II

Daß wir uns begegneten, war Zufall. Was sonst? Vielleicht ja doch so was wie Schicksal, denn wir hätten uns ebensogut verpassen können. An dem Tag, da wir einander über den Weg liefen, warst du nicht allein, und ich war noch keine zwölf Monate fort von dort, wo ich aufgewachsen und bis zu meinem neununddreißigsten Jahr geblieben war.

Auch an die Szenen jenes siebzehnten April 1987, die mich und — zumindest für die ersten Stunden — vielleicht sogar dich betrafen, kann ich mich jederzeit erinnern; und im Unterschied zu den Film- oder Diabildern von der Matratzenidylle werden diese Szenen von Mal zu Mal klarer und detaillierter und stehen mir gerade jetzt beinahe textgenau vor Augen, so, als wären sie nicht geschehen, sondern erfunden, das Resultat meiner von mächtiger Sehnsucht befehligten Phantasie:

Die U-Bahn hatte gehalten über dem Nollendorfplatz, ich war ausgestiegen und freute mich einmal mehr an der mir zu Füßen liegenden, von Dönerbuden, Cafés, Ramschläden und Blumenständen gesäumten, fast menschenleeren Weite, auch darüber, daß ich am Vortag nur mein Kleingeld samt dem billigen Portemonnaie verloren hatte, aber nicht das Dokument, das einen über das Aufnahmelager Marienfelde eingereisten DDR-Flüchtling berechtigte, ein ganzes Jahr lang kostenlos sämtliche öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Die Frühlingssonne stand hoch am Himmel und warf gleißend helles, nahezu weißes Licht hinab auf den Platz, der nach dem Tauwetter, dem jedoch kein Regen gefolgt war, ebenso unschuldig wie heruntergekommen wirkte; ich sehe auch noch dieses Kind, ein schmächtiges Mädchen in einem neongrünen Anorak, das mir von links ins Blickfeld lief, seinen Turnbeutel hinter sich herschleifte und offenbar keinen Spaß am Schuleschwänzen hatte.

Ich griff mir vom Sims neben dem Kiosk eine zerknitterte» Bingo-BZ «mit gültigem Datum, die ihr voriger Besitzer, wohl weil es ihm gegen den Strich gegangen wäre, etwas Bezahltes und noch Brauchbares einfach wegzuschmeißen, dort abgelegt hatte — für jemanden wie mich, denn ich las damals gern die Klatsch- und Gruselgeschichten, die in schmalen Spalten unter den knalligen und manchmal sehr komischen Schlagzeilen standen.

Die Zeitung überfliegend, eine Zigarette zwischen den Lippen, steuerte ich mein eigentliches Ziel an, die Badewanne in der Wohnung eines aus dem Bayrischen zugewanderten Sozialarbeiters, den ich mochte — da kamt ihr um die Ecke geschossen, du und dein Kumpel. Ihr benahmt euch seltsam, ausgelassen, ja übergeschnappt: wie zwei Kettenhunde, die sich losgerissen, aber erst eine Nacht unter fremden Fenstern geschlafen und noch nicht wieder den ganz großen Hunger haben; und doch deutet das Glitzern in ihren Pupillen, diese Tollheit, mit der sie einander bei Laune halten, schon darauf hin, daß sie den Preis der Freiheit bald kennen und bezahlen würden.

Schöne Männer wart ihr, alle beide, du blauäugig, bleich, aschblond, der neben dir oliv, mit braunem Kraushaar, Sonnenbrille, kleinem Silberohrring. Und dafür, daß die Sweatshirts, die sich über euren breiten Schultern spannten, wahrscheinlich aus dem Kleiderfundus der Arbeiterwohlfahrt stammten, hatte ich damals noch nicht den Blick.

Ich muß euch, obwohl ich nicht geschminkt war und mein kräftiger Leib in der Sorte Kleid steckte, die bezeichnenderweise Hänger heißt, ebenso aufgefallen sein wie ihr mir, denn ihr bliebt stehen, du zu meiner Linken, der andere zu meiner Rechten.

«Na, Mausepuppe, wohin geht’s?«sagtest du — so schleppend deutlich, daß ich einen Moment lang dachte, du hättest schon drei, vier Biere getrunken. Aber in deinem Atem, den ich riechen konnte, weil sich dein Gesicht, während du sprachst, meinem näherte, war nichts säuerlich Alkoholisches, dafür etwas, wovon ich Appetit auf Kakao bekam. Ich weiß nicht mehr, was ich dir zur Antwort gab, doch das Wort Mausepuppe verfehlte seine Wirkung nicht, zumal es mich darauf brachte, daß du, trotz deiner irritierend langsamen, um saubere Artikulation bemühten Ausdrucksweise, nur ein Berliner sein konntest, aber keiner, dem der Schnabel im Osten gewachsen war. Einem so jungen und zudem klischeegemäß gewitzten Lands- oder richtiger Stadtsmann war ich bis zu jenem Tag, an dem ich euch in die Arme lief, auf dieser Seite der Mauer noch nicht begegnet. Die wenigen Menschen, die ich während der Monate nach Marienfelde näher kennengelernt hatte, stammten — wie der Bayer mit der Badewanne — aus dem Süden Deutschlands und betrachteten die Selbständige politische Einheit als eine Art Zwischenlager, in dem man studieren und so den» Ruf zum Bund«,»zur Fahne«, wie wir» von drüben «sagten, ganz legal ignorieren konnte. Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriff, daß sich diese anderen nicht wesentlich von mir» Exzoni «unterschieden, daß auch sie vor etwas geflohen waren, ja, daß all die hierher abgehauenen Nord-, Süd-, West- und Ostdeutschen samt den Türken, Italienern, Griechen, Chinesen, Franzosen, Amerikanern … etwa die Hälfte der Bevölkerung jenes Teils meiner Stadt stellten, in dem ich nicht geboren wurde.

Auf das Schmutztitelblatt des ersten Buches, das ich mir als Raubdruck vom ersten neuen Geld in einer Kneipe gekauft hatte, Anfang Dezember 1986, schrieb ich:

Seit ich, die Topographie des Ostteils im Gedächtnis, durch den Westteil Berlins laufe, weiß ich, diese Stadt ist tatsächlich eine; die auf beiden Seiten übriggebliebenen Häuser ähneln einander ebenso wie die nach dem Krieg hinzugekommenen. Berlin, Ost und West, erinnert mich an ein Verlegenheitsgeschenk, eine Schachtel Kaufhauskonfekt, die dann wochenlang unbeachtet herumsteht, weil ihr Inhalt nicht besonders schmackhaft (hier würden sie sagen» lecker«) ist. In den Mulden des Plastikreliefs hocken, graubeschlagen oder angeknabbert und freudlos zurückgelegt, rechts die nackten Pralinees und links die golden eingewickelten, die, aus der Folie geschält, den anderen gleichen — haargenau, könnte man sagen, wenn Pralinen Haare hätten.

Und auf einem Kalenderblatt vom vierzehnten März 1987, das als Lesezeichen in eben jenem Buch lag, hatte ich noch die folgenden zwei Sätze notiert:

Ich laufe umher, sehe Menschen und denke: der und der und die und die …, wie ich kamen sie irgendwann hier an, um gleich weiter- oder wieder abzureisen, spätestens mit dem letzten Zug. Aber alle Züge waren längst weg, und der letzte ist nie losgefahren; seither sind wir auf dem Bahnhof unterwegs, und der heißt Westberlin-Zoologischer Garten.

«Ich Harry, das Benno«, sagtest du, einen Knicks, keinen Diener andeutend. Und ich bin Soja, ergänzte ich — ziemlich unwillig, weil ich befürchtete, nun würde, wie beinahe jedesmal, wenn ich mich hier im Westen jemandem vorstellte, gleich wieder das große Kichern ausbrechen. — »Soja? Ach, und wie weiter? Bohne oder Soße?!«Nur einmal versuchte ich daraufhin zu erklären, daß nicht ich für meinen Vornamen verantwortlich sei, sondern meine Mutter, denn sie habe, auch und gerade» in den schweren Stunden «ihrer» ersten Niederkunft«, an ihr Idol denken müssen,»die von den deutschen Faschisten hingerichtete Partisanin Soja Kosmodemjanskaja«, die mir als» Leitstern den Lebensweg beleuchten «sollte — und noch größere Heiterkeit schlug mir entgegen.

Ihr aber lachtet nicht mehr als zuvor.»Und, Soja«, sagtest du,»was ist? Wollen wir einen Kakao trinken gehen?«

Der Blick, mit dem ich deinen erwiderte, muß dir gezeigt haben, wie ertappt ich mich fühlte. Woher wußtest du, welche Assoziation der Geruch deines Atems in mir ausgelöst hatte? Euer dreister Auftritt hatte mich ohnehin verunsichert, doch daß einer meine Gedanken las, das fand ich nun wirklich unheimlich, aber auch erregend, zumal du dieser eine warst. Ich flatterte mit den Armen, als könnte ich so die Erde verlassen oder euch wenigstens auf diese schüchterne Art den Vogel zeigen. Etwas zog mich hin zu dir, und gleichzeitig warnte mich etwas anderes: kleinliche Herzensträgheit, die allerdings auf Erfahrung basierte. Waren nicht, wie meine Oma einmal gesagt hatte, die meisten Abenteuer am Ende bloß teure Abende?! Außerdem erwartete mich Christophs Badewanne; ich fühlte mich ja gar nicht frisch genug für das vage Verlangen, das mich ergreifen und dir an den Hals werfen wollte. Oder kroch es durch den Bauchnabel in mich hinein — wie ein Gas, das sich hinter meinem Zwerchfell sammelte und ausdehnte und schon anfing, mir die Stimmung zu heben?

Nein, sagte ich, geht nicht. Werde erwartet.

«Okay«, meinte deine Gesellschaft, die bislang noch nicht das Wort gehabt hatte, offensichtlich erleichtert — und packte dich am Ärmel, so derb, daß der mürbe Trikotstoff tatsächlich eine Art Klagelaut von sich gab, denn du bliebst stehen, wolltest dich ebensowenig fortziehen lassen, wie ich dies wollte. Dennoch tat ich das, wozu meine miteinander im Streit liegenden Empfindungen mich nötigten; ich begann zu laufen, mit verdrehtem Kopf, ohne den Blick von dir zu wenden, und schrie dich an: Vielleicht später.

Da machtest du dich los, daß dein Ärmel riß wie Papier, ranntest mir nach, holtest mich ein.»Gut, Punkt drei Uhr, genau hier«, sagtest du scharf, fast drohend, und hörtest erst auf, mich zu verfolgen, als ich, weil ich schon eine Passantin angerempelt hatte, beschloß, jetzt doch lieber wieder nach vorne zu schauen.

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