VI

Am späten Vormittag fand ich trotz schweren Katers die Kraft, auf die nächste Mütze voll Schlaf zu verzichten. Ich erhob mich von der Matratze, warf meine Bettdecke über dich, nahm ein paar Sachen aus dem Schrank, ging duschen, mich anziehen, das Frühstück zubereiten.

Als ich mich gerade hingesetzt hatte, appetitlos ein viel zu mächtig geratenes Rührei mit Speck umgrub und in meine Tasse gähnte, erschienst du im Rahmen der Küchentür, hieltest fröstelnd die Revers meines Bademantels über deiner Brust zusammen, ließest dich nieder hinter dem Gedeck, das ich für dich aufgelegt hatte, und wolltest weder etwas essen noch Kaffee, nur einen Schluck Cola.

Ich fühlte mich beschissen, weil ich um diese Tageszeit und in einem solchen Zustand lange keinen Besuch mehr gehabt hatte, schon gar nicht einen, den ich kaum kannte, der mir aber dennoch alles andere als egal war. Bei dem Versuch zu lächeln, dem zu begegnen, wovon ich glaubte, es sei dein kritisch-finsterer Blick, spürte ich, wie die Haut über meinen Wangen spannte, wie geschwollen meine Lider noch waren, wie mir die Augen tränten. Mir ging auch nicht aus dem Kopf, daß ich im offenen Kleid erwacht war, jedoch ohne Erinnerung an den Grund dafür. Hatten wir einander nun angefaßt, oder wünschte ich mir bloß, daß es so gewesen sei? Dein nicht kritischer, trotzdem finsterer Blick hielt, als es mir endlich gelang, ihn zu erwidern, vollkommen dicht — und meinem stand, bis ich wegschauen mußte.

Weißt du, Harry, wie ich den bewundert und gehaßt habe, deinen üblichen Blick aus extrem geweiteten Pupillen, der mich absichtslos bezwang, der mir, da er unvergleichlich ruhig, aber leer war, völlige Deutungsfreiheit einräumte und doch dafür sorgte, daß jeder meiner Projektionsversuche an dir abprallte, der mich, wie eine schwarze Welle, immer wieder auf mich selbst zurückwarf, was einerseits Kraft kostete, andererseits stark machte.

«Und?«sagtest du mit rauher Stimme.

Ich wußte nichts zu antworten, starrte minutenlang auf einen Brandfleck in der Tischplatte, sog, weil ich mir selber noch keine anzünden mochte, mit geblähten Nasenlöchern den Qualm deiner Zigarette ein. Eher aus Verlegenheit als aus Neugier habe ich dich irgendwann gefragt, was du nun vorhättest, ob wir vielleicht spazierengehen sollten.

«Nein«, meintest du,»heute nicht mehr. Aber wir könnten uns mal wieder ein bißchen ausruhen.«

Mir war nicht klar, was genau du dir darunter vorstelltest. In der Horizontale Musik hören, rücklings rauchen, fernsehen und dabei einnicken, all diese» Untaten«, wie du dergleichen manchmal nanntest, hießen bei dir ausruhen. Doch das wußte ich an jenem Montag ja noch nicht — und folgte dir mit weichen Knien in mein Zimmer. Ich ließ mich auf die eine Matratze sinken, du dich zu meinem Erstaunen aber nicht über oder wenigstens neben mich, sondern auf die andere. Wir lagen ganz still, atmeten flach, fast tonlos, wie Eidechsen in der Sonne; das einzige, was ich deutlich spürte und sogar hörte, war das Knistern meines Haars, als unsere Schädel einander touchierten.

Ich wähnte dich schon schlafend und beschloß enttäuscht, es dir gleichzutun, da begannst du die längste Rede, zu der du dich in meiner Gegenwart je hast hinreißen lassen. Du seiest erst vor vierzehn Tagen aus dem Knast raus, JVA Tegel, auf Bewährung, weil du dich bereit erklärt hättest,»am Arsch der Stadt«, in Düppel-Süd, an so einer» Therapie-statt-Strafe-Maßnahme nach Paragraph 35 des Betäubungsmittelgesetzes «teilzunehmen. Doch bald hätte es» einen Vorfall gegeben, nichts Schlimmes, nur einen kleinen Verstoß gegen die Bauernhofregeln«, für den euch allerdings die»übelsten Konsequenzen «angedroht worden wären. Daraufhin hättest du deinem Freund Benno, der zusammen mit dir wegen» schweren Raubes «verurteilt worden wäre und sowieso meistens deiner Meinung,»beigebogen«, daß ihr» diesen Krümelkackern den dicken Daumen zeigen«, also» erst einmal abhauen «müßtet.

Du sagtest das langsam, leise und im Liegen. Nur ich war von meiner Matratze hochgefahren, schon bei dem Wort Knast, und hatte mich vor dir aufgebaut, in klassischer Pose: breitbeinig, die Fäuste in die Hüften gestemmt; doch du verzogst bloß spöttisch den Mund, als hättest du mich mit geschlossenen Augen sehen können. Deine Hand kam, eine Spinne imitierend, unter der Bettdecke hervorgekrabbelt, tastete nach einem meiner nackten Füße, umfaßte das Knöchelgelenk — wie eine Beute — und drückte zu, so überraschend kraftvoll, daß ich vor dir in die Knie ging. Dann legtest du mir den Arm um den Hals, und ich schmiegte mein Gesicht an deine Brust. Eher aufgeregt als erregt, erwartete ich dennoch mehr, wollte dir entgegen-, ja zuvorkommen, und zerrte, soweit die Fixierung, in die du mich genötigt hattest, dies zuließ, an den Knöpfen meiner Jeans.

Der Trick oder was das war, mit dem du mir wie einem Gummitier die Luft herausließest, bestand in einem kleinen, spitzmäuligen, geradezu lächerlich sanften Kinderkuß, von dem meine Wange noch Stunden später glühte, als hätte mich etwas gestochen oder gebissen.

Damit, daß ich einen solchen Kuß bekäme, hatte ich nicht gerechnet, nicht in diesem Moment, nicht so viele Jahre zu spät, eigentlich nie. Und das Wort Kinderkuß ist auch nicht genau genug, denn dein erster Kuß, Harry, war nicht wie von einem Kind, sondern wie für ein Kind, und wenn er nicht so unglaublich liebevoll und ich nicht so verblüfft gewesen wäre, hätte ich gedacht: Der will mich nicht — oder höchstens verarschen. Seit der Sekunde, da deine Lippen meinen auswichen, bloß meinen linken Mundwinkel und mich darum um so mehr berührten, wußte ich, das ist der Kuß, den mir keiner gegeben hatte, in einer Zeit, zu der Küsse wie dieser gehört hätten.

Mein Erschrecken darüber, die darauf folgende Mischung aus Trauer und etwas Freude, kann ich nur mit jenem Gefühl vergleichen, das mich erfaßte, als ich im Mai 1984, zwei Jahre vor meinem Umzug in dein Deutschland, von Ulan Bator nach Irkutsk geflogen war und am Saum des Rollfelds den Wald bemerkte und unter Tränen lachend stehenblieb, weil ich beim Anblick dieser sibirischen Fichten begriff: Ich hatte seit zehn Monaten keinen Baum gesehen. Verstehst du? Erst als ich wieder Bäume sah, wußte ich, daß sie mir gefehlt hatten und wie sehr.

Dein Kuß rief einen ähnlich süßen Schmerz hervor, zumal das Brennen, das ihm folgte, wohl doch nur von Scham verursacht war; denn auch dies wußte ich plötzlich: daß alle Küsse, an die ich mich erinnern konnte, selbst die frühesten, das gewesen waren, was ich von dir erwartet, aber nicht bekommen hatte und umgekehrt. Harry, deinen beunruhigend harmlosen Premierenkuß von so brutaler Zärtlichkeit, daß mir heute noch heiß wird, wenn ich nur daran denke, gabst du einer, der Selbstmitleid ziemlich neu war, die vor jener noch immer andauernden Sekunde, in der sie diesen nicht sexuellen Kuß empfing, kaum für möglich gehalten hätte, daß sie sich als Kind nach genau dem gesehnt haben könnte — und nie nach einem von den anderen Küssen. Und jetzt sage ich dir, was du damals nicht wissen solltest, weil ich mich nur geschämt und dich vielleicht in Verlegenheit gebracht hätte, daß schon die Vaterküsse, die das Sojalein einst hinnahm, runterschluckte wie klumpigen Reisbrei, Männerküsse gewesen waren, ungekonnte zudem, die es nicht gemocht, aber für alternativlos gehalten hatte.

Und jene Männer, die meinen Vater ablösten und schließlich ersetzten, küßten weder anders noch besser. Und Mutter- oder Omaküsse waren nicht vorgekommen; und später, als mich dann doch einige Frauen küßten, unterschieden die sich dabei wenig von den Männern, und auch sonst nicht so sehr, daß sie mir grundsätzlich lieber gewesen wären.

«Tja, Soja«, sagtest du, während ich, an deiner Brust klebend, widerstandslos auf und ab wogte,»nun ist, wie jeder Rennfahrer weiß, gutes Rad teuer, denn ich werde per Haftbefehl gesucht, weil ich die Bewährungsauflagen verletzt, mich der gerichtlich verfügten Therapie durch Flucht entzogen habe. Und wenn ich nicht schnell eine Therapie bei einem anderen offiziell anerkannten Laden aufreißen kann, muß ich zurück in den Bau.«

Ich begriff nicht ganz den Sinn deiner Rede, war auch noch zu beschäftigt mit mir, richtiger den Turbulenzen, in die dein Kuß mich gestürzt hatte, und fragte nach: Welcher Bau? Therapie wogegen?

Da sprachst du dieses seltsam melodisch klingende Wort aus, das mich noch mehr verwirrte, obwohl oder gerade weil ich kein Englisch verstand, aber doch irgendwie wußte, daß der Kontext, in dem ich es schon mal gehört oder gelesen hatte, ein zutiefst finsterer war:»Junkie.«— Erst von dir erfuhr ich, was das bedeutet, nicht» Rauschgiftsüchtiger«, wie im Wörterbuch behauptet, sondern (menschlicher) Ausschuß, Schund, Müll, Abfall.

«Ich habe mich nie aus Angst auf Entzug gesetzt. Solange man im Loch steckt, ist es egal, ob man weitermacht oder seinen krummen Löffel schon vorher abgibt. Das eine ist nicht verlockender als das andere. Wenn alles normal läuft, hat man immer was zu tun, vergeht die Zeit mit Kohle beschaffen, Stoff bunkern, Venenpflege, Vorfreude und Enttäuschung, weil das Zeug nicht mehr so gut kommt wie früher oder mal wieder so vermistet ist, daß einem bloß noch schlecht davon wird. Aber krepieren will man ebensowenig wie eine Fliege, die sich ja auch nicht einfach erschlagen läßt: Hat kein Gehirn und lebt doch. Gute Vorsätze gibt’s nur für Draußen und zu Silvester. Wenn Draußen näher rückt, ist selbst zu Ostern oder Pfingsten Silvester.«

Ich weiß nicht, warum ich kaum reagieren konnte, ob es nur an dem Kuß lag, daran, daß der mich nicht hatte zurückschrumpfen lassen in die Barbarei meiner Kindheit, seltsamerweise aber doch den Wunsch in mir weckte, wieder klein zu sein und noch viele Male so geküßt zu werden. Oder rührten mich eher deine halbgeschlossenen Lider und die Schatten darunter? Oder empfand ich schon so etwas wie erleichtertes Mitleid, weil ich, obwohl ich drüben mehrfach bei kleineren und größeren Schweinereien erwischt worden war, im Unterschied zu dir dank mütterlicher Macht um das wirkliche, das nicht bloß DDR genannte Gefängnis herumgekommen war?

Jedenfalls schwieg ich eine Weile, beharrlich und überzeugend. Vielleicht mußtest du deswegen weitersprechen, mir von dir erzählen, von deinem Vater, einem Neuköllner Fuhrunternehmer, der deine Mutter aus dem Fenster eurer Wohnung geschubst haben soll, als du vier Jahre alt warst. Sie könnte auch gefallen sein, freiwillig oder versehentlich, denn gesoffen habe sie ja nicht zu knapp, schon immer, wie dein Vater gesagt hätte, vor Kummer, wie du meintest. Du wärst dann zu deiner Oma nach Lüneburg geschickt worden und dort geblieben, bis plötzlich deren zweiter Mann gestorben sei. Weil du ohnehin eingeschult werden mußtest, habe dein Vater dich zurückgeholt und seiner neuen Frau überlassen; Rosi sei ihr Name. Dein Vater hätte sie aber nur Rosinante genannt — und jeder andere auch.»Diese Rosinante gerufene Rosi, die korrekt vielleicht Roswitha heißt, ist keine von uns, ist eine vierschrötige Oberpfälzerin.«

Ich lauschte deinen Worten nach; vierschrötig und Oberpfalz klangen für mich seltsamer als etwa fragil und Surinam. Oberpfalz, das war irgendwo in Deutschland. Doch was hatte ich mir unter vierschrötig vorzustellen?

«Ja, grob halt«, gabst du zur Antwort,»die Rosinante war grob, gewöhnlich, draller Wanst auf mageren Beinen, eben wie Don Quichotes alte Mähre. Oder was glaubst du, warum wir Rosi weniger treffend fanden als Rosinante und manchmal Tante Rosinante?«

Die Rosinante habe eine Kneipe betrieben, einen» wüsten Preßluftschuppen «mit dem» genauso logischen wie unpassenden «Namen Zur Rose.»Und an ihrem Rockzipfel«, sagtest du,»hing ein Bengel in meinem Alter, der dicke Bernd. «Der sei» ziemlich schlecht drauf gewesen«, hätte viel geheult,»ohne Grund und noch öfter mit«.

Bei Rosinante, hinterm Tresen der Rose, wärt ihr aufgewachsen, dieser Bernd und du. Jeden Nachmittag hättet ihr eure Plastikindianer und Legosteine dorthin geschleppt, und natürlich Taschenlampen, ohne die es zum Spielen zu duster gewesen wäre. Ansonsten hättet ihr» meistens die Schnauze gehalten«. Erstens, weil ihr die Gäste nicht nerven solltet, zweitens, weil es zwischen euch beiden eh selten genug Stoff für ein Gespräch gegeben habe. Bernd,»das tapsige Weichei«, sei» absolut nicht deine Kragenweite«, dir aber» trotzdem nicht völlig schnuppe «gewesen. In der Schule hätte er lange vor dir versagt und auch» die ersten Joints gebaut«, als ihr gerade mal über den Tresenrand gucken konntet, jedenfalls groß genug wart, um Gläser zu spülen oder Bier zu zapfen und euch euer Futter selbst aus der Kneipenküche zu holen, das ewig gleiche: Bockwürste, Knacker, Buletten, Dillgurken, eiskalten Kartoffelsalat. Richtig gekümmert habe sich keiner um euch. Die Gäste seien mürrisch oder abgefüllt oder beides gewesen, Rosinante immer am Ausschenken, Rumschleppen, Zuprosten, Umfallen, Wegschlafen, dein Vater entweder auf Achse oder» in Null Komma nix auf hundert«, wenn er sich gelegentlich doch mal habe blicken lassen, bei seiner» Flickenfamilie«.

Und eines Sonntags im August, Bernd sei gerade zwölf gewesen, du kurz davor, es zu werden, hätte euch der Alte» so übel vermöbelt«, daß ihr den Beschluß faßtet, euch mit Buletten umzubringen; genauer, erst die Buletten zu vergiften» und mit denen dann jeder sich selbst«. Am Automaten hättet ihr vier Schachteln HB gezogen, die Filter von den Zigaretten getrennt, den Tabak aus den Papierchen geschält und unter das zum Abbraten bereitstehende, gewürzte und mit geschrotetem Weißbrot gestreckte Hackfleisch geknetet.»Als Rosinante dann am Herd war, den Bulettenteig portioniert und plattgedrückt ins heiße Fett warf, merkte sie nicht das geringste. Es roch wie sonst, es schmeckte beschissen wie immer, fanden wir, eine Stunde und etliche Klopse später. Bernd wurde zuerst grün im Gesicht und kam zum Kotzen nicht mal mehr auf die Füße, bis zum Klo gleich gar nicht. «Du folgtest seinem Beispiel mit geringer Verspätung und» um einiges würdevoller«, wie du betontest. Ihr hättet in die Klinik gemußt, zum Magenauspumpen, und wärt auch danach noch tagelang krank gewesen, ebenso wie fünf von Rosinantes Stammgästen, die aber bloß je eine, höchstens zwei von den Tabakbuletten gegessen hätten. Alles sei herausgekommen, zum einen» oben und unten «aus euch und zum anderen aufgrund der Analyse des Mageninhalts aller Betroffenen. Dafür hätte euch dein Vater noch einmal verhauen, doch erst als er nicht mehr fürchten mußte, sich an euren» kleinen Idiotenärschen die Hände dreckig zu machen«.

Eine volle Woche nach der» letzten widerstandslos hingenommenen Dresche «deines Lebens hätte der» alte Mistpfützenkrebs «dir dann beiläufig mitgeteilt, daß die Mutter deiner Mutter, deine heißgeliebte Lüneburger Oma,»ins Gras gebissen «habe,»buchstäblich«, denn sie sei» beim Karnickelfutter sicheln «auf der Wiese hinter ihrem Haus einem Herzinfarkt erlegen, ausgerechnet an dem Tag, an dem euer Selbstmordversuch fehlgeschlagen sei.

Nun verfielst du in Schweigen, und ich lag noch immer auf deiner warmen, wolligen Brust. Und während ich mir ausmalte, wie ihr kotzend, von Bauchkrämpfen nieder- und krummgezogen, hinterm Tresen der Rose umeinanderrolltet, schliefst du ein. Ich wurde gleichfalls müde; und über die Bilder von dir als Junge und einem pickligen Milchbart namens Bernd, den ich nicht kannte und dem ich auch später nie begegnen sollte, schoben sich andere:

Ich bin etwa ein halbes Jahr älter, als du es zu deiner Bulettenzeit warst, und mit meiner kleinen Schwester, meiner Mutter und meinem Vater an dem versteckt gelegenen brandenburgischen Waldsee in der Nähe unserer Laube. Meine Eltern und ich, wir sind, was selten vorkommt, vergnügt; nur meine wasserscheue Schwester Olga, die ihren Namen dem zweiten Idol meiner Mutter verdankt, der 1942 im Vernichtungslager Bernburg ermordeten deutschen Kommunistin Olga Benario, sitzt etwas abseits und säuerlich am Fuße der schief über den See gewachsenen Trauerweide, denn sie weiß, daß wir anderen gleich baden gehen und sie auffordern werden, uns zu folgen, vergeblich, wie immer.

Meine einen Meter und fünfundachtzig Zentimeter große, stabil gebaute Mutter zieht sich als erste nackt aus und klettert, wie sie feierlich verkündet,»die Weide empor«. Ich gehe zum Ufer, schau sie mir an, genau, fast unverwandt, irritiert, aber ohne Mitleid; ihren schlaffen, von Schwangerschaftsstreifen gefurchten Bauch, ihre schweren Brüste mit den bräunlichen Nippeln, die, obwohl es sonnig warm ist, obszön versteift und dennoch nach unten weisend auf den beiden weißen Fleischfladen sitzen, wie Seepocken, denke ich, und dann: wie Warzen. Meine Mutter klemmt sich ihren blondierten Krauskopf zwischen die ausgestreckten Arme, federt in den Knien, springt. Ein Knall ertönt, Wasser springt zurück in die Richtung, aus der meine — für Sekunden nicht sichtbare — Mutter gekommen ist. Weit links von dem Wirbel, den sie verursacht hat, erscheint sie wieder und brummt, dumpf wie mein alter Teddy, wenn ich ihn nach hinten kippe. Dann fängt meine Mutter schallend an zu lachen, hebt auch schon einen ihrer Arme aus dem Naß; die daran befindliche Hand winkt mir.»Nun los, Sojuschka, sei kein Frosch! Steig hoch in die letzte Astgabel. Zeig, was du kannst, Sojusch! Den Köpper will ich sehen, nicht wieder die Arschbombe. «Und ich nehme allen Mut und die Arme über dem Kopf zusammen, so, wie ich es bei meiner Mutter unzählige Male gesehen habe, und stürze mich in die Tiefe. Und tatsächlich tauche ich einigermaßen gerade ein in das Wasser, das grün ist und voller Luftblasen, auf denen ich wieder an die Oberfläche steige, froh darüber, daß ich meine Mutter nun vielleicht auch mal froh gemacht habe. Und wirklich, sie grinst von einem Ohr zum anderen, kommt mir entgegengeschwommen, sagt» häng dich an meinen Rücken, tapfere Tochter«, denn sie weiß, daß ich nichts lieber tue. Und ich umschlinge ihre Mitte, und mein glatter, flacher Mädchenbauch streift kurz ihre kalten Pobacken. Meine Mutter spielt das lustige Nilpferd; sie prustet und schnauft und zieht mich durchs Wasser, und ich fange mir eines ihrer strampelnden Beine und merke gar nicht, wie sich mein Vater hinterrücks an uns heranpirscht. Erst als er plötzlich zugreift und meine kleinen Brüste quetscht wie Zitronenhälften, weiß ich, das kann nur er sein. Ich schreie vor Schreck und Schmerz, lasse meine Mutter los, schlage um mich in Todesangst. Die Hände meines Vaters geben mich frei — und mir bleibt die Luft weg. Ich sehe schwarz, in meinen Ohren braust und dröhnt es, meine Arme und Beine sind außer Kontrolle, lassen sich alsbald gar nicht mehr bewegen; ich sinke und sinke, bis auf den Grund meiner ersten Ohnmacht.

Vielleicht hätte ich dir diese Geschichte an jenem Tag erzählt, wenn du nicht so fest geschlafen hättest und nicht auch mir die Augen zugefallen wären, vor Verzweiflung darüber, daß meine dumme Mutter nie irgend etwas gemerkt hat und ich ihr all die Jahre nichts sagen konnte, und ebenso vor Glück, dem Glück, jetzt nirgendwo anders zu sein als bei dir.

Ich erwachte davon, daß mir deine Hand unter den Hosenbund fuhr und über den Bauch strich, nicht forsch und fordernd, nicht wie die eines Herrenschneiders, der prüft, ob das neue Stöffchen fein genug ist, auch nicht so, als massiere sie einen von Verdauungsstörungen geplagten Säugling, aber schon so ähnlich. Und schließlich taten wir es, weder beiläufig noch enthusiastisch, sondern wie etwas, das nun einfach dazugehörte, weil wir zueinander gehören wollten. Dieses erste Mal, und dann immer wieder in solchen intimen Momenten, hast du mich — durchaus im eher medizinischen Sinne des Wortes — behandelt; du hast mich behandelt, als müßtest du mich beruhigen und besänftigen, obwohl ich nie nervös oder gar wild war. Ich wußte ja, daß ich schnell kommen und mich auf deinen Schwanz verlassen konnte, der das Klischee nicht Lügen strafte, sondern tatsächlich so war wie deine Hände: kräftig, warm und nicht übermäßig empfindsam.

Ganz ergeben lagst du unter mir, hast weder gestöhnt noch deine Augen geöffnet für einen Blick in meine, aber dich, als du merktest, daß ich fertig war, aus mir zurückgezogen, mich bei den Hüften gepackt und» von der Palme geholt«, wie du es nanntest. Ich fragte mich, ob du in den zehn Jahren Knast vergessen hattest, daß Frauen die Pille nehmen, und dich, ob es dir denn schon gut genug ginge.

«Kannst gerne weitermachen«, sagtest du. Doch als dir klar wurde, wie ich dich verstanden hatte, hieltest du mich mit einer Hand am Schopf fest und von deinem Schwanz fern und zogst dir mit der anderen eine meiner Hände, dummerweise die rechte, dorthin, wo du meinen Mund nicht haben wolltest. Ich akzeptierte, kam aber auch ins Grübeln — und wieder fragte ich mich, nicht dich, ob du womöglich Angst hättest, ich könnte dich beißen oder mich einfach bloß dämlich anstellen; dabei waren meine oralen Fertigkeiten das einzige, worauf ich wirklich stolz war. Na gut, den werde ich schon noch überzeugen, dachte ich, als ich zu Ende brachte, was du mir immerhin erlaubt hattest — und irrte mich ein weiteres Mal.

Für dich war Sex, wie ich bald merkte, die selbstverständlichste Sache der Welt, doch nicht die wichtigste. Auch ich, du weißt es, mochte Sex, allerdings nur, wenn ich nicht oder nicht sehr verliebt war. Was mir, wie möglicherweise den meisten Menschen, daran am besten oder eigentlich ausschließlich gefiel, waren die Orgasmen, Explosionen von solcher Wucht, daß mir die Sicherungen rausflogen und mein Denksystem für Momente weg war vom Netz. Diesen Momenten verdanke ich die tiefsten Räusche meines Lebens; eine so umfassende Abwesenheit von mir selber, jedem und allem hat das gründlichste Besäufnis nicht bewirken können. Die Krater verschlangen mich, spuckten mich aber auch wieder aus, unversehrt, wie ich meinte, und an deren Rändern konzentrierte ich mich auf die Regie. Interessanter, als selbst berührt zu werden, fand ich es, den anderen zu manipulieren. Nichts sonst verschaffte mir dieses Gefühl von Macht und Bedeutung. Ja, Harry, ich hatte den Ehrgeiz, eine gute Liebhaberin zu sein, schon damit meine physischen Defizite weniger ins Gewicht fielen. Vor wie nach dir machte ich die Erfahrung, daß manche Frau und jeder der nicht beängstigend zahlreichen Männer, die meine Nähe suchten, mit mir ins Bett wollte. Einige aus sportlichem Ehrgeiz, andere als Sammlerinnen oder Sammler; ich hätte auch nicht gewußt, was sie sonst von mir hätten wollen sollen. Gerade die Männer haben meist auf Anhieb erkannt, daß mir der Sex reichen und so etwas Kompliziertes wie Liebe mich dabei nur stören würde. Wenn ich doch einmal verliebt war, litt ich unter diversen Komplexen, fühlte mich häßlich, doof, krank. Und gegen die Krankheit Liebe, die ich auf den Tod fürchtete, gab es nur eine Medizin: Sex — mit einem sympathischen, dem angebeteten Subjekt aber möglichst wenig ähnlichen Menschen. Und dennoch, Harry, sobald ich spürte, daß ich mal wieder von Liebe befallen war, wünschte ich mir jenes Alter, in dem ich, wie ich tatsächlich glaubte, kein Gegenmittel und keine nebenwirksame Machtgeilheit mehr brauchen würde, weil meine Sexualität — sowohl für die anderen als auch für mich — endlich völlig belanglos geworden wäre.

«Das mit der eigenen Bude ist bis auf weiteres vertagt. Die Parole heißt: Draußen bleiben um jeden Preis. Ich kann mir alles vorstellen, ›never more rainbow‹, Maloche im Bergbau, ab morgen ohne Hände sein oder übermorgen ganz hinüber, nur nicht, daß sie mich wieder einkassieren für die volle Laufzeit. Wenn ich die Zeichen richtig deute und es mir am Montag auch noch gelingt, eine Maßnahme einzuleiten, ist die Gefahr erst mal gebannt, das Leben also fast schön.«

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