Uber die Straße von Augustow nach Sejny keuchte eine kleine Kolonne Motorschlitten. Ein eisiger Nordwind trieb Schleier von Pulverschnee über das flache, baumlose Land, das einer riesigen, kaum gewölbten Scheibe gleich mit dem graumilchigen Himmel zusammenstieß und in ihn überfloß.
Auf den Ladeflächen festgeklammert an die hölzernen Holme, saßen dicht zusammengedrängt die Jungen und starrten aus den eisverklebten Gesichtern nach vorn. Vor sechs Stunden hatten sie in Su-walki vor einem Obersten gestanden und das Ritterkreuz bewundert, das ihm aus dem Kragen seines Lammfellmantels heraushing. Er hatte ein väterlich-strenges Gesicht aufgesetzt und gesagt:»Jungs! Nun kommt ihr an die Front! Was ihr in der Heimat auf dem Schießplatz gelernt habt, wird Ernst! Der Feind hat keine Platzpatronen, das dürfte sich im sechsten Kriegsjahr herumgesprochen haben. «Sie hatten über diesen blutigen Sarkasmus gelacht, denn der Oberleutnant hatte ihnen vorher gesagt:»Wenn der Oberst einen Witz macht… lacht, ihr lahmen Enten! Das hat er gern. Und vielleicht bekommt ihr eine Sonderzuteilung Schnaps für den Weg nach vorn!«
Tatsächlich, sie hatten den Schnaps bekommen, und dazu noch weißgestrichene Stahlhelme, weiße Tarnüberzüge, einige Maschinengewehre, einen Schlitten voll Munition und Handgranaten.
«Ihr seid Soldaten des Führers!«hatte der Oberst zur Verabschiedung gerufen.»Vorne warten sie auf euch. Macht's gut, Kameraden! Sieg Heil!«
Dann waren sie abmarschiert, zackig, mit einem Lied von der schwarzbraunen Haselnuß. Der Oberst sah ihnen nach, bis sie zwischen den Hütten am Rande Suwalkis verschwanden und nur noch ihre jugendlichen, fast kindlichen Stimmen zu ihm herüberwehten.
«Scheiße!«sagte der Oberst mit dem Ritterkreuz. Er griff sich an den Hals und umklammerte den Orden, als drücke er ihm die Luft ab. Dann ging er zurück in sein Zimmer und unterschrieb den Be- richt, den die Divisionsschreibstube fein säuberlich in vier Exemplaren in einer Unterschriftsmappe vorgelegt hatte:
Verabschiedung von 57 Mann Ersatz für Kampfgruppe Bauer, 170.
Inf.-Div., 4.10.1944, 9.20 Uhr, durch Kommandeur.
Nun fuhren die 57 Jungen sechs Stunden lang durch die eisige Kälte, starrten über das flache Land und in den milchigen Himmel und lauschten angestrengt auf das ferne Rummern und dumpfe Grollen, das ab und zu durch den Motorenlärm drang. Dann starrten sie sich gegenseitig an, und in ihren Augen standen Angst und krampfhafte Tapferkeit.
Die Front. Man hört sie schon. Und dort warten sie auf uns. Auf 57 Jungen von 17 bis 19 Jahren, in sechs Wochen ausgebildet, mit vier Schlitten, neun Maschinengewehren und 300 Handgranaten. Der Ersatz.
Im ersten Schlitten saß am Lenkrad Erich Schwabe. Er war ein alter Hase, ein uraltes Frontschwein mit sieben Verwundungen, hatte einen >Klempnerladen< auf der Brust und wurde trotz seiner knappen 26 Jahre von den Jungen wie ein Vater angesehen. Als er den Ersatz übernahm, war er gerade aus einem Heimaturlaub zurückgekommen, er hatte im Keller seines Hauses gesessen, während über ihm die Stadt in Flammen aufging und auch sein Wohnhaus hinweggefegt wurde. Er hatte danach in einer übriggebliebenen Kellerecke auf einer alten, muffigen Matratze gelegen, seine zitternde Frau Ursula in den Armen. Zum erstenmal war ihm damals der Gedanke gekommen, ob der Krieg nicht sinnlos geworden war. Er sprach ihn nicht aus, aber er drückte Ursula an sich und ging nach diesen zehn Tagen Urlaub zurück nach Rußland mit dem Schrei seiner Frau im Herzen, der sich in ihm festgebrannt hatte:»Komm wieder, Erich…!«
«Wie lange dauert's noch, Herr Feldwebel?«rief jemand hinter Schwabe.
«Noch drei Stunden!«schrie Schwabe zurück.
«Dann sind wir Eisklötze.«
«Da vorn werdet ihr schon aufgetaut werden. Da ist's heiß genug!«brüllte Schwabe. Der Schlitten rumpelte über die Straße. Wie glattgefegt war sie vom Wind, eine Eisbahn, die in die Unendlichkeit führte.
Erich Schwabe sah auf seine Armbanduhr. Eine lederne Schutzhülle umschloß sie. Seit 1940 trug er sie am linken Handgelenk. Er hatte sie in Paris gekauft, in einem kleinen Laden unterhalb der Sacre-Creur. Von Paris war sie mitgezogen nach Griechenland, von dort nach Rußland bis kurz vor Moskau und dann den ganzen langen Weg zurück bis hier nach Suwalki. Die Lederhülle hatte er gepflegt wie seine Schuhe, sieben Verwundungen hatte die Uhr überstanden, sie war nie stehengeblieben und nie in Reparatur gewesen. Einmal war sie ihm gestohlen worden, von einem Gefreiten, als er nach einer Operation in Narkose lag. Der Gefreite wurde später verlegt, mit einem gebrochenen Nasenbein. Aber Schwabe hatte seine Armbanduhr wieder.
Die vereisten Schlitten ratterten durch den bleiernen Tag. Der Weg senkte sich jetzt etwas, wurde abschüssig, und die Schlittenfahrer zogen die Bremsen, spitze Eisenhaken bohrten sich in das Eis und verringerten die Geschwindigkeit.
«Festhalten!«schrie Schwabe nach hinten zu seinen Jungen.»Wenn die Zinken brechen, geht's los wie auf einer Bobbahn!«
Die jungen Soldaten klammerten sich an die Holme und aneinander. Unter ihnen jaulten die Eisenspitzen, die Schlitten krachten in sich und schüttelten sich wie frierende Hunde.
Erich Schwabe preßte die Bremsen mit aller Kraft gegen die Straße. Mit beiden Händen umklammerte er das Steuerrad und sah die abschüssige Straße hinab, die einige hundert Meter weiter wieder sanft ausglitt in eine Ebene, glatt wie ein abgewischter, weißlackierter Tisch.
Auf diesem Stück Straße war die Fahrbahn ohne Erhebungen. Schwabe kannte diese Strecke. Im zweiten Teil geht's los, dachte er. Dann war der Drall so groß, daß es mit Heißa abwärtsgeht. Mit einem vollen Schlitten ist das Mist; man kommt unten an wie eine Granate.
Er beugte sich vor und starrte auf die glatte Eisfläche. In diesem
Augenblick sah er es, und es war ihm, als schlage ihm eine Riesenfaust auf das Herz und nehme ihm die Luft.
Mitten auf der glatten Straße war ein kleiner Eishügel. Nicht groß, vielleicht wie der Durchmesser eines Suppentellers. Ganz flach hob er sich über die Fläche hinaus, wie ein einsamer Pickel auf einer sonst reinen, makellosen Haut.
Erich Schwabe preßte die Bremsen ins Eis. Unter ihm knirschte und polterte es, der Schlitten machte einige Sätze und sprang über die bremsenden Eisenspitzen hinaus. Mein Gott, dachte Schwabe, o mein Gott! 17 Jungen habe ich hinter mir, und sie wissen nicht, was da vorne auf der Straße ist. Dieser kleine Buckel aus Eis, diese flache Scheibe! Was wissen sie von der Kampfweise der Partisanen? Im Winter hacken sie die Straße auf, legen eine Mine in das Loch, schütten Wasser darüber und lassen das Loch zufrieren. Nur wenn ein Fahrzeug über diesen Eisbuckel rollt, reagiert der Zünder. Dann bricht die Erde auf, und das Denken hat aufgehört, das Leben, die Hoffnung, alles. Nur eine Wolke aus Erde, Eis und zerfetzten Leibern bleibt übrig, die nach Sekunden der Schwerelosigkeit zusammenfallen wird und die der nächste Schnee zudeckt wie ein Leichentuch.
Der Schlitten raste die Straße hinab, auf die Mine zu. Hinter ihm ratterten die drei anderen Schlitten in Abständen von fünfzig Metern. Der letzte war der Munitionsschlitten. Auf ihm saß der Transportkommandant, ein junger Leutnant, der den im Einsatz in vorderster Linie gefallenen Kompaniechef der 10. Kompanie ersetzen sollte.
Erich Schwabe umklammerte das Steuerrad, als könne er damit den Schlitten zurückreißen. Noch wenige Sekunden, dachte er. Wir können nicht mehr bremsen. Das Eigengewicht ist zu stark bei diesem Gefälle, die Eisenspitzen springen einfach aus dem Eis oder brechen ab. Selbst zur Seite lenken ist unmöglich — ehe der Schlitten reagiert, hat er die Mine im Eis längst erreicht.
Mein Gott, mein Gott, dachte Schwabe.»Komm zurück.!«hat Ursula gesagt. Geschrien hat sie's, als sie neben dem Abteilfenster herlief, über den Bahnsteig hinaus, durch den Schotter neben den Schienen, der ihr die Strümpfe und Schuhe zerriß.»Komm zurück.!«Und er hatte ihr zugewinkt und krampfhaft gelächelt. Und auf die Uhr hatte er gesehen. In einer Stunde spätestens wird es wieder Fliegeralarm geben. Dann wird Ursula wieder im Keller sitzen, an die feuchte Wand gepreßt, das weiße Gesicht nach oben, und sie wird die Bomben zählen und auf das Zischen lauschen. Das ist weiter… das war nah… noch näher… jetzt… jetzt.
Erich Schwabe stieß den Kopf vor. Fliegeralarm, dachte er. Das haben sie geübt, die Kinder hinter mir im Schlitten. Das kennen sie, damit sind sie groß geworden. Früher spielte man im Garten Verstecken. heute lernt man: Fliegeralarm. Er riß den Kopf herum. Er sah in vereiste Gesichter, in junge, müde Augen unter weißen Stahlhelmrändern, in Blicke, die ihn anstarrten wie erfrorene Klagen.
«Fliegeralarm!«schrie Schwabe in diese Kindergesichter hinein. Sein schreiender Atem wehte weiß über sie hinweg.»Fliegeralarm!«
Wie ein Schlag ging es durch die zusammengeduckten Gestalten. Ein Bruchteil der Sekunde zögerten sie, dann stürzten sie sich aus dem fahrenden Schlitten kopfüber seitlich in den Schnee, überschlugen sich, rollten den Hang hinab oder vergruben sich mit Beinen und Armen in den Verwehungen. Der nachfolgende zweite Schlitten bremste scharf, schleuderte zur Seite, drehte sich und brach von der Straße aus.
«Ist der Schwabe verrückt geworden?«schrie Unteroffizier Plotzke. Er versuchte, seinen Schlitten wieder auf die Straße zu bringen. Der dritte und vierte Schlitten, weit zurück, bremsten, schleuderten, kamen aber zum Halten. Der junge Leutnant stand aufrecht neben den Handgranatenkästen und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. Niemand verstand ihn, aber man sah, daß er Kommandos brüllte.
«Der macht 'ne Felddienstübung, der Vollidiot!«schrie Plotzke wieder.»Alle Mann in Deckung! Dem ist wohl das Gehirn vereist!«
Die Jungen des ersten Schlittens wälzten sich im Schnee. Erich Schwabe hockte allein hinter seinem Steuer und preßte es nach links. Nur fünf Zentimeter dran vorbei, das reicht, dachte er. Ich könnte abspringen wie die anderen… aber wir brauchen den Schlitten! Jede Stunde kann der Mist da vorne wieder losgehen. Dann ist ein Schlitten vielleicht die letzte Rettung, die letzte Fahrkarte in die Heimat, in den Frieden, zu Ursula.
Der Eispickel raste näher. Hüpfend jagte der Schlitten die Straße hinab. Schwabe bremste, aber nichts unter ihm griff mehr ins Eis. Die stählernen Zinken waren abgebrochen. Auch die Lenkung flatterte in Schwabes Händen, er drehte sie nach links, in wilder Verzweiflung und aus der Tiefe seiner Seele plötzlich aufschreiend. Aber der Schlitten raste geradeaus.
'raus! schrie sich Schwabe zu. Jetzt 'raus! Er ließ das Lenkrad los, warf sich zur Seite und schnellte sich vom Führersitz. Halb aus dem Schlitten hängend, spürte er einen Widerstand an seinen Füßen. Er sah zurück und merkte, daß sich die weißen Tarnhosen am Pedal der Fußbremse festgehakt hatten. Verzweifelt zerrte und riß er an dem Hosenbein, der Stoff zerfetzte, noch einmal stemmte er den Fuß auf, um sich weit weg aus dem Schlitten zu schnellen.
In dieser Sekunde, diesem letzten Wimpernzucken, sah er die kleine Eiserhebung vor sich, sein Blick wurde starr und gelähmt vor Entsetzen. weiter kam er nicht, zu keinem Gedanken, keinem Aufschrei, keiner Abwehr der Hände. um ihn brach die Erde auf, er roch noch das heiße, aufspritzende Benzin, es war ihm, als tauche man sein Gesicht in siedendes Öl, dann wußte er nichts mehr.
Mit offenen Mündern lagen die Jungen im Schnee und sahen den Schlitten hoch in die Luft fliegen. Unteroffizier Plotzke reagierte schnell… er ließ seinen Schlitten einfach umkippen, indem er ihn rechtwinklig herumriß. Der junge Leutnant im Munitionsschlitten stand noch immer hochaufgerichtet, mit erhobenen Armen. Wie ein Standbild, das die Gnade des Himmels herabbeschwört auf eine Welt, die in Rauch und Feuer aufgeht.
Dann sank die Explosionswolke zusammen. Nasser, klebriger Schnee, Erd- und Eisbrocken bedeckten in weitem Umkreis die Unglücksstelle. Dazwischen die Trümmer des Schlittens I, ein Haufen zerrissenes Metall und Holz.
«Der… der Feldwebel.«, stotterte einer der Jungen. Er lag auf den Knien und hatte die Hände flach gegen die Brust gedrückt.»Schwabe war doch noch im Schlitten.«
Sie sprangen auf und rannten zu den Trümmern. Von Schlitten II stolperten Unteroffizier Plotzke und seine Mannschaft die Straße hinab.
«Der ist erledigt.«, stammelte Plotzke im Laufen.»Schwabe ist erledigt.«
In seinen Augenwinkeln brannte es.
Er stieß die jungen Ersatzsoldaten zur Seite, die verängstigt und ratlos herumstanden.
«Dort ist er!«schrie einer grell.»Dort, unter dem Motor!«
Plotzke warf sich in den Schnee. Er kroch an die blutige, mit Benzin und Öl übergossene Masse Mensch heran und schob seine Hand irgendwohin auf ein Stück nackte Haut.
«Er atmet noch!«schrie er.»Hebt den Motor weg, ihr Flaschen! Alle Mann an den Motor.«
Als sie Schwabe frei hatten, stand auch der Leutnant blaß neben den Trümmern. Die 57 jungen Soldaten, das Grauen in den Augen, umringten ihn. Nur Plotzke kniete noch neben der blutigen Gestalt im Schnee.
Schwabe lag auf dem Rücken, den Kopf auf einem Brett, und alle sahen es: Er hatte kein Gesicht mehr. Dort, wo einmal Nase, Mund, Kinn und Ohren waren, hatte eine glühende, eiserne Faust mit einem Schlag alles zerstört. Eine formlose, breiige Masse war übriggeblieben, mit blonden Haaren darüber und einem Rumpf darunter in zerfetzter Uniform. Wie abgehobelt war das Gesicht, ein roter Teller mit einigen Löchern. Weiter nichts.
«Er lebt.«, sagte Plotzke leise.»Er lebt wirklich noch.«
«Es wäre besser, wenn. «Der Leutnant sprach den Satz nicht zu Ende. Unteroffizier Plotzke tastete nach einer Pistole. Er war gelb im Gesicht, er würgte nach Luft und zitterte wie im Fieber.
«Lassen Sie das, Plotzke«, sagte der Leutnant leise.»Auch wenn es besser für ihn wäre.«
«Er… er ist doch kein Mensch mehr.«, stammelte Plotzke.
Der Leutnant deutete auf Schwabe:
«Seht ihn euch genau an! Das ist das Gesicht des Krieges. so sieht es aus, das Heldentum, dessen Lieder man uns in der Schule mit ergriffener, bebender Stimme lehrte! Seht es euch an!«
Dann wandte er sich ab und ging langsam zu seinem Schlitten zurück. Die jungen Soldaten hoben den Körper Schwabes auf und trugen ihn vorsichtig zum zweiten Schlitten. Dort legte ein Sanitätsgefreiter einige Lagen Zellstoff auf die blutige Masse und wickelte vier Papierbinden um den Kopf.
Plotzke war zurückgeblieben. Er beugte sich über den zerfetzten Schlitten und würgte erneut. Endlich erbrach er sich, und gleichzeitig mit dem Kotzen spürte er die Erleichterung, weinen zu können.
«Wo bin ich?«fragte Erich Schwabe.
Wenigstens war es ihm, als ob er das fragte. Der Gedanke war da, und er hörte sogar seine Stimme. Aber der Sani, der neben seinem Bett saß, hörte nur ein Lallen, ein unartikuliertes Stöhnen, ein Zischen und Röcheln aus den Falten des Verbandes. An Form und Körperlage wußte man, daß es ein Kopf war. Ein dünnes Röhrchen, eine Sonde, stak mitten in den durchbluteten Mullbinden. Dort muß der Mund drunter sein, dachte der Sani. Eine große Höhle, in der verwunderlicherweise ein Stückchen bewegliches Fleisch liegt, die Zunge. Sie hat er behalten dürfen neben den Augen.
Schwabe öffnete die Lider. Die Verbände drückten auf die Augen, und die Dunkelheit um ihn blieb, auch als er wußte: Jetzt habe ich die Augen auf. Er hob die Hand und wollte nach seinem Kopf tasten, aber eine andere Hand hielt sie plötzlich fest und drückte sie zurück auf die Bettdecke.
«Was ist mit mir?«fragte Schwabe etwas lauter.»Bin ich blind? Jungs. sagt mir doch, was mit mir los ist.«
Der Sanitäter hörte wieder das Zischen und Röcheln durch die Verbände. Er beugte sich über den Kopf und sagte ganz langsam und klar:
«Du bist jetzt in Suwalki, Kamerad. Im Lazarett. In Sicherheit. Mit einer Mine bist du hochgegangen. Und Glück haste gehabt… brauchst dir keine Sorgen zu machen. Die Augen sind noch da, die Zunge und auch sonst noch manches. Nur 'n paar Schrammen über die ganze Fresse… das heilt bald. Allerdings mußte noch ein paar Tage im Dunkeln liegen. Und in die Heimat kommste auch. Wir warten nur auf den nächsten Lazarettzug! Wenn der Iwan wieder wild wird, biste längst bei Muttern. «Der Sanitäter schwieg und wartete auf ein neues Wimmern aus den Verbänden. Als nichts kam, faßte er den Puls Schwabes und beugte sich über den unförmigen Kopf.
«Haste mich verstanden, Kamerad?«
Schwabe nickte schwach. Er tastete mit der rechten Hand nach seinem linken Handgelenk. Seine Uhr war noch da. Dann wollte er wieder nach oben greifen an seinen Kopf, aber wieder wurde er festgehalten.
«Ruhig halten«, sagte der Sani.»Du hast den ganzen Kopf verbunden, weiter nichts.«
Schwabe nickte wieder. Er legte die Hände seitlich an den Körper und dachte nach. Wie war das. auf der Straße eine in das Eis eingegossene Partisanenmine, die Jungen springen ab, als er Fliegeralarm schreit, er bleibt hängen an dem verfluchten Bremspedal, und dann kracht es. Und nun lebt er noch, was wirklich wie ein Wunder ist.
Aber das Gesicht. sein Gesicht. Was ist mit seinem Gesicht.?
Er hörte, wie eine Tür klappte. Schritte kamen an sein Bett. Keine mit Nägeln beschlagenen Kommißstiefel, sondern ein knarrender, weicher Schritt. Offiziersstiefel, dachte Schwabe. Ein Stabsarzt oder sonst wer. Er lag ganz still, bewegungslos, mit schlaffen Händen. Sein Gesicht brannte plötzlich, als läge es in einer Pfanne.
«Wie geht's dem Mann?«Eine dunkle Stimme fragte so.
«Gut, Herr Stabsarzt«, sagte der Sanitäter.»Er hat vorhin das Bewußtsein wiedererlangt. Aber jetzt scheint er zu schlafen. Die Wirkung der letzten Injektion.«
Schwabe fühlte, wie man seine Hand betastete. Warme, weiche Finger nahmen sie hoch, ein paar Zentimeter, und ließen sie auf die Bettdecke zurückfallen.
«Er schläft. «Die dunkle Stimme, der Stabsarzt.»Wenn er wieder aufwacht, rufen Sie mich sofort.«
«Jawohl, Herr Stabsarzt.«
«Hat er was gesagt?«
«Ja, aber ich konnte nichts verstehen, Herr Stabsarzt.«
«Kein Wunder. Ohne Mund und Lippen.«
In Schwabe kroch es eiskalt hoch. Bis unter seine Hirnschale zog die Kälte und ließ den Körper erstarren. Das ist doch nicht wahr, schrie es in diese Kälte hinein. Er hörte in sich seine Stimme gellen, vielfach zurückgeworfen wie in einem riesigen, leeren Raum, als sei aus seinem Inneren alles herausgerissen und nur die Hülle sei geblieben, ein Hohlraumkörper, durch den die Stimme irrte.
«Passen Sie gut auf, wenn er wieder spricht«, sagte der Stabsarzt.»Und sagen Sie ihm nicht, was los ist, verstanden? Er wird es früh genug merken. Morgen kommt er nach Frankfurt/Oder. Bereiten Sie ihn für den Transport vor. Wenn er Glück hat, geht es weiter nach Bernegg.«
Wieder klappte eine Tür. Schwabe hörte einen neuen Schritt, wieder leise, ohne Nägeldonnern. Noch ein Arzt, dachte er.
«Na, wie geht's?«Eine hellere, forsche Stimme.
«Ganz gut, Herr Oberstabsarzt. «Die dunkle Stimme wurde leiser.»Jetzt schläft er wieder, nachdem er kurz bei Besinnung war. Haben Sie etwas erreichen können für ihn?«
«Nicht viel, Herr Kollege. «Die forsche Stimme gab sich Mühe zu flüstern.»Er wird nach Bernegg kommen. In Bernegg sollen Spezialisten sein, die so etwas hinbiegen. Aber ob der hier jemals wieder wie ein Mensch aussehen wird.«
«Ein Wunder, daß er noch lebt. «Die dunkle Stimme.
«Es gibt auch unnütze Wunder. «Die forsche Stimme.
Dann wieder knarrende Stiefel, ein Türenklappen, das Scharren des zurückgebliebenen Sanitäters, der eine Spritze aufzog, falls Schwabe beim Erwachen große Schmerzen haben sollte. Er legte sie auf einen Zellstofflappen und trank einen Schluck Milchkaffee, den er sich zur Wache mitgebracht hatte.
Erich Schwabe schloß unter den Verbänden wieder die Augen. Die Kälte war von ihm gewichen, aber es war ihm, als greife eine ganz langsame Lähmung an sein Herz und setze es still.
Er hat keinen Mund und keine Lippen mehr. ob Schwabe jemals wieder wie ein Mensch aussehen wird… es gibt auch unnütze Wunder. Was war mit seinem Gesicht.
Die Hände Schwabes zuckten hoch. Ehe der Sanitäter seine Tasse mit Milchkaffee absetzen und hinzuspringen konnte, hatte Schwabe seinen Kopf umfaßt und glitt mit den Fingern über die Verbände, unter denen sein Gesicht lag. Er stieß an die Sonde, er fühlte die Klebrigkeit der Mullbinden, und er spürte die Ebenheit seines Kopfes, die Konturlosigkeit seines Gesichtes. Seine Finger krallten sich in die blutigen Verbände, als wollten sie sie abreißen.
Kein Gesicht mehr, kein Gesicht mehr! schrie es in Schwabe. Ich habe kein Gesicht mehr! Herrgott, Herrgott, laß mich sterben… was soll ich denn ohne Gesicht.
«Himmel, Arsch und Zwirn!«schimpfte der Sanitäter. Er schlug auf die in die Verbände verkrallten Finger Schwabes und riß sie endlich zurück, als nach dem Krampf der Erregung die völlige Erschlaffung über den Verletzten kam.
«Bist du denn ganz verrückt geworden? Verbände abreißen! Wenn du das noch mal versuchst, binden wir dir die Hände am Bett fest, verstanden?«
Erich Schwabe lag ganz still. Die Worte des Sanis hörte er zwar als Laute, aber er verstand nicht den Sinn.
Ursula, dachte er. Arme, kleine, hübsche Ursula. Wie oft haben wir uns gesehen, seit wir verheiratet sind? Viermal… genau viermal. Einmal vierzehn Tage, zweimal neun Tage und zuletzt zehn Tage. Das sind zusammen 42 Tage. Einen und einen halben Monat… in fünf Jahren. Und wie glücklich waren wir in diesen 42 Tagen und 42 Nächten. Glücklicher, als seien es die ganzen fünf Jahre gewesen.
Weißt du noch, Ursula. bei meinem ersten Urlaub 1941? Es war im Sommer, und wir fuhren zu deiner Tante nach Heringsdorf an die Ostsee. Dort habe ich zum erstenmal gesegelt, mit dir allein in einem kleinen, schmalen Boot, und du hattest solche Angst, als uns der Wind immer weiter von der Küste trieb und schließlich nur noch ein dünner, heller Streifen am Horizont blieb. Du lagst damals vor mir im Boot, und der Schatten des Segels glitt über deinen Leib.»Noch vier Tage haben wir«, sagtest du.»Du mußt mich lieben, daß es für zwölf Monate reicht. «Bis zur Nacht blieben wir draußen im Boot, und von Heringsdorf schickten sie uns ein Motorboot entgegen, weil sie dachten, wir seien verunglückt.
Und später… beim dritten Urlaub… wir lagen im Keller aneinandergepreßt in dem hölzernen Luftschutzbett, und über uns warfen 1.500 britische Bomber ihre Luftminen ab. Und der Wehrmachtsbericht schrieb:»Schwache britische Bomberverbände griffen in der Nacht die Stadt an. Es entstand leichter Sachschaden. «Damals hast du dich an mich geklammert, wenn die Bomben ganz dicht neben unserem Keller die Häuser zerfetzten, und je näher das Dröhnen der Motoren kam, umso fester habe ich dich in den Arm genommen. Wenn wir sterben müssen, wollen wir miteinander sterben, hast du gesagt.
Und während der Boden zitterte, hast du mein Gesicht gestreichelt und gesagt: Du bist das Schönste für mich. Ich liebe dich. Ich liebe dein Gesicht. Deine Stirn. Deine Augen. Deinen Mund.
Und nun habe ich kein Gesicht mehr! Ursula.
Er schreckte auf. Der Sanitäter hatte ihm die schmerzstillende Spritze gegeben. Schwabe spürte den Nadelstich und das Eindringen der Flüssigkeit in seinen Körper. Es war Eukodal. Er wußte es nicht, aber nach kurzer Zeit schwanden die brennenden Schmerzen im Gesicht, es war ihm, als würde er schwerelos oder der Sanitäter trage ihn umher wie eine Mutter, die ihr Kind schaukelt. Das Gehirn wurde zu müde, um weiter zu denken.
Dann schlief der Feldwebel Erich Schwabe, 26 Jahre alt, verheiratet mit Ursula Maria, geborene Villich, geboren in Köln am Rhein, Feldpost-Nr. 23786. Achte Verwundung: schwerste Gesichtsverlet-zungen durch Mineneinwirkung. Sofortige Spezialbehandlung notwendig. Hat 3.000 Einheiten Tetanusserum vom Hammel bekommen. Puls sechzig, Temperatur sechsunddreißigdrei, gemessen in Achselhöhle.
«Die werden sich freuen in Bernegg«, sagte der Stabsarzt, als man die Trage mit Erich Schwabe in den Lazarettzug geschoben hatte.
Es war ein früher Morgen, eisig kalt, und um Schwabe hatte man eine dicke Wolldecke geschlungen. Die Sankas waren nicht geheizt, und vom Lazarett bis zum Bahnhof Suwalki war es gut eine halbe Stunde Fahrt. Auch der Stabsarzt fror erbärmlich trotz seines Pelzmantels. Er hielt sich nur länger auf dem zugigen Bahnhof auf, weil mit dem Lazarettzug auch junge Schwestern gekommen waren. Fröhliche Mädchen aus der Heimat, die eine Nacht in Suwalki blieben und am nächsten Morgen wieder zurück nach Deutschland fuhren.
Erich Schwabe wurde in die unterste der drei Bettetagen geschoben. Über ihm lag ein Lungendurchschuß, im obersten Bett wimmerte ein Mann, der auf dem Bauch lag. Dann quietschte die Abteiltür zu, und nur das Wimmern aus dem obersten Bett füllte den kleinen Raum.
«Wie sieht er denn unter dem Verband aus?«fragte eine der jungen Schwestern draußen auf dem Gang.
Der Stabsarzt tätschelte vertraulich die Hüfte des Mädchens.»Wie in einem alten Gruselfilm, mein Mädchen. Aber Sie werden's nicht sehen. Wir haben ihn neu verbunden, und der Verband kann draufbleiben, bis er in Bernegg ist. Ich glaube, daß ich Ihnen bis morgen früh Schöneres und Erlebnisreicheres zeigen kann, Schwesterchen. «Er lachte sonor, kniff ein Auge zu und fand, daß zwar bisher Schwarz sein auserwählter Typ gewesen war, daß aber auch die Blonden ihre Reize hatten.
Erst als der Zug durch die Masurische Seenplatte fuhr und zwischen Lyck und Neuendorf halten mußte, weil ein Truppentransportzug das Gleis blockierte, erwachte Schwabe aus seinem Eukodalrausch. Er lauschte auf das Rattern der Räder, als der Zug wieder anfuhr.
So komme ich zurück in die Heimat, dachte er. Als ein Mensch ohne Gesicht. Er weinte, und während über seinen Augen der Verband feucht von Tränen wurde, wunderte er sich, daß ein zerstörtes Gesicht noch in der Lage ist, Tränen zu erzeugen.
Die Abteiltür knirschte. Er hörte Rascheln, eine weiche Hand glitt über seinen Hals, eine Frauenhand. Seine Finger umklammerten sie.
«Ich bin bei Ihnen«, hörte er eine helle Stimme sagen.»Ich bin Schwester Erna. Ich werde Sie betreuen, bis Sie in ein neues Lazarett kommen. Haben Sie Durst, soll ich Ihnen etwas zu trinken geben?«
Schwabe nickte. Kurz darauf spürte er, wie kalte Flüssigkeit durch die Kanüle in seinen Mund rann. Er schluckte, und es schmeckte widerlich nach Jod, Blut und Äther. Natürlich, dachte er, während er krampfhaft schluckte. Ich habe ja keinen Mund mehr, keine Lippen, nichts, nichts… nur eine Höhle, in die man jetzt die Flüssigkeit schüttet, ein saugendes Loch.
«Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«fragte die Stimme.
Schwabe schüttelte den Kopf.
«Soll ich Ihrer Frau schreiben? Ein paar Zeilen, daß es Ihnen gut geht. ich lese sie Ihnen vor.«
Schwabe schüttelte wieder den Kopf. Daß es mir gut geht, will sie schreiben, dachte er. Natürlich, was soll sie sonst an Ursula schreiben? Soll sie schreiben: Ihr Mann kommt zurück, aber er hat kein Gesicht mehr.? Seien Sie tapfer, kleine Frau. auch Ihr Mann ist tapfer. Es wird alles wieder gut werden.
Mein Gott. Ursula. Wer soll es ihr sagen? Wie kann man es ihr sagen. Kann man es ihr überhaupt sagen?
«Was kann ich für Sie tun?«fragte Schwester Erna wieder.
«Nichts!«schrie Schwabe plötzlich in seinen dicken Verband.»Nichts! Nichts! Nur bleiben Sie bei mir. bitte, bitte, Schwester. bleiben Sie bei mir. Lassen Sie mich nicht allein. bitte. bitte.«
Er krallte sich in ihre Hand fest, er hörte, wie sie leise aufschrie, als sich seine Nägel in ihre Haut bohrten.
«Nicht allein lassen«, stammelte er.»Nicht allein lassen. Schwester. ich bitte Sie. ich. habe doch kein Gesicht mehr.«
Und der Zug fuhr, vier Tage und vier Nächte — bis Bernegg.
Bernegg ist eine kleine fränkische Stadt mit 4.000 Einwohnern. Zwei Sehenswürdigkeiten rissen sie bisher aus der Anonymität anderer Kleinstädte heraus: eine Kirche mit einer Pieta von Tilman Riemenschneider und ein Barockschloß, das früher dem Fürstbischof von Würzburg als Jagdresidenz gedient hatte. Beide historische Werke lockten in Friedenszeiten die Fremden nach Bernegg, einmal, weil man Riemenschneider für die Bildung brauchte, und zum anderen, weil auf dem Schloß, oder besser gesagt in der Schloßbrauerei, seit Jahrhunderten ein würziges Bier gebraut wurde.
Mit Beginn des Krieges verschoben sich die Sehenswürdigkeiten. Tilman Riemenschneiders Pieta blieb, aber aus dem Schloß Bernegg wurde ein Lazarett, aufgegliedert in Block A, Block B und Block C, in denen in stetigem Wechsel über 400 Verwundete versorgt wurden. Nur im Block B blieben die Patienten länger, oft ein, zwei Jahre. Er war ein langgestreckter, vier Stockwerke hoher Seitenflügel des Schlosses, der in die Hauskapelle mündete. Er hatte einen eigenen, von einer hohen Mauer umgebenen großen Park mit einem schönen Weiher, einen eigenen Eingang, eine besondere Wache und eine von den anderen Blocks getrennte Zufahrt. Es war das Speziallazarett der Gesichtsverletzten, das Haus der verlorenen Gesichter.
Das große Einfahrtstor war durch ein riesiges Gitter gesichert. Gleich dahinter lag die Wache in einer ehemaligen Kutscherwohnung. Von dort führte der Zufahrtsweg in einem Bogen zur Schmalseite des Blocks B, wo, von anderen Blicken durch Buschgruppen abgeschirmt, die Verletzten ausgeladen wurden. Sie kamen sofort in einen Vorraum und von dort in einen kleinen OP, wo die erste Untersuchung stattfand und die Verteilung auf die Stationen. Gegenüber lag der Vorbereitungsraum I und dahinter der große OP, der auch von den anderen Abteilungen des Lazaretts nach einem genauen Plan benutzt wurde. Dienstag, Mittwoch und Freitag operierten die Gesichtschirurgen, Montag und Donnerstag bezogen aus Block A die >gro-ßen Metzger< den OP, um Arme und Beine zu amputieren. An OPs und Röntgenstation schlossen sich im Parterre drei-, vier-, sechs- und zehnbettige Zimmer, während in den oberen Etagen Krankensäle für bis zu zwanzig Verwundete waren. Die Keller waren zu Bunkern ausgebaut und ebenfalls mit Verwundeten belegt.
Es war später Abend, als der Lazarettzug etwas außerhalb des Bahnhofs Bernegg neben einer zu den Schienen parallellaufenden Straße hielt und auf die Sankas wartete, die von Schloß Bernegg zur Übernahme der Verwundeten herüberkommen sollten. Im Bahnhof selbst wurden keine Verwundeten mehr ausgeladen. Der Generalarzt hatte es verboten — im Auftrage des Befehlshabers des Heimatheeres, Heinrich Himmler.»Der Anblick dieser Verstümmelten kann im sechsten Kriegsjahr leicht zu defätistischen Stimmungen führen«, hieß es in einem geheimen Tagesbefehl, der nur dem Chefarzt von Bernegg bekannt war. Seitdem hielten die Transporte immer außerhalb der Stadt an der Parallelstraße und luden die Verwundeten in die Sanitätskraftwagen um.
«Wir sind da«, sagte die junge Schwester Erna zu Erich Schwabe, als der Zug hielt und der 2. Transportarzt durch die Gänge rannte und» Fertigmachen zum Ausladen!«brüllte. Der Zug-U.v.D. schnauzte die gehfähigen Verwundeten an, weil sie noch nicht angezogen waren oder die letzte Büchse Rindfleisch fraßen. Man wußte nie, wo man hinkam und wie das Essen im Lazarett war. Was man in sich hat, ist gut verwertet. Alte Hasen, die schon mehrere Verwundungen hinter sich hatten und aus Erfahrungen schöpften, hatten aufklärend gewirkt und verbreitet, daß die beste Verpflegung anerkannterweise im Lazarettzug war.
«Nischt zurücklassen!«sagte ein dicker Stabsgefreiter und stopfte Brot, Wurst und Käse auf einmal in den Mund.»So gut kriegste's nie wieder.«
«Wir sind da«, wiederholte Schwester Erna und streichelte Erich Schwabe die auf der Brust gefalteten Hände.»Hier sind die besten Chirurgen Deutschlands. Die bekommen Sie wieder hin. glauben Sie es mir.«
Auf der Straße brummten die Sankas heran. Der U.v.D. rannte von Wagen zu Wagen und kontrollierte die Klosetts. Zweimal war es vorgekommen, daß sich jemand dort versteckte und mit dem Lazarettzug zurückfuhr, nur des Essens wegen.
Erich Schwabe lauschte auf die Geräusche. Er hörte Stimmen vor dem Fenster, er hörte das Poltern und Knirschen der aus dem Zug geschobenen Tragen, Kommandos flatterten zu ihm hin, einige Flüche, ein plötzliches Lachen und die Stimme eines Bayern:»Mei Haxn is koa Glander, du Hirsch!«
Schwester Erna legte ihre Hand an den Hals Schwabes, dort, wo der Verband aufhörte. Sie spürte an dem Pulsieren der Halsschlagader, wie aufgeregt Schwabe war. Sein Herz flatterte.
«Kopf hoch«, sagte sie fast zärtlich und zwang sich, nicht daran zu denken, wie dieser arme, hilflose Mensch unter dem Verband aussehen mochte.»Es dauert vielleicht gar nicht so lange. Was man heute alles kann in der Chirurgie. Sie werden staunen. Und die Hauptsache ist ja, daß Sie leben.«
Erich Schwabe nickte. Es war das Nicken eines großen, weißen Bindenkloßes auf zwei breiten Schultern und einem dünnen Hals.
Ich lebe, dachte er. Aber wie lebe ich! Keiner wird mich mehr ansehen können, ohne zu schaudern, ohne sich zwingen zu müssen, nicht entsetzt wegzulaufen. Und keine Frau wird es mehr geben, die mich lieben kann, die dieses Scheusal von Mensch in die Arme nimmt und streichelt. Auch Ursula nicht. nein, auch sie nicht.
«Ich danke Ihnen, Schwester«, sagte er. Da sie ihn nicht verstand, nahm er ihre Hand und drückte sie und führte sie dahin, wo früher sein Mund gewesen war und jetzt eine Kanüle aus den Verbänden ragte.
An dem Zittern der Hand merkte er, wie mühsam Schwester Erna ihr Grauen bezwang. Da ließ er sie los und drehte den Kopf zur Seite.
So lud man ihn aus und fuhr ihn nach Schloß Bernegg, und keiner achtete darauf, wie heftig seine Brust zuckte.
Oberstabsarzt Professor Dr. Walter Rusch, der Chefarzt der Gesichtsversehrtenklinik Bernegg, wartete im kleinen OP, dem allgemeinen
Verbandsraum, auf das Eintreffen der ersten Sankas. Er saß vor einem weißlackierten Tisch und sah hinüber zu den Waschbecken. Dort stand eine Frau in einem langen, weißen Arztkittel, hatte die Ärmel hochgerollt und seifte sich die Hände und die Unterarme gründlich ein. Ihr schwarzes lockiges Haar hatte sie hochgesteckt und in ein halbsteriles Dreieckstuch eingebunden. Wenn es nötig war, nachher zu operieren, würde sie einfach die weiße OP-Mütze überstülpen. Nur an den Augen und dem schmalen südländischen Gesicht würde man dann sehen können, daß es eine Frau war, mit dem Profil einer florentinischen Renaissancefürstin.
Dr. Lisa Stephanie Mainetti hielt die Unterarme unter den warmen Wasserstrahl und ließ den Seifenschaum über ihre langen schmalen Hände in das Becken spülen. Dabei wandte sie den Kopf zu Professor Rusch um, und ihre Blicke trafen sich. Ein leichtes Lächeln glitt über das bräunliche Gesicht der Ärztin.
«Warum siehst du mich so an?«fragte sie und schüttelte den letzten Schaum von den Armen.
«Ich versuche zu ergründen, was du jetzt denkst. «Die Stimme Ruschs war tief und melodisch. Wer sie zum erstenmal hörte, war fasziniert von dem Wohlklang. Später aber, wenn der erste Eindruck wich, hörte man einen Unterton heraus, einen Sarkasmus, eine Bitternis, die sich hinter Burschikosität und oft auch Kaltschnäuzigkeit versteckte.
«Ich denke, daß in wenigen Minuten wieder eine Fuhre Leid zu uns kommt. «Lisa Mainetti tauchte die Hände in eine antiseptische Lösung und hielt sie dann von sich, um sie abtropfen zu lassen. Nebenan, im großen OP, sah sie zwei Sanitäter — Studenten im vorklinischen Semester — und einen Unterarzt bei den Vorbereitungen zu den Operationen. Man hatte Erfahrung bei diesen Neuzugängen. Meistens kamen sie ohne Aufenthalt von einem Frontlazarett oder gar einer Krankensammelstelle nach Bernegg und sahen erschreckend aus. Vor allem die Gesichtsverletzten. Außer einer groben Wundversorgung taten die Frontärzte nichts an ihnen. Was sollten sie auch tun! Wie in einem Schlachthaus standen sie vor Hun-derten aufgerissenen Leibern, und die Sturmflut aus Blut spülte über sie hinweg.
Professor Dr. Rusch nickte mehrmals.»Eine Fuhre Leid, sagst du. Gewiß. Und diese Fuhren kommen jetzt von allen Seiten, die Transportwege werden immer kürzer. Wir schrumpfen zusammen, Lisa. Und deshalb denke ich, es müßte für dich ein Triumph sein, daß alles so gekommen ist. Daß wir Deutsche am Ende sind, daß wir einen Krieg verlieren, wie noch nie ein Volk einen Krieg verloren hat. Daß all das eingetroffen ist, was du einmal gesagt hast: Ihr seid wahnsinnig geworden in eurer Selbstüberschätzung.«
Dr. Mainetti sah ihn nachdenklich an.
«Warum sollte ich mich freuen?«
«Weil du recht hattest.«
«Recht? Was ist Recht, Walter? Mein Vater starb in Dachau, weil er glaubte, es sei sein Recht, gegen den deutschen Wahn zu sprechen. Mich wollten sie nach Flossenburg als KZ-Ärztin bringen, um mich mitschuldig werden zu lassen an den Verbrechen. Damals hast du mich davor gerettet und hierher geholt… und es ist manches seitdem geschehen… auch zwischen uns, Walter. Nun habe ich recht behalten, und es kommt alles so, wie es kommen mußte… aber dieses Recht wird eines Tages auch dich mitnehmen, und das wird ein Tag sein, wo ich mein Recht verfluchen werde!«
Sie hob den Kopf. Vor dem Tor rollten die ersten Sankas vor. Kommandos ertönten, aus dem großen OP rannten die beiden Sanitäter zum Eingang, um zu helfen. Am Ende des Ganges erschienen zwei Ordensschwestern mit wehenden weißen Hauben und bei jedem Schritt klappernden langen Rosenkränzen am Gürtel der Gewänder.
«An genau das habe ich gedacht, Lisa. «Der Professor schloß seinen weißen Kittel. Er trug darunter nicht seine Uniform, sondern eine weiße Leinenhose und weiße Gummischuhe über nackten Füßen. Es war heiß unter den altmodischen Operationslampen, und wer eine halbe Stunde gebeugt über dem OP-Tisch stand, dem floß der Schweiß in Strömen vom Körper.
Über den Flur wurden die ersten Bahren getragen. Eine helle, scharfe Stimme tönte durch das Scharren der Füße und das leise Stöhnen der Verwundeten.
«Wer wird denn hier Arien singen, was?«schrie eine Stimme.»Ein deutscher Soldat bleibt stumm, und wenn ihm der halbe Kopf wegfliegt!«
Lisa Mainetti deutete zum Ausgang hin.»Sie waren euer Untergang, Walter. Diese NS-Schreier.«
«Wo gehst du hin, wenn alles vorbei ist.?«
«Noch ist es nicht vorbei. Noch sind wir mitten drin.«
«Aber es wird nicht mehr lange dauern. Die Amerikaner stehen vor Aachen, die Russen marschieren an der Grenze im Osten. Es kann plötzlich kommen, Lisa. Wo wirst du hingehen, weißt du es schon?«
«Warum fragst du das jetzt, gerade jetzt? Draußen laden sie neue Menschen ohne Gesichter aus.«
«Sie sollten ein Anlaß sein, hart zu denken.«
Über den Flur kam eine große Gestalt im weißen Arztkittel. Auch sie trug Leinenhosen und weiße Gummischuhe, aber sie wirkten wie Reithosen und Stiefel. Ein schmaler Kopf mit kurzgeschorenen, braunen Haaren und blauen, kalten Augen.
«Zweiundzwanzig Neuzugänge für uns!«meldete der Arzt ein wenig lässig und sah Professor Rusch an.»Zwei von ihnen sind ganz schön 'rangenommen! Die sparen für ein Jahr das Rasieren. «Er lachte, aber verstummte sofort, als er den abweisenden Blick Lisa Mai-nettis sah.»Humor kennt man hier wohl nicht«, brummte er und steckte die Hände in die Taschen seines Kittels.
Oberarzt Dr. Fred Urban hatte eine gute und glatte Karriere hinter sich. Als HJ-Führer machte er sein Abitur, als Führer im NS-Stu-dentenbund studierte er Medizin, und als SA-Sturmführer absolvierte er seine Pflichtassistenzzeit in der Klinik. Von da ab ging es schnell aufwärts, er wurde im Polenfeldzug und im Frankreichkrieg Unterarzt und Assistenzarzt, bekam das EK I, weil er einen eingeschlossenen Hauptverbandsplatz verteidigte, bis ein Gegenstoß ihn wieder befreite, und wurde später dann als Spezialist nach Bernegg kom-mandiert. Hier führte er sofort für alle Verwundeten wöchentliche politische Schulungen ein und entdeckte, daß der Chefarzt Professor Rusch nur ein >Neu-Nazi< war und die Ärztin Dr. Mainetti ein schweres Kaliber von innerem Widerstand. Das alles festigte seine Position, und was ihm an ärztlicher Qualifikation fehlte, ersetzte er durch Forschheit und vaterländische Parolen.
«Warum brüllen Sie die Leute eigentlich so an?«fragte der Professor.»Muß das sein?«
«Ich kann Schlappheit nicht vertragen, Herr Oberstabsarzt!«
«Immerhin sind dies Menschen, die kein Gesicht mehr haben!«
«Na und? Ist das ein Grund.«
Oberarzt Dr. Urban machte in diesem Augenblick einen Satz zur Seite und schrie» au!«Dann starrte er entgeistert Dr. Lisa Mainetti an. Sie hatte eine lange Nadel in der Hand und lächelte ihm fast freundlich entgegen.
«Sehen Sie, lieber Kollege. Sie schreien >au!<, wenn man Sie in den Hintern sticht. Den anderen da draußen aber hat man das Gesicht weggerissen. Es kann sein, daß sich bei Ihnen das Gefühl vom Gesicht in den Hintern verlagert hat.«
Dr. Urban verzichtete auf eine Antwort. Mit vorgestrecktem Kopf rannte er aus dem Verbandsraum und schnauzte einen Sanitäter an, der nicht zur Seite sprang und ihn auch nicht grüßte. Professor Rusch schüttelte den Kopf.
«Du provozierst seine Feindschaft, Lisa. Er kann gefährlich werden. «Dann überzog ein Lächeln auch sein Gesicht.»Und eine Sprache hast du.«
«Ihr habt sie mich ja zwei Jahre lang gelehrt. «Dr. Lisa Mainetti ging hinüber in den OP. Die erste Trage wurde im Vorraum abgesetzt. Es war Erich Schwabe, der regungslos dalag und alle Geräusche in sich aufnahm und sie zu Bildern ordnete. An der Tür blieb Lisa stehen.»Mir ist oft, als sei ich selbst ein Mann geworden.«
Rusch sah sie an, und sie spürte in seinem Blick Wärme und Innigkeit.»Du brauchst nur einen Spiegel, um dir zu bestätigen, wie sehr du eine Frau bist.«
Die Sankas waren ausgeladen. Die Mehrzahl der Fahrzeuge fuhr zu Block A und C, der allgemeinen Chirurgie. Im großen OP lag ein Verwundeter auf dem Tisch. Oberarzt Dr. Urban wickelte die Verbände von seinem Kopf. Als die durchbluteten Zellstofflagen kamen, sagte er laut:»Hoppla, jetzt sei ein Mann, mein Junge!«und riß die Lagen mit einem Ruck ab. Der Verwundete schrie gellend auf und hieb mit Armen und Beinen um sich. Sein halber Unterkiefer war weggeschossen, er hatte keine Nase mehr und kein linkes Ohr. Blut sickerte wieder aus den aufgerissenen Wunden, der Verletzte wimmerte und wand sich in den Lederriemen, die man ihm schnell überwarf. Sehen konnte er nichts, ein riesiges Hämatom schloß ihm beide Augen.
«Man kann's auch anders machen!«sagte die Stimme Lisas hinter Dr. Urban. Der drehte sich nicht um, aber er schielte zu den beiden Sanitätern, die geflissentlich weg sahen.»Nun haben wir eine frische Blutung. Sollten Sie nicht wissen, daß Verbandmull an nässenden Stellen festklebt, weil das Wundsekret eintrocknet? Es wäre einfacher gewesen, mit einem Mullappen und einer wäßrigen Lösung mit H2O2 den Verband aufzuweichen und dann abzulösen.«
«Was man nicht alles verlernt hat«, sagte Dr. Urban spöttisch.»Wirklich… jetzt erinnere ich mich daran. Steht das nicht auch sogar im Handbuch für Erste Hilfe.?«
Dr. Mainetti wandte sich ab und ging zu der Trage, auf der Erich Schwabe lag. Dr. Urban fuhr herum, als er die Sanitäter grinsen sah.
«Mull, Tupfer und eine Schere, ihr traurigen Säcke!«brüllte er.»Stehen hier herum wie Bettnässer, die auf eine trockene Matratze warten!«
Lisa Mainetti beugte sich über den klebrigen, verbundenen Kopf Schwabes. Sie tastete nach seiner Hand, fühlte den Puls und las den Laufzettel, der Schwabe auf der Brust lag.
«Können Sie mich verstehen?«fragte sie. Schwabe nickte und drückte ihre Hand. Eine Frau, dachte er. Gott sei Dank, es ist nicht dieses Aas mit der kalten Stimme.
«Haben Sie Schmerzen?«
Schwabe nickte.
«Sie werden gleich eine Morphin-Injektion bekommen. Dann spüren Sie nichts mehr. Und haben Sie keine Angst. Es wird alles wieder gut werden. Ich werde mir jetzt Ihren Kopf ansehen.«
Schwabe fühlte, wie man etwas Nasses über sein Gesicht legte. Es durchdrang den Mull und kühlte wohlig seinen brennenden Kopf. Dann spürte er einen Einstich. die Injektion, dachte er. und dann glitt er weg in Schwerelosigkeit. So muß das Sterben sein, dachte er noch. Es ist gar nicht so schlimm.
Der Verband war durchweicht. Die Sanitäter hoben Schwabe auf den frei gewordenen OP-Tisch. Auch eine Ordensschwester war jetzt zugegen, in einem weißen Gewand und einer weißen Gummischürze. Dr. Urban hatte das Zimmer verlassen. Er kümmerte sich jetzt im Verbandsraum I um die weniger schweren Fälle und schnauzte sie an, wenn sie sagten:»Bitte Vorsicht, Herr Oberarzt. es klebt doch alles fest.«
Langsam wickelte Lisa Mainetti den Verband ab. Die Ordensschwester und ein Sanitäter hielten Schwabe an den Schultern in schwebender Lage und unterstützten seinen Kopf.
Gleich werde ich sehen können, dachte er. Gleich wird die Binde von den Augen kommen, und ich werde zum erstenmal wieder die Sonne sehen, ein menschliches Gesicht. ein Gesicht.
Als die durchbluteten Lagen kamen, weichte Lisa Mainetti sie noch einmal ein und kontrollierte vorsichtig, ob die Flüssigkeit durchgedrungen war.
Ich werde sehen können, dachte Schwabe. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Ich werde feststellen, ob man mich belogen hat, ob ich meine Augen noch habe oder ob es nur leere Höhlen sind, aus denen die Tränen kommen. Wenn ich sehen kann, ist es ja gut. Mein Gott, dann ist ja alles nicht so schlimm. Wenn ich nur meine Augen habe… bitte, bitte… nur die Augen noch.
Lisa Mainetti nickte. Die blutigen Zellstofflagen waren aufgeweicht. Mit einem Ruck hob sie sie schnell ab.