines spröden Kerls namens Wilhelm eine Knastträne sei und daß man solche Knasttränen ausschließlich bei» Typen «finde, die» ein paar Jährchen gebrummt «hatten. — Nicht unwahrscheinlich, Harry, daß mir deine Clownspuppe nur wegen des aufgemalten Tropfens unter dem einen ihrer Glasaugen so suspekt gewesen war; doch vielleicht habe ich diese Assoziation auch erst jetzt, da ich mich an Wilhelm und das Wort Knastträne erinnere.
Er und die meisten der anderen in dem Lokal Versammelten, erzählte mir Wilhelm, seien anläßlich des» höchsten unserer Staatsfeiertage «vor einer Woche amnestiert und gestern entlassen worden aus der» Strafvollzugsanstalt Braunkohlentagebau Regis-Breitingen «bei Altenburg, und nun sei eben» Saufen Fakt«, bis die» paar lausigen Mäuse «für die letzten drei Monate Schinderei im Gleisbau restlos alle und sie» sargdeckelzu «wären.
Ich fragte nicht, wofür er gesessen hatte, nur, warum er sich gerade in dieser Bahnhofspinte vollaufen ließ und nicht nach Berlin weiterfuhr.
«Wir, also ich und die dahinten«, Wilhelm (der sich verbeten hatte, daß ich ihn Willi nannte, zu mir aber unbeirrbar Sonja sagte) wies mit dem Daumen über seine Schulter,»sind aus der Gegend hier, und außerdem war der Wirt auch mal einer von uns. Und dann, wo sollen wir denn hin? Denkst du, unsere Weiber würden auf uns warten? Nee, die stehen nicht im Flatterhemd am Herd und schmoren uns Kohlrouladen, mitnichten.«
Wilhelm hatte starke Schultern, ein indianerrotes Bauerngesicht und alte, glasige Augen. Ich weiß nicht mehr, ob ich mich mit ihm betrank, weil er mir gefiel, oder ob es eher umgekehrt war, bloß noch, daß ich mich nicht lumpen ließ, zumal Wilhelm, trotz der Schnäpse, die er uns alle naselang kommen ließ, weder aus der Rolle noch vom Hocker fiel, sondern bei jeder neuen Lage sein Gläschen gegen meins schob und dazu freundlich» na, denn Prost, Kleene «knurrte.
Stunden später, draußen herrschte schon tiefe Finsternis, war ich breit genug. Wilhelm, der kurz an die Theke gegangen und mit einem Schlüssel in der Hand wiedergekommen war, legte seinen Arm um mich, so fest, daß ich nicht fallen, ja, nicht einmal stolpern konnte, und führte mich quer durch die verqualmte Kneipe auf eine Tür zu. Ich glaube nicht, daß Wilhelm das, was nun bevorstand, dringend wollte oder brauchte. Doch da die Gelegenheit günstig war und ich vorhanden, gehörte es wohl zum Ich-bin-draußen-Ritual. Und Wilhelm hatte reichlich spendiert oder investiert, und irgendwo mußte ich schließlich auch schlafen — und hatte das noch nie getan mit einem wie ihm, einem, der jahrelang Strafarbeiter gewesen, nun aber begnadigt worden war und wer weiß wie kurz nur in Freiheit bleiben würde.
Hinter der Tür lag ein kleiner, muffig riechender Raum. Gelbes Licht sickerte durch den plissierten Schirm einer Stehlampe auf den grünlichen Lappen, der die ausgezogene Schlafcouch bedeckte. Wilhelm mimte nicht den Draufgänger, sah nicht einmal zu, wie ich Sandalen, Bluse, Rock, BH und Schlüpfer ablegte. Erst als ich schon neben ihm saß, meinen nackten Schenkel an seinem noch vom Hosenstoff umspannten wärmte, griff er nach mir, nicht stürmisch, nicht grob, sondern mit ungelenker Vorsicht, als sei ich ein Fremdkörper, der leicht beschädigt oder gar gefährlich werden könnte. Wilhelms Handflächen waren trocken und hart, die Fingerkuppen rissig, so daß jede seiner Berührungen ein wenig kitzelte; und als Wilhelm mir über den Rücken fuhr, bis hinunter zu der Stelle, an der er sich teilt, hörte ich es knistern, trotz der Kneipengeräusche, die gedämpft, doch nicht allzu leise durch die obere, helleuchtende Türritze zu uns hereindrangen. Schließlich zog auch Wilhelm seinen Ringelnicki aus, öffnete Gürtel und Reißverschluß, bugsierte mich auf die Sofakante, drückte mir mit seinen Knien die Beine auseinander, und doof, aber zielstrebig, wie ein blindes, glattes, zunächst vollkommen eigenständiges Lebewesen, grub sich sein Glied in mich hinein. Während er sich vor und zurück bewegte, ungeduldig und dennoch ohne rechte Konzentration, betrachtete ich die blaugrün-roten Darstellungen auf seinen Schultern, seiner behaarten Brust, seinen Armen. Es gab zwei flammende Herzen, ein Schiff, ein Schwert, einen leeren Galgen, eine Rose, eine Schildkröte mit breit grinsendem Maul, die mir gefiel und die ich zu streicheln versuchte; doch Wilhelm bog den rechten Oberarm, der ihr Zuhause war, so weit von mir weg, daß ich sie nur noch hätte erreichen können, wenn es mir möglich gewesen wäre, den Rumpf zu heben.
War es in jener Nacht, in der ich dir von Wilhelm erzählen wollte, oder in einer anderen? Aber einmal habe ich dich gefragt, warum du keine einzige Tätowierung hättest, obwohl du so lange im Knast warst, und ob derlei in Westknästen vielleicht nicht üblich sei. Du erklärtest, daß sich bei euch nur die Kriminellen» gegenseitig bunt machen «würden. Doch du hättest dich, gerade weil sie dich für» Beschaffungsdelikte «und suchtbedingte Überfälle» kassiert «hätten, immer als Linken betrachtet und nicht als» Ganoven«. Es sei dir nie darum gegangen, dich zu bereichern, nur darum, dich und deinesgleichen zu» versorgen«. Und lediglich jene Drogen zu» illegalisieren«, an denen der Staat nicht mitverdienen könne oder wolle, heiße,»Linke zu kriminalisieren«, sie mit» ganz gewöhnlichen Verbrechern «auf eine Stufe zu stellen, und das sei nun wirklich verbrecherisch, denn vom Staat dürfe» keine Gewalt ausgehen«, jedenfalls nicht von einem, der sich demokratisch nenne. Die Politischen, also die Anarchos, die RAFler und die übrigen Terroristen, würden auch lange» einsitzen «und einander» trotzdem ganz bewußt «keine Bildchen stechen, außer, vielleicht, dem von der Friedenstaube. Aber so ein Friedenstaubentattoo à la Picasso, das schon Ähnlichkeit mit der — ironischerweise weniger für ihre unter den Tauben einzigartige Aggressivität als für ihr schneeweißes Gefieder bekannten — Ringeltaube haben müßte, wäre ja wohl kaum zu sehen, es sei denn auf der Haut eines schwarzen Roten, und einer von der Sorte sei dir bislang nicht begegnet, weder drinnen noch draußen.
Wilhelm war dann doch bald fertig und ich froh, daß er es war. Er schlief ein, was sonst. Ich blieb zwei, drei Stunden neben ihm an der kalten Wand liegen, hörte ihn schnarchen, hatte Durst, fand keine Ruhe. Als das Gemurmel in der Gaststube erstarb, nur noch Gläser gegeneinanderschepperten, weil der Wirt, wie ich richtig vermutete, beim Spülen war, erhob ich mich vom Lager, suchte meine Klamotten zusammen, zog mich an, öffnete die Zimmertür und schloß sie wieder hinter mir.
«Morjen«, sagte der Wirt.
«Wie spät isses«, fragte ich.
Darauf er:»Drei durch. Bald geht die erste S-Bahn.«
Es regnete, heftiger als am Tag zuvor. Ein Blick auf den Fahrplan machte mir klar, daß ich bis zehn Minuten vor vier zu warten hatte. Fröstelnd und hundemüde stand ich am glücklicherweise überdachten Bahnsteig, wußte nicht, ob ich mich hinsetzen oder es bleibenlassen sollte. Einerseits wollte ich die Beine spreizen und von mir strecken, damit ich das Feuchte, Klebrige dazwischen nicht mehr so spürte, andererseits den faden Spermageruch, der, falls er nicht ohnehin in der Luft lag, aus meinem Schoß kam, nicht noch deutlicher wahrnehmen. Und zudem fürchtete ich, daß ich, wenn ich mich erst einmal auf einer der Bänke niedergelassen hätte, sogleich in Schlaf sinken und nicht nur die erste S-Bahn verpassen würde.
Obwohl meine Zunge pelzig war und auch schmeckte wie eine tote Maus, verspürte ich das Bedürfnis zu rauchen. Doch in meiner Umhängetasche fanden sich weder Zigaretten noch Feuerzeug, nur mein Portemonnaie, ein Pilzmesser, drei zusammengefaltete Papiertüten und eine fast leere Schachtel Streichhölzer. Also mußte ich meine angebrochene Schachtel f6 in der Schankstube oder dem Zimmer dahinter vergessen haben. Da ich ja genug Zeit hatte, wäre ich sicher noch einmal zurückgegangen, wenn nicht auch mein Portemonnaie bis auf ein paar Groschen leer gewesen wäre (Wo war mein bißchen Geld geblieben? Hatte ich in einem trunkenen Anfall von Stolz etwa doch zwei, drei Runden bezahlt?), nicht zum wahrscheinlich noch immer schnarchenden Wilhelm, sondern um an dem Automaten vor der Kneipe ein neues Päckchen zu ziehen.
Ich würde also eine ganze Weile nicht rauchen können; dies zu begreifen, steigerte mein Verlangen so sehr, daß ich hellwach wurde und mein sonstiger Zustand mir gleichgültig. Ich tigerte den Bahnsteig entlang, suchte jeden Quadratmeter und die beiden steinernen Müllkübel nach einer schönen Kippe ab, einer womöglich fast unversehrten Zigarette, die gerade mal angezündet, aber, als die Bahn kam, weggeworfen worden und erloschen war. Ich bückte mich nach zwei, drei jämmerlichen Stummeln, die jedoch so eklig rochen, daß ich sie wieder fallen ließ, und beschloß, lieber für ein paar Stunden auf Entzug zu gehen, da entdeckte ich zwischen den Schienen ein Softpäckchen der Marke Club, das offenbar jemandem entglitten und seitlich hochkant gelandet war; es wirkte noch ziemlich prall, und aus dem Loch neben der Banderole lugten etliche Zigaretten hervor.
Ich blickte hinauf zum grauen Himmel, und wenn ich gewußt hätte, wie man das macht, hätte ich gebetet. Meine Begeisterung und meine Gier waren so groß, daß ich an den Abstand zwischen Bahnsteigkante und Gleis keinen Gedanken verschwendete, sondern den Sprung wagte.
Da meine Beute am inneren Schienenrand gelegen hatte, war nur die Hülle etwas feucht, die Zigaretten waren es nicht; gut, ein bißchen klamm vielleicht, aber ansonsten okay. Mit Mühe unterdrückte ich den Wunsch, ein Streichholz anzureißen und mir schon dort unten, in der, wie ich nun fand, doch erstaunlichen Tiefe, Feuer zu geben. Gleich, dachte ich, gleich nehme ich den ersten Zug. Die von dem Wort ausgelöste Assoziation brachte mir wohl etwas von meiner Vernunft zurück, denn ich steckte das Päckchen ein, umkrallte die Bahnsteigkante — und hing daran wie ein Sack. Meine Arme waren völlig kraftlos und Klimmzüge nie eine meiner raren sportlichen Stärken gewesen oder geworden. So sehr ich mich abmühte, ich schaffte es nicht, mich wenigstens so weit hochzuhieven, daß ich die Ellenbogen auf den Betonvorsprung stemmen und versuchen konnte, den Rest meines Körpers eventuell auch noch auszuhebeln. Die Vergeblichkeit meiner Anstrengungen schwächte mich nur weiter, und diese gnadenlose Schwäche paarte sich mit der Angst vor der Zeit, dem Moment, in dem ich ihn würde herannahen hören, den ersten S-Bahn-Zug des Tages.
Das, was ich dann tatsächlich hörte, was schnell näher kam und dumpf und laut dröhnte, war vielfüßiges Getrappel; wie sich herausstellte, das von Menschen, genauer blauuniformierten Männern. Als das Getrappel abbrach, ich hochschaute, erblickte ich Köpfe; Köpfe, die Schirmmützen trugen, und unter den Mützenschirmen grimmige Gesichter. Zwei Pranken ergriffen meine Arme, sehr unsanft, zogen mich hinauf — mit einer Leichtigkeit, die mich verblüffte, aber nicht freute, weil ich ja ahnte, mit wem ich es gleich zu tun haben und was nun kommen würde. — Der Zug kam, kaum daß ich oben war; einer der fünf uniformierten Männer (zwei von ihnen waren, falls ich deren Schulterstücke und Mützenbänder richtig deutete, Transportpolizisten) drehte mir den rechten Arm auf den Rücken, blitzschnell und so grob, daß ein stechender Schmerz an meinem Schultergelenk riß, und schubste mich vor sich her und die Treppe hinunter und durch die finstere, nach Ammoniak stinkende Unterführung und dann in einen an deren Ende liegenden, von einer flackernden Neonröhre beleuchteten Dienstraum.
Der Beamte, der mich hinaufgezogen und abgeführt hatte, ein etwa dreißigjähriger, großer, untersetzter Kerl, ließ meinen Arm los, stieß mir gegen das Brustbein, erzwang so, daß ich mein Haupt zurückwarf, ihn ansah.»Ja, bist du denn bescheuert«, brüllte er.
Die übrigen vier standen um uns herum, mir und einander sehr nahe, in der Enge des Kabuffs. Auch sie glotzten wütend, was ich nur bemerkte, weil ich den Blick des Brüllaffen nicht noch einmal erwidern wollte, also an ihm vorbeischaute. Dann sah ich gar nichts mehr; in meinem Schädel sammelte sich Wasser, das höher stieg und mir schließlich aus Augen- und Nasenlöchern floß, als sei ich ein am aufgedrehten Hahn hängender, aber völlig verhedderter Gartenschlauch, der, vom Druck strapaziert, die ersten vier Lecks bekommen hatte. Ich schluchzte, schniefte, keuchte, hörte nichts außer mir, bis ich mit kaum verständlicher, mir selbst fremder Piepsstimme fragte, ob ich rauchen dürfe. Eine Hand griff nach meinem Kinn. Der, dem die Hand gehörte, oder ein anderer sagte:»Kopf hoch. «Mir wurde übers Haar gestrichen, ein kariertes Stofftaschentuch gereicht, ein Stuhl in die Kniekehlen und eine brennende Zigarette in den Mund geschoben. Jemand seufzte:»Ach, Mädel, du bist doch noch so jung«; und ich heulte weiter, und die Zigarette schmeckte wie fritierter Gummi.
Der Wind war umgeschlagen, die Wut der Eisenbahner schneller verraucht als diese erste von all den Zigaretten, die sie mir noch geben sollten. Bis auf den, der mich hochgezogen und bescheuert genannt hatte, wirkte keiner dieser Männer jünger als vierzig, und darum hatten meine Tränen womöglich Vatergefühle in ihnen geweckt, sie jedenfalls bewegt — zu der Annahme, daß ich mich aus Liebeskummer erst besoffen und dann auf die Gleise begeben hätte.
«Ist ja gut, Kleine«, sagte einer,»vergiß den Arsch. Wegen so was bringt man sich doch nicht um. Du könntest jeden kriegen, hübsch, wie du wärst, wenn du nur endlich die Flennerei lassen und dich mal wieder waschen würdest.«
Ein anderer zog eine flache Halbliterflasche Korn aus der Innentasche seiner Jacke.»Ich und der Rolf hier«, sagte er, auf den dicken Mann neben sich zeigend,»wir haben gleich Feierabend. Also werden wir uns jetzt einen gönnen. «Und Rolf öffnete einen der Blechspinde an der uns gegenüberliegenden Wand, entnahm ihm drei Gläser, stellte sie auf den Schreibtisch.
«Aber erst soll sie mal einen Happen essen, fertig, wie die ist«, meinte der lange Schmale, den ich für einen der beiden Transportpolizisten hielt. Er erhob sich, ging zu dem Regal hinter mir, kam zurück mit einer Brotbüchse, aus der er eine halbe, würzig duftende Klappstulle klaubte, und einer Thermosflasche, in deren Verschlußkappe er dampfenden schwarzen Kaffee füllte.
Ich aß die Mettwurststulle, trank den Kaffee, den Schnaps, und noch einen und noch einen, und meine Tränen hörten auf zu fließen. Nee, nee, sagte ich leise und so nett, als müßte nun ich diese Männer trösten, ich habe keinen Liebeskummer, wollte nicht sterben, bloß rauchen; und da unten im Gleisbett, da lag, was mir fehlte, nämlich das hier. Fast schon triumphierend hielt ich den fünf Männern das Päckchen Club hin, das ich endlich aus meiner Umhängetasche hervorgekramt, bisher jedoch nicht gebraucht hatte, weil ich ja bestens versorgt worden war.
Und abermals drehte sich der Wind; in den Augenpaaren ringsum erlosch das Feuer der Güte, und keine andere als ich hatte es ausgetreten. Der dicke Rolf, dessen Blick am schnellsten zu Asche geworden war, nahm die Thermoskanne vom Tisch, dann die Kornflasche, die er demonstrativ zuschraubte, und fauchte in die Stille hinein:»Das kann doch wohl nicht wahr sein. Du willst uns verarschen, du kleine Kröte, uns weismachen, daß du für ein paar Fluppen den Hals riskierst? Aber damit beißt du auf Granit bei mir. Hol noch mal tief Luft, weil du jetzt nämlich Ärger kriegst, richtig fiesen Ärger.«
Mir wurde einigermaßen klar, wie töricht, ja gefährlich es gewesen war, in dieser Situation, in den Händen dieser Staatsdiener, die Wahrheit zu versuchen. Und was hieß schon Wahrheit? Gab es jemals einen Menschen, der von Kummer völlig frei gewesen wäre? War nicht spätestens nach Ausbruch der Pubertät jeder Kummer Liebeskummer irgendwie?
Ich weiß nicht, ob mir derlei Fragen bereits in der Eisenbahnerbutze durch den Kopf gegangen waren oder erst, als ich neben dir lag und dir diese Geschichte nicht erzählen konnte. Oder entstehen sie gerade jetzt, da mich beide Geschichten beschäftigen, jene, die sich damals in Königs Wusterhausen zutrug, und unsere, die nicht zu Ende sein wird, bevor es auch mit mir zu Ende ist?
Rolf grabschte nach meiner Umhängetasche, die genaugenommen ein unförmiger, fleckiger, einstmals gelber Lederbeutel war, entleerte deren Inhalt auf den Tisch, schnappte sich das Portemonnaie, in dem er meinen Ausweis vermutete — oder sonst ein Papier, das einen Hinweis auf meine Identität enthielt —, fand jedoch nichts als meine letzten drei Groschen und ein am Vortag entwertetes S-Bahn-Ticket. Er krempelte meinen Beutel ganz um, Flusen und ein paar Kiefernnadeln rieselten herab aus dessen löchrigem Taftfutter.»Hast du Taschen im Rock und in denen irgend etwas, womit du dich legitimieren kannst«, fragte Rolf.
Obwohl ich mir der Gefahr, die sich da zusammenbraute, durchaus bewußt war, verlor ich für einen Moment die Kontrolle. Vielleicht lag es an den Schnäpsen, die ich so schnell gekippt hatte, jedenfalls kicherte ich, ließ den Zeigefinger meiner dreckigen Linken über dem Tisch kreisen und erwiderte: Aber sicher, guck mal da, den Fahrausweis. So nennt ihr die Dinger doch, oder?
Das war zuviel — für den Mann namens Rolf und die anderen vier, denn sie schwiegen — lange, bis einer sich wegdrehte zu dem kleinen Eckregal, auf dem, wie ich erst jetzt bemerkte, ein graues Telefon stand. Rolf ergriff den Hörer, wiegte ihn in der Hand wie eine Keule, räusperte sich und sagte beinahe tonlos:»Es reicht. Name, Adresse, Alter?«
Entschuldigung, war ja gar nicht frech gemeint, jammerte ich. Soja, der Name, Soja Edith Krüger, wohnhaft Karl-Marx-Allee 112, sechzehn seit März dieses Jahres, Schülerin der Klasse 10 b der Polytechnischen Carl-von-Ossietzky-Oberschule.
«Nee, nee«, sagte der etwas Jüngere, der mich hochgezogen hatte,»uns nimmst du nicht mehr auf den Arm. Rolf, drehst du mal eben die Nummer der Meldestelle Mitte … Ach Quatsch«, unterbrach er sich,»is ja noch zu früh fürs Amt. Ich bringe unser Früchtchen lieber gleich auf die hiesige Wache. Wer kommt mit?«
Nur einer, vermutlich der Dienststellenleiter, gab zu erkennen, daß er bleiben müßte. Rolf legte mir seine Hand in den Nacken; ich wußte, weder Tränen noch Dreistigkeit würden mir jetzt weiterhelfen, und mir kam, wie wohl manchem bedrängten Menschen, die Mutter in den Sinn, meine Mutter, zu der ich schon damals und eigentlich von Anfang an ein schwieriges Verhältnis hatte. Sie hielt mich für mißraten, ich sie für herzlos, ein Arbeitstier, das, wenn es wollte, tolle Klamotten nähen konnte — und auf dem Schifferklavier Kampflieder spielen, was ich äußerst peinlich fand. Noch peinlicher war mir der politische Ehrgeiz, der sie jeden Tag ein bißchen mehr aufblähte; und einmal, als sie nachts vor dem Kühlschrank hockte und in eine Salami biß, schlich ich mich hinterrücks ganz nah an sie heran, erschreckte sie mit den Worten: Bald wirst du platzen — vor Stolz. Unbeirrbar, wie einst am See jene Trauerweide, stieg sie die Karriereleiter hoch. Aus der drallen FDJlerin mit der tiefen, im sächsischen Tonfall die banalsten Torheiten verkündenden Stimme war eine Parteifunktionärin geworden, und daran, was aus der werden konnte, werden würde, wenn alles den üblichen sozialistischen Gang ging, mochte ich gar nicht erst denken, weil es mir Angst machte; allerdings nur um meinetwillen, denn ich war, es ließ sich nicht leugnen, Fleisch vom Fleische dieser Frau. Kurz, ich schämte mich — vor ihr und für sie.
Ich wußte, ich hatte, um das Schlimmste zu verhindern, kaum mehr einen Moment Zeit, und obgleich oder weil das so war, zischte aus dem schwarzen Nichts zwischen den spärlichen Glühpünktchen in meinem Schädel plötzlich wie ein Komet ein Satz hervor und schon Richtung Zunge nieder, ein Satz, den ich einmal geträumt hatte und von dem ich aufgewacht war, denn ich hatte ihn wohl für eine echte Erleuchtung, ja, für die Lösung eines auch nur geträumten, mir aber unwiederbringlich entglittenen Problems gehalten: Ruft meine Mutter, daß sie mir hilft, und schlagt sie dann tot. Doch nicht dieser Satz kam mir über die Lippen, statt dessen sagte ich: Nun ratet mal, wer meine Mutter ist. Alma Krüger heißt die. Genossin Krüger, zweiter Sekretär der Bezirksparteileitung Berlin, falls hier einer ne Eselsbrücke braucht. Und jetzt Pfoten weg, oder ihr kriegt den Ärger.
Rolfs Griff lockerte sich, als habe man mit einem Betäubungsgewehr auf ihn geschossen. Seine Hand wurde leichenschwer und glitt von meinem Nacken ab und mir noch ein kleines Stück den Rücken runter. Dann war der Kontakt zwischen seinem und meinem Körper unterbrochen, für immer, wie ich hoffte — ohne daß ich Erleichterung empfunden hätte. Mir war heiß, mein Gesicht muß vor Scham krebsrot gewesen sein. Ich wagte es nicht, jemanden anzusehen; auch so wußte ich, sie wußten, was ich wußte: daß seit meinem Outing, wie man das heute nennt, seit dem Moment, da ich meine Mutter ins Spiel gebracht hatte, jedes weitere Wort gegen mich böse Folgen haben konnte, daß sie, selbst wenn sie, trotz unterschiedlicher Dienstgrade, ausnahmsweise mal zusammenhalten und den Hergang der Ereignisse übereinstimmend schildern sollten, Flecken in ihre Kaderakten bekämen, niemals mehr tilgbare, daß, obwohl sie zu fünft wären und ich nur eine, allein meiner Darstellung Glauben geschenkt würde, ja, geschenkt, denn die Polizisten, Schiedskommissare, Richter …, die über die Sache zu befinden hätten, würden mir glauben müssen, weil ich die Tochter von Alma Krüger war.
Ob und warum sie mir abnahmen, was ich aus Not preisgegeben hatte, weiß weder ich noch sonstwer, nur, daß jedem von uns sechsen klar war, wie verfänglich schon ein geflüsterter Zweifel an der Wahrheit meiner bisher durch nichts bewiesenen Behauptung sein konnte. Der Telefonhörer lag, als ich zu dem Regal rüberlinste, wieder auf der Gabel, und ich senkte wieder meinen glühenden Kopf, und in das eisige Schweigen hinein tönte laut das Knarren der Tür, die einer der Männer geöffnet hatte — und aufhielt, bis ich an ihm vorüber und im Dunkel der Unterführung verschwunden war.
Erst als ich wieder auf dem Bahnsteig an- und zu mir gekommen war, schweißgebadet, wie aus einer Narkose oder einem Traum, bemerkte ich, daß ich das Päckchen Club dort unten in dem Kabuff vergessen hatte. Aber da fuhr die S-Bahn vor und ich mit ihr davon — bis zur Station Schönhauser Allee, jener langen Straße, in der meine Freundin Claudia wohnte, die mir, wenn sie zu Hause wäre, zwei, drei Zigaretten geben und womöglich sogar etwas Geld leihen würde.