III

Christoph, den mit der Badewanne, einer außergewöhnlich großen, hatte ich Ende Januar kennengelernt, im Lokal gewordenen Wunschtraum einer jeden Ostfrau, dem Malibu am Winterfeldplatz, dessen Boden knöchelhoch mit feinstem weißen Strandsand bestreut war. Zwischen den Tischen standen künstliche Palmen und echte, vom Zigarettenqualm und aus Mangel an Sonnenlicht halb verwelkte Ficus-benjamina-Bäumchen. Pinkfarbene, zu riesigen Flamingos geformte Neonröhren zogen sich über die schwarzen Wände hin, und von der Decke hingen Kugellampen, die ein diffuses blaues Licht gaben. Vor allem dieses Blaulichts wegen besuchte ich das Lokal ganz gerne, denn es bewirkte, daß die Hamburger, Spareribs und Folienkartoffeln, die man dort bestellen konnte, erbärmlich fad aussahen. Und so aß ich nie mehr davon, als unbedingt nötig war, damit mich die sehr kleinen Cocktails, die dafür aber nur die Hälfte des sonst Üblichen kosteten, nicht im Handumdrehen zulöteten.

Christoph hatte sich mir gegenüber niedergelassen, weil alle anderen Plätze besetzt waren. Etwa eine halbe Stunde lang verrenkte er sich fast den Hals, spähte an den ein- und ausströmenden Menschen vorbei zur Tür und leerte nebenher blitzartig die Karaffe Roséwein, die ihm gebracht worden war, ohne daß er sie hatte bestellen müssen. Als die erwartete Person, eine gewisse Adrienne, wie sich bald herausstellte, nicht erschien, drosch Christoph, dessen hübsches Gesicht vom hastigen Trinken und womöglich auch vor Zorn rot angelaufen war, eine Börse aus speckigem Leder neben sein Glas, erhob sich, wand sich suchend um die eigene Achse — wie eine Raupe, die das Ende des Grashalms erreicht hat und nicht mehr weiterweiß; doch die dürre, immer gehetzt dreinschauende Serviererin war nirgends zu sehen.

Erbstück, fragte ich laut und legte meine Finger auf das Portemonnaie. Aber Christoph grabschte nicht etwa ängstlich nach seinem Eigentum, sondern antwortete grinsend, als hätte ich ihn von Üblerem als Geld befreien wollen:»Nein, noch nicht, noch bin ich ja am Leben.«

Er setzte sich wieder, winkte, kaum daß die Toilettentür hinter ihr zugeschlagen war, die Serviererin herbei, fragte, ob er mich einladen dürfe, zu was auch immer, orderte für sich die nächste Karaffe Rosé und sprach:»Angenehm, ich bin der Bayer Christoph Meier.«

Ich sagte ihm, wer ich sei und wo ich herkäme, und dann wunderten wir uns ein wenig und ganz so, wie unsere Rollen es verlangten, er sich, weil ich keinen Wodka mochte, ich mich darüber, daß er sich an diesen komischen hellroten Wein hielt, obwohl sie hier ein berühmtes Münchner Bier zapften. Christoph outete sich als Augsburger, der» in der Nähe von Brechts Elternhaus «aufgewachsen und vor sechs Jahren nach Berlin gekommen sei, um Pädagogik zu studieren. Doch das habe ihn bald» angeödet«, auch weil er» nicht ernsthaft «daran denke,»einmal Kinder zu dressieren«. Jetzt bringe er sich ein bißchen ein in ein Jugendprojekt namens Pumpe und mache am Wochenende einen Job, der ihm wiederum ein bißchen was einbringe.

«Und du? Welcher Teufel hat dich geritten, der DDR den Rücken zu kehren?«Christoph war so taktlos nicht, mich, wie es schon mancher getan hatte, des» Verrats an der Sache des Sozialismus «zu bezichtigen. (Was mich nur mäßig kränkte; denn so, wie wir von einer Alternative geträumt hatten, gestand ich euch die umgekehrte Illusion zu.) Statt dessen bot er mir an, ihn gelegentlich, wenn er Wichtigeres erledigen oder mal wieder seine Mutter besuchen müsse, bei dem Wochenendjob zu vertreten, und sehr viel später, als wir das Malibu schwankend verließen, auch seine Badewanne.»Hier«, lallte Christoph,»hier is a Schlüssel zu unsrer WG. Den hatte ich für Adrienne dabei, doch die scheint ihn ja nicht mehr zu wollen. Kannst kommen, wann du magst. Wir verlassen meist früh das Haus und sind viel unterwegs oder bei unseren Freundinnen.«

Christophs Faust knuffte lasch meine Schulter; seinem Mund entwich noch ein» Tschau«, das wie Miau klang, dann drehte er sich weg und schritt davon, etwas steif- und breitbeinig, wie ein trauriger, aber stolzer Mann eben so geht, kurz vor dem Ende der Nacht.

Als die ihn verschluckt hatte, lief auch ich los, Richtung Tiergarten, den Schlüssel in meiner Hand wärmend.

Lieber hätte ich Christoph mitgenommen und viel lieber ihn zu sich begleitet, schon wegen der Badewanne. Doch seit ich unter ihnen lebte, war es mir nicht mehr gelungen, einen dieser Westmänner aus halbwegs sortierten Verhältnissen für mich zu gewinnen. Sicher, ich war nichts Besonderes, aber ich konnte lange Beine vorzeigen, reine Haut, einen vollen Busen und Mund. Früher im Osten, als ich noch den Exotenbonus hatte und der Gast die Freiheit, zu bestimmen über das Maß von Nähe und Distanz, waren einige dieser Gäste jedenfalls weniger wählerisch gewesen. Zwei Studenten der politischen Wissenschaften, aus Marburg der eine, der andere aus Bremen, hatten nacheinander,»mit Hilfe «meiner» Zuneigung«, wie der Bremer es ausgedrückt hatte, die» erotischen Unterschiede «zwischen ihren» Bräuten «und denen im Osten» empirisch überprüft«. Auch an einen Heidelberger Zahnmediziner kann ich mich ziemlich gut erinnern — und an den vasektomierten amerikanischen Germanistikstudenten, der beim Anblick meines Ofens derart in freudige Erregung geriet, daß er, während seine Zehen die heißen Kacheln betasteten, wieder und wieder» oh, it’s crazy «rief. Dabei hatte mancher Mann, der neben mir oder in den übrigen Regionen unseres Ländchens aufgewachsen war, meine unkomplizierte, nicht nach fester Bindung strebende Art durchaus geschätzt; zumal sich Ostmänner bei den wirklich Schönen eher unsicher fühlten, denn die wollten, wie es hieß,»erobert und so oder so unterhalten werden«.

Und nun? Ich gab mir alle Mühe, meine nicht eben zahlreichen Reize hervorzuheben, mit Lippenstift, Netzstrümpfen, schicken BHs unter dünnen Blusen. Aber es lief, obschon ich mich manchen Abend an der gelangweilten Herumhockerei in den Kneipen beteiligte, nichts; nichts als gelegentlich gönnerhaftes oder kritisch belehrendes Interesse an den — auch noch reichlich unspektakulären — Umständen meiner» weichen Landung «auf dem» Planeten des real existierenden Kapitalismus im Sonnensystem Deuropa«, zu der mir Christoph bei unserem ersten Gelage im Malibu gratuliert hatte. Und trotz des beifälligen Lächelns, mit dem ich die fade polemische Replik quittiert hatte, wußte ich über solche wie Christoph doch schon so viel, daß ich mich fragte, ob dieser Wortwitz tatsächlich auf seinem Mist gewachsen war oder auf dem eines Titanic-Redakteurs.

Es war, als seien diese freundlichen, für das ungeübte Auge sehr lässig wirkenden jungen Männer, deren erlesene» Dresscodes «ich entschlüsseln lernte, noch ehe ich wußte, was genau damit gemeint ist, in Klarsichtfolie gewickelt. Ich konnte ihren Blicken folgen, zu ihnen sprechen, sie antworten und atmen hören, aber wirklich berühren konnte ich sie nicht. Das spürte ich, sobald ich meine Hand auf eine dieser Männerhände legte und versuchte, sie eine Weile dort zu lassen. Es fühlte sich an, als seien ihre gepflegten, sehnigen Hände, aus denen sich markant die Adern hervorwölbten, wiewohl sie Wärme abgaben, taub. Oder waren es meine Fingerkuppen? Auch die Männer schienen diese Blockaden zu bemerken, denn sie zogen, meist beiläufig, ja, behutsam, ihre jeweilige Hand weg, während meine noch Kontakt wollte, mein Nervensystem noch darauf wartete, daß etwas geschah, daß es womöglich meinen Pulsschlag beschleunigen, meine Betriebstemperatur erhöhen und meinen Geruchssinn schärfen müßte.

Wie ferngesteuert erreichte ich die Pallas-Athene-Straße 12, öffnete die Tür zu der Fünfzimmerwohnung im vierten Stock des zweiten Hinterhofs, die sich Christoph mit drei Freunden teilte, und dann, bis zum Anschlag, den breitmäuligen Messinghahn, aus dem das Wasser in disproportional dünnem, unregelmäßigem Strahl hinunterrann auf den Grund der tiefen, sanft gerundeten Badewanne, die mich jedesmal an die Krankenhaus-Nachttöpfe aus meiner Zeit als Hilfspflegerin erinnerte, nicht nur der Form und des Geräusches wegen, sondern auch, weil sie bestenfalls zu einem Drittel gefüllt war, wenn sich der — zum Glück über dem Fußende hängende — schrottreife Dreißig-Liter-Gasboiler nach einer knappen Stunde endlich entleert hatte. Meistens nutzte ich diese Stunde, um mich für das Privileg zu revanchieren, spülte Geschirr, bügelte Hemden oder bereitete die Suppe vor, die ich nach dem Baden gerne kochte, schön langsam; es konnte ja sein, daß Christoph ausnahmsweise mal vor Mitternacht heimkehrte oder wenigstens einer seiner Wohngenossen Anton, Sven und Bruce.

Doch an jenem Freitag legte ich unverzüglich meine Sachen ab und mich fröstelnd auf den rostfleckigen Wannenboden. Aber nicht so, daß der feine, dafür aus beträchtlicher Höhe hinabstürzende Wasserstrahl die leicht manipulierbare Stelle zwischen meinen Beinen traf, denn beinahe mehr als den mechanisch herbeigeführten Orgasmus, den ich mir sonst immer gönnte, genoß ich es, in Eile zu sein.

Kaum richtig trockengerubbelt, setzte ich mich nackt an den Küchentisch, frisierte und schminkte mich vor einem Klappspiegel, den ich im Bad entdeckt hatte — und dorthin zurückzubringen vergaß, weil ich nervös war, so sehr, daß mir der Lidstrich mißriet und mein flüchtig gefönter, toupierter, hochgesteckter, von zuviel Haarspray klebrig-steifer Schopf aussah wie ein aufgeplatzter Polsterstuhl, ein gefrorener Ameisenhaufen, ein verlassenes Krähennest … Ich schlüpfte wieder in den kleinkarierten Sommerhänger, der mir nun lächerlich verfrüht vorkam, fand noch eine blaue Herrenstrickjacke, die Helmut Kohl gepaßt und gestanden hätte, entschuldigte die Leihnahme auf einem Zettel, warf die Tür hinter mir zu — und hatte Zeit, noch fast eine Stunde, in der ich hin und her überlegte, ob ich meine Verabredung mit dir einhalten sollte oder besser nicht.

Ich kniff dann doch nicht; wahrscheinlich, weil ich mich später nicht mit sentimentalen Spekulationen über das womöglich Versäumte quälen wollte, und auch, weil ich in solchen, eine Entscheidung fordernden Situationen erkannte oder zu erkennen glaubte, daß, vor allem anderen, meine Mutter schuld war an meinem» Hang zum Übermut«, den sie oft beklagt und der sie und mich nun für immer getrennt hatte. Oder war Soja Kosmodemjanskajas schweres Schicksal etwa nicht, von den politischen Weltläuften abgesehen, das Resultat ihres Kampfes wider den, nicht einmal nur uns Menschen eigenen, Selbsterhaltungstrieb gewesen?!

Peinlicherweise stand ich bereits vor dem Café, als ihr kamt; ja, ihr, denn wieder hattest du diesen Benno im Schlepptau. Dein Blick war so, daß ich einen Moment lang dachte, ich hätte meinen Geburtstag vergessen, du aber nicht. Du strecktest mir eine langstielige, etwas angewelkte, nahezu blatt- und dornenlose rote Rose entgegen; mit der anderen Hand verbargst du etwas hinter deinem Rücken. Dein Fuß stieß die Tür zum Lokal auf, du wähltest für uns einen Tisch in einer weit vom Eingang entfernen Ecke des Raumes und bestelltest bei der Kellnerin, deren einzige Gäste wir waren, drei Kännchen Kakao plus extra Schlagsahne.

Und erst jetzt, da sicher war, daß wir zumindest die nächste Stunde miteinander verbringen würden, musterte ich dein Gesicht in Ruhe und so gut es ging in dem Zwielicht aus Sonnen- und Lampenschein. Trotz dieses Fieberglanzes auf deinen Pupillen, die widerspiegelten, was immer du ansahst, ähnelten deine großen blaßgrauen Augen denen eines alten Karpfens. Auch das Oval deines weichen, unrasierten Gesichts war blaß, und das linke deiner fleischigen Ohren lag dichter am Kopf als das rechte. Das einige Zeit nicht geschnittene Haar fiel dir strähnig in die Stirn. Du hattest Schatten unter den Augen, die weder nur deine langen blonden Wimpern warfen noch allein von dem diffusen Licht herrührten. Am besten gefielen mir dein üppiger, aber männlicher Mund und dein kräftiges, in der Mitte gekerbtes Kinn, das für sich betrachtet aussah wie ein stoppliger Babypopo.

Die Kellnerin brachte die Gedecke, goß Kakao in unsere Tassen, ersetzte den vollen Aschenbecher durch einen leeren. Doch ehe ich in meiner Gier den ersten Schluck nehmen konnte, legtest du das, was du hinter deinem Rücken versteckt und dann neben deinem Stuhl geparkt hattest, zu der Rose, die ich in ein Glas Wasser und an die Wand gestellt hatte.»Mach auf«, sagtest du strahlend; auch Benno versuchte ein Backgroundlächeln.

Ich hob den Deckel von dem violetten, ein wenig lädierten Karton und erblickte eine in Holzwolle gebettete, atemberaubend scheußliche Pierrot-, Harlekin- oder Weißclownpuppe mit blauem Kegelhütchen, grüner Halskrause, Stupsnäschen, herzförmiger Schnute und schwarzer Träne unter dem einen ihrer dämlich glotzenden Glasaugen.

Für den Moment, womöglich gar minutenlang, war ich so verblüfft, daß ich die Kontrolle über meine Mimik verlor; das jedenfalls signalisierte mir der Anflug von Enttäuschung, der auf euren Gesichtern lag, als ich endlich wieder hochschauen konnte — zu Benno — und dann zu dir. Danke, sagte ich fast tonlos.

Du erwidertest nichts; aber Benno begann, als sei er Meister im Überspielen heikler Situationen, davon zu plappern, wie du diese» wertvolle Künstlerpuppe, eine einmalige Handarbeit«, all den kleineren, weniger schönen vorgezogen und» keine müde Mark «gescheut hättest, weil du der Meinung gewesen wärst, die und keine andere passe zu mir.

Das nun brachte mich gleich noch einmal aus der Fassung, jedoch nicht in dem Sinne, daß mich Zweifel allein an dir befallen hätten. Nein, ich fragte mich, was an meiner Erscheinung so zu deuten sei, daß es dir möglich war, zwischen diesem kitschigen Monstrum und mir irgendeine Verbindung herzustellen oder gar Ähnlichkeit zu entdecken.

Ich entschuldigte mich, ging zur Toilette, betrachtete die im Spiegel über dem Waschbecken sichtbaren Teile meiner Person: die dilettantische Hochfrisur, die ich jetzt nicht einmal mehr mit einem zerrissenen Polster, einem Vogelnest oder einem Insektenbau vergleichen wollte, meinen kleinen roten Mund und meine schwarz umrandeten Augen. Tatsächlich, sagte ich zu der Erscheinung, die mich darstellte, wenn du dir jetzt noch eine Träne erlaubst, kannst du dich auch in die Holzwolle hauen.

Ich weiß nicht, Harry, ob eine andere als ich zu euch zurückgekommen wäre, wenn sie ihre Handtasche dabei- und das Klofenster keine Gitter gehabt hätte.

Daß ich es fertiggebracht hatte, meine Tasche stehenzulassen — und dann noch bei fremden, wenig Vertrauen erweckenden Männern, signalisierte mir nichts Gutes. Jäh überrollt von einer Panikwelle, die mich nur aus einem Grund nicht umwarf, nämlich dem, daß ich mein Geld seit dem Portemonnaieverlust tagsüber im BH aufbewahrte, unterdrückte ich jenes Bedürfnis, das mich diesen Ort hatte aufsuchen lassen, und ebenso das kaum geringere, mit dem letzten bräunlich aus dem Spender lugenden Papierhandtuch verbessernd an mir herumzuwischen.

Glücklicherweise fand ich euch dort wieder, wo ihr sein solltet, in der hinteren Ecke des Cafés, und war zumindest die Sorge um meine Tasche los. Du schautest mich nicht an, als ich mich seufzend auf den Stuhl plumpsen ließ, der jetzt zwischen euch frei war und nicht identisch mit jenem, den ich vor wenigen Minuten verlassen hatte. Ihr wirktet verstimmt, ja richtig sauer. Ich fragte mich, ob die Ursache dafür noch immer meine mäßige Freude über dein Geschenk sein konnte und ihr euch womöglich deswegen gestritten hattet, oder ob euch etwas ganz anderes die Gesichter entstellte, etwas, wovon ich nun gar keine Ahnung hatte.

Ich griff nach der Puppe, sagte schrill: schönes Ding — und erschrak über meine falsche Stimme.

«Nun nimm sie schon in den Arm«, setzte Benno nach und klang dabei nicht minder verlogen und vollends onkelhaft, als hätte ich diese fiese Puppe mit einem von ihm spendierten Los auf dem Rummel gewonnen, fügte er hinzu:»Die kann dir keiner mehr wegnehmen.«

«Jetzt reißt euch mal bloß nicht das Futter aus der Jacke«, das waren die Worte, mit denen du unserem Laienspiel ein Ende machtest. Und obgleich du zu grinsen versuchtest, verriet dein sowohl Benno als auch mir ausweichender Blick, daß ich dir gründlich die Laune verdorben hatte. Nicht nur dir; die Stimmung war hin. Wir schwiegen wie die Steine; Kakao hatten wir auch keinen mehr.

Nie wieder seither hätte ich so leicht, so souverän, ja elegant die Kurve nehmen, mich für immer rausziehen können aus jedweder Art von Verkehr mit dir; ich hätte nur meine Tasche, die mickrige Rose, den peinlichen Clown greifen, etwas Geld zwischen die leeren Tassen legen und war nett zu sagen brauchen. Denn einige Schritte weg von dem Tisch, an dem wir drei das Denkmal des vergeigten Rendezvous gaben, stand sperrangelweit die Tür offen, hinter der Menschen wandelten, die sich wahrscheinlich allesamt besser fühlten als ich — in dem einen entscheidenden Moment, in dem ich nicht den Arsch hochkriegte, sondern die Torheit beging, nochmals deinen Blick zu suchen, der jetzt rabenschwarz war, Pupille durch und durch, und meinem lange standhielt.

Von diesem — oder doch schon von unserem ersten? — Augenblick an beschlich mich das Gefühl, du seiest ungefähr das, was ich auch geworden wäre, wenn es dem Schicksal gefallen hätte, mich als Knaben zur Welt kommen zu lassen — und in jenem vergleichsweise kleinen Teil davon, den ich, hätte er nicht zum» feindlichen politischen System «gehört, unseren hätte nennen können — oder einfach Berlin. Aber so standen zwischen deiner und meiner Kindheit, Pubertät, Jugend außer etlichen Ruinen, Häusern, Bäumen, Sträuchern, Grasnarben noch Mauer, Panzersperren und nervöse, nach Orden, Prämie, Sonderurlaub gierende Grenzer, die mit dafür gesorgt hatten, daß uns mehr unterschied als bloß das Geschlecht.

Mein Verdacht oder Wunsch, dir ähnlich zu sein, bewirkte keine Nähe; er war, ist, bleibt paradox, nicht zu begründen, vielleicht nur eine emotionale Halluzination. Wir stimmten nicht miteinander überein und paßten auch nicht zusammen, weder äußerlich noch sonstwie. Eher war es so, daß ich bei dir etwas witterte, wofür mir zuerst das magere Wort Gegenteil einfällt. Ich könnte es auch Kontrast nennen, wenn das nicht zu sehr auf Komplementäres, also auf Ergänzung hindeutete. Du warst radikal anders als ich, bist es sicher mehr denn je. Womöglich waren meine — allemal von Fehlinterpretationen, Irrtümern, Rückschlägen begleiteten — Versuche, dich zu ergründen, einfach bloß eigennützig. Vielleicht hoffte ich, über den intimen Kontakt mit dem Fremden, als den oder das du dich mir darstelltest, auch mich erforschen zu können, und hielt es schlicht für gefahrloser, in dir zu entdecken, was ich in mir nur vermutete oder vermuten mochte. Du tatest Dinge, die ich nie getan hätte, aber verstand. Du konntest dich verweigern, wo ich mich auslieferte, so, wie ich es gelernt hatte: gegen meinen Willen, den ich jedoch erst wieder spürte, als du mir zeigtest, wie man nicht nachgibt, egal um welchen Preis. Dir gelang manches, wozu ich unfähig war; ich wiederum meisterte Situationen, in die du gar nicht erst kamst. Und wenn du mich jetzt fragtest, was du mich zum Glück nie gefragt hast, denn damals hätte ich gelogen, würde ich nein sagen; nein, ich liebte dich nicht, obwohl du für mich wie ein Bruder warst (ein passenderes Wort für das, was ich meine, kenne ich ja nicht), aber eben kein leiblicher, sondern einer, der mit mir schlief, vögelte, kopulierte (welchen dieser Begriffe würdest du nicht streichen?), wann immer ich es wünschte.

Die Stille war quälend; deinen Blick hielt ich auch nicht mehr aus, und für die nächsten fünf Minuten, wenigstens die, hatte anscheinend keiner von uns einen Plan oder zumindest einen Vorschlag. Den machte nun ich, und er überraschte mich mehr als euch. Hört mal zu, Jungs, sprach ich munter wie eine Turnlehrerin, ich muß jetzt wirklich weiter, ein paar Dinge erledigen. Doch falls ihr am Sonntag nichts Besseres vorhabt, könnten wir gemeinsam essen, bei mir in Moabit. Ich mach Spargel mit kleinen Schnitzeln. Oder möchtet ihr lieber Rouladen?

In deinem Gesicht ging etwas vor, was ich nicht zu deuten vermochte; doch dann erhellte sich deine Miene, so enorm, als wären all die düsteren Gedanken, die sich in den Stirnfalten über deinen eben noch hochgezogenen Augenbrauen verborgen hatten, hervorgekrochen und binnen einer Sekunde zu paarungsbereiten Glühwürmchen mutiert.»Au ja«, riefst du,»Spargel hatten wir lange nicht mehr.«

Ich schrieb euch meine Telefonnummer, die richtige, auf eine Serviette, ebenso meine Adresse.

«Aha, Moabit. Auch ne schöne Gegend, stimmt’s, Ben?«sagtest du heiter und seltsam gedehnt, so, als hätte ich gerade einen Witz erzählt, den du dir unbedingt merken müßtest.

Wir verabredeten uns für sechs Uhr abends. Ich sargte meinen Kasper wieder ein, klemmte mir den Karton unter einen Arm, die Tasche unter den anderen und die Rose zwischen die Zähne und machte mich winkend vom Acker. Ihr hattet behauptet, noch sitzen bleiben zu wollen.

Draußen atmete ich tief durch, lief los ohne Sinn und Verstand. Ob ihr kommen würdet, war mir nicht egal, deinetwegen. Dennoch hätte ich nicht zu sagen gewußt, ob ich mehr hoffte oder eher fürchtete, daß ich übermorgen alleine dasäße mit meinen zwei Litern Bouillon, der Schüssel voll Obstsalat, den vier Kilo Spargel und den zehn Schnitzeln; soviel sollte es schon sein, selbst wenn ich vergeblich auf euch warten und in der Nacht mal wieder alles vor die Tür meiner kinderreichen Nachbarn stellen würde.

Hinterm Winterfeldtplatz, in einem Laden, der» Zum Affen «hieß und nicht so aussah, als könnte er auch euch zur Einkehr verlocken, gönnte ich mir erst mal ein Bier. Ich war froh, der Situation entronnen zu sein, und vermißte dich doch schon. Allmählich begriff ich, daß ich nun auch hier einen Menschen kannte, einen männlichen zudem, der nicht in solch einem durchsichtigen Sack steckte, den ich damals noch als Zellophan- oder Plastebeutel bezeichnet hätte und nicht mit dem blödsinnigen Wort Plastiktüte, das mir seither kaum leichter über die Lippen kommt (doch derart kleine Opfer darf eine perfekte Assimilation wohl verlangen).

An die Lokale, in denen ich viele weitere Getränke konsumiert haben mußte, konnte ich mich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern, aber wenigstens daran, daß ich Punkt neun Uhr dreißig den Blumenjob anzutreten hatte. Zwischen Küche und Zimmer fand ich BH, Unterhose, Schuhe, den Sommerhänger, die Strickjacke und meine Tasche wieder. Im Zahnputzglas auf dem Fensterbrett stand, mit Leitungswasser wohlversorgt, auch deine — trotzdem völlig verwelkte — Rose.

Nur der Harlekin blieb, als hätte ich ihn bloß geträumt, spurlos verschwunden — samt der angeknautschten lila Pappschachtel, aus der ich ihn ganz sicher kein zweites Mal herausgenommen hatte und hätte. Ach, Harry, möge diese Schachtel unseren Harlekin, wohin auch immer es ihn verschlug, für alle Zeiten bewahren — vor Hunden, Katzen und den Blicken einer jeden angeblich vernunftbegabten Kreatur.

«Essen ist Mist, schon bevor es dazu wird und kaum wieder rauswill aus unsereinem, das hat mich schon seit der Kindheit nicht mehr gereizt. Ich nahm, was es gerade gab, soviel wie nötig, sowenig wie möglich. War auch besser in den Jahren, die dann kamen. Mußte ich kein Geld für ausgeben, hätte ohnehin nichts übrig gehabt. Aber jetzt, unter den Ahnungslosen … Wenn die gut zu dir sein wollen, packen sie dir den Teller randvoll. Und du hast zu schaufeln, sonst gucken sie komisch. Bevor ich die Gabel endgültig niederlege, spreche ich immer ein paar lobende Worte: Tolle Soße, schmeckt fein, der Braten ist ja superzart. Dann strahlen sie wie frisch gefickte Eichhörnchen.«

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