Am nächsten Tag erwachte ich davon, daß mir die Sonne das Gesicht wärmte; sie stand im rechten oberen Winkel des Fensters, und ich vermutete, es sei mindestens zwölf Uhr. Ich war bis zum Hals zugedeckt und hatte — wieder mal — mein Kleid noch an. Als ich zur Seite und hochblickte, sah ich dich krumm wie eine Trauerweide im Bademantel über mich gebeugt; du hieltest den Kopf gesenkt, deine Arme hingen schlaff und affenlang herab, so, daß sie mich fast berührten. Neben deinen nackten Füßen stand ein Tablett mit frischen Brötchen, Marmelade, Kaffee. Du hättest, sagtest du mir ins Gesicht, dem wohl anzusehen war, wie schnell mir das gestern Geschehene wieder einfiel, Joe schon angerufen, und der fände, wir sollten uns abregen, und irgendwie würde es weitergehen. Wir hätten genug Zeit bis zu unserem Abschiedstreffen. Das wirklich Schwere käme erst danach und nur für dich.
Klar, Harry, gab ich zur Antwort, dich interessiert wie immer erst mal deine Perspektive, obwohl du eigentlich gar keine mehr hast. Versteh ich auch, daß du deine letzten Monate in Freiheit bleiben willst. Aber was wird aus mir? Was ist mit den anderen? Sind wir dir scheißegal?
Du setztest dich neben mich;»gibt nichts zu fürchten«, meintest du,»kannst ja den Test machen lassen. Bloß, wozu? Ist doch alles okay. «Du hattest deine Sprache also wiedergefunden, warst für deine Verhältnisse fast geschwätzig. Es wäre nicht weiter schlimm, wenn ich dich nicht mehr anfassen wolle. Darauf könntest du verzichten, nur nicht auf meine» Solidarität«.
Du hattest tatsächlich die Stirn, an diesem Tag, in dieser Situation, dieses Wort zu gebrauchen, und das brachte mich auf die Palme, wenngleich nicht auf deine. Ich fuhr hoch, trat die Decke beiseite, dann gegen den Brötchenkorb und schoß ab in die Küche. Ich stand lange in der Duschtasse unter dem warmen Wasserstrahl, du davor, ein ausgebreitetes rotes Frotteetuch bereithaltend, und riefst lachend:»Friede!«
Dich und das rote Tuch keines Blickes würdigend, stampfte ich tropfend zurück ins Zimmer, um mich mit einem deiner dort herumliegenden Hemden abzutrocknen, ließ es dann aber bleiben, zog, weil ich nicht noch einmal in die Küche wollte, nicht meinen zerknautschten Hänger, sondern ein anderes Kleid über und entwich, ohne dich zu beachten, ohne an das Therapiegebot zu denken, demzufolge wir dich ja keine Minute aus den Augen verlieren durften. Ich hoffte, daß ich, wenn ich auf der Straße und mit mir allein wäre, Vernunft annehmen, einen Ausweg finden, eine Entscheidung treffen würde.
Ach, Harry; an dieser Stelle, da vor mir liegt, was nun kommen müßte, verläßt mich der Mut, zweifle ich sehr daran, daß ich schaffe, was ich doch will: dir alles erzählen, frage ich mich, ob ich aufhören sollte, nach Worten zu suchen. Die ganze Zeit erzähle ich, so gut ich es vermag. Aber für das Grauen, das mich damals gepackt hat und mir treu ist bis heute, das mich anspringt wie ein Hund, sobald ich an jenen Tag bei Joe denke, gibt es außer diesem einen, viel- und nichtssagenden Wort kein auch nur annähernd adäquates; keine Bilder, keine Zeichen, keine Laute können es ersetzen oder ergänzen oder gar dir so darstellen, daß du dem damit Gemeinten ausgeliefert wärst, wie ich es war und bin. Könnte ich dieses Grauen (das Wort klingt harmlos, langweilig wie der Farbton, an den es unsinnigerweise erinnert) besser beschreiben, wenn ich es nicht mehr verspürte? Ist das ein Distanzproblem? Obwohl meine Bemühungen nur darauf hinauslaufen, dir nahezubringen, was ich empfand und empfinde, fehlt mir die nötige Souveränität. Das unbesiegliche Grauen selbst macht mich sprachlos, immer wieder, immer noch; zumal ich an dir nichts dergleichen bemerkt habe, nicht im mindesten. Und wenn es dir doch nicht gänzlich fremd war, das Grauen, dann hast du dich bis zum Schluß nicht verraten.
Und manchmal denke ich, daß du mit dem, was du auf einer Seite deines Schulheftes witzelnd Hobby nennst, nur aus einem Grunde wieder anfingst; du wolltest, daß ich endlich auch einen — aus deiner Sicht — realeren, greifbareren Grund zum Weinen hätte, daß es einen Schmerz gäbe, der mich weglockt vom Grauen. Ich sollte wegen deines Rückfalls in die Sucht mehr Angst haben als vor der Krankheit, von der die Welt erst einmal nur wußte, daß sie tückisch war, schleichend verlief und den von ihr Befallenen schon stigmatisierte, wenn sein Siechtum noch gar nicht begonnen hatte; und sowieso sollte ich mehr Angst um dich haben als um mich. Die Probleme mit der Stoffbeschafferei kanntest du ja, die gaben dir, bevor du dich auf das Experiment mit uns einließest, einlassen mußtest, eine Art Halt, waren vielleicht dein einziger Lebenszweck; zumindest aber unterdrückten sie die Todespanik, die dich, falls du sauber geblieben wärst, wahrscheinlich doch irgendwann gepackt hätte. Der — für dich alte, für mich aber völlig neue — Streß mit Geldauftreiben, Turkey vermeiden, Bunker bauen, Bewährungshelfer täuschen, Bullen ausweichen brachte dich ganz einfach auf andere Gedanken. Warum dann nicht auch mich?!
«Weiß nicht, woher Joe es hat. Vom Knastarzt? Oder kann man das auch schon aus der Pisse lesen? Mir gegenüber schön die Schnauze halten und dann mich voll ins Messer rennen lassen, das sieht dem Arschloch ähnlich. Doch einmal bin ich ja fertig mit seinem Affentheater oder raus aus dem Knast, in den die Kanaille mich partout zurückbringen will. Noch ist Polen nicht verloren, obwohl es nicht gerade gut um mich steht. Notfalls muß ich meine sieben Lumpen packen und die Fliege machen. Paar Strolche gibt es noch, die bloß drauf warten, daß ich ihnen die Sparstrümpfe ausziehe. Und sollte von denen keiner greifbar sein, passiert eben was anderes. Aber einfach so wieder einbuchten wird mich niemand, das schwöre ich bei Mama.«
Ich wandelte wie ein Gespenst durch Moabit und sah nicht, was ich sah — oder doch: An einer Bushaltestelle warteten unter ihren Regenschirmen Menschen; sie kamen mir vor wie ahnungslose Glückspilze. Ansonsten fand ich gerade mal den Weg, aber keinen Ausweg — und traf auch niemanden — und nichts, das mir geholfen hätte, mich zu entscheiden. Und wofür oder wogegen eigentlich?
In einer Kneipe, die ich nur betrat, weil ich völlig durchnäßt war, ließ ich mich neben einem Fenster nieder, bestellte ein großes Bier, trank mechanisch, starrte auf die Glasscheibe, als wollte ich die von außen daran herunterrinnenden Wassertropfen hypnotisieren. Ich stellte fest, daß ich kein Verlangen nach einem zweiten Bier und mein Geld vergessen hatte, wartete, bis der Zapfer durch den albernen Vorhang aus bunten Plastikstreifen in die dahinter gelegene Küche gegangen war, und prellte die Zeche.
Erst etliche Seitenstraßen weiter, vor einer Zoohandlung, blieb ich stehen, betrachtete einen Käfig voller kugeliger, rot geschnäbelter Zebrafinken, die dicht aneinandergeschmiegt auf den Querstangen hockten. Einen Moment lang wußte ich nicht, ob das leise Fiepen, das ich eher spürte als hörte, von ihnen herrührte oder von meinen tiefes Aus- und Einatmen nicht gewohnten Bronchien.
Ich lief noch ein Stück, setzte mich vor dem struppigen Blumenbeet zwischen Turm- und Stromstraße auf eine Bank und überließ mich dem Ansturm der miteinander im Widerstreit liegenden, pausenlos mutierenden, mal verlöschenden, mal neu aufflammenden, doch immer unvollständigen Gedanken:
Mein Geld war mit dir in meiner Wohnung oder schon sonstwo, du mußtest zur Triade … Danach sollte dich Marlene abholen und für die Nacht wieder zu mir bringen. Aber würde sie kommen? Ich hatte sie nicht angerufen, sie nicht mich. Also würde ich, bis du fertig warst mit U-Test und Therapiegespräch, im Schwanensee sitzen — oder auch nicht. Joe forderte absolute Pünktlichkeit, doch wie wollte er kontrollieren, ob dich tatsächlich stets und ständig einer von uns begleitete? Wenn die anderen sich jetzt ganz zurückzogen und ich als einzige übrigblieb, wäre ich ja rund um die Uhr damit beschäftigt, dein Schatten zu sein. War das möglich? Müßte ich dich dann nicht auch zum Blumenstand mitnehmen, wie Franz seine fette Hündin Biene? Wollte ich das überhaupt noch? Nein, verkriechen wollte ich mich, mein Herz schlagen hören, weinen, alle drei Minuten jeden meiner Lymphknoten einzeln abtasten, darauf warten, daß ich Fieber bekam. Aber war es denn wahrscheinlich, daß ich mich bei dir angesteckt hatte? Hatte ich nicht meistens Glück gehabt im Leben und außerdem eine robuste Konstitution? Gab mir deine, nun allerdings gar nicht mehr verwunderliche sexuelle Vorsicht nicht doch die Hoffnung, blauäugig davongekommen zu sein?» Die Hoffnung«, hatte meine Oma oft gesagt,»ist der Tod. «Und wie weiter? Ich liebte dich, aber begehrte ich dich auch noch, nun, da klar war, wie es um dich stand? Und selbst wenn ich dich noch begehrte, würde ich dich küssen können, wenigstens das, ohne mich pausenlos zu fragen, ob ich vielleicht eine winzige Fissur in der Lippe, der Zunge, dem Zahnfleisch hätte; und wenn nicht ich, dann du? Würde ich es schaffen, mich an Kondome zu gewöhnen, die Angst zu besiegen, die, trotz größter Vorsicht, zu der ab jetzt auch ich gezwungen wäre, alle anderen Gefühle höhnisch dominierte? Würde ich, immer die Panik im Nacken, jemals wieder einen Orgasmus haben? Mit dir? Und falls mir übermorgen oder später ein anderer nahekäme und auch gefiele, was würde ich tun? Wie mich entziehen? Hatte ich denn noch so etwas wie Verlangen oder gar Lust? Im Moment sicher nicht, nicht einmal auf das bißchen Onanie in Christophs Badewanne. Und sollten sich derartige Bedürfnisse je wieder melden, wäre es dann nicht nur gut für mich und den oder jenen, daß die stets gegenwärtige Angst sie postwendend in die Flucht schlagen würde? Und wenn ich nun doch infiziert wäre, trotz deiner» Maßnahmen«? Was, außer meinem Leben, hätte ich zu verlieren? Ich könnte mich ja kein zweites Mal anstecken, also zumindest mit dir weiter Sex haben. Ich wäre, was ich nie über eine unbestimmte Zeit hinaus gewesen war, treu. Ich würde sterben, wenn nicht aus Angst — oder bei einem Verkehrsunfall der üblichen Art oder an dessen Folgen —, dann an dieser Scheißkrankheit, und ganz arm und jämmerlich, und leider erst nach dir. Oder nicht leider? Wenn du tot wärst und ich tieftraurig, aber noch nicht allzu hinfällig, könnte ich mir zur Not einen anderen suchen, einen, der auch Aids hat …
Wahrscheinlich hätte ich mich diesem Gedankengemetzel nicht sobald entzogen, wenn es dem unmittelbar Bevorstehenden nicht doch gelungen wäre, die Priorität an sich zu reißen: Ich mußte zurück in meine Wohnung, nachsehen, ob ihr noch da wärt, du und mein Portemonnaie. Ich mußte versuchen, Marlene zu erreichen, sie fragen, ob sie dich abhole oder ob ihr Engagement seit gestern beendet sei, und dann, egal, was sie sagen würde, wäre es schon wieder Zeit, zur U-Bahn zu gehen.
Du warst nicht zu Hause, aber meine Geldbörse lag dort, wo ich sie vermutet hatte, in der Schublade des Küchentischs, und als ich nachschaute, fehlte kein Schein, vielleicht einige Markstücke. Auf dem Kühlschrank entdeckte ich dann deinen Zettel:»Bin alleine los. Bis später. Harry.«
«Bin alleine los «deutete ich als Indiz dafür, daß du in die Eisenacher Straße unterwegs warst, und entspannte mich ein wenig, obwohl du eine solche therapiewidrige Eigenmächtigkeit bislang nicht begangen hattest, jedenfalls nicht, wenn du von meiner Wohnung aus dorthin aufgebrochen warst. Doch war mir nicht eben auch der Gedanke gekommen, daß wir Joes Vorschriften allmählich etwas nachlässiger handhaben könnten?
Ich rief Marlene an, die meinte, sie würde dich» pünktlich einsammeln«, schon um dich dies und das zu fragen. Von deinen Antworten, falls du heute und für sie welche hättest, hinge es ab, ob sie weitermache oder nicht.»Du sollst dich nicht erklären. Ich glaube dir, daß du nicht mal ahntest, in welch einen Schlamassel du uns da mit hineinziehst«, sagte sie milde und verabschiedete sich unter einem Vorwand.
Ich wählte die Nummern der anderen Groupies, erreichte jedoch keinen, fand das mitten am hellichten Tag aber nicht verwunderlich und ließ mich, fast erleichtert darüber, daß ich mit niemandem zu sprechen brauchte, auf meine Matratze fallen. Ich war so müde, wollte einerseits abtauchen, andererseits weitergrübeln und dich irgendwann kommen hören, ich meine zur Tür herein; einen Schlüssel hattest du ja längst. Die Frage, was wohl schlimmer wäre, wach bleiben und denken oder schlafen und träumen müssen, war die im Kreise laufende Katze, die ihren Schwanz jagte und mich schließlich in die Twilight-Zone beförderte.