VIII

«Da habe ich mir vielleicht ein paar putzige Pappnasen angelacht. Am komischsten ist Clara, eine nach Nuttenparfüm stinkende, Liebeslyrik schreibende, ultralinke Qualle, die früher mal beim Ballett gewesen sein will. Die hat garantiert was übrig für so knackige Knackis wie mich. Ich werde sie Clärchen nennen und mir um den kleinen Finger wickeln. Auch Marlene, das reife Schwarzwaldmädel, dürfte kaum Streß machen. Sieht aus wie ein Schluck Essig mit Pudelfrisur, singt aber in einer Band und schwärmt für die Doors. Sagt, sie hätte alle Platten. Da kommen doch schöne Stunden auf mich zu! Dann gibt es noch Julia, eine womöglich schon vor der Pubertät vertrocknete, in jeder Hinsicht brettflache Tante, die aus grünen Stofftieraugen traurig in die Runde glotzte und meinte, es sei ihr lieber, wenn wir Juli zu ihr sagen, denn sie hätte sich gerade von einem Romeo getrennt. Juli bedient nachts das Bereitschaftstelefon der Bestattungsfirma Grieneisen, obwohl sie gelernte Goldschmiedin ist. Die letzten drei Jahre hat sie den Sommer über auf Formentera selbstgebastelten Modeschmuck verkauft. Aber das läßt sie dieses Jahr ausfallen, zum einen meinetwegen und dann, weil sie die sauer verdienten Flöhe sowieso gleich wieder springen lassen müßte, für Hotelzimmer, Strandliege, Sangria. Einer heißt Frank, ist Maler und aus dem Osten, ein vollbärtiger, alter Zausel, der meinte, daß ich meine Zeit mit ihm ja als Modell absitzen könnte. Geht klar, habe ich gesagt, Porträt oder Akt? Seine Frau Hanna, die auch zu unserem Club gehört, hat Beine bis zum Hals, Pfoten wie ein Maurer, den Mund von Klaus Kinski und den gleichen Beruf wie der. Die wollte bloß wissen, ob ich spülen, putzen, bügeln kann. Werde ich alles einmal machen, und zwar so, daß sie mir solchen Scheiß nie mehr zumutet. Thomas, ein blonder Niederrheiner, und sein Kumpel Christoph, ein knubbliger Bayer in Lederjeans, halten sich für echte Draufgänger. Aber wovon sollten die draufgehen? Weiß der Geier, was die sich vorstellen. Kontakte? Tips, wie man wo drankommt? Bißchen Karate lernen bei Harry, dem Grizzly? Der Ersatzmann heißt Marc, ist Amerikaner, Bildhauer, die Ruhe selbst und der einzige von denen, der mir irgendwie imponiert.«

Über mich, Harry, kein Sterbenswort, nicht einmal hier, in dieser vergleichsweise ausführlichen Passage deiner Aufzeichnungen — oder wie du das nennst. Warum bin ich abwesend, als wären wir einander nie begegnet? Mein einer, der freundlichere, Verdacht ist, daß du befürchtet hast, dein Heft könnte bei einer Hausdurchsuchung, einer neuerlichen Festnahme, einem überraschenden Besuch von alten Bekannten … in fremde, also falsche Hände geraten; und um diesem Fall vorzubeugen, jede auch nur vage in meine Richtung deutende, eventuelle Textinterpretation von vornherein auszuschließen, hieltest du es für notwendig, mich komplett zu unterschlagen. Meine andere, dir kein edles Motiv zubilligende und für mich selbstredend schmerzhaftere, aber mit der ersten durchaus kompatible Vermutung ist die, daß ich dir so gleichgültig war wie alles auf der großen weiten Welt, außer deinem Lebenselixier und der Angst davor, wieder im Knast zu landen.

Anyway, wie du sagen würdest; darüber, was du wirklich von mir hieltest, ob und in welchem Maße du mich mochtest, kann ich mich um den Verstand spekulieren, denn ich war dir, entschuldige, wenn ich mich wiederhole, ja keine geschriebene Silbe wert — oder eben so viel, daß du dir jede nachlesbare verkniffen hast. Ohne mein Elefantengedächtnis, in dem unsere meist ziemlich einseitigen Gespräche bewahrt sind wie in einem Buch, müßte ich glauben, ich hätte nur geträumt, träumte noch immer — und nicht bloß die Worte, die wir wechselten, auch all das, was du mit mir, für und gegen mich getan oder eben unterlassen hast.

Doch woher, zum Teufel, rührt diese rüpelhafte Arroganz auf Heftseite neun, die deine dilettantischen, aber den Porträtierten nicht ganz unähnlichen und manchem deiner Texte in puncto Gemeinheit mindestens ebenbürtigen Bleistiftzeichnungen auf den Seiten zehn, elf und zwölf so schamlos offenbaren?

Ach, Harry, du falscher Hase, was hat dich bewogen, jene, die dir doch beistanden, wenngleich mal mehr, mal weniger eifrig, nicht mit einem Pseudonym oder nur dem jeweiligen Anfangsbuchstaben, sondern klarnamentlich zu benennen? Wie soll ich da noch meinen Vorzugsverdacht hegen und glauben können, du hättest mich verschwiegen, um mich zu schützen? Es wäre für jeden Blödbullen, ja selbst die kaum helleren Jungs von deiner Seite der Front, ein leichtes gewesen, über Stichwörter wie Triade und die authentischen Rufnamen der anderen an unserer Gruppe Beteiligten auf mich zu kommen. Und weshalb verschont dein bodenloser Undank gerade Marc? Und was, außer Gutem, haben Joe, Clara, Marlene, Julia, Frank, Hanna, Thomas und Christoph dir getan?! Warum diese Häme gegen jene, die dir helfen wollten, auch geholfen haben, und sei es nur mir zuliebe?

Ja, Clara war eine alte, schwabbelige, aber überhaupt nicht gutmütige Seekuh, der keiner ein Wort glaubte, schon gar nicht, daß sie einst im Tutu über irgendwelche Provinzbretter hüpfte. Und zweifellos verfaßte sie die peinlichsten und auch noch herzlosesten Liebesgedichte, manchmal zehn bis zwanzig am Tag, und sicher quälte sie uns bei jeder Gelegenheit mit ihrem von der Sozialistischen Einheitspartei Westberlin gesponserten ideologischen Gewäsch. Aber hat sie dir nicht dennoch staubtrockene Kekse gebacken und dünnen Tee gekocht? Hat sie dich etwa nicht auf die Sekunde genau zu den Therapiestunden abgeliefert, einmal sogar schon morgens um acht?

Und Marlene, die das R rollen konnte wie ein Kanarienvogel, ist mit dir Sauer-scharf-Suppe essen gegangen, hat dich, wie du mir einmal gestandest, manchen Abend in den Schlaf gesungen — und womöglich auch um denselben gebracht, denn allem Anschein nach gefiel sie dir, oder du warst der schlimmste Heuchler aller Zeiten.

Und Juli, der du hin und wieder viel zu tief in die grünen Stofftieraugen blicktest? Die schenkte dir ein angeblich selbstgeschmiedetes Silberkettchen, das du seither nie mehr abgelegt hast. Nicht nur deshalb mochte ich sie nicht, diese dumme, faule, sentimentale, magersüchtige und trotzdem ziemlich charakterlose Ziege.

Und Frank, der keine Knastanekdoten von dir erwartete, wenn ihr stundenlang durch die Gegend streuntet, der dir Eis und Kuchen kaufte, soviel du wolltest, und Socken, die für drei brasilianische Riesentausendfüßler gereicht hätten, dem du deine fiesen Karikaturen nie gezeigt hast; womöglich, weil du immerhin ahntest, wie gut seine waren. Auf den Blättern, die dich darstellten, übrigens niemals nackt, sahst du aus wie einer, der lebt: mutig und mißmutig, traurig und komisch, schlau und dumm, und all das zugleich.

Und Hanna, die dich lehrte, Bettbezüge zu bügeln, und — während sie dir dabei zusah — voller Spott und Sehnsucht von Erfurt erzählte, ihrer für dich sehr fernen Geburtsstadt in Thüringen, die dir ihre Rollen vorspielte und dich fragte, ob dir die Figur, die sie gerade einübte, gefiele, die dich also ernst nahm wie ihr abendliches Publikum?

Wohl wahr, Thomas und Christoph wußten nicht allzuviel mit dir anzufangen, doch das stellte sich erst später heraus und hatte einen schwerwiegenden Grund, der sich auch erst später herausstellte. Von da an gingen auch Clara, Marlene, Hanna und selbst Juli auf Distanz zu dir, aber nicht Frank, nicht Marc, nicht ich, nicht einmal Joe, der die Bombe schließlich fallen ließ — und dich ebenso hätte fallen lassen können — aus genau diesem Grunde, auf den ich, wie du dir denken kannst, noch mal zurückkommen werde.

Wir beide waren an jenem Freitag abend, an dem sich unsere Gruppe zum erstenmal treffen sollte, schon eine halbe Stunde vor der vereinbarten in der Eisenacher Straße. Du trugst das neue» anarchistenschwarze «Hemd, das ich dir unterwegs gekauft hatte, weil es, wie du fandest,»so sophisticated «aussah, ich die Tüte mit deinem alten Sweatshirt. Während ich bang in Richtung U-Bahnhof spähte, eine Zigarette nach der anderen rauchte und mir gelegentlich die schwitzenden Handflächen abtrocknete, indem ich dir über den breiten, vom flauschigen Feincord verhüllten Rücken fuhr, gabst du den Coolen, zogst dir den Kamm durchs Haar, kautest Pfefferminzbonbons, machtest Dehnübungen.

Tatsächlich kamen alle, die sich bereit erklärt hatten, früh genug, warfen scheue oder neugierige Blicke auf dich und einander, begrüßten mich, stellten kaum Fragen, folgten uns den Gang hinab bis vor Joes Tür, gelassen, als erwarte sie dahinter bloß irgendein kostenloser Schnupperkurs der Volkshochschule.

Joe, der uns Punkt neunzehn Uhr einließ, reichte wieder weder dir noch mir, noch sonstwem die Hand. Einer der drei Schreibtische, vermutlich Joes, war beiseite geschoben worden; statt dessen standen dort im Halbkreis zwölf Stühle.

«Na, dann guten Abend. Wenn ihr nun bitte Platz nehmen wollt«, sagte Joe betont beiläufig; aber wenn ich mich recht erinnere, glomm, als unser beider Blicke einander trafen, in seinen Augen doch so etwas wie komplizenhafter Respekt vor mir oder zumindest dem organisatorischen Ehrgeiz, den ich bewiesen hatte. Denn ohne Menschen mit solcher Energie, das schien Joe genau genug zu wissen, wäre er seine sicher gut bezahlte Arbeit mangels Klientel bald los gewesen.

Joe, der sich nicht setzte, sondern wie ein Dozent im Hörsaal vor uns auf und ab schritt, erklärte nochmals, daß er» der Joe sei, nur Joe«, und daß es etwas Geld für dich gebe und dann den Sinn der Therapie, deren Gelingen von unser aller» Engagement «abhinge, davon, daß wir» die Regeln «einhielten, was natürlich» mehr als für jeden anderen hier «für dich gelte.»Ich weiß«, sagte Joe,»wovon ich rede. Ich hab mir selber Dope für ne schlappe Million in die Venen gejagt, und im Knast war ich auch lange genug. Du, Harry, bist aus meiner Sicht ganz am Anfang, keinen Tag älter, als du es bei deinem ersten Schuß warst. Zwölf, höchstens dreizehn bist du, und nichts und niemand, nur ein doofer, gieriger, unnützer Junkie …«

An dieser Stelle unterbrachst du Joe.»Was heißt hier Junkie«, krähtest du mit seltsam dünner Stimme und halb von deinem Stuhl hochgefahren,»ich unterstütze den kurdischen Befreiungskampf.«

Schon möglich, daß du diesen Einwurf lustig gemeint hattest, doch außer Clara lachte keiner. Joe schenkte dir einen langen, gnädig-überlegenen Blick, der mehr sagte als die Worte, die ihn begleiteten:»Ist gut, Harry.«

Nach einer Verlegenheitspause, die nicht einmal er zu genießen schien, forderte Joe, damit du wüßtest, was dir bevorstünde, jeden von uns auf, seinen Namen, seine Telefonnummer, seinen Beruf und seine» Hobbys «zu nennen. Dann fragte er bloß noch, ob wir Fragen hätten. Wir hatten keine; nur Thomas erkundigte sich, wo und wann» der Lohn für die Mühe «denn nun ausbezahlt würde.»Einmal im Monat«, beschied ihm Joe,»wenn wir uns hier wiedertreffen. Also immer schön die Stunden aufschreiben. Und vergeßt nicht, der Junge muß pünktlich sein. Sollte es irgendwelche Probleme geben, ein Anruf genügt.«

Wir waren alle Raucher und deshalb froh, daß uns Joe so bald entlassen hatte. Eine Querstraße weiter links, im Café Schwanensee, bestellten wir uns Cola oder Bier und machten nebenbei den» Harry-Plan «für die nächsten zwei Wochen. Es ging leichter, als ich es für möglich gehalten hatte, zumal ja schon klar war, daß du die Wochenenden meistens bei mir verbringen würdest und ich immer bereit wäre einzuspringen, wenn jemand mal nicht könnte.

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