Es kam der Tag, für den Joe uns zum zweitenmal einbestellt hatte. Die Zeit bis dahin war schnell verflogen und gemessen an der, die nun begann, unbeschwert schön wie seither keine mehr.
Du hattest die Nacht zu jenem Freitag, dem zweiundzwanzigsten Mai 1987, ausnahmsweise nicht mit oder, wie öfter in den zurückliegenden zwei Wochen, wenigstens bei mir verbracht, sondern auf Julis Gästebett, falls das nicht auch gelogen war.
Also fuhr ich gegen Mittag nach Charlottenburg, um dich abzuholen. Ich war sicher, daß du rasiert und bekleidet wärst und erfreut, mich zu sehen, zumal ich dich — und sogar Juli — einladen wollte in ein Lokal, das dein Lieblingsessen anbot, Kohlrouladen; wie es hieß, die besten der Stadt. Aber du saßest noch im Bademantel, Julis Bademantel, auf diesem Gästebett, einem verschossenen roten Plüschsofa, das du für Juli aus einem Haufen Sperrmüll gezogen und ganz passabel restauriert hattest. Juli, die mir mit nichts als einem fliederfarbenen negligéartigen Etwas am Leibe die Tür geöffnet hatte, fläzte sich wieder neben dich und hinter den Couchtisch, der leer war, bis auf den Aschenbecher und zwei, nicht drei, Goldrandgläschen voll Sahnelikör. Ihr hättet spät gefrühstückt, sagte sie. Auch du meintest, obwohl du dein Glas kaum anrührtest und zuließest, daß ich es austrank, dir stünde der Sinn jetzt nicht nach» fester Nahrung«. Ich fühlte mich mies, wie ein Eindringling, eine Spielverderberin, verlangte trotzdem — in bemüht lässigem Tonfall, der nach bekehrtem Gauner klang und sicher nicht nur mich selbst an Joe erinnerte —, du mögest aus dem Knick kommen, aber pronto, und von Juli, als du ins Bad verschwunden warst, mehr Strenge gegen dich und Verständnis für mich und daß sie nachher ja pünktlich sein solle.
Julis glasig grüner Blick ruhte auf mir, unbeirrbar mild.»Ach, Soja«, sagte sie,»mit der Liebe ist es wie mit den Masern. Man bekommt sie nur einmal, und je später das passiert, desto schlimmer wird’s. Ist von Tolstoi, glaube ich.«
Ich verkniff mir eine Antwort, denn ich wußte keine, die nicht verräterisch gewesen wäre, doch vor allem fürchtete ich, daß wieder Joe aus mir sprechen könnte.
Noch unten, auf dem Weg zur U-Bahn, war ich den Tränen nahe. Ich hing an deinem rechten Arm, schwerer als der Beutel Kartoffeln, den ich, weil wir nun doch nicht essen gingen, bei einem Türken in Julis Straße gekauft hatte, an deinem linken; und vor einem Zeitungskiosk gab ich dir kleine Küsse hinters Ohr, die du hinnahmst wie Entschuldigungen. Und deine Laune besserte sich; im Zug packtest du dir lachend das Zweikilonetz mit Kartoffeln auf die Knie.»Das sind die von den ganz schlauen Bauern«, sagtest du.
Als ich dich begriffsstutzig anblickte, lachtest du noch breiter. Wenn die dümmsten Bauern immer die größten Kartoffeln hätten, so deine Erklärung, könnten unsere kleinen ja nur von den schlauen stammen.»Mann, müssen die klug sein und sich angestrengt haben, um aus stinknormalen Knollen solche Knippkugeln rauszuzüchten. Aber das Endziel sind sicher Kartoffelerbsen. Die kochen dann bloß drei Minuten und werden samt Pelle verputzt.«
Dir, nicht mir, rannen Tränen, allerdings Lachtränen, übers Gesicht, sobald du meins ansahst, in dem sich nicht einmal die Mundwinkel hoben. Du schautest zu mir, dann wieder auf die runzligen, hier und da schon keimenden Kartoffeln, die dir, wie du meintest, die schönsten Stielaugen machten, und konntest dich gar nicht mehr beruhigen.
Zu Hause nötigte ich dich auf meine Matratze; du, noch immer lachend, ließest mich gewähren. Warst wohl auch geschmeichelt, weil ich dich so sehr wollte — und diesmal unbedingt bis zum Schluß in mir behalten. Doch als ich gekommen war, schnell wie meistens und heftig unter dem Druck von Eifersucht oder Verlustangst oder beidem, gelang es dir wieder, mich von der Palme zu holen, wie auch ich deine Interruptionstechnik mittlerweile nannte. Als übten wir für eine bodenakrobatische Darbietung, schobst du deine großen Hände in meine Achselhöhlen und stemmtest mich von dir weg. Aber ich wollte nicht schweben. Meine Schenkel hielten dich schraubstockfest; ich verlagerte mein ohnehin nicht geringes Gewicht ganz auf deinen Schwanz, der, wie ich deutlich spürte, die Spannung verlor und schrumpfte — und dagegen, das erregte mich stärker, als es der schon wieder abflauende Orgasmus vermocht hatte, war ich völlig machtlos. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit war derart überwältigend, daß ich fürchtete, es könnte mich in einen durch nichts mehr zu lösenden Krampf bannen. Möglich, daß du davon etwas mitbekommen hast, denn während mich deine eine Hand um so fester hielt, kraulten die Finger deiner anderen Hand jene Stelle oberhalb meines Bauches, an der ich kitzlig war wie nirgends sonst. Und die Starre, die mich ergriffen und begonnen hatte, mir die Muskeln zu verhärten, wich und verwandelte mich abermals: in ein zuckendes, lachendes Knäuel, das schließlich von dir runter- und noch eine ganze Weile allein auf der Matratze herumrollte. Du hattest dir ja den Bademantel umgehängt und dich in die Küche verzogen.
Wie immer, solange wir miteinander hausten, kamst du bald zurück. Einen Löffel zwischen den Zähnen, eine Schüssel voll Joghurt vor der Brust, hocktest du dich hin, schautest mich an, als wolltest du etwas sagen, und machtest auch den Mund auf, doch nur, damit der Löffel in den Joghurt fallen konnte. Ein netter Trick, den ich sonst gerne bewunderte; diesmal bewirkte er allerdings bloß, daß ich es endlich schaffte, wieder ernst zu werden.
Weil ihr noch irgendwo Holz holen wolltet, verließest du meine Wohnung an jenem Tage in Franks Gesellschaft und früher als ich. So fuhr ich ohne dich in die Eisenacher Straße. Im Treppenhaus, am vorderen Ende des langen Flurs, der zu den Räumen der Triade führte, begegnete ich vier Frauen, die, wie Joe mir fünf Minuten später auf meine Nachfrage hin beschied, gerade bei der» Angehörigengruppe «gewesen waren. Eine der Frauen verstellte mir den Weg und musterte mich derart feindselig, daß ich nicht umhinkam, sie zu fragen, welche Laus ihr denn über die Leber gelaufen sei.
«Wir«, motzte sie,»sind die Mütter von denen, die hier landen. Und sein Kind kann man sich nicht aussuchen. Aber was ist mit Tussis wie dir? Bist du pervers, oder findest du keinen besseren Stecher?«
Ist das nicht ein bißchen einfach gedacht, erwiderte ich, lapidarer als beabsichtigt, und drückte mich, meinen Hintern die Wand entlangschiebend, an den Frauen vorbei.
Wieder saßen wir wie seine braven Schüler auf unseren Klappstühlen, und wieder ging Joe, ehe er zu sprechen begann, ein paar die Spannung steigernde Minuten hin und her, musterte uns ausgiebig, einen nach dem anderen, und fragte dann, betont unbeteiligt, als erkundige er sich nach dem Wetter in Wladiwostok, wie es denn so ginge» mit unserm Harry«.
Ein paar Minuten, die sich für mein Gefühl zur Ewigkeit dehnten, herrschte Schweigen. Alle außer mir lächelten matt und schauten irgendwohin, nur nicht zu Joe.
Schließlich räusperte sich Clara, an der Joes Blick klebengeblieben war.»Was soll’s«, sagte sie ein wenig schleppend und so, als seiest du nicht im Raum,»der Harry hatte die letzten Jahre halt kaum Kontakt zu gebildeten, politisch und künstlerisch engagierten Menschen, darum fehlt ihm oft die eigene Meinung. Immerhin weiß er, was ihn nicht interessiert, und kann einigermaßen zuhören. Gedichte verstehen lernen, das braucht seine Zeit und Harry eine wie mich, dann klappt das auch irgendwann, denn dumm ist er nicht. Mehr Austausch wäre schon schön, aber ich bringe ihm gerne was bei. Nur wollen muß er. Die zwei Monate, die uns noch bleiben, sind nicht viel, gerade genug für den Anfang, der ja Gott sei Dank bald hinter uns liegt …«
Wahrscheinlich hätte Clara weiter solches Stroh gedroschen und jeder von uns anderen weitergeschwiegen, wenn nicht ausgerechnet sie die erste gewesen wäre, die auf Joes Animation reagierte.
«Ach Quatsch mit Gedichten und Soße«, schnitt Frank ihr das Wort ab,»wir kommen klar. Bei mir hat Harry schon Bilderrahmen gebaut und so gut wie alleine ne ganze Ausstellung verpackt. Einziges Minus: Er fragt nicht, lieber macht er’s falsch.«
«Manches auch nicht«, mischte Hanna sich ein,»Stullen schmieren, Tütensuppe kochen, Wäsche zusammenlegen erledigt Harry alles prima, ohne Diskussion.«
«Wir hören viel Musik, das ist easy, so wunderbar entspannend. Zumal Harrys Leben gerade ziemlich stressig verläuft«, sagte nun Marlene, nach der ich sprechen wollte, um dich noch etwas mehr zu loben und so, wie ich es für therapeutisch clever hielt; etwa deine soziale Kompetenz, deine kleinen Geschenke, deine ruhige, besonnene Art …
Doch Joe kam mir zuvor:»Haltet ihr Harry für ehrlich? Spricht er gelegentlich über sich? Sagt er, wie es ihm geht, was mit ihm los ist? Und wer von euch hat sich dafür schon mal interessiert und das auch zum Ausdruck gebracht? Wißt ihr eigentlich, meine lieben Zwerginnen und Zwerge samt Ersatzzwerg, wer seit Wochen in euren Bettchen schläft, von euren Tellerchen ißt, aus euren Becherchen trinkt? Schneewittchen heißt er nicht, obwohl auch Gift im Spiel ist.«
Joe war vor deinem Stuhl zum Stehen gekommen, trat nah an dich heran, stieß dir mit dem Handballen nicht eben sanft vor die Brust.»Los, Harry«, fauchte er leise, aber scharf,»heb deinen Arsch hoch und sag’s ihnen. Da du offenbar noch immer nicht den Mut hattest, sag es ihnen jetzt, sofort.«
Doch du bliebst sitzen, senktest den Kopf und wurdest, was nur ich deutlich sehen konnte, weil dein Stuhl der letzte in der Reihe war — und meiner der rechte daneben — und ich mich so weit zu dir hinüberbeugte, daß mein Haar deinen Schoß berührte, feuerrot. Binnen Sekunden hattest du Schweißperlen auf der Stirn; und wenn es keine Sinnestäuschung gewesen war, tropfte mir, ehe ich es wegzog, mindestens eine davon ins Gesicht.
Du schwiegst. Wir hielten den Atem an. Joe tänzelte vor dir auf der Stelle wie ein Fußballer, der gleich den ersten Elfmeter schießen muß, oder wie ein Kommissar, der endlich das längst fällige Geständnis hören will, und bedrängte dich:»Nun red schon, wir haben nicht ewig Zeit.«
Du schwiegst eisern weiter, krümmtest dich nur noch mehr zusammen.
«Na gut«, sprach Joe, als du kleiner nicht mehr werden konntest,»du schaffst es also nicht, reinen Tisch zu machen. Du willst deine Freunde, ohne die du seit Wochen wieder auf Dope und im Knast wärst, nicht damit konfrontieren, daß du HIV-positiv bist?!«
Für das, Harry, was Joes Worte in mir auslösten, hatte ich keine, weder in jenen Tagen, die diesem einen folgten, noch später. Und selbst heute werde ich meine damaligen Empfindungen kaum in Sprache fassen können. Es war, als hätte man mir einen sofort und mächtig, aber nicht vollständig betäubend wirkenden Cocktail aus Angst, Enttäuschung, Wut und Selbstmitleid injiziert. Es war wie ein elektrischer Schicksalsschlag, eine Explosion im Schädel, die mein Bewußtsein zu zerstören drohte und gleichzeitig schärfte. In meinen Ohren brauste und dröhnte es, derart laut, daß ich den Kommentar, zu dem dich Joe nun doch provoziert hatte, vernahm wie hochtönendes, den Gewitterdonner eher skandierendes als durchdringendes, vielleicht nur vom Wind hervorgerufenes Jaulen; es war, als hörte ich nicht die Wörter, die du sprachst, oder Joe oder sonstwer, nicht die Laute, die von links und rechts, vorn und hinten, oben und unten in meinen Kopf gelangten, sondern meine eigenen, soeben aus dem Tiefschlaf gerissenen und deshalb wie Säuglinge wimmernden Gedanken.
«Na und …, weiß es selbst erst seit ein paar Wochen …, habe außerdem noch Hepatitis B und C …, manches verdrängt man eben …, Joe, du alte Petze …, da wird ja sogar ein Schaf böse …«, das sind in etwa die Satzfetzen, die ich behalten habe von dem, was du sagtest, gerade so — oder so ähnlich.
«Denken zu können wäre ganz okay, ohne fühlen zu müssen. Sterben zu müssen, bei vollem Verstand, ist barbarisch, eine Zumutung. Mit Hero geht es sicher schneller, aber leichter eben auch. Wenn ich drauf bin, gibt es genug Trubel, fiesen und angenehmen, bin ich gezwungen, meinem Körper zu verschaffen, was er braucht, damit es meinem Kopf bessergeht, sind sie Komplizen, die der Hals nicht trennt, sondern verbindet. Was, außer ab und an ein paar Happen, sollte ich einwerfen, wenn mein Organismus nicht nur dazu da wäre, daß in meinen Grübelzellen bißchen Rambazamba ist oder wenigstens Ruhe herrscht?
Und da behauptet Joe, es sei eine Lebensaufgabe, dieses Leben aufzugeben. Den Müll soll der Idiot mal anderen Idioten verkaufen, mir sicher nicht.«
Erinnerst du dich daran, wie Joe, während du noch am Stammeln warst, auf seine Armbanduhr linste und uns sadistisch grinsend ermahnte, einen klaren Kopf zu behalten, dir deinen aber» ruhig mal ordentlich zu waschen«? Hast du die Panik in meinen Augen und in denen der anderen je vergessen können? Hörst du auch bis heute — schallend wie eine Backpfeife — die Tür ins Schloß fallen, vor die Joe uns nach genau einer Stunde setzte?» Macht’s gut zusammen, bis nächstes Mal. Und haltet die Ohren steif.«
Hanna raffte ihre drei vollen Einkaufstüten und stürzte, wie vor ihr schon Christoph und Thomas, davon, ohne sich noch einmal umzusehen nach dir, mir, Joe oder ihrem Mann, der, eine brennende Zigarette zwischen den Lippen, komisch langsam wie eine nicht stramm genug aufgezogene Blechente den Flur hinunterwatschelte und so benommen zu sein schien, daß er die vielen, beidseitig an den Wänden klebenden Rauchverbotsschilder gar nicht wahrnahm. Clara, der ich widerwillig oder weil ich selber Halt brauchte, für einen Moment den Arm um die Schulter legte, weinte lautlos in eins ihrer umhäkelten Taschentücher, über die ich mich ein paar Tage zuvor noch lustig gemacht hatte. Marlene und Juli, die sich bisher eher aus dem Weg gegangen waren, hielten Händchen.
Und erstmals bemerkte ich, was für ausdruckslose Gesichter sie aufsetzen konnten; Gesichter, die, sonst völlig verschieden, einander plötzlich ähnelten — und denen der beiden ausgestopften Marder, die ich, neben anderen im Biologiekabinett meiner Ostberliner Schule vor sich hin gammelnden Präparaten, mal hatte entstauben und ausgerechnet mit Nerzöl abreiben müssen, zur Strafe für» Stören des Unterrichts«. Nur Ersatzmann Marc, der allemal öfter als Christoph und Thomas mit dir zusammengewesen war, gab sich gelassen, suchte sogar meine Nähe und Kontakt zu Frank, Clara, Juli, Marlene, die er regelrecht agitierte:»Kommt bitte mit ins Schwanensee. Wir sollten besprechen, wie es nun weitergeht. Und Harry wird uns sicher auch einiges zu erklären haben.«Harry. — Obwohl ich unausgesetzt an dich dachte, wenn man das, was in meinem Kopf vorging, überhaupt Denken nennen kann, vermißte ich dich erst auf dieses Stichwort hin. Auch Clara, Juli und Marlene blieben stehen, drehten sich um, hielten Ausschau nach dem, der schuld war, nach dir.
Du hocktest reglos vor Joes Tür und starrtest die diagonal gegenüberliegende Herrenklotür, hinter der du seit Wochen unter vier Augen Zylindergläschen fülltest, an, als hättest du sie noch nie gesehen. Nun komm schon, Mensch, schrie ich. Es klang derart schrill und böse, daß die anderen und ich selbst zusammenzuckten, du aber tatsächlich aufschrakst aus deiner Versteinerung.
Schließlich fanden wir uns an einem Tisch des Cafés wieder und vertieften die dort herrschende Edward-Hopper-Stimmung; sieben bleiche Vögel, die dem Schwanensee alle Ehre machten, obwohl keinem, nicht einmal Exausdruckstänzerin Clara, nach physischer Bewegung zumute und, von der Kellnerin abgesehen, auch kein Publikum da war.
Marc, der sich links neben dich setzte, aber so, daß zwischen euch ein Stuhl frei blieb, bestellte, ohne daß ihn jemand dazu ermächtigt oder davon abgehalten hätte, eine Runde Wodka und eine Flasche Wasser, legte dann, um deine Augen sehen zu können und womöglich sogar in sie hinein, seinen Kopf auf die Tischplatte und sagte:»Ist das ein Bullshit.«
Ich war völlig fertig, an denken nicht zu denken, und doch weiß ich noch, daß Marcs Worte seltsam klangen, zwiespältig, doppelzüngig, unbestimmt (nichts davon trifft es genau), wie nüchterne Feststellung und schüchterner Vorwurf in einem; ihnen nachlauschend, konzentrierte ich mich ganz auf dich, als könntest nur du mich ablenken von dir. Während ich mich fragte, ob du meine und Marcs Blicke überhaupt spürtest, ob du ihm antworten würdest, vielleicht ja wenigstens mit einer Handbewegung, merkte ich lange nicht, daß Clara, Juli und Marlene mich anstarrten. Erst als die Kellnerin, der die Brisanz der Situation offenbar nicht entgangen war, uns fast geräuschlos einen Krug Leitungswasser, zwei Sorten Gläser und eine halbvolle Flasche Moskovskaya hinstellte, wandte ich mich kurz von dir ab und Juli zu. Julis Blick war wie zuvor Marcs Worte: zwiespältig und unbestimmt — oder wie mein Blick auf dich; ich versuchte mich zu trösten, indem ich dein Problem für größer hielt als meins, und Juli schien meins für größer zu halten als ihres und gerade das sie ein wenig zu betäuben. — Es gibt Momente, da ist Mitleid nicht so schmerzhaft wie Selbstmitleid. Zumindest zerstreute Julis halb erschrockener, halb teilnahmsvoller Blick vorübergehend meinen Verdacht, daß ihr euch heimlich nähergekommen wärt.
In der Art, wie Clara und Marlene mich anschauten, lag eher Distanz. Sie schienen mich nicht für ungefährlicher zu halten als dich, und ihre mal auf mich gerichteten, mal flink wie die Kugeln einer russischen Rechenmaschine nach links oder rechts gleitenden Pupillen verrieten, daß sie im Geiste jene Szenen mit dir und mir durchgingen, die irgendwie infektiös gewesen sein könnten. Dachten sie an Begrüßungs- und Abschiedsküßchen, Kaffeetassen, Bettlaken, Handtücher, Raucherhusten …?
Wir wußten damals so wenig über diese neue Krankheit; eigentlich nur das, was seit Wochen in sämtlichen Blättern stand, daß eine Pandemie auf uns zukäme, daß es nicht ausschließlich sexuelle Übertragungswege gäbe, daß Schwule mehr als andere gefährdet seien, daß Aids bald und immer zum Tode führe … Und ich hatte, bis ich dir begegnete, nicht einmal gewußt, was ein Junkie ist.
Nachdem Clara wieder ein bißchen geweint hatte, der Schnaps alle, Juli blau, Marlene übel und Marc am Ende seiner Bemühungen war, zahlte ich die Rechnung und hielt, auch weil dein Schweigen mich zwang die Initiative zu ergreifen, mit gesenktem Kopf eine kleine, wie sich bald zeigte, nicht allzu überzeugende Rede. Außer Sex sei nichts wirklich schlimm, und am schlimmsten sei es doch für dich, und wenn wir dich jetzt hängenließen, das sei noch schlimmer. Sie sollten mich morgen bitte, bitte anrufen, sollten wenigstens pro forma dabeibleiben. Um den Rest würde ich mich schon kümmern …
«Du bist eine selten blöde Kuh«, unterbrach mich Marlene — von ihrem Stuhl hochfahrend und mit den Armen fuchtelnd; ihre Augen glänzten, ihre Nasenflügel bebten, ihre kalten Finger streiften meine Hand. Dann ging sie ohne ein weiteres Wort, ohne ein Lächeln oder Winken, aufrecht wie eine Schlafwandlerin zur Tür und hinaus.
Wir anderen gingen auch, jeder für sich, nur ich mit dir. Denn daß du den Rest jenes Abends, die Nacht und die Hälfte des folgenden Tages in meiner Obhut zu verbringen hattest, war harryplanmäßig, gehörte nicht zum stillschweigend Beschlossenen, von dem ich noch nicht wußte, was genau es war. Würden einige durchhalten oder alle auf einmal abspringen? Wer würde sich eventuell erweichen lassen und zumindest zur letzten Gruppensitzung kommen? Oder müßtest du demnächst zurück in den Knast, weil die meisten deiner Groupies dir und mir morgen nicht mal mehr adieu, Joe aber telefonisch Bescheid sagen würden, und schon wär’s aus und vorbei? Mit derlei absurd-praktischen Fragen versuchte ich, das Grauen abzuwehren, das in mich einsickerte, sobald ich mir die kleinste Denkpause erlaubte. Doch ich war erschöpft, und irgendwann würde ich meinen Widerstand aufgeben, mich hinlegen müssen, und dann würde es mit aller Macht kommen, das Grauen, mich fluten, mich ersäufen und wegspülen, weit weg von dir.
Bis zur U-Bahn, während der Fahrt, auf dem Weg in unsere Straße und noch hinter meiner Wohnungstür warst du grabesstill. Auch ich sagte kein Sterbenswort. Selbst das Küchenradio, an dem du sonst immer gleich herumdrehtest, bis du eine dir genehme Musik gefunden hattest, blieb stumm. Ich entkorkte eine Flasche Rotwein und setzte mich, du dich auf den Stuhl mir gegenüber. Nach dem dritten schweigend geleerten Glas begann ich zu weinen. Die Tränen liefen wie Wasser aus mir heraus; ich schluchzte, schniefte, stöhnte — und konnte mir nicht vorstellen, jemals wieder damit aufzuhören. Du gingst nicht weg, kamst mir aber auch nicht näher.
Es ist deshalb, sagte ich, als ich weiß nicht wieviel Zeit vergangen war, deshalb holst du mich jedesmal von der Palme. Deshalb durfte ich dir keinen … Ich brachte das Wort» blasen «nicht über die Lippen, fand es aber plötzlich so komisch, daß ich anfing zu lachen und dabei munter weiterweinte. Wenn das nicht hysterisch war, Harry, was war es dann?!
Du erhobst dich, holtest Butter, Wurst, Tomaten aus dem Kühlschrank, schmiertest mir Stullen, entkorktest für mich die nächste Flasche Rotwein und machtest dabei Geräusche, die womöglich besänftigend sein sollten.»Pst, pst«, zischtest du, als hättest du es mit einem greinenden Säugling zu tun und nicht mit deiner verzweifelten Freundin, die umzukommen glaubte, wenn auch erst einmal nur vor Angst.