Am Montag morgen lagen auf der Matratze, die du zu deiner erkoren hattest, nur mein Bademantel, Kopfkissen und Deckbett, aber im Küchenregal neben dem Herd drei frische Schrippen, mein Geldhäufchen, von dem ein Zehner fehlte, und ein Zettel:»Dear Soja, muß schnell mal was klären. Bin bald zurück, die Kohle auch. So long, Harry.«
Daran, daß du wiederkämst, hatte ich seltsamerweise nicht den geringsten Zweifel, ärgerte mich bloß über deine Eigenmächtigkeit. Du hättest mir ja etwas ins Ohr flüstern oder wenigstens einen Kuß geben können. Doch nach der ersten Marmeladenschrippe sah ich es so, daß du mich aus purer Sanftmut nicht hattest wecken wollen. Ich schwebte ob der mit dir verbrachten Stunden nicht auf Wolken, war nicht einmal froh, bestenfalls erstaunt darüber, wie schnell das alles ging und daß ich nicht mehr allein war. Ich sah dich vor mir, einen ausgewachsenen Westberliner: große, athletische Gestalt, breite Stirn von auffallender, aber nicht vornehmer Blässe, gekerbtes Kinn, blaugraue Augen, die wunderbar finster blicken konnten, und gratulierte mir mit einem Gläschen Williamsbirne zu meiner Errungenschaft, denn für eine solche, Harry, hielt ich dich an jenem Morgen noch. Daß du im Gefängnis gewesen warst — und ziemlich lange —, verlieh dir nur zusätzlichen Adel. Da, wo ich herkam, fing man sich leicht zehn Jahre ein, für Bagatellen wie Witze, Scheckbetrug, Diebstahl von Volkseigentum. Als ich an das zuletzt genannte Delikt dachte, entsann ich mich des Wortbrockens» schwerer Raub«, den du mir so beiläufig hingeworfen hattest, und beschloß, dich unverblümt zu fragen, was genau damit gemeint war.
Der schwere Raub, erklärtest du zwei Stunden später, sei ein» Apothekenbruch «gewesen, und einer der Polizisten, die euch» gestört «hätten, sei in jener Nacht» blöderweise «angeschossen worden, aber nicht von dir. Du hättest auch bei diesem» leider mißglückten Versuch, Opiate zu erbeuten, bloß Schmiere gestanden, wie immer«. Die Strafe sei» unverschämt hoch ausgefallen«, weil du als» Wiederholungstäter «gegolten und noch» Bewährung offen «gehabt hättest.»Doch jetzt«, du nahmst einen tiefen Zug aus deiner Zigarette,»sollten wir diese ranzigen Geschichten mal lassen und uns darum kümmern, wie es weitergeht. «Es gebe da etwas, in Schöneberg, Eisenacher Straße, einen» strengen Verein«, der heiße Triade,»genau wie die chinesische Mafia«, fügtest du grinsend hinzu. Du hättest mit dem» Obermops von dem Schuppen «schon kurz gesprochen, ihm deine Situation erklärt, und er habe gefunden, daß»die Angelegenheit nicht ganz aussichtslos «sei.»Wir sollen heute noch kommen, du und ich. Bitte, Mausepuppe, mein Schicksal liegt in deinen Händen«, sagtest du und warst schlau genug, mich wieder an deine Brust zu ziehen und mir einen ebenso pathetischen wie scheuen Kuß auf die Stirn zu hauchen.
Da band ich mir, ohne noch ein Wort zu fragen oder zu sagen, die Haare zum seriösen Pferdeschwanz, schlüpfte in die Helmut-Kohl-Strickjacke, steckte meinen Ausweis ein, ging mit dir zur U-Bahn.
Das Haus, dessen geschnitzte, zweiflüglige, von echten oder falschen Marmorsäulen flankierte Holztür du mir aufhieltest, war einer jener wilhelminischen Kästen, die korrekt Gebäude heißen und die unsere Sorte Mensch normalerweise weder grund- noch furchtlos betritt. Drinnen roch es ein wenig nach Desinfektionsmitteln und Papier, also Krankenhaus und Behörde. Die breiten, langen Flure waren — passend zum einen wie zum anderen — weiß gestrichen; es gab eine Orientierungstafel, Piktogramme, über, unter oder neben diversen Lämpchen, Schaltern, Klingeln befestigte Schildchen mit Namen und Zahlen.
Am Ende des Ostflurs im Erdgeschoß klopftest du gegen die letzte Tür linker Hand, die einzige, die unbeschriftet war und keine Nummer hatte. Und obwohl es auch keine Klingel gab, ertönte ein Summen; ich vernahm harte, schnelle Schritte, sah auf unserer Seite der Tür die Klinke niedergehen und dann, zunächst undeutlich im hellen Licht der Neonröhren, einen eher kleinen, kompakten Mann von etwa dreißig Jahren.
«Na, dann kommt mal rein«, sagte er und reichte weder dir noch mir die Hand. Als sich die Tür hinter uns schloß, erspähte ich aus dem Augenwinkel das Che-Guevara-Poster, mit dem sie von innen beklebt war. Auf dem Weg zu den vier Klappstühlen an der Stirnseite des einen der insgesamt drei Schreibtische redete der Mann weiter:»Ich bin Joe, nur Joe, wie Harry ja schon weiß. Und du?«
Soja Edith Krüger, wohnhaft in Moabit, Birkenstraße elf, antwortete ich, eine eiernde Grammophonplatte imitierend. Der Kasernenhofton, in dem dieser Joe mich soeben geduzt hatte, gefiel mir nicht; das sollte er merken.
«Krüger?«wiederholtest du und offenbartest bei der Gelegenheit, daß wir den gleichen Familiennamen trugen. — Ja, Harry, trugen, denn seit meiner späten, kurzen Ehe mit einem semischwulen Schweizer, den du nicht mehr kennengelernt hast, heiße ich Maiwald.
«Soja sollte uns genügen«, meinte Joe. Dann erklärte er, daß wir beide, du und ich, bis zum Ende der Woche eine sogenannte Begleitgruppe auf die Beine zu stellen hätten. Für die erste Stufe der Triade würden mindestens acht, besser zehn oder zwölf,»cleane, also nicht von irgendwelchen harten Drogen abhängige, zuverlässige Menschen «gebraucht, die dich zwei Monate lang» umschichtig «bei sich übernachten lassen,»verpflegen, sinnvoll beschäftigen, zu den Therapiestunden bringen und wieder abholen «müßten,»aber absolut pünktlich«.»Die Zeit achten, mit der Uhr leben«, das sei das wichtigste, was ein Süchtiger zu lernen habe.»Schon eine Verspätung um wenige Minuten, egal ob von dir oder einem deiner Begleitgroupies verursacht, hat zur Folge, daß du bei uns rausfliegst, und welche Konsequenzen das wiederum hat, das, Harry, ist dir hoffentlich arschklar. «Die zweite Stufe befände sich auf der gleichen Ebene wie die erste und bestünde aus Einzelgesprächen, die den Zweck hätten,»multitoxische Erfahrungen aufzuarbeiten«, dein» Persönlichkeitsprofil «zu erkunden und deine» Konfliktschwelle hochzumauern«. Diese Gespräche würden er oder einer seiner Kollegen während der gesamten» Wohngruppenphase «und, falls» deinerseits Bedarf «bestünde, auch etwas länger, regelmäßig mit dir führen, zwei- bis dreimal pro Woche; das hinge davon ab, wie ihr vorankämt. Die dritte Triadenstufe wäre dann der» Schritt in die völlige Selbständigkeit, also Wohnungs- und Arbeitssuche, Behördenkram«. Über diesen letzten Monat verteilt, fänden noch vier weitere,»spontan anberaumte Kontrollen auf opioide Substanzen «statt, und schon hättest du es geschafft. Joe ließ dich, während er sprach, nicht einen Moment aus den Augen, klatschte, nach einer Atempause, die weder du noch ich für eine Zwischenfrage zu nutzen wußten, einmal in die Hände und befahl:»So, Harry, du kommst jetzt mit mir. Du, Soja, wartest hier.«
Ich saß allein auf meinem Klappstuhl und dachte darüber nach, ob Joe wirklich Joe hieß und wohin er dich wohl gebracht haben und was er dort von dir wollen könnte und warum er die Kontrollettis, die sein Plan vorsah, als» Begleitgroupies «verspottete und wie schwachsinnig die Wortkreation» arschklar «war, erst recht, wenn sie aus dem schmallippigen Breitmaul eines pseudoautoritären Laubfroschs kam, der sich auch noch Joe nennen ließ, ausgerechnet Joe.
Dann erhob ich mich, ging jedoch nicht rauchen, sondern in dem Zimmer umher, das offensichtlich gerade erst eingerichtet und bezogen worden war. Es gab keine Grünpflanze, in den Regalen kein Buch, nicht einmal eine Henkeltasse oder ein Stofftierchen, kein Bild, außer dem vom Comandante, nicht auf der Resopalplatte des Schreibtisches und nicht an den frisch geweißten Rauhfasertapeten, nur einen riesigen, dezent für das populärste Produkt eines Westberliner Pharmakonzerns werbenden Monatskalender, dessen aktuelles Blatt jemand, vermutlich Joe, in kleiner, akkurater Handschrift mit roten, blauen, grünen Zahlen, Buchstaben, Punkten und Linien gefüllt hatte. Ich studierte die Zeichen eine Weile, wußte mir das pedantische Chaos aber nicht zu deuten.
Als ihr zurückkamt, hattest du rote Flecken im bleichen, feucht glänzenden Gesicht und machtest dennoch einen irgendwie erleichterten Eindruck. Auch Joes Miene wirkte nicht mehr ganz so gewollt grimmig, sein Blick stumpfer, womöglich gar ein wenig enttäuscht oder einfach nur müde. Uns beide Hände hinstreckend, dir seine rechte, mir seine linke, sprach Joe:»Seht zu, daß ihr es schafft bis Freitag um neunzehn Uhr. Ich möchte die gesamte Gruppe hier haben. Ist ja nicht auszuschließen, daß tatsächlich mal Berufstätige darunter sind, deswegen der späte Termin. Die Initiative, Soja, liegt bei dir. Auf Harrys bucklige Bekanntschaft werden wir wohl kaum zurückgreifen können. Und sag deinen Leuten, daß es pro Stunde, die sie Harry widmen, eine Mark Aufwandsentschädigung gibt, plus Fahrgeld und einer Pauschale für Essen, Waschmittel, Briefmarken. Das dürfte ihnen die Entscheidung ein wenig erleichtern.«
Joe ließ mich los, aber dich noch nicht — und ulkig verdreht, wie ein Komiker, der Kleiner-Mann-guckt-durchs-Teleskop spielt, stand er vor dir, versuchte, obwohl du den Kopf gesenkt hieltest, in deine Augen zu blicken.»Du kommst morgen um elf wieder zur Urinkontrolle und an jedem der folgenden Tage auch, bis ich es neu festlege. Wenn das nicht klappt, ist der Rest der Show gestorben, und ich rufe deinen Bewährungshelfer an.«
Nach diesen Worten dirigierte uns Joe mit rechtwinklig erhobenen Armen und gespreizten Fingern zur Tür; in deren Rahmen und dem Widerschein des grellen, flackernden Neonlichtes ähnelte seine Silhouette der eines gestellten Verbrechers — oder der eines Verkehrspolizisten auf einer Berliner Straßenkreuzung bei Einbruch der Dunkelheit.
Während wir die Eisenacher Straße hinab- und der U-Bahn-Station entgegenliefen, legtest du mir den Arm um die Schulter, die Hand in den Ausschnitt. Dein warmer Atem an meinem Hals bewirkte, daß sich mir die Nackenhaare sträubten.»Und, Soja«, hauchtest du mir ins Ohr,»gehen wir noch einen Kakao trinken?«
Ich schüttelte den Kopf, aber du zogst mich zum nächstbesten Lokal; und als wir über dessen Schwelle getreten waren, wolltest du plötzlich gar keinen Kakao mehr, sondern» einen doppelten Baileys mit ganz vielen Eiswürfeln«. Für mich bestelltest du, ohne daß du mich gefragt hättest, ein halben Liter Weizenbier.
In der Nacht zum Dienstag konnte ich nicht schlafen, und nicht nur, weil du keine Anstalten machtest, dies mit mir zu tun. Kaum lagst du auf deiner Matratze, da warst du auch schon nicht mehr ansprechbar. Einige Zeit bemühte ich mich, dir durch die ausnahmsweise ganz geschlossenen, nur ein wenig flatternden Lider in die Augen zu schauen, dich so womöglich zurückzuholen aus dem Traum, der dir die Stirn furchte. Doch dann verließ ich die Matratzenkante, suchte — jedes Geräusch vermeidend — mein Telefonheft, einen Block Papier und einen Bleistift. Um besser nachdenken zu können, stellte ich noch eine Flasche Wein und ein Glas zu dem Aschenbecher auf dem Küchentisch.
Wen wollte ich zu uns ins Boot bitten? Ich kannte hier noch nicht viele Menschen. Und warum sollten unter denen welche sein, die begriffen, daß ich sie brauchte, weil ich dich brauchte, einen Junkie, wenngleich der offenbar sauber war, jedenfalls die heutige Urinprobe bestanden hatte? Die Sache würde Zeit kosten, das Pünktlichkeitsgebot abschreckend wirken auf diese freiheitsliebenden Geister, Tagediebe wie wir.
Ich ging mein Telefonheft durch, übertrug etwa fünfzehn Namen und Nummern auf das obere Blatt des Schreibblocks und sagte mir, daß acht davon genügen würden. Aber was, wenn jene, die ich zu überreden hoffte, dann nicht durchhielten, wenn sie, vielleicht weil ihnen auf einmal in den Sinn kam, daß sie verreisen müßten, das Handtuch warfen, lange bevor die zwei Monate verstrichen waren? Mir fiel ein, daß ich Joe danach fragen könnte — oder lieber doch nicht? — , und glücklicherweise auch wieder das Geld, von dem er gesprochen hatte. Schließlich war keiner der rund zwanzig in Frage kommenden, also diesseits der Mauer lebenden Erwachsenen, deren Koordinaten ich immerhin besaß, so wohlhabend, daß er ein bißchen zusätzliche Kohle nicht gerne mitnehmen würde. Und zwei von den acht, die wir laut Joe mindestens sein sollten, hatte ich ja schon beisammen: mich und sehr wahrscheinlich Christoph. — Christoph, der sich, wie ich nur zu gut wußte, nicht für jede Frau, ansonsten aber leicht begeistern ließ, würde sich freuen, daß er aus dem Rennen war, weil ich nun dich gefunden hatte, und mir den kleinen Freundschaftsdienst nicht verweigern. Und notfalls konnte ich ja versuchen, ihn zu erpressen, indem ich ihm die Partnerschaft am Blumenstand aufkündigte, was meine, also unsere, Probleme jedoch nur verschärfen und vergrößern würde. Denn wenn du nicht völlig klamm gewesen wärst, hättest du dir nicht bereits am Morgen unseres zweiten gemeinsamen Tages wortlos einen Zehner geliehen, und ich hätte vorhin weder deinen Baileys noch mein Bier allein aus meiner Tasche bezahlt. Darüber, wie es wirtschaftlich weitergehen soll, werde ich mit dir reden müssen, gleich nachher, wenn du wieder wach bist, so behutsam wie möglich, so deutlich wie nötig, dachte, dachte, dachte ich und starrte, fast blind vor Müdigkeit, in mein schon wieder leeres Glas.
Es dämmerte, als ich den Kopf vom Küchentisch hob, die drei ausgetrunkenen Weinflaschen in die Mülltüte steckte, mir das Gesicht wusch, die Butter aus dem Kühlschrank und das Brot aus der Tüte holte. Ich kippte ein Glas Leitungswasser, kochte Kaffee, den ich in eine Thermoskanne umfüllte, schmierte mir eine Stulle, die ich mit zwei Bissen verschlang, zog mich an, verstaute meine geschrumpften Finanzen im BH und schaute noch einmal zu dir hinein.
Die Morgensonne fiel schräg durch die schmutzigen Fensterscheiben auf deine feucht glänzende Stirn. Ich hob die Bettdecke an, unter der du, wie ich gerührt bemerkte, wieder meinen Bademantel trugst, strich dir übers Haar, die Augenbrauen, die Lippen; du spürtest nichts. Ich wußte, wenn ich mich jetzt hinlegte, würde ich bis mittags schlafen, doch ich mußte ja in wenigen Stunden die Kandidaten für unsere Gruppe anrufen. Was, außer ein bißchen draußen herumlaufen, hätte ich bis dahin tun sollen?
Ich war schon beinahe unten, als eine diffuse Vorsicht, die ich nicht Argwohn nennen möchte, mich veranlaßte, wieder umzukehren und die beiden Hundertmarkscheine, die ich für Notfälle hinter der Duschkabine deponiert hatte, auch noch mitzunehmen.
Zu so früher Stunde war ich lange nicht mehr auf den Moabiter Straßen unterwegs gewesen, und die wiederum waren leer, wie ich sie selten, richtiger noch nie gesehen hatte. Kaum ein Auto störte die ungewohnte Stille; nur die Mauersegler schrien hoch oben am wolkenlosen Himmel und jagten Insekten oder einander. Ein Mann hielt seine besoffene Visage aus dem weit offen stehenden Fenster der schließzeitlosen Kneipe an der Ecke Waldstraße/Turmstraße, blinzelte verstört, wich zurück, schloß den Vorhang und war von der Welt getrennt. Auf ein blühendes Rotdornbäumchen kam ein Schwarm Spatzen zugeschwirrt; die Vögelchen ließen sich nieder in dessen Zweigen und begannen zu schimpfen, nicht laut, eher ängstlich-schrill, als wüßten sie, daß sie gerade das Falsche taten, aber nicht, was das richtige wäre. Der Glasbruch, mit dem das Deck eines am Westhafen vor Anker liegenden Kahns hoch beladen war, funkelte so verlockend bösartig, daß ich weder genauer hin- noch konsequent wegsehen konnte.
Ich setzte mich auf die Kaimauer, entzündete die nächste Zigarette am Stummel der vorigen und schaute über das Wasser der Spree. Die Wärme der Sonne lähmte den, wie ich glaubte, schon bald zu sinnvoller Aktivität heranreifenden Aktivismus, der seit deinem Erscheinen mehr als du selbst von mir Besitz ergriffen hatte. Stimmte es vielleicht nicht, daß mir eine Aufgabe zugefallen, ja geschenkt worden war, daß ich endlich mal wieder kämpfen konnte, wie ich es bislang immer gekonnt hatte, nicht gegen etwas, sondern um jemanden, der mich brauchte, dessen» Schicksal«, wie er, wenngleich lachend, gesagt hatte, nun» in meinen Händen «lag?! Ich sah dein schlafendes Gesicht vor mir, so blaß, so voller Vertrauen in mich, daß auch ich zu hoffen wagte, die nächsten Wochen und Monate würden märchenhaft, ein Kinderspiel — mit einer zehnköpfigen, also drachenstarken Mannschaft, zu der uns, dir, mir, Christoph und Joe, bloß noch sechs Häupter fehlten.
Kurz nach acht Uhr bezahlte ich am Tresen der Westhafenkantine ein Tetrapack Kakao und eine halbe Hackepeterschrippe und setzte den Spaziergang, zu dem ab jetzt womöglich mein ganzes weiteres Leben würde, sehr gemächlich fort.
Um zehn war ich wieder am U-Bahnhof Turmstraße. Und da ich fürchtete, daß außer Christoph kaum einer von denen, die ich für unsere Sache gewinnen wollte, vor elf Uhr wach wäre, erstand ich bei Karstadt noch ein Portemonnaie, das ebenso billig war und aussah wie das verlorengegangene, und einen ziemlich teuren roten Bademantel, denn du solltest meinen behalten dürfen; aber ich würde auch einen brauchen, wenigstens ab und an.
«Muß das durchhalten, egal wie. Um so schöner wird’s wieder. Mehr als abends zwei, drei Faustan sind nicht drin, wenn Triaden-Joe es nicht bald mal bleiben läßt, seinen Pappenheimern beim Pissen auf den Schwanz zu glotzen. Aber warum sollte er? Dürfte schwer sein, dem eine gefakte Urinprobe unterzujubeln, der kennt die Tricks, ist kein Sozialarbeiter. Und richtig verduften, nach Spananien oder so, geht nicht, mangels Asche. Mit den Bimboaugen, die ich jetzt habe, kauft mir kein Aas was ab.«
Du warst wieder nicht zu Hause; doch ich wußte ja, daß du Punkt elf bei Joe zu sein hattest und frühestens in einer Stunde zurück sein konntest. Also setzte ich mich hin, zog mir das Telefon in den Schoß. Sonst fing ich immer mit dem Schwersten an, aber diesmal war das Einfachste schon schwer genug. Es war mir peinlich, Menschen, die ich kaum kannte, um Hilfe zu bitten, ihnen zu offenbaren, daß ich jemanden, den ich auch kaum kannte, um jeden Preis bei mir behalten wollte und daher auf sie angewiesen war.
Christoph, dessen Nummer ich zuerst wählte, obwohl ich annahm, er sei um diese Zeit eh schon unterwegs, meldete sich nach dem zweiten Klingelton.»Du bist es, wie schön. Gerade war ich im Begriff, dich anzurufen«, sagte er fröhlich, ließ mich nicht zu Wort kommen und erzählte, daß er krank sei,»krank geschrieben«, weil die Uni nun gar nicht mehr auszuhalten sei und er Lust hätte, Bruce übers Wochenende nach London zu begleiten. Ob ich gleich noch einmal» Blumendienst schieben«, ihn also nächsten Samstag vertreten könne, fragte er.
Ich witterte Morgenluft, warf mich in seinen Redefluß: Mach ich glatt, allerdings nur, wenn du bereit bist, mir, genauer uns, in einer enorm wichtigen Angelegenheit unter die Arme zu greifen. Mit dieser Eröffnung hatte ich Christophs Aufmerksamkeit erzwungen und schaffte es sogar, ein paar zusammenhängende Sätze loszuwerden über dich, mich, Triaden-Joe. Bitte, Christoph, sagte ich, du brauchst ja erst mal nur zu diesem Gruppentreffen zu kommen, danach sei meinetwegen krank oder sonstwo. Ich vertrete dich, am Stand und auch bei Harry, sooft du willst, wann immer du was Besseres vorhast und keine Zeit zum Jobben. Ich gebe dir auch gerne ein Drittel ab von der Kohle, die eigentlich deine wäre und mir nur zufällt, weil du manchmal verhindert bist. Vielleicht kann ich Franz sogar dazu überreden, daß er was drauflegt; schließlich verhökere ich sein Kraut ganz gut, und außerdem beginnt jetzt die Hochsaison. Und für Harry, daß du es nur weißt, gibt es auch Knete; die kriegst du — und meine gleich mit, unabhängig davon, ob du selbst dich um Harry bemühst oder ich deine Schichten übernehme.
«Na ja«, sagte Christoph,»da ihr beide, also du und dieser Harry, ohnehin unzertrennlich zu sein scheint, tu ich dir wohl nur einen Gefallen, wenn ich deinem süßen kleinen Giftpilz nicht allzu oft das Fläschchen gebe. Aber anschauen werde ich mir den schon mal genauer.«
Ich war wütend auf mich, weil ich mich weit aus dem Fenster gelehnt und Christoph nicht ansatzweise erpreßt, sondern statt dessen großzügig und grundlos bestochen hatte, konnte jedoch wenigstens hoffen, daß er nun nicht mehr nein sagen würde. Und tatsächlich meinte Christoph, da es mir so viel bedeute, lasse er sich» ausnahmsweise hinreißen zu diesem sicher sinnlosen altruistischen Experiment«; auch» die Idee mit der Eindrittelbeteiligung «an meinen Standeinahmen fand er» durchaus akzeptabel«.
«Habe die Straßenseite gewechselt, auf Nichterkennen gemacht und doch genau gesehen, daß T. mich gesehen hat. Der wird das Maul nicht halten. Nur: Wo wollen die mich suchen? Der einzige, der es weiß, ist mein alter Kumpel B. Trotzdem muß ich den noch irgendwie briefen, dazu aber erst mal finden. Und seit vorgestern ist er wie vom Erdboden verschluckt.«
Christophs mit Absicht schmalzig genäselte Grußfloskel» Tschau, Bella «dröhnte mir noch im Ohr, und ich überlegte, wie ich weiter vorgehen sollte, alphabetisch oder nach Intuition, als du lautlos hinter mich tratest, meinen Nacken berührtest. Ich erschrak, weil mir in dem Moment nicht einfiel, daß ich dir meinen Zweitschlüssel neben die Matratze gelegt hatte. Du warfst mir eine verschnörkelte grüne Plastikhaarspange hin, nahmst sie wieder zur Hand, ergriffst mit der anderen eine meiner Ponylocken, stecktest sie fest, geschickt wie ein Friseur, küßtest mich aufs Haupt und meintest, das sehe wirklich schön aus.
Du warst lange weg, sagte ich.
«Mußte ja auch die ganze Kiste durchwühlen, um das Teil zu finden«, sagtest du, so friedfertig, als hättest du das Vorwurfsvolle in meiner Stimme gar nicht bemerkt. Deine Finger streichelten die Spange und meinen Kopf, der leerer und schwerer werdend gegen deinen Bauch sank. Ich wollte nicht mehr daran denken, daß ich noch diese Menschen anzurufen hatte, sondern dein Hemd öffnen, dir meine Zunge in den Nabel und dich zu Boden drücken, aber ein unauflöslicher Rest von Verantwortungsgefühl war dann doch stärker und neutralisierte das geile Gemisch aus Ignoranz, Arroganz und Sehnsucht, das sich meiner oder sogar unserer bemächtigen wollte.
Kennst du eigentlich auch jemanden, der mitmachen könnte, fragte ich.
Dein Blick, der meinen nicht erwiderte, wurde weich und ungenau, als müßtest du gleich weinen. Im dazu passenden Tonfall sagtest du» vielleicht«, zogst ein braunes Lederimitatetui aus der Gesäßtasche deiner Jeans und entnahmst ihm zwei etwas verblichene Farbfotografien; auf der einen waren ein schwarzes Pferd und dessen sehr schöne junge Reiterin zu sehen, auf der anderen dasselbe Mädchen allein in einer Sofaecke sitzend. An die Halbkugeln seiner hohen, von keinem BH beengten Brüste, zwischen denen eine lange Perlenkette baumelte, schmiegte sich ein ärmelloses hellblaues T-Shirt. Das in der Mitte gescheitelte, üppig-glatte Blondhaar reichte ihm bis zu den Schultern; konzentriert, mit leicht geöffnetem, ungeschminkt rotem Mund und gesenktem Blick unter dichten Wimpern drehte es sich, erkennbar elegant, eine Zigarette.
«Das ist Maria«, sagtest du,»die ist sauber wie ein Wassertropfen, hat nur irgendwann nicht mehr zurückgeschrieben. «Und weiter erzähltest du von dieser Maria, der» Tochter echter Christen«, die in einem» Dorf bei Münster lebt «und ein» Herz für Langstrafler hat«, was für ein sanftes Wesen die sei und wie ergreifend schlicht gerade ihr letzter Brief auf gelbem Papier. Dreimal habe sie dich auch im Knast besucht, dir Bibelstellen vorgelesen, deine Hand gehalten, dich angesehen aus ihren» riesigen blauen Kulleraugen«, doch nie wärst du auf die Idee gekommen, sie» anzubaggern «oder eine der Fotografien, um die du sie eigens gebeten hättest, als» Wichsvorlage zu mißbrauchen«.
Münster, sagte ich trocken, ist das nicht ein bißchen weit weg? Ich hatte Mühe, dir zu verbergen, daß ich eifersüchtig war — und neidisch, vor allem das. An sich neige ich nicht zur Eifersucht, seit ich älter bin, schon gar nicht mehr. Aber wenn mich dies unwürdige, nichts als ein mieses Bedürfnis nach Besitz verratende Gefühl dereinst doch mal packte, bestand es überwiegend aus Neid — auf die Reize jenes anderen, schöneren Menschen. Im Falle dieser Unschuld vom Lande, die auch noch Maria hieß, gab mir deine scheinheilige Schwärmerei für deren angeblich so kostbare Reinheit den bösesten Stich. Gestern hattest du dich von mir nur vögeln, dir aber keinen blasen lassen wollen, und heute?! Während ich dabei war, deine Haut zu retten, gestandest du mir ohne Rücksicht auf Verluste deine Liebe zu einer womöglich noch minderjährigen, fadendünnen, semmelblonden Pferdenärrin, die sich nicht einmal Fertigzigaretten leistete, sondern ihre — übrigens so gar nicht zu einer Maria passende — Rauchlust mit Tütenknaster befriedigte, wahrscheinlich, weil ihr knapp bemessenes Taschengeld sonst nicht reichen würde, für Hafer, Striegelfett, falsche Perlen und gelbes Blümchenbriefpapier.
Nein, Harry, ich fragte nichts mehr, auch nicht nach Marias Nummer und Adresse. Und daß ich die nicht kennenlernen, also nicht bei der Gruppe haben, sondern für immer in der Kirche ihres zum Glück mindestens acht Zugstunden von uns entfernten Dorfes oder auf ihrem Scheißgaul durch die dunkelsten Wälder irren lassen wollte, das wenigstens konntest du wohl begreifen; denn ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stecktest du die beiden Bildchen zurück in deine Arschtasche — und nie wieder kamen sie zum Vorschein.
Eine Weile standest du noch bei mir am Tisch, ließest schweigend mein beleidigtes Schweigen über dich ergehen, dann knurrtest du» bin müde «und zogst, samt Bettzeug und Matratze, in die Küche. Es sah nicht so aus, als wünschtest du, daß ich dir folge.
Meine ob der Maria-Episode gesunkene Stimmung bewirkte wohl, daß ich die nächsten Telefonate in einer nicht allzu flehentlich klingenden Tonlage führte und dies wiederum, daß ich — drei Stunden und siebzehn Anrufe später — nicht nur die nötigen acht Männer und Frauen beisammen, sondern sogar noch einen Reservisten gewonnen hatte.
Stolz eilte ich zu dir in die Küche, baute mich mit verschränken Armen vor deiner ruhenden, möglicherweise auch wirklich schon wieder schlafenden Gestalt auf und sagte sehr laut: Hey, Harry, die Sache ist geritzt. Ich hab uns neun Schutzengel eingefangen. — Weil es von Anfang an so war, frage ich mich, ob du es überhaupt hättest bemerken können, doch jedesmal, wenn ich mich zu dir sprechen hörte, wurde ich mir ein wenig fremd, denn die Worte, die ich gebrauchte und von denen ich annahm, daß sie deinen Geschmack trafen, waren immer andere als jene, die ich kurz vorher gedacht hatte. Ich übte eine Rolle, die mir gefiel, aber nicht lag; ob du das durchschautest, mein falsches Spiel trotzdem mochtest, das, Harry, wüßte ich gern — und nicht nur aus Eitelkeit.