«Drauf Sein«; der Ausdruck ist einfach nur flapsig und befremdet mich bis heute. Und immer noch wäre es sprachregelwidrig, wenn man Drauf Sein wie Dasein schriebe, obwohl es ein Dasein ist, das Drauf Sein — mit dem einen oder dem gegenteiligen Adjektiv davor;»gut drauf, schlecht drauf«, Hauptsache drauf. Nach dieser — sachlich und bildlich falschen — Idiotenlogik warst du also wieder» drauf auf der Nadel«, wie das hieß, wenn einer Opiate, vorzugsweise Heroin,»drückte«,»schoß«,»ballerte«… Dabei warst du ja gerade nicht drauf, nicht einmal schlecht, sondern drunter, standest von Tag zu Tag mehr unter dem Einfluß der Droge, womöglich schon seit jenem, an dem du bei der Triade die letzte Urinprobe abgegeben hattest.
Nein, du benahmst dich zunächst nicht auffällig, jedenfalls nicht auffälliger als zuvor. Du tatest nichts von dem, wovon ich später in Ratgeberbüchern — etwa für Eltern suchtgefährdeter Kinder — las. Ich entdeckte keine Einstiche oder Hämatome in deinen Armbeugen, weil du dort längst keine Vene mehr fandest und dir den Stoff meistens in die Leisten injiziertest; aber auch das erfuhr ich erst viel später und nicht von dir. Möglich, daß es mir generell an Beobachtungsgabe mangelt, wahrscheinlicher, daß ich deine wortkarge Zurückhaltung, deine Ruhe, dein geringes Interesse an dir, an mir, an den alltäglichen Dingen, deine gemimte oder tatsächliche Furchtlosigkeit einerseits als deine Wesensart interpretierte und andererseits verdächtigte: Dein zunehmendes Bedürfnis, dich bei mir» anzuwanzen«, wie du es nanntest, wenn du mich in der Nacht kindlich, ohne sexuelles Verlangen, umarmtest, der kalte Schweiß auf deiner Stirn, die Schatten unter deinen rotumrandeten Augen, dein angewidertes Rumstochern in der Quark-Bananen-Pampe, deiner» Sportlerdiät«, die du dir manchmal selbst machtest, manchmal mich zusammenrühren ließest und dann doch meistens an Friede oder mich verfüttertest, das anfallartige Gähnen, das sekundenkurze Weg nicken, alles mögliche hielt ich für Symptome der Krankheit. Du konntest dagegenhalten, was du wolltest, das anstrengende Training, die Hitze, schlechte Laune …, ich glaubte dir nicht, tat bloß so, als hättest du mich überzeugt oder wenigstens beruhigt.
Und tendenziell stabilisierte sich dein physischer und seelischer Zustand, wenngleich auf niedrigem Niveau, du wurdest sogar ein wenig aktiver. Erinnerst du dich daran, wie du Ende August, während ich in Halensee Blumen verkaufte, mal schnell meine Küche renoviert, genauer jene Wandsegmente überstrichen hast, an denen keine Regale, kein Kühlschrank, keine Duschkabine standen? Ich freute mich, aber nicht, weil die Fettflecke verschwunden waren, sondern weil etwas anderes noch da war, etwas, das du, wenn du gründlicher gewesen wärst, sicher gefunden hättest.
Harry, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll; womöglich erinnere ich mich auch nicht besonders gut, aus Gründen, die endlich mal genannt sein wollen und für die ich trotzdem etwas Anlauf brauche.
Du wirktest über jene Sommerwochen, obwohl du nachts wie ein Klammeräffchen warst, um einiges sicherer und erwachsener, als kenntest du dich allmählich wieder aus im Leben. Wohl wahr, du gingst deine eigenen Wege, ließest dir nicht in die Karten gucken, doch wenn du dich mir zeigtest, also deine Tür öffnetest oder zu Besuch kamst, dann gleichbleibend gelassen, fast souverän. Vielleicht jammerte ich deshalb weniger, vielleicht hatte ich nur gelernt, die Angst besser zu verdrängen. Oder reizte mich gerade dein Hang zur sexuellen Abstinenz, den ich für einen Ausdruck von Neuorientierung, Heranreifen, Anderes-im-Kopf-Haben hielt? Jedenfalls wollte ich manchmal wieder und verließ mich darauf, daß du mich schon in der gewohnten Weise schützen würdest. Und wirklich, du hast mich nicht einmal zurückgewiesen, allerdings auch nie mehr von dir aus die Initiative ergriffen. — Ich nahm es nicht allzu schwer, denn es war etwas geschehen — und auch das wiederholte sich nicht, obwohl ich später mit System und bedeutend höheren Einsätzen spielte.
Denkst Du manchmal noch an meinen Lottogewinn? Daran, wie wir an einem Mittwoch im August Friede in einer Salatschüssel badeten und nebenbei der Fernseher lief? Wie mir, als die Nummern gezogen waren, der blöde Spruch vom Pech in der Liebe und dem Glück im Spiel über die Lippen kam und wie verdächtig wenig ich mich freute? Jetzt muß ich dir ja nicht mehr verheimlichen, was mir damals tatsächlich ausgezahlt wurde; nicht die bescheidene Summe von fünftausend in zehn Fünfhunderterscheinen, die ich am nächsten Vormittag vor deinen runden Augen auf den Tisch blätterte und eine Stunde später zur Bank brachte, sondern fast achtzehntausend. Ja, Harry, mit dem Löwenanteil von genau zwölftausendsiebenhundert Mark eröffnete ich ein Sparbuch, das ich, in Alufolie gewickelt, sorgsam versteckt hielt, gerade dort, wo ich die Blumenstandeinnahmen parkte und sonstige Gelder, die ich nicht im Portemonnaie, aber jederzeit greifbar haben wollte, hinter der Dusche, zwischen Kabinen- und Küchenwand.
Du hattest dein Geheimnis, ich hatte meins. Mach dich darüber lustig, nenn mich eine konfliktscheue Egoistin, doch die Kohle, und nur die, brachte mir, was ich brauchte, sie lenkte mich ab, tröstete und beruhigte mich. An sich hatte ich nichts davon ausgeben, sondern das ganze Geld beiseite legen wollen, für später, für den Fall, daß du spezielle, in Deutschland noch nicht erhältliche Medikamente, eine Kur oder Pflege benötigen würdest, und ebenso für mich, denn bis ich endlich den Mut aufbrachte, zum Test zu gehen, der laut Joe eh erst sechs Monate nach dem letzten» Risikokontakt sinnvoll «war, rechnete ich damit, eines Tages auch krank zu werden; soweit hätte ich es nicht kommen lassen, lieber vorher Gift genommen, aber selbst das gab es ja nicht legal, hätte also über dunkle Kanäle teuer beschafft werden müssen.
Der Zufall, diesmal als Glück verkleidet, richtete es ein wenig anders: Ich konnte mir erlauben, auf die Stütze zu verzichten, den Job als Lichtsetzer bei Springer oder sonstwo auszuschlagen; nur den Blumenhandel betrieb ich weiter, später sogar mal eine Zeitlang in eigener Regie. Und ja, ich fand Gefallen daran, einkaufen zu gehen, Klamotten und edle Delikatessen wie Kaviar, Trüffelöl, Foie gras, die ich in Mengen und alleine verputzte und die dafür sorgten, daß mir all die neuen Pullis, Jeans, Kleider und Dessous bald nicht mehr paßten; du wurdest dünner, und ich wurde immer dicker. Das wiederum berechtigte mich, erneut zuzuschlagen. Wie im Rausch blätterte ich Kataloge durch, bestellte Kissen, Bettwäsche, Porzellan, kleinere und größere Aufmerksamkeiten für dich: Lederjacken, Bademäntel, Schlafanzüge, Pantoffeln. Ich plünderte Warenhäuser und Boutiquen, manchmal im genaueren Sinne des Wortes; ich begann damit, irgendwelche Dinge einzustecken, weil das Ablenkung pur war, ein schwacher, doch für den Moment sehr wirksamer und auch noch ziemlich erregender Trost. Ich redete mir ein, dir gefallen, uns ein gemütliches Nest schaffen zu wollen, und wußte, daß dies nicht stimmte.
Ich gab, was dir nicht entgangen sein konnte, den Lottogewinn mit vollen Händen aus, und du nahmst meine Geschenke freudig an, machtest ja selbst gerne welche. Aber auch während jener relativ kurzen Phase, in der wir mich für reich hielten (und ich in Wirklichkeit noch viel reicher war), hast du nie nach Geld gefragt, dir nur einmal einen Hunderter geliehen, den du mir schon zwei Tage später zurückgabst, junkietypisch gefaltet, zweimal längs, einmal quer. Das hätte jeden anderen auf den Gedanken gebracht, daß du womöglich wieder dealtest, mich nicht; denn all die jetzt so prahlerisch klingenden Kenntnisse, etwa über den speziellen Umgang mit Geldscheinen, über Nachtschweiß, eingeschränkten Appetit und vermindertes sexuelles Verlangen erwarb ich erst im Laufe der Zeit.
Der Sonntag, an dem du meine Küche gestrichen hattest, ging mit einem Streit zu Ende, unserem ersten größeren Streit, den ich vom Zaune brach. Ich stellte dich vor die Alternative, sagte, daß ich mich über die weißen Wände freue, daß du mich aber trotzdem hättest fragen sollen und daß ich meinen Schlüssel wiederhaben wolle, bis auch ich einen von dir hätte; sowie ich den in Händen hielte, bekämst du meinen zurück.
Spätestens an jenem Abend hätte uns beiden klar sein müssen, wie sehr ich dir schon mißtraute, und auch du hättest Grund gehabt, an meiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. — Weil ich natürlich darauf spekulierte, daß du mir niemals ungehinderten Zugang zu deiner Bude gewähren würdest, und genau diese, von dir eingeführte und eisern verteidigte Konspiration ermöglichte mir jetzt meine.
Am Montag vormittag erwachte ich allein. Auf dem Kühlschrank lag mein zweiter Schlüssel, daneben dein Zettel:»Erpressung ist scheiße. Gruß Harry.«
Wir sahen uns nur noch zwei-, dreimal die Woche; du warst unterwegs, ich war unterwegs. Ich legte mir weitere Laster zu, gut essen gehen, verreisen; Paris, Rom, London. Ich bot dir an, mich zu begleiten, doch du wolltest nicht und schobst vor, dich, solange ich nicht da wäre, um Friede kümmern zu müssen. Und bei dir, in der Emser Straße, hauchte sie dann auch ihr kurzes Rattenleben aus, unsere süße Friede. Du sagtest, daß du mit ihr noch beim Tierarzt gewesen wärst, daß sie so etwas Ähnliches wie die Staupe gehabt und Antibiotika bekommen hätte. Sie sei in deinen Händen gestorben,»ohne jede Angst, friedlich, wie eine echte El-Friede«.
Vom Rest der Kohle, es waren immerhin noch etwa siebentausend Mark, kaufte ich mich im Jahr zwei nach dir in einen Blumenkiosk ein. Johanna, eine gelernte Floristin, auf deren Annonce ich geantwortet hatte, und ich, wir teilten uns die Arbeit in dem kleinen Laden am Ku’damm Ecke Uhlandstraße, zwei Tage Johanna, drei Tage ich. Sie fuhr zum Großmarkt, ich machte die Buchführung — und 96 waren wir pleite; Freundschaft zu Ende, Knete weg, Konkurs am Hals, Schulden, Sozialhilfe … Egal, damit will ich dich nicht weiter behelligen.
Dann kam jener Sonntag Ende September, an dem ein alter R12 auf Franzens Stand zurollte. Ich sprang erschrocken zur Seite, denn im ersten Moment sah es so aus, als wolle irgendein Besoffener im Übermut unser ganzes Blüh- und Grünzeug breitfahren. Aber knapp vor den Blumeneimern stoppte das Auto, die Tür ging auf, ein lachender Mann hielt seinen Kopf ins Freie und nahm sich die Sonnenbrille ab; dieser Mann warst du.
«Na, Soja, nun bist du baff«, riefst du und eiltest mir entgegen und hieltest mir ein Dokument unter die Nase. Ich beäugte das beidseitig bedruckte, in der Mitte gefalzte grüngraue Wachspapierrechteck gründlich von vorn und hinten — und ja, mit deinem vorschriftsmäßig seitlich geriffelten und gelochten Paßfoto, den blauen Stempeln und den zwei originalen Unterschriften sah es aus wie ein richtiger, angeblich am achten April 1983 ausgestellter» Pol 2935-Führerschein-Bundesdruckerei Bln 1. 82«der Klasse drei.
Harry, sagte ich, wie ist es möglich? Zu der Zeit warst du doch in Tegel. Seit wann dürfen einschlägig wegen diverser Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz Verurteilte die Pappe machen? Was soll das nun wieder? Und woher kommt der alte Renault?
«Vertrau mir«, meintest du,»fahren kann ich. Und der Lappen sieht doch super aus, oder? Mit dem nimmt mich kein Bulle hoch. Die Karre hat mir Tarik überlassen, spottbillig. Ist auch nur fürs erste, bis ich was Besseres finde.«
Ich hatte noch nicht Feierabend, deshalb gingst du wieder,»eine Kleinigkeit erledigen«. Eine Stunde später warst du zurück und chauffiertest mich nach Hause, auf Umwegen, damit ich mich, wie du sagtest, davon überzeugen konnte, daß du» am Steuer richtig gut «seist. Dein Arm ruhte lässig im Rahmen des heruntergekurbelten Fensters, die warme Abendluft zauste meine Locken, das Autoradio lief, auf der Kantstraße waren die Lichter angegangen; ich wollte das alles schön finden, schaffte es aber nicht. Ich weinte leise, und dazu tönte aus dem Radio, als hätte ich es bestellt, ein Liedchen, das ich nur dieses eine Mal gehört und trotzdem nicht vergessen habe.»Auto kaput/in einer Minut.//Rast auf mich zu/saublöde Kuh./Kam Polizei/alles vorbei./Führerscheinpapier/gehört nich mehr mir.//Auto kaput/in einer Minut …«, sang ein Türke in diesem putzigen Deutsch und mit monoton melancholischer Stimme.
Ich fragte dich, ob Elmar Kling hinter der Pappe stecke. Du gabst bloß zur Antwort, ich solle» die Flennerei lassen «und mir keine» unnützen Sorgen machen«. Die Vorstellung, daß du nun mobil warst, daß es noch schwerer würde, dich zu kontrollieren, quälte mich. Dein Lappen, so überzeugend er aussah, konnte nur gefälscht sein, und was du gerade tatest, war ganz sicher kriminell. Ich schloß die Augen und sah dich mit Dope vollgepumpt im Karatedress, neben dir dieser Tarik, auf den Rücksitzen die Klingsbrüder, durch eine mir unbekannte, regennasse, nächtliche Stadt brausen; Martinshörner jaulten, Schüsse knallten … Harry, sagte ich kleinlaut, könnten wir nicht noch irgendwo einen Schluck nehmen?
Wir landeten in einem Lokal namens Weltlaterne. Du bestelltest nur Limonade, weil du mich ja, wie du sagtest,»heil abliefern, dann aber weiter «müßtest. Ich kapierte, daß ich die Nacht ohne dich verbringen würde, und betrank mich aufs gründlichste.
Einige Tage später verschwandest du tatsächlich, für volle vierzehn Tage. Ich war besorgt, doch nicht erstaunt, denn ich hatte mit so etwas gerechnet. Oder hattest du gar davon gesprochen an dem Abend in der Weltlaterne? Ich ließ mehrmals täglich dein Telefon klingeln und fragte mich, was ich tun, wo ich dich suchen sollte, wenn du nicht bald zurückkämst. Aber dann, am Freitag nachmittag der zweiten Oktoberwoche, riefst du an, sagtest putzmunter, du seist» mit einem alten Freund in Hamburg, die große Freiheit schnuppern«. Als ich dir Vorwürfe machte, wissen wollte, wann wir uns wiedersehen, meintest du, dein» Klimpergeld «sei gleich alle, du würdest jetzt» Schluß machen«. Die Worte Klimpergeld und Schluß machen hallten in meinen Ohren lange nach; ich hätte platzen mögen vor hilfloser Wut.
Eben habe ich mir deinen Führerschein noch einmal angeschaut, mich daran erinnert, wie ich ihn, drei Jahre nachdem er, zusammen mit deinem Heft, deinem Reisepaß und noch ein paar Sachen, in meine Obhut gefallen war, einem Expolizisten zeigte, der einen Stock unter mir wohnte, doch längst woandershin gezogen und womöglich auch schon gestorben ist. Ich sagte dem alten Knacker, er hieß Karl Klawitter, daß dieses Dokument einem Freund gehöre und daß ich nicht genau wüßte, ob damit alles in Ordnung sei. Der Hauptwachtmeister a. D. stand ein wenig verwundert in seiner Tür, vermutete vielleicht, ich sei mal wieder betrunken und wolle ihn bloß auf den Arm nehmen, fühlte sich dann aber wohl geschmeichelt; er drückte sich die Brille gegen die Nasenwurzel und betrachtete das Dokument mit der gebotenen Sorgfalt. Lächelnd, die Rechte an einen imaginären Mützenschirm hebend, als habe er soeben eine Verkehrskontrolle durchgeführt und nichts zu beanstanden, händigte er mir deinen Führerschein schließlich wieder aus und sprach dabei die Worte:»Kein Zweifel, der ist echt. So echt wie Sie oder ich.«
Eigentlich schade, Harry, daß ich mit deinem» grauen Lappen «nie etwas anfangen konnte; zumal es mir ja nicht vergönnt war, selber einen zu machen.