XIII

Außer Thomas, von dem ich nie wieder etwas hörte, und Christoph, der mich seit unserem zweiten Treffen nicht mehr angerufen, aber eine bunte Postkarte aus» bella Italia «geschickt hatte, auf deren Rück- oder Schreibseite er mir für» circa vier Monate «den Blumenjob überließ und Glück» fürs weitere Leben «wünschte, waren alle gekommen zum großen Finale bei Joe, das du» Showdown «nanntest. Joe gratulierte uns und dir; und wenn ich mich nicht irre, klang er ein wenig ironisch, als er sagte, es sei sicher nicht leicht gewesen, so lange durchzuhalten.

Nach kaum einer halben Stunde erklärte er das Treffen für beendet, und du sprachst, den Gerührten mimend, deine Einladung zu einer» ganz kleinen Feier «im Schwanensee aus, der selbst Joe folgte. Nicht gerade zu unserem Entzücken, denn niemand war daran interessiert, daß er unser Theater im letzten Moment doch noch durchschaute oder uns auch nur ehrlich sagte, was ihm, falls er nicht ganz blöd war — und es gab keinen Grund, ihn dafür zu halten —, kaum entgangen sein konnte. Aber Joe erwies sich als ein echter Schauspielerkumpel, löffelte seine heiße Schokolade, meinte, wir würden ihm zu viel rauchen, und außerdem sei er müde, und verließ schon bald unsere ohnehin nicht sehr vergnügliche Runde.

Auch deine» Exgroupies«, wie du uns kühl nanntest, blieben nicht lange.

Clara überreichte dir zum Abschied zwei Bücher,»Zwischen Gorleben und Stadtleben «von einem gewissen Dieter Panzer und eine Anthologie mit dem Titel» Früchte des Zorns«, die sie dir besonders ans Herz legte, weil darin drei ihrer» besten Gedichte verewigt «seien. Und ja, Harry, ich erinnere mich an vieles, was damals gesprochen wurde, selbst an den Quatsch, den Clara so redete, doch wie diese beiden Druckerzeugnisse hießen, das hätte ich längst vergessen, wenn nicht auch die, versehen mit gemeinen kleinen Randzeichnungen von keinem anderen als dir, bei mir gelandet wären, was immerhin beweist, daß du sie mal durchgeblättert, vielleicht sogar gelesen und bis zum Schluß behalten hast.

Frank schenkte dir eine Vierfarblithographie, die dich darstellte, mit leerem Blick, hochgezogener Augenbraue und fast gewaltsam zu einem Grinsen verzerrten Mund. Dieses Blatt ist leider verschwunden, jedenfalls nicht mir in die Hände gefallen.

Juli und Hanna schlangen, ehe sie gingen, kurz die Arme um dich und drehten dabei ihre Köpfe so zur Seite, daß gerade mal ihre Frisuren dein Gesicht berührten.

Marlene aber gab weder dir noch mir die Hand, klopfte nur kurz auf den Tisch, und weg war sie.

Marc zog aus seinem Rucksack eine dicke, grob gestrickte Jacke, legte sie dir über die Schultern und verknotete deren Ärmel unter deinem Kinn. Als er damit fertig war, knuffte er seine Faust gegen deine Brust.»Ein Winter kommt bestimmt noch«, sagte er lachend; und du und ich, wir lachten auch.

«Über den Daumen gepeilt, gibt es nur vier Sorten von uns: die guten Guten, die bösen Bösen, die bösen Guten und die guten Bösen. Die guten Guten und die bösen Bösen bleiben, was sie waren, die sind selten, aber langweilig. Ebenso die bösen Guten, die sind eine Weile die lieben Kinder braver Eltern mit Häuschen und Garten, doch sie werden größer und wollen die Häuschen und die Gärten und machen alles, damit sie alles bekommen, wovon sie meinen, es stünde ihnen zu. Die einzigen, die zählen, das sind die guten Bösen, die ziehen die Arschkarte schon am Tag ihrer Geburt und lernen, wie die bösen Bösen, nichts als lügen und betrügen und prügeln und rauben, bis sie ein paar Jahre Knast abgreifen und auf dem Zahnfleisch kriechen und manchmal unter die Röcke einer Religion oder einer Ideologie. Dann tun sie nicht einmal mehr einander Gewalt an, sondern nur noch sich selber, aus Angst vor Strafe und davor, rückfällig zu werden, also böse Böse — für den Rest des Lebens — wieder und wieder hinter Gittern.«

Keine Woche später hattest du eine Wohnung gefunden, somit die vorvorletzte Therapieauflage erfüllt. Und da ich wußte, daß es nicht anders ging, daß du anders nicht wirklich freikämst, nahm ich einen kleinen Kredit auf, lieh dir das Geld für die Kaution, die niedrig war, denn diese weit von meiner entfernte Unterkunft in der Emser Straße an der Peripherie des Stadtbezirks Neukölln und nahe dem Flughafen Tempelhof erwies sich als miese Bruchbude, als selbst im Sommer finsteres, fußkaltes Erdgeschoßloch; und ich trennte mich um so leichter von den paar Kröten. Über kurz oder lang, da war ich sicher, würdest du ja doch wieder bei mir landen und mich bis dahin mindestens jeden zweiten Tag besuchen, schon wegen Friede.

Es kam aber eher umgekehrt; ich besuchte dich, sooft der Fortbildungskurs zum Lichtsetzer, den mir das Arbeitsamt aufs Auge gedrückt hatte, und die seltsame, sich schleichend meiner bemächtigende Lethargie, von der ich mich bedroht fühlte wie von der Krankheit, dies zuließen. Manchmal nahm ich mir mitten in der Nacht ein Taxi, glaubte, dich überraschen zu wollen, und war froh, daß es nicht möglich war, dich vorher zu fragen, ob es dir recht sei, denn du hattest ja noch kein Telefon. Ich schlief schlecht ohne dich. Ich hielt es kaum aus, nicht genau zu wissen, was du treibst, und redete mir ein, das ganze Geld nur zu verfahren, weil dir doch jemand helfen mußte, und dieser jemand war ich, wer sonst. Ich stand dann, bepackt mit Haushaltskram, Fressalien und Rotweinflaschen, Friede in einer Jackentasche, in der anderen Zigaretten für dich, vor deiner Tür und klingelte und klopfte, so lange, bis du mich verschlafen lächelnd einließest. Du hattest behauptet, von deiner Hausverwaltung lediglich einen Schlüssel bekommen zu haben und daß ein zweiter» schon noch gemacht «würde, aber wenn ich dich, immer mal wieder, nach diesem zweiten Schlüssel fragte, sprachst du von einer schriftlichen Genehmigung des Vermieters, die der» ganz bestimmt «bald vorbeibrächte.

Ich war, wie sich herausstellte, nicht die einzige, die das Bedürfnis hatte, dir zu helfen. Eines Abends, als ich, eben erst angekommen, deinem Klo zustrebte, begegnete ich in deiner Küche dem roten Plüschsofa, das bei Juli dein Gästebett gewesen war. Ja, meintest du, die habe sich einen Futon zugelegt und das alte Teil dir angeboten.

Wie, sagte ich, die war hier?

«Nee, ich war bei Juli«, gabst du kleinlaut zu.»Nur mal so, guten Tag und auf Wiedersehen. Hab gleich von ihr aus ein paar Kumpels angerufen und den Transport organisiert.«

Was für Kumpels, fragte ich ehrlich erstaunt.

«Na, Kumpels eben, Jungs von der Triade und vom Karateclub. Du kennst die nicht. Warum auch?«

Mehr war dir in der Angelegenheit nicht zu entlocken und ich nicht in der Stimmung weiterzubohren, obgleich ich es schon eigenartig fand, daß zwischen dir und Juli wieder Kontakt bestand, du dein Training wieder aufgenommen und sogar irgendwelche Kumpels hattest.

Du borgtest dir von Frank eine Bohrmaschine und jede Menge Werkzeug, erwirktest ohne mein Zutun beim Sozialamt einen Einrichtungsvorschuß, kauftest Trödellampen und im Baumarkt Bretter und warst tagelang am Basteln. Ich handwerklich unbegabte Linkshänderin konnte dir dabei nicht nützlich, sondern nur im Wege sein und merkte, daß dir meine Infiziert-oder-nicht-infiziert-Monologe ziemlich auf die Nerven gingen, obwohl du dich bemühtest, sie gefaßt über dich ergehen zu lassen. Außer dem an Friede und den Doors hatten wir kaum mehr gemeinsame Interessen; du sägtest und schraubtest dir dein» neues, freies Leben «zusammen, das in meinen Augen nur ein freies Sterben war, und ich fürchtete mich, weil ich nicht wußte, wohin die Reise ging, davor, erst dich, dann mich zu verlieren, und davor, bald wieder richtig arbeiten zu müssen, auch davor, daß du mir womöglich mein Geld nicht zurückgeben würdest …, eigentlich vor allem, was Menschen von deiner Art nie, aber Menschen wie ich damals üblicherweise Zukunft nannten.

Noch eine Woche drauf, dein letzter Triade-Monat war gerade mal zur Hälfte um, hattest du über deinen Bewährungshelfer sogar schon einen Job, nicht direkt als Setzer, die wurden, wie ich aus eigener Erfahrung wußte, eh kaum mehr gebraucht, doch immerhin bei einer Druckerei, einer kleinen Klitsche in Schöneberg, die Remakes von alten Werbepostern und Reklametafeln herstellte,»die ganze Palette, von Persil — Weibern und Sarotti — Mohr bis Erdal — Frosch und Lurchi«. Sei nicht gerade dein Traum, so was zu machen, und gut bezahlt würde es auch nicht, und lieber, hättest du zum» verdutzten «Joe gesagt, wärst du» Drogenberater «geworden, weil du davon ja wirklich was verstündest; aber egal, entscheidend sei, daß»der Arsch nun gar keinen Wind mehr in den Segeln «und dein» Bewährungsfuzzi «den» Erlaß der Reststrafe aus gesundheitlichen Gründen «beantragt habe.

Du warst verdammt gut gelaunt, als ich dich an jenem Tage aufsuchte, ohne Friede und ohne daß wir verabredet gewesen wären, eigentlich nur, um dir mitzuteilen, wie beschissen ich mich fühlte seit dem Morgen, seit ich bei mir grippeähnliche Symptome diagnostiziert hatte, die allerdings auch die ersten Anzeichen für eine HIV–Infektion sein konnten. Das hatte ich dir klagen und mich von dir beschwichtigen, wenn nicht trösten lassen wollen. Aber ich wußte nicht, wie ich beginnen sollte, denn du strahltest mich an, stelltest Kerzen auf den Küchentisch, köpftest eine Flasche Sekt, setztest mir eine große Schüssel Fruchtquark vor und sagtest:»Ach Baby, nun guck nicht immer wie ne Domina mit Latexallergie. Läuft doch alles bestens, und spätestens Ende nächsten Monat hast du deine Piepen zurück. Wirst sehen, Haary macht das schon.«— Wieder fiel mir auf, daß du deinen Namen neuerdings anders betontest; du sagtest, wenn du in der dritten Person von dir sprachst, nicht Harry, sondern mit gesenkter Stimme das a dehnend:»Haary«. Als ich fragte, warum, lachtest du mutwillig laut, was auch neu war, und meintest, so ausgesprochen passe der Name besser zu dir. Dieses komische Argument wäre noch eine Recherche wert gewesen, doch ich ließ mich von deinem Optimismus mitreißen, zumal du mir deine» neueste Errungenschaft «vorführtest, einen Sony-Plattenspieler, den dir, wie du erklärtest, einer deiner neuen Kumpels überlassen hatte. Du warst gerade dabei,»Waiting for the Sun «von den Doors aus dem Cover zu ziehen, da klingelte es, mehrmals hintereinander. Du schautest etwas überrascht, und ich ärgerte mich ein wenig, obwohl ich schon neugierig war auf die Wesen, die um diese Zeit, immerhin war es elf Uhr abends, Einlaß begehrten, und außerdem hatte ich bislang weder bei mir noch bei dir erlebt, daß jemand, den ich womöglich nicht kannte, dich besuchen wollte.

Du gingst zur Wohnungstür; ich blieb auf Julis Sofa sitzen, hörte drei fremde Stimmen, eine etwas nölige dialektfreie und zwei berlinernde Bässe. Und dann standen sie in deiner Küche, die Gebrüder Kling, die du mir in jenem Moment allerdings einzeln vorstelltest, sehr zu meinem durchaus skeptischen Erstaunen, denn ich fragte mich, anhand welcher Merkmale du die beiden, falls du sie nicht sehr lange und ganz genau kanntest, zu unterscheiden wußtest. Elmar und Eginhard, wie du sie nur dieses eine Mal nanntest, danach nie mehr anders als Elmi und Eggi oder einfach die Klingsbrüder, waren eineiige Zwillinge, die eineiigsten (verzeih den falschen Superlativ), die ich je sah. Habe ich dir irgendwann einmal gesagt, wie irre ich die fand? Die Klingsbrüder waren nicht kleinwüchsig, aber klein, richtiger kurz, was ihrer fast würfelförmigen Statur wegen besonders auffiel. Wirklich, sie sahen aus, als hätten sie Modell für die Lego-Männchen gestanden; doch im Unterschied zu diesen war an den Klingsbrüdern gar nichts rund, nicht einmal die Köpfe. Sie hatten, unter eckig geschnittenen, etwas verwilderten Prinz-Eisenherz-Frisuren, eckige, ausdrucksarme, aber nicht stupide wirkende Gesichter, kleine breite Hände mit gleich langen Fingern und kleine quadratische Füße, die, ehe sie sich ihrer entledigten, in klobigen Plateausohlenturnschuhen gesteckt hatten. Selbst die Bewegungen der Zwillinge und ihre Art zu sprechen wirkten eckig; absolut zutreffend hattest du deine beziehungsweise ihre Vorstellung mit der Bemerkung» die ecken auch immer mal wieder an «beendet.

Wer weiß, warum das Mädchen, das ich ja, ebenso wie die Klingsbrüder, bereits an deiner Tür gehört hatte, uns erst Minuten später unter die Augen trat. Sie nölte was von» Taschentuch suchen und Tabak vergessen «und setzte sich, tief Luft holend, neben dich auf die Couch.»Das ist Lila«, sagtest du zu mir,»leider kenne ich sie nicht näher, noch nicht.«

Du reichtest Lila, die es nicht für nötig hielt, deinen Worten etwas hinzuzufügen, deine Packung Gitanes; sie nahm eine Zigarette, ließ sich von dir Feuer geben und inhalierte tief. Lila war dünn und rotblond, ihre Gesichtshaut bläulich fahl, ich könnte auch sagen hellviolett, und, außer der Stimme, alles an ihr irgendwie tief: Die großen, feucht glänzenden Augen lagen tief in den Höhlen, sie hatte ein tiefes Grübchen im Kinn, eine schmale, tiefe Taille, einen tiefen Brustansatz und saß, ein Kissen umklammernd, tief in sich versunken wie eingewachsen in der linken Ecke von Julis Sofa.

Auch die Klingsbrüder hatten dir, wie es sich gehört, wenn man bei einem frisch Behausten auftaucht, etwas mitgebracht, zwei jeweils als Präsent verpackte, schleifenbandrosettenverzierte, mit unterschiedlichen Mickymaus-Motiven bestickte Frotteesets, eins in Babyblau und eins in Babyrosa, die aus je einem Badetuch, einem Handtuch und einem Waschlappen bestanden. Ich befühlte das Zeug halb verwundert, halb beeindruckt; es war, obwohl sehr dick und flauschig, also von hoher Qualität, gelinde gesagt, scheußlich, und nie hätte ich für möglich gehalten, daß diese trotz ihrer Kleinheit sehr männlich wirkenden Würfel einem Hünen wie dir solchen Girliekitsch schenken würden. Aber du legtest, nachdem du ausgiebig Freude gezeigt hattest, alles ordentlich zusammengefaltet wieder zurück in die Kartons und stelltest diese, als sei dort der Ehrenplatz für deine größten Schätze, hochkant auf einen Bretterstapel. Dann holtest du eine Flasche Baileys, Kekse, O-Saft und Cola und meintest, nun könne die Party losgehen.

So wie an jenem Abend hatte ich dich noch nie erlebt. Du lachtest immerzu dieses neue, laute Lachen, brietest Spiegeleier, die außer mir keiner aß, fülltest Gläser, leertest Aschenbecher und fragtest zwischendurch die Klingsbrüder, wie es dem ginge und was mit jenem wäre, nanntest Namen, die mir nichts sagten, weil ich sie von dir bisher nicht gehört hatte. Schon nach den ersten Brocken, die dir Elmi und der weniger redegewandte Eggi hinwarfen — und die mich lehrten, sie zu unterscheiden, denn der eine war einfach dümmer als der andere —, konnte ich mir zusammenreimen, daß weder sie noch Lila, die allerdings kaum mal den Mund aufmachte, die Triade-Kumpels waren, von denen du gesprochen hattest, sondern alte Bekannte, wenn nicht gar Freunde.

Die Klingsbrüder hatten mit dir zusammen» ein paar Jährchen «in der JVA Seidelstraße gesessen, Eggi wegen schwerer Körperverletzung und Elmi, der einen Monat nach dir entlassen worden war, für» Betrug in Tateinheit mit Urkundenfälschung«.

Ihr schwelgtet in Erinnerungen: wie du, einer der» ganz wenigen Tegelianer mit schwarzem Dan«, in der Karategruppe die» Mörder, alles schlaffe Säcke, auf Vordermann «gebracht hättest, daß»olle Meyer, Till, als einziger von den arroganten Politischen «bei Eggi Ringen trainiert habe und folglich ein» prima Catcher «geworden sei. Ihr spracht über» Pfeifen wie Kalle, Ralfi, Hassan «und von Oleg, dem» alten Schwerenöter mit den zwei linken Füßen«, der eines Tages beim» Kata-Sahsi-Ashi-Üben «so» böse aufs Maul gefallen «sei, daß er sich die Schneidezähne ausschlug. Und irgendwann, du hattest aus deinem anscheinend unerschöpflichen Vorrat die nächste Baileys-Flasche geholt, ging es sogar um Politik. Eggi schimpfte auf die» Arabs«. Diese» oberfaulen Südfrüchtchen «seien dabei,»die Geschäfte zu versauen«, weil sie» nur Mist «unter die Leute brächten und dann auch noch die Preise drückten. Elmi meinte, das sei doch» Pillepalle«, ihn interessierten mehr» die großen historischen Zusammenhänge«; es passiere zuviel in der Welt und zuwenig in Deutschland.»Die sitzen da, schaukeln sich die Eier, quasseln vom Frieden, den uns die lieben Amis beschert hätten, aber machen tun sie nur, was die Russen wollen.«

Du, entspannt zurückgelehnt, die Hand auf Lilas Hängeschulter, stimmtest ihm zu:»Ja, was machen die eigentlich, die Breitärsche? Die meinen, dreißig Jahre Frieden wären immerhin schon mal was. Frieden? Schöner Frieden, der kalte Krieg. Kann ich nur kontern: Euern komischen Burgfrieden verdanken wir doch auch bloß dem Adolf. Wenn der sich nicht so weit aus dem Fenster gelehnt hätte und wir nicht so viel auf die Nuß gekriegt hätten, wären wir längst wieder am Rumstänkern.«

Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen, war ohnehin stinksauer, kippte in einem Zug mein Glas Rotwein, wollte intervenieren. Aber Harry, setzte ich an, sagtest du nicht, du seiest ein Linker? Nun sei mal froh …

«Halt die Klappe, jetzt reden wir«, unterbrachst du mich — in einem schneidend autoritären Ton, der so fremd klang, daß ich vor Staunen verstummte — und für den Rest der Feier, den ich damit verbrachte, über einen Zeitungsartikel nachzudenken, in dem ein berühmter Psychoanalytiker das Phänomen der multiplen Persönlichkeit beschrieben hatte.

In dem Stil ging es noch eine Weile weiter. Ihr erzähltet einander Alte-Kameraden-Storys, wie ihr den» fetten Schließer «X» reingelegt «und fünf Liter Spritessig aus der Anstaltsküche entwendet und dem Y eine» Abreibung verpaßt «hättet … Doch ich verlor den Faden; der Rotwein wirkte. Außerdem war mir, als lernte ich gerade einen Harry kennen, der mit dem, an dem mein Herz hing, nicht viel gemeinsam hatte. Und zu meinem Erstaunen, das im Laufe des Abends Ausmaße annahm, die ich auch nur erstaunlich nennen kann, machte dieser Harry oder Haary kaum weniger Eindruck auf mich als der sanfte, der du die letzten Wochen gewesen warst und der sich wiederum von jenem unterschieden hatte, dem ich am Winterfeldplatz in die Arme gelaufen war.

Und ich weiß auch noch, daß Lila irgendwann aus der Küche ging und etwa eine viertel Stunde wegblieb und dann mit käsigem Gesicht im Türrahmen lehnte und sich auf dem Rückweg zum Sofa seltsam bewegte, leicht und schwer zugleich; wie ein schwebender Sack, dachte ich. Sie landete wieder neben dir, verdrehte noch zwei-, dreimal die Augen und sank, fest eingeschlafen, vornüber, bis die Klingsbrüder ihre Schuhe suchten und fanden und dir die Schultern klopften und erklärten, nun aber wirklich gehen zu müssen, und der eine, es wird wohl Eggi gewesen sein, sich Lila, die weit davon entfernt war, wach zu werden, mit seines Bruders Hilfe aufs Kreuz lud.

Du hattest gemeint, noch etwas frische Luft zu brauchen, und deine komischen Kumpels samt Lila Schlafsack hinausbegleitet. Als du zurückkehrtest, was, wenn ich mich richtig erinnere, nicht so bald gewesen war, lümmeltest du dich wieder in deine Sofaecke, gähntest hemmungslos, legtest keine Musik nach, brabbeltest nur mit schwerer Zunge vor dich hin:»An einem schönen Sonntag, es hatte grad getaut, da hamse Lorentz, Peter in Zehlendorf geklaut.«

Obwohl mein Zustand auch nicht der beste war, begriff ich in diesem Moment, daß an solchen wirrköpfigen Alibi-Proleten wie dir von dem ganzen»68er-Gedöns«(dein Ausdruck) nichts hängengeblieben war als ein paar Sprüche — und die Kanüle, durch die seither alle möglichen Substanzen in dich hineingeflossen waren und ihr bewußtseinserweiterndes Zerstörungswerk gründlich genug verrichtet hatten. Ich konnte mir vorstellen, daß du mich mit deinem wiederholten Lorentz-Peter-Singsang ärgern wolltest, aber nicht, daß Baileys, und seien es zwei Liter von dem Zeug, die du bei weitem nicht getrunken hattest, tatsächlich wie Alkohol wirkt, doch vielleicht warst du dieses eine und einzige Mal ja wirklich blau. Ich jedenfalls war ziemlich hinüber, versuchte trotzdem, das tapfere kleine Frauchen zu spielen, und machte mich, Gläser, Teller, Aschenbecher ins Spülbecken werfend, daß es nur so schepperte, mehr wichtig als nützlich. Wollte ich dir noch eine Diskussion aufdrängen? Hätte ich überhaupt noch ein verständliches Wort sprechen können? Habe ich versucht, dich von der Couch und ins Bett zu hieven?

Sicher ist, daß ich am Morgen spät erwachte, zu spät für den Lichtsatzkurs, der um neun Uhr begonnen hatte, und daß ich allein auf deiner Matratze lag. Schlaf- und womöglich auch noch rotweintrunken torkelte ich zu Julis Sofa, aber dort warst du nicht und nicht auf dem Klo. Ich stand ein paar Minuten barfuß in deiner dunklen, dreckigen, nach Schimmelpilz und Kippen riechenden Küche; mich würgten die in mir aufsteigenden Tränen und der Brechreiz, der ihnen folgte und drohte, sie einzuholen. Und obwohl mir Übles schwante, beschwichtigte ich mich mit dem Gedanken, daß es für deine Abwesenheit auch ganz harmlose Gründe geben könnte, daß du nur Schrippen oder Zigaretten kaufen wärst, oder zur Triade gefahren. Und außerdem half das alles nichts; ich mußte eine gute Ausrede finden und zu dem Kurs gehen, weil sie mir sonst die Stütze gestrichen hätten. Also beugte ich mich über den Geschirrhaufen, den ich in der Spüle errichtet hatte, wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser, zog mich schnell an und schloß deine Wohnungstür hinter mir.

Während ich unter einem heftigen Sommerregen, der immerhin als Argument für meine Verspätung taugte, dem U-Bahnhof Leinestraße entgegenstrebte, schwor ich mir, keine Mark zu scheuen und Himmel und Hölle in Bewegung zu versetzen, damit du bald ein Telefon bekämst und ich jederzeit die Möglichkeit hätte, zu kontrollieren, ob du zu Hause wärst oder nicht.

Загрузка...