XVII

«Eines Morgens in aller Frühe«, wie es im Partisanenlied heißt, weckte mich Sturmklingeln; es war noch stockfinster, in dem Fenstersegment mir gegenüber keine Sterne, kein Mond. Und wenn ich, seit du im Krankenhaus lagst, nicht ohnehin schlechter als sonst geschlafen und an jenem Morgen nicht auch noch schlecht geträumt hätte oder wenn ich gar nicht dagewesen wäre, wer weiß, was dann passiert wäre.

Sie mußten schon eine Weile Krach gemacht haben, denn ich kann mich daran erinnern, daß in meinem Traum schwarze Sommernacht herrschte und daß wir beide durstig und zerlumpt an einem südlichen Strand saßen. Nichts als die Brandung war zu hören und das noch viel lautere Zirpen der Zikaden. Einige dieser Insekten flogen dicht an unseren Köpfen vorbei; ihre Flügelschläge verursachten Luftwirbel, die unsere Gesichter kühlten, was bedrohlich und doch angenehm war, weil vom Meer seltsamerweise nicht die kleinste Brise herüberwehte. Und eine Zikade kam direkt auf uns zu, und für ein paar Sekunden sah ich uns tausendfach gespiegelt in riesigen, fluoreszierenden Facettenaugen, im linken dich, im rechten mich … Aber schließlich sickerte mir ins Bewußtsein, daß die Geräuschintervalle nicht von irgendwelchen Monsterzikaden, sondern von meiner Klingel herrührten, also schlüpfte ich in meinen Bademantel, tappte barfuß zur Tür. Die draußen hatten wohl etwas bemerkt, jedenfalls aufgehört, das Knöpfchen zu martern, doch ihr Gewisper und die gespannte Atmosphäre hätten mich, wenn ich schon ganz bei Sinnen gewesen wäre, sicher gewarnt, mir signalisiert: Deiner harrt nichts Gutes.

Was ist los? rief ich.

«Nun beeilen Sie sich mal«, schrillte eine Frauenstimme zurück,»wir haben einen Rohrbruch!«

Noch immer benommen, machte ich mir Licht, hakte die Kette aus, öffnete — und starrte in drei Pistolenläufe. Neben der Polizistin, die mich mit der Rohrbruchfinte geleimt hatte, standen zwei ihrer Kollegen, einer in Zivil und einer in Uniform, die wie die Frau ihre Waffen auf mich gerichtet hielten, und hinter denen noch vier weitere Uniformierte mit Schlagstöcken. Ich hatte keine Zeit, mich an das Bild zu gewöhnen, denn drei der Polizisten stürmten an mir vorbei, und der Zivile drängte mich in den Flur, packte meinen Arm, dann meinen Nacken, so, daß ich mich umdrehen mußte, und sprach:»Gehen Sie. Vermeiden Sie jede plötzliche Bewegung. «Als er mich an der Wand hatte, kam das Kommando:»Beine auseinander und Hände über den Kopf!«Er befingerte mich von oben bis unten, insbesondere die Taschen meines Bademantels, schob dessen Ärmel zurück, betrachtete meine makellosen Armbeugen, verstaute seine Pistole in dem Schulterhalfter unter seinem Anorak und griff wieder nach meinem Genick. Ich war zu verblüfft, um etwas zu sagen oder zu fragen.

Im Zimmer angekommen, ließ ich mich auf meine noch warme Matratze fallen; der Zivilpolizist, dessen Hand in meinem Nacken klebte, als spielten wir Polonaise oder das Märchen von der goldenen Gans, setzte sich neben mich, streckte ächzend seine Beine von sich und knurrte:»So ist das mit eurer Sorte. Immer haust ihr entweder ganz unten oder ganz oben, aber vernünftige Betten habt ihr nie.«

Die blonde, etwas rundliche Polizistin und zwei von den anderen filzten mein Zimmer. Sie kramten in Schubladen, dem Nähkästchen, der Keksschachtel, durchwühlten die Kommode und den Kleiderschrank, stülpten Hosen-, Jacken-, Handtaschen um, schauten hinter die Ofentüren, fuhren prüfend über Buchrücken, zogen Kissen und Steppdecken aus der Bettwäsche und befühlten sie — Zentimeter für Zentimeter, so sorgsam, wie manche Frauen ihre Brüste nach eventuell vorhandenen Knoten abtasten.

Irgendwann fand ich die Sprache wieder: Zeigen Sie mir gefälligst Ihre Dienstmarken und den Durchsuchungsbefehl. Und was hoffen Sie eigentlich zu finden?

Die Polizistin antwortete knapp:»Durchsuchungsbefehl? Brauchen wir nicht, bei Gefahr im Verzug.«

Ihr ziviler Kollege, der meinen Nacken nun doch mal losließ, meinte:»Nicht Sie stellen hier die Fragen, erst einmal haben wir welche. Kommen Sie, wir setzen uns an den Tisch, ist auch besser fürs Protokoll.«

Ich hörte die anderen Polizisten in Küche und Kammer rumoren und sagte bissig: Na, prima. Da kann ich uns allen ja gleich noch ne schöne Kanne Kaffee kochen, falls Ihre Genossen die Tüte nicht ausgekippt und das Pulver über den Fußboden verstreut haben.

«Genossen ist gut«, sagte mein Bewacher,»und Tüten auch. Doch jetzt mal zur Sache. Woher kannten Sie den Herrn Rademacher?«

Rademacher? Ich hatte keine Ahnung, von wem der sprach.

«Benno Rademacher«, setzte er nach,»nun tun Sie nicht dümmer, als Sie sind, Sie welkes Blumenkind aus dem nahen Osten. Wir haben bei der Leiche des Rademacher, Benno ein Notizbuch gefunden, in dem steht Ihr Name mit Adresse und Telefonnummer.«

Ich war wie vor den Kopf geschlagen, und so guckte ich wohl auch. Dann dämmerte mir, welcher Benno gemeint sein könnte; doch nur jener, der, als wir einander zum ersten Mal begegneten, bei dir gewesen war und den Sonntag drauf mit uns Spargel gegessen hatte. Dieser Benno oder Ben, wie du ihn genannt hattest, der war jetzt also tot, und mit Nachnamen hatte er Rademacher geheißen. Ich erinnerte mich an sein dichtes, krauses Haar, seinen Silberohrring, die etwas vorlaute und zugleich devote Art, in der er sich als dein treuer Freund gebärdet hatte, hütete mich aber, mir etwas anmerken zu lassen, denn ich spürte, wie scharf der Mann mein Mienenspiel beobachtete, und traute ihm ohne weiteres zu, daß er erkennen würde, ob ich log oder nicht.

Ja, da war mal einer, der Benno hieß, sagte ich leise. Das ist eine Ewigkeit her. Ich traf ihn zufällig auf der Straße. Und seinen Familiennamen, wie sagten Sie, Rademacher, den erwähnte er, glaube ich, gar nicht. Er wäre der Benno, und basta. Aber warum soll er tot sein? Und was habe ich damit zu tun?

«Irrelevant«, schnauzte der Zivile, von dem ich mittlerweile vermutete, daß er ein Kriminalkommissar sei,»reden Sie weiter.«

Nichts weiter, blaffte ich zurück, wir waren zusammen Kakao trinken, und dann habe ich ihm, wohl um ihn endlich loszuwerden, meine Koordinaten auf eine Serviette gekritzelt, leider die richtigen, weil ich sonst hätte überlegen müssen, und das hätte ihn stutzig gemacht. Da der Kommissar nicht nach dir gefragt hatte, verschwieg ich, daß du dabeigewesen warst, ja, daß ich diesen Kontakt keinem anderen als dir verdankte; aber im stillen wunderte ich mich schon.

«Ach so«, höhnte mein Gegenüber,»Sie wollten ihn loswerden. Deshalb haben Sie haarklein aufgeschrieben, unter welcher Nummer der Rademacher Sie erreicht und wo er Sie findet, falls Sie mal wieder die Telefonrechnung nicht bezahlen konnten. Klingt logisch, oder?«

Inzwischen hatten die Polizistin und ihre beiden Kollegen die Suche in meinem Zimmer beendet, und die drei übrigen kamen zurück aus Küche, Flur und Kammer. Sie schüttelten kaum merklich die Köpfe; nur einer präsentierte dem Kommissar grinsend mein Sparbuch. Der blätterte darin herum und sagte:»Hübsches Sümmchen. So was will natürlich gut versteckt sein.«

Mir schwoll nun doch der Kamm. Welch ein Schwachsinn, rief ich, von meinem Stuhl auffahrend, das ist ein stinknormaler Lottogewinn, den Sie sicher auch gerne hätten, und der langt sogar für die nächsten Telefonrechnungen. Ich kann’s beweisen. Wenn Sie bitte nachschauen wollen, in dem Sparbuch liegt noch die Bescheinigung der Deutschen Klassenlotterie. Außerdem habe ich immer nur was abgehoben, nichts eingezahlt.

«Okay«, meinte mein Vernehmer,»das war’s für heute. Bitte bestätigen Sie uns auf diesem Protokoll hier, daß wir nichts gefunden, nichts beschädigt und nichts mitgenommen haben. Eine Kopie verbleibt bei Ihnen. Ich rate Ihnen, legen Sie das Papierchen nicht zu weit weg und glauben Sie nicht, Sie wären schon raus aus der Partie.«

Ich unterschreibe gar nichts, sagte ich. Erst mal sehen, ob Ihre Genossen den Zucker wieder in die Zuckerdose und das Mehl wieder in die Mehlbüchse gefüllt und überhaupt alles so verlassen haben, wie es gewesen ist.

Kammer und Küche waren picobello; sie hatten sogar den Tisch abgewischt und drei benutzte Gläser in die Spüle gestellt. Ich signierte den Wisch, geleitete die Korona zur Tür, legte die Kette vor, ging in mein Zimmer zurück, rauchte eine Zigarette. Dann duschte ich schnell, zog mich an, schob mein Sparbuch unter einen Stapel Schallplatten, nahm den Beutel mit dem Schlafanzug, den ich dir bei Karstadt gekauft hatte, und schloß dreimal hinter mir ab.

Ich öffnete, ohne daß ich vorher angeklopft hätte, die Tür zu deiner Krankenzelle, blieb aber auf der Schwelle stehen und sagte, ehe du etwas sagen konntest, Harry, dein Freund Benno ist tot. Dabei beobachtete ich dich, so, wie mich dieser Kommissar beobachtet hatte.

«Benno?«— Dein Blick und deine Stimme kamen wieder mal von weit her:»Ben ist tot?«

Ja, antwortete ich, die Polizei war heute da, in Sechsmützenstärke, der siebente trug Halbglatze. Ich drückte hinter mir die Tür zu, setzte mich an dein Bett, erzählte, was geschehen war, wenngleich nicht ganz so ausführlich, und die Sache mit dem Sparbuch unterschlug ich komplett.

Aber warum das alles, fragte ich dich. Warum mußten die meine ganze Bude umgraben?

«Ja, was werden die wohl gesucht haben?!«Du schautest mich an, als hätte ich zu wenig Schaum in der Waffel.»Deinen Bunker natürlich. Das waren die von der Drogenfahndung, du Eichhörnchen! Du standest mit Name, Adresse und Telefon in dem Merkheftchen von einem stadtbekannten Junkie der ersten Stunde, den sie tot aus irgendeinem Klo gezottelt haben, die Pumpe noch im Arm. Da kommen sie doch gucken, ob du Kundschaft warst oder ob er die Zutaten für seine Letzte Ölung von dir hatte.«

Du glaubst also, sagte ich, daß Benno an einer Überdosis gestorben ist? Woher willst du das wissen? Vielleicht wurde er ja ermordet?

«Quatsch«, sagtest du,»wer sollte Benno ermorden? Kein Mensch bringt Junkies um, das machen die schon selber. War einfach zu gierig, unser Ben, konnte sein Kronenchakra nie voll genug kriegen.«

Du lächeltest undurchsichtig, und mir fiel ein, richtiger auf, daß von Benno, seit jenem Sonntag, an dem du bei mir geblieben warst, nur noch zweimal die Rede gewesen war, und beide Male hatte ich nach ihm gefragt. Und an dem Abend mit den Klingsbrüdern, die Benno ebenfalls gekannt haben mußten, waren die Namen vieler Knastkumpels gefallen, doch seiner nicht.

Klar, sagte ich, du weißt Bescheid, dir sind sie ja nicht auf die Pelle gerückt. Aber warum eigentlich nicht? Stehst du etwa nicht in Bennos Notizheft?

«Wozu denn, du Schaf?«sagtest du.»Als mein persönlicher Sekretär Ben deine Daten in sein Heft übertrug, weil du uns eingeladen hattest und ich auf jeden Fall kommen wollte und so eine Papierserviette schnell mal verlorengeht, war meine letzte Adresse noch identisch mit seiner, und die wußte er auswendig. Und in der Nacht, du erinnerst dich, verschwand er und war seitdem wie vom Erdboden verschluckt.«

Harry, fragte ich, war Benno wirklich dein Freund?

«Ach, Mausepuppe«, sagtest du,»ich habe doch gar keine Freunde, nur eine Freundin, und die legt sich jetzt zu mir ins Bettchen.«

Auf dem Heimweg ging ich bei einem Rechtsanwalt vorbei, den ich, nachdem die Bullenmeute weg gewesen war, im Telefonbuch gefunden und angerufen hatte. Ich zeigte dem Anwalt die Kopie des von mir und — absolut unleserlich — auch von dem Kommissar unterzeichneten Durchsuchungsprotokolls.»Lassen Sie den Wisch hier. Ich kümmere mich darum. Die werden Sie nicht noch einmal belästigen«, sagte der Herr Raabe.

So kam es; ich hörte nie mehr von diesem Kommissar des Drogendezernats oder der Mordkommission oder welcher Spezialeinheit auch immer; und dich, ob ich das nun verstehe oder nicht, hatten sie ja gar nicht erst im Visier gehabt.

Am vierundzwanzigsten Februar, eine Woche vor meinem zweiundvierzigsten Geburtstag, wurdest du aus dem Klinikum am Urban entlassen, mit ziemlich klarer Prognose. Die Zahl deiner T-Helferzellen sei, sagte dein Arzt, wieder leicht gestiegen, die Krankheit aber» unverkennbar und irreversibel «ausgebrochen. Allerdings mache ihm deine» von jahrelanger chronischer Hepatitis massiv geschädigte Leber fast noch mehr Sorgen«. Er habe dich in die Ambulanz überwiesen, auf die» Dringlichkeitsliste eines geplanten Substitutionsprogramms für Schwerstabhängige «setzen lassen und dir» in Erwägung «deiner» voraussichtlich eher geringen Lebenserwartung «empfohlen, Invalidenrente zu beantragen. Du warst, als ich den Arzt vor dem Schwesternzimmer abfing und ihn nötigte, mir Auskunft zu geben, gerade unterwegs in die Röntgenabteilung; aber ich bin sicher, er wird dir gegenüber ebenso deutlich gewesen sein. Trotzdem verriet ich dir nicht, daß ich ihn zur Rede gestellt und alles erfahren hatte. — In der U-Bahn fragte ich dich zaghaft, wie es nun weiterginge. Du knurrtest bloß»wie es kommt, kommt es«; du hättest» keine Lust, über den ganzen Mist zu palavern«, weder mit mir noch mit sonstwem.

Durch die Emser Straße, die so verlassen aussah, als nage — seit selbst die Neuköllner Köter lieber hinterm Ofen bleiben und nicht mehr mit ihr spielen wollten — nur noch der Zahn der Zeit an ihr, wehte, kaum daß wir in sie eingebogen waren, eisig der Wind.»Wird regnen«, sagtest du. Gib mir Feuer, sagte ich; und du stelltest deine Sporttasche ab, um im Schutze deiner Jacke ein Streichholz zu entzünden. Ein paar hartgefrorene Häufchen alten rußschwarzen, von Hunde- und Menschenpisse gelb marmorierten Schnees säumten den Bürgersteig, und du zogst ein fröhliches Gesicht, weil du gleich auf deinem» Sofa sitzen und ne schöne Platte hören «würdest. Doch mir graute vor deinem Loch und ebenso vor dem, was du wie es kommt, kommt es genannt hattest.

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