«Ich brauche einen Schornsteinfeger, einen Feuerleger und einen Beschwerdebriefbeschwerer.
Mondäne Dämonen …«
Dann kam jener Novembertag, an dem die Ostberliner die Mauer einrannten. Die Ereignisse hatten mich, wie wohl die meisten Deutschen, doch allemal uns Berliner beider Stadthälften, völlig überrumpelt, und die folgenden zwei Wochen verbrachte ich im Ausnahmezustand. Meine Moabiter Einzimmerwohnung glich dem» Nachtlager von Granada«; Freunde, die ich seit 86 nicht mehr gesehen hatte, gaben einander die Klinke in die Hand. Ich kann nicht behaupten, daß ich mich unbändig freute. Mein einziges Privileg, das darin bestanden hatte, vor dem jähen Ende des» antifaschistischen Schutzwalls «in den Westen gegangen zu sein, fiel mit der Mauer. Ich fühlte mich, als säße ich in einem Zug, und sämtliche Bäume, an denen ich schon vorbeigefahren war, kämen mir plötzlich wieder entgegen. Aber aufregend war es schon; die Sekt-, Wein-, Bier- und Schnapsflaschen kreisten, und wer sich trotzdem nicht entblödete, nur Wasser zu trinken, torkelte ebenso besoffen durch die Gegend wie wir anderen. Während jener Tage, das mußt du mir verzeihen, dachte ich kaum einmal an dich. Immerhin schaffte ich es, am zwölften November — auf dem Weg zum Checkpoint Charlie — kurz bei dir vorbeizuschauen. Ich stürmte durch deine Tür, zwei Piccolo in den Händen. Harry, rief ich, warum guckst du nicht wenigstens TV?
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, daß ich nicht mehr dort draußen, sondern ganz woanders war — und du auch. Deine Vorhänge waren geschlossen, und das Licht, das gelblich getönt in dein Zimmer fiel, mischte sich mit dem Hellblau der Wände zu einem dumpfen Bleigrau, während die wenigen Möbelstücke fast schwarz wirkten. Dein Zimmer sah aus wie ein Schwarzweißfoto, auf dem ein blaßorangefarbenes Rechteck klebte.
Du saßest unter der Bettdecke, die Fensterwand und drei Kissen im Rücken, und betrachtetest kopfschüttelnd den rechten deiner mageren Unterarme. Ich trat langsam näher, sagte: Hallo, Harry, ich bin’s.
Du blicktest zu mir, sagtest» ach, Bärchen, ich versteh das nicht«, und schautest wieder deinen Arm an. Zeig mal her, sagte ich und sah nun auch die zwei roten Male, die irgendwie großflächigen Schürfwunden ähnelten, aber keine sein konnten. Wie mir Wolfgang später erklärte, verursachte ein Hautpilz, gegen den dein geschwächtes Immunsystem wehrlos war, diese Ekzeme, die du überall hättest,»an Bauch, Rücken, Beinen und — besonders unangenehm — im Genitalbereich«. Wir schauten nun beide auf deine Arme, schwiegen und hörten von draußen das Hämmern, die Rufe, die Hubschrauber, bis du heiser flüstertest:»Ich weiß, bei euch drüben zieht jetzt der Suffkopp Krenz die Strippen, und Honecker und die Zonengrenze sind weg, nur ich bin noch hier. Eigentlich hatte ich geplant, daß auch mal ein Westberliner an der Mauer stirbt, doch das scheint ja nun nicht mehr zu klappen. Schlechtes Timing — von euch oder mir.«
Du verfielst wieder in Schweigen, und ich brach in Tränen aus. Ich lag an deiner Brust und weinte, deinetwegen und meinetwegen, und weil ich mich ein bißchen in einen anderen verliebt hatte, und weil mir die Mauerspechte allmählich die Nerven zerpickten, und weil ich spürte, wie entsetzlich müde ich war.»Komm zu Haary«, sagtest du, und ich weinte mich an deiner Schulter in den Schlaf.
Als ich wieder wach wurde, schliefst du weiter, tief und fest. Es war später Abend; ich nahm meine Tasche, legte das Stück Mauer, das ich dir mitgebracht hatte, auf den Tisch und schloß deine Tür hinter mir.
Am elften November 1989 war mir Urs Maiwald begegnet, jener Schweizer, von dem ich dir in den wenigen Stunden, die wir noch miteinander verbringen durften, nichts erzählt hatte. Während des vergangenen Jahres und auch im letzten halben Jahr, als ich schon wußte, daß ich HIV-negativ war, hatte ich keinen Menschen, erst recht keinen Mann, näher an mich herangelassen. Doch zu Urs faßte ich Vertrauen; er war nicht so schön wie du, aber er hatte Charme und betrachtete den ganzen Trubel, in den er da unverhofft hineingeraten war, mit aufmerksam-spöttischer Distanz. Ich mochte seine sanfte Stimme, seine Zurückhaltung, seine Ehrlichkeit. Urs machte mir nichts vor, und er machte sich nicht viel aus Frauen. Er habe Frauen gern, sagte er, und wenn er eine richtig liebgewinne, könne er sogar mal mit ihr» ins Bett gehen«. Urs war drei Jahre älter als ich und von Beruf Gärtner. Seine, wie er sagte,»schon sehr verbrauchten «Eltern hatten in Allschwil, am südwestlichen Rand von Basel, ein paar Hektar Land; Obstplantage, Gewächshäuser, Pferdekoppel. Sie verkauften, was sie ernteten, Äpfel, Birnen, Pflaumen, an die nahen Geschäfte und Schnapsbrennereien und handelten mit diversen exotischen Pflanzen, die sie unter den Glasdächern kultivierten. Urs meinte, ich solle ihn heiraten, damit seine Eltern sich endlich» einigermaßen froh zur Ruhe setzen und ihrem einzigen, nun glücklich von der Homosexualität geheilten Sohn den Betrieb übereignen könnten«. Unser Deal war klar — und vorteilhaft für beide: Er wollte das Allschwiler Kleinunternehmen, eine» sympathische Gefährtin, die etwas Ahnung von der Materie «hatte, und eine Arbeitskraft, für die er, weil sie seine Ehefrau war, keine Lohnsteuer zahlen mußte. Und ich wollte mich nicht von meiner Ostvergangenheit einholen lassen, sondern viel lieber einen Schweizer Paß, und sicher, Harry, wollte ich auch mehr Distanz zu dir, wenngleich ich das nicht einmal mir selbst eingestanden hätte.
Ich habe es, als ich dich kurz vor meiner Abreise noch einmal besuchte, nicht fertiggebracht, dir zu sagen, daß ich Berlin verlassen, weggehen würde, in ein anderes Land. Ich sagte, ich brauchte Urlaub und führe über den Jahreswechsel für drei, vier Wochen in die Schweiz. Ich glaubte wirklich, daß ich wenigstens alle zwei Monate nach Berlin käme; deshalb hatte ich meine Wohnung nicht auf-, sondern weitergegeben an jene Freundin, der ich sie, während wir beide im Wendland gewesen waren, schon einmal untervermietet hatte.
Du fühltest dich an diesem Tag, es war kurz vor Weihnachten, und ich hatte dir einen großen, nicht sehr teddyähnlichen Plüschbären mitgebracht, ziemlich mies.
«Denk nicht, Bärchen, daß der Dicke hier dich ersetzen könnte. Und nun hab eine schöne Zeit, halt dich grade und vergiß den Haary nicht«, sagtest du.
Wir umarmten uns, und ich ging. Bei den Pflegern, Wolfgang war leider nicht da, hinterließ ich meine Schweizer Adresse und meine Telefonnummer sowie reichlich Kaffee, Konfekt, ein Fläschchen Kognak und — für den Fall, daß du etwas benötigen würdest — zweihundert Mark in bar, die ich von meinem, nicht von deinem Konto abgehoben hatte. Ich bat sie, mich unbedingt anzurufen, wenn es dir schlechter ginge oder überraschend irgendein Problem auftauche. Sie versprachen, mit mir» in Kontakt «zu bleiben, und ich war frei, frei für die Schweiz, doch nicht von dir; aber das wußte ich damals noch nicht.