Kapitel 12

In der Nacht wachte Erich Schwabe plötzlich auf durch das Gefühl, es sei Licht im Zimmer. Er hielt die Augen geschlossen, nur durch einen Lidspalt beobachtete er, was um ihn geschah. Ursula hatte die Nachttischlampe angeknipst und sie mit einem Tuch verdunkelt. Sie saß im Bett neben ihm, mit zerwühltem Haar, aber ihre Trunkenheit war verflogen, sie hatte jetzt klare Augen und saß ruhig, ohne zu schwanken, neben Schwabe. Sie hatte die Hände flach auf die Steppdecke gelegt und sah ihren Mann an. Stumm, mit einem starren Blick, der wie festgesaugt war an dem Kreuz und Quer der rosa Leukoplaststreifen.

Schwabe bemühte sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, wie es ein Schlafender tut. Sein Herz begann wild zu zucken, der Hals wurde trocken, und bis in die Zehenspitzen hinein rieselte ein merkwürdiges, unerträgliches Kribbeln. Ruhig, dachte er verzweifelt, ruhig bleiben. Jetzt sieht sie mich richtig, und sie ist allein, sie braucht sich nicht zu verstellen, und niemand redet ihr gütig zu und versucht, mit Worten zu trösten, wo nicht zu trösten ist. Jetzt steht sie vor ihrer Entscheidung, jetzt weiß sie, wie das weitere Leben mit dem Glasergesellen Erich Schwabe aussehen wird, dem Mann, an dem sie nur noch die Augen und die Haare erkennt.

Ursula sah ihn noch immer an, stumm, unbeweglich, wie eine Puppe aus Wachs. Nur das Heben und Senken ihrer kleinen Brust bewies, daß Leben in diesem weißen, nackten Körper war.

Das ist Erich, dachte sie. Mein Mann Erich. Er hat den Krieg überlebt und sein Gesicht dabei geopfert. Und ich habe ihn betrogen, zwei Tage und zwei Nächte lang. Betrogen aus Angst vor der Ein-samkeit, aus Verzweiflung, aus Gier nach Wärme und Glück, aus Sehnsucht nach ein wenig Vergessen. Er könnte es nie begreifen, wenn ich es ihm sagte. Sie würden für immer zwischen uns bleiben, diese zwei Tage Selbstbetrug.

Sie zwang sich, sich tiefer über das verbundene und verpflasterte Gesicht zu beugen. Wie es unter den Verbänden aussah, konnte sie ahnen, wenn sie den Mund betrachtete. Wie ein Ungeheuer muß er aussehen, dachte sie und zog die nackten Schultern zusammen. Die Menschen werden zur Seite blicken, ein Kinderschreck wird er werden, ein herumgehender Alptraum: mein Mann Erich Schwabe.

Sie hob die Hand, und ganz sacht, damit er nicht aufwache, fuhr sie mit den Fingerspitzen über das verbundene Gesicht. Sie tastete über die neue Nase, über den lippenlosen, durch wulstige Narben fast verhornten Mund, über die abgehobelte Kinnspitze, und dann zurück über die Stirn, zu den abgerissenen Ohren, die Dr. Mainet-ti wieder angenäht hatte, aber die noch gerichtet und durch Knorpeleinpflanzungen wieder geformt werden mußten.

Rund um den Kopf strichen ihre zarten Finger, so wie ein Blinder seine Welt abtastet und damit in seinem Inneren ein Bild seines Lebensraumes schafft.

Als ihre Hand von seinem Kinn abwärts über seine Brust glitt, zuckten Schwabes Hände hoch und hielten Ursulas Finger fest. Wie Eisenklammern legten sie sich um sie. Ursula zuckte mit einem leisen Schrei zurück. Schwabe drehte den Kopf zu ihr, zur abgeschirmten Lampe, in das unbarmherzige Licht.

«Du — du schläfst nicht«, sagte Ursula stockend.»Warum schläfst du nicht, Erich?«

«Wie sehe ich aus, Uschi?«fragte Schwabe leise. Er blieb flach auf dem Rücken liegen, sah sie mit großen, bettelnden Augen an. Sein Blick glitt über ihren nackten, jungmädchenhaften Körper, über ihr schmales, süßes Gesicht, über die wilden blonden Locken. Bitte, bitte, sag etwas Liebes, flehte er stumm. Sag, daß du mich liebst. Es ist das Ende, wenn du mich wegstößt, das Ende.

«Wie sollst du aussehen, Erich?«Sie lächelte, und wenn es auch ein krampfhaftes Verzerren des kleinen Gesichtes war — es war ein Lächeln. Es war wie eine Sonne, eine herrliche, die Seele wärmende Sonne, ein Aufreißen des Himmels.

«Du bist eine Kugel aus Mull und Leukoplast.«

«Eine Kugel?«

«Ja. Weißt du noch — wir waren gerade zwei Monate verheiratet. Dein Freund Karl machte eine Fahrt mit dem Kegelclub nach Rüdesheim. Als er zurückkam, sah er so aus wie du. Er war betrunken über einen Schotterhaufen gefallen. Damals hast du gelacht und gerufen: Kerl, 'ne runde Kugel schiebt er, und als Mullkugel kommt er heim! Später hat man nichts mehr davon gesehen, bei dem Karl. Ganz glatt war sein Gesicht wieder.«

Schwabe hielt noch immer Ursulas Hand umklammert. Ihre Fröhlichkeit verwirrte ihn. Ist es Verzweiflung, dachte er, oder ist sie wirklich von jener kindlichen Sorglosigkeit, die Katastrophen hinnimmt mit dem Selbsttrost, es sei alles nicht so schlimm.

«Ich bin über keinen Schotterhaufen gefallen«, sagte er langsam.»Ich bin über eine Mine gefahren. Und in meinem Gesicht bleibt vieles zurück, nicht nur Narben. Ich werde einmal ganz anders aussehen. Ganz fremd. Begreifst du das, Uschi? Nur den Namen habe ich noch behalten.«

Sie schüttelte die Haare aus dem Gesicht und beugte sich über seinen Kopf.»Das ist nicht wahr«, sagte sie leise.»Die Augen sind noch von Erich Schwabe, und die Haare sind von Erich Schwabe, und die Brust und der Bauch, und die Schenkel und die Hände — es ist ja noch alles da von Erich Schwabe. Nur ein kleiner Teil ist anders geworden, ein bißchen von dem ganzen Erich Schwabe. Soviel ist ja noch da von ihm. Und sein Herz ist da — ich höre es ja, ich spüre es klopfen. «Sie legte den Kopf auf seine Brust und küßte die Herzgegend, schlang die Arme um ihn und preßte ihren kleinen, kalten Körper an ihn.»Es hat sich doch gar nichts geändert. Du bist doch da — du, mein Mann.«

«Ursula«, stammelte Schwabe mit erstickender Stimme.»Ursula, du weißt nicht, was du sagst.«

«Ich weiß, daß ich dich liebe, Erich.«

«Ursula!«Es war ein Schrei. Ihr Kopf auf seiner Brust zuckte zusammen, aber sie blieb liegen, und ihr nackter Körper drängte sich enger an ihn. Seine Hände umfaßten sie, glitten über ihren Rücken, tasteten über die Schulter, über ihre kleinen Brüste, über die glatte, weiße, unter einem zarten Haarflaum schimmernde Haut.

Mit der linken Hand warf er ein Kissen gegen die Lampe. Sie fiel vom Nachttisch, zerklirrte auf dem Boden und die Nacht stand wieder im Zimmer.

«Als wärest du nie weggewesen«, flüsterte sie.»Auch in der Hochzeitsnacht hast du die Lampen zertrümmert, weißt du noch?«

Pünktlich um 10 Uhr vormittags ratterte der Jeep mit Major Braddock und den beiden MP-Riesen den Hügel hinauf zur verlassenen Wolfach-Villa. Braddock fuhr wieder um das Haus herum zur Terrasse und stieg langsam und allein die wenigen Stufen vom Park hinauf.

Erich Schwabe und Ursula saßen glücklich, Hand in Hand, auf dem Sofa vor dem Kamin, als Braddock in den Salon trat. Sie hatten das Geschenk gefunden, das Braddock am Abend hatte liegengelassen: zwei große amerikanische Frühstückspäckchen. Ein Festmahl für zwei hungernde Menschen.

«Good morning!«rief James Braddock und blieb in der Fenstertür stehen.»Wieder klar, Mrs. Schwabe?«

«Es ist alles klar«, sagte Schwabe. Seine großen, blauen Augen glänzten voll Seligkeit.»Ich werde Ihnen das nie vergessen, Major.«

«Machen Sie keine großen Worte!«Braddock trat ein und schloß die Fenstertüre hinter sich.»Was ich gestern getan habe, kann mich ein Disziplinarverfahren kosten. Das wissen Sie! Ich nehme an, daß Sie alles, was geschehen ist, nur geträumt haben! Sie waren unten in Bernegg, ich habe Ihnen Ihre Frau gezeigt, sie durften zehn Minuten mit ihr sprechen, eine Ausnahme, nur, weil Sie Gesichtsverletzter sind — und dann haben Sie in einem Klassenzimmer übernachtet, weil es mir zu lästig war, Sie noch in der Dunkelheit aufs Schloß zu fahren.«

Schwabe und Ursula erhoben sich. Sie legte den Arm um ihn und lehnte den Kopf an seine Schulter.»So war es genau, Herr Major«, sagte Schwabe.»Nicht anders.«

James Braddock zeigte auf die Reste des Frühstücks.»Packen Sie das zusammen. Wir verlieren es auf dem Wege nach Bernegg. Und nun sagt euch auf Wiedersehen. Noch weiß keiner, wann die deutschen POWs entlassen werden. Es kann lange dauern. Diese Nacht muß vielleicht für ein Jahr dauern.«

«Sie reicht für das ganze weitere Leben, Herr Major«, sagte Schwabe.»Ich bin wieder ein Mensch.«

«Na, dann kommen Sie — Sie Mensch. «Braddock lächelte und strich Ursula über die Haare, als sie an ihm vorbeiging.»Meine Frau hat braune Haare«, sagte er.»Vor einem Jahr stand sie am Quai von New York und winkte unserem Schiff nach. Ist eine verdammt lange Zeit.«

Schwabe blieb auf der Terrasse stehen und sah an der Villa empor.»Wem gehört das Haus überhaupt?«fragte er.

«Keine Ahnung. «Braddock schob einen Kaugummi in den Mund.»Beim Einmarsch habe ich's gesehen, und gestern fiel es mir wieder ein, als ich ein Zimmer für euch suchte. Ich werde mich unten erkundigen. Und morgen ziehe ich nach hier um.«

In schneller Fahrt ratterten sie zurück nach Bernegg. Braddock und Ursula stiegen auf dem Schulhof aus, Schwabe blieb im Jeep sitzen, man wollte ihn sofort wieder ins Lazarett aufs Schloß bringen.

«Mach's gut, Uschilein«, sagte er, und keine Trauer war mehr in seiner Stimme, kein Abschiedsschmerz, nicht ein Funken Angst vor der Zukunft.»Und grüß Mutter. Erzähl ihr alles, hörst du? Nun bin ich bald zu Haus.«

Ursula nickte. Auch sie weinte nicht. Sie war glücklich, unendlich glücklich. Nun ist alles wieder gut, dachte sie. Nun ist alles überwunden. Ich habe keine Angst mehr, ich bin nicht mehr allein. Ich habe Erich wieder, und ich liebe ihn, liebe ihn noch mehr als früher. Wir brauchen uns gegenseitig, und darum kann uns nichts, nichts

trennen.

«Schreib mir, Erich!«rief sie, als der Jeepmotor wieder aufheulte.»Schreib mir jeden Tag. Und bleib gesund, hörst du. Und komm bald. Ich liebe dich — ich.«

Ihre Stimme ging unter im Knirschen der Reifen. Schwabe klammerte sich an den eisernen Einstieg und winkte zurück. Er lachte, er war wie ein fröhlicher, in die Ferien fahrender Junge, er war übermütig und schwenkte sein Schiffchen im aufwirbelnden Staub. Dann versank Bernegg, die Straße stieg an und schraubte sich zum Schloß empor.

«Very nice girl!«sagte der eine MP-Mann und grinste. Er schob Schwabe eine Packung Camel in die Rocktasche und klopfte ihm auf den Rücken.»In Amerika — ich habe a sweet girl.«

Die Stube B/14 stand bereit wie zum Rapport, als Erich Schwabe wieder im Lazarett erschien. Professor Rusch, Dr. Mainetti und die anderen Ärzte operierten wieder. Es war ein >Großkampftag<, wie es bei Baumann hieß.

Narben wurden ausgetrennt, Stiellappen verpflanzt, neue Rolllappen angelegt, aus dem Rippenbogen Knorpel für eine Ohrmuschel transplantiert und zwei Unterkiefer gerichtet und mit einem Reichen-bachschen Heftpflasterverband ruhiggestellt und sorgfältig geschient.

Ohne Formalitäten setzten die MP-Männer Erich Schwabe vor der Hauptwache ab, fuhren zurück nach Bernegg. Am Fenster der Stube 14 stand Walter Hertz, und als er Schwabe durch das Tor kommen sah in den Vorgarten, winkte er mit beiden Armen und rief in das Zimmer hinein:»Er kommt!«

«Sieht zehn Jahre jünger aus!«sagte der Berliner, als Schwabe in der Stube stand und seinen Rock auszog.»Wat det ausmacht, Kinder!«

«Und träumen wird a!«rief der Wastl.»A Gaudi wird's, wenn wir ihn im Schlaf ausfragen!«

«Laß die blöden Hunde quatschen!«sagte Fritz Adam.»Und be-halt's für dich. Das kann dir niemand nehmen.«

Walter Hertz nahm Schwabe zur Seite. Die Augen in seinem schiefen Gesicht waren voller Erwartung.

«Hast du was gehört von Petra, Kumpel?«

«Petra, Nee.«

«Petra Wolfach. Kann ja sein, daß irgendwo der Name gefallen ist. Hast du nichts gehört?«

«Nein. «Erich Schwabe schüttelte den Kopf.»Ich hätte fragen können, ich weiß, Walter. Aber ich habe nicht daran gedacht. Ich habe nur meine Frau gesehen. Es war so kurz. Du mußt das verstehen, Junge. Ich habe an nichts anderes gedacht.«

«Schon gut, Erich. «Walter Hertz nickte ein paarmal.»Wenn sie noch in Bernegg wäre — bestimmt hätte sie etwas von sich hören lassen. Ganz bestimmt.«

«Das glaube ich auch.«

Gegen Mittag kam Dr. Mainetti zur Visite. Sie gab Schwabe die Hand, aber sie fragte nichts. Sie sah seine glänzenden Augen und nickte ihm zu.»Übermorgen machen wir einen wunderschönen Rollappen für die neue Nase«, sagte sie.»Hier von der Brust, entlang des Sternums nehmen wir ihn. «Sie tippte Schwabe auf die Brust.»Da Sie keine Frau sind, macht so eine Narbe auf der Brust ja nichts aus.«

«Das kann man nie sagen«, antwortete Schwabe fröhlich.»Da legt Uschi oft ihren Kopf drauf.«

Lisa Mainetti lachte.»Ihnen geht es gut, was?«sagte sie, und die Freude machte auch sie glücklich. Er hat es geschafft, dachte sie. Er hat das innere Grauen überwunden.»Dann muß sich Ihre Uschi eben auf die linke Brustseite legen. Platz genug ist immer noch da.«

«Jawoll, Frau Doktor!«rief er.

Es war ihm, als sei die ganze Welt auf Hochglanz poliert.

Wieder brauchte Ursula fast drei Tage, bis sie an einem späten Nachmittag in Köln vor der amerikanischen Pontonbrücke stand und langsam über die schwankenden Stege ging. Niemand sah sie an. Sie war schmutzig, verrußt, verstaubt, die verklebten Haare lagen um ihren Kopf, als seien sie ein nasses Fell.

Sie ging durch die zerstörte Stadt, durch diesen Riesenwald von Trümmern und Ruinen, durch einen neuen Mond mit Kratern und bizarren Felsen, in denen die Menschen wie Maulwürfe wühlten,

Steine schichteten, Schutt wegschaufelten und aus angekohlten Balken neue Zimmergerüste bauten.

Wie es sich gleicht, dachte Ursula. Ein zerstörtes Gesicht und eine zerstörte Stadt. Und an beiden wird neu gebaut.

In den Trümmern des Hauses Horst-Wessel-Straße 4 — das Straßenschild war jetzt abmontiert und jemand hatte mit Farbe auf ein Stück Blech >Rathenaustraße< geschrieben — saß der Maurer Karlheinz Petsch und klopfte Ziegelsteine sauber. Einen großen Berg hatte er schon neben sich liegen, schön geschichtet. Sie reichten bereits für zwei Mauern eines neuen Zimmers.

«Guten Tag, Mädchen!«rief Petsch und winkte mit dem Hammer und einem Flachmeißel.»Geh 'runter zu Muttern! Ich habe euch zwei Pfund Pferdefleisch mitgebracht — für 'n zünftigen Sauerbraten!«

Ursula senkte den Kopf und antwortete nicht. Dann rannte sie wie gehetzt die Kellertreppe hinunter, und schon auf den ersten Stufen roch sie deutlich den im Brattopf schmorenden leckeren Braten.

Mitte September — das Leben hatte sich etwas normalisiert, die Stadtsteuerämter arbeiteten wieder, und die Verwaltung war notdürftig aufgebaut und konnte sich um kommunale Dinge kümmern, um Lebensmittelbeschaffung, um Aufräumungsarbeiten, um Bereitstellung von Notquartieren und Ausgabe der Renten — fuhr Major James Braddock wieder einmal vor dem Schloß vor. Er kam fast jede Woche, um zu kontrollieren, ob alles vorhanden sei und keine Klagen vorlägen, denn die Besatzungstruppen hatten Verwaltung und Versorgung der Lazarette voll übernommen.

Der Besuch an diesem Septembertag aber war außerplanmäßig und streng dienstlich. Zwei Jeeps mit MP begleiteten Braddock, und diese stämmigen Burschen mit den weißen Helmen nahmen Posten im Flur vor dem Chefarztzimmer, als Braddock den Block B betrat.

Dr. Mainetti, die aus dem Chefzimmer wollte, um dem Major entgegenzugehen, wurde mit dem Lauf einer Maschinenpistole zurückgehalten. Man stieß sie ihr vor die Brust.

«No!«sagte der Posten hart.

«Sind ihre Leute verrückt geworden, Major?«rief Lisa Braddock entgegen, der den Flur entlang kam.»Geht der Krieg weiter?«

«Er ist gar nicht zu Ende gegangen, Miß Mainetti!«sagte Braddock knapp. Daß er sie Miß Mainetti statt Miß Doktor nannte, war ein Zeichen, daß James Braddock jetzt nichts anderes mehr war als ein Offizier der Siegermacht. Eine Uniform mit einem Befehl.

Er trat an Dr. Mainetti vorbei ins Chefzimmer, winkte, die Tür zu schließen, und sah Professor Rusch ernst an, der einige Röntgenplatten aus der Hand legte und sich erhob.

«So ernst, Major?«fragte er.»Wer ist Ihnen über die Leber gelaufen?«

«Sie, Professor!«

Dr. Mainetti schüttelte den Kopf.»Ich weiß nicht, Walter, was plötzlich los ist. Draußen sperrt MP alles ab, stößt mich mit dem Gewehr vor die Brust, der Major ist sauer wie eine unreife Zitrone. Wir haben hier doch keinen Föhn, der alles verrückt macht!«

Professor Rusch kam um seinen Schreibtisch herum. Er streckte Braddock die Hand entgegen, zog sie aber schnell zurück, als er merkte, daß der Major sie kühl übersah.

«Darf ich fragen — «, Professor Rusch sah auf den kleinen Offizier herab.

«Wir haben ihn verhaftet, Professor«, sagte Braddock laut.»Er hielt sich in Frankfurt auf. Peter Weller nannte er sich jetzt, er hatte sogar einen Paß auf diesen Namen. Aber nach sechs Stunden Verhör gab er es zu.«

«Wer?«fragten Rusch und Lisa fast gleichzeitig.

«Dr. Urban!«Braddock sah von Dr. Mainetti zu dem Chefarzt.»Er wurde erwischt, als er aus der US-Heeresapotheke Morphin stehlen wollte.«

«Kein Irrtum. Er ist es!«sagte Lisa hart.

«Natürlich ist er es!«James Braddock wandte sich wieder Professor Rusch zu.»Und der Junge hat ausgepackt! Warum haben Sie mir verschwiegen, Professor, daß Sie ein alter Parteigenosse sind?«

Rusch sah verblüfft Lisa Mainetti an.»Was soll ich sein? Ein al-ter PG? Ausgerechnet ich?«

«Sie haben sogar das Goldene Parteiabzeichen! Als Spezialist für Gesichtsverstümmelungen waren Sie Mitglied einer Kommission, die unheilbare Fälle für die Euthanasie vorschlug.«

«Aber das ist doch Wahnsinn!«rief Lisa Mainetti.»Wer hat diesen Irrsinn erzählt?«

Major Braddock winkte ab.»Es ist uns bekannt, daß Sie, Professor Rusch, viermal bei der Dienststelle v. Unruh angerufen und um eine Auskämmkommission gebeten haben. Gott sei Dank ohne Erfolg!«

«Die sind wirklich verrückt, Walter!«sagte Dr. Mainetti.»Gerade du, der sich gegen Oberst Mayrat stemmte, der.«

Major Braddock hob die Schultern.»Die Beschuldigungen sind in den Akten! Wir haben die Pflicht, sie nachzuprüfen. Ich muß Sie bitten, mitzukommen, Professor!«

«Verhaftet?«fragte Rusch leise. Sein Gesicht war fahl.

«Wieso? Sie sind Kriegsgefangener. Sie werden nur verlegt! In ein Lager, wo man Sie verhören muß und die Wahrheit feststellen wird.«

«Ich kann die Wahrheit beschwören, Major!«rief Lisa Mainetti.»Alles ist eine Lüge, ist haltloser Blödsinn! Kein Mann hat so für seine Verwundeten gesorgt wie Professor Rusch. Wie seine Söhne hat er sie geliebt und.«

Braddock wedelte mit beiden Händen durch die Luft.

«Keine romantischen Erzählungen, Miß Mainetti. Wir drehen keinen Hollywoodfilm, sondern es geht um Verbrechen gegen die Menschlichkeit.«

«Professor Rusch — und Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Müssen Sie nicht selbst darüber lachen, Major?«

«Nicht mehr! Es liegen konkrete Aussagen und Angaben vor.«

«Von wem denn, um Himmels willen!«rief Rusch.

«Von Dr. Urban.«

Lisa und Rusch sahen sich lange an. Sie wußten in diesem Augenblick, daß jedes weitere Wort umsonst gesprochen wäre. Nur eine gründliche Rehabilitierung konnte die Unschuld Ruschs ergeben. Aber diese Rehabilitierung konnte Monate dauern.

«So ein verdammtes Schwein!«sagte Lisa leise.

«Das ist er!«Major Braddock winkte Rusch, sich für das Mitkommen fertigzumachen.»Es ändert aber nichts, daß wir alles nachprüfen müssen. Wir haben unsere Befehle.«

«Natürlich, natürlich. «Professor Rusch zog seinen weißen Arztkittel aus. Er nahm seinen Offiziersrock mit dem leuchtenden POW auf dem Rücken, warf ihn über, und Lisa knöpfte ihn mit zitternden Fingern zu.»Was muß ich mitnehmen, Major!«

«Das Nötigste. Was man so braucht.«

«Wie lange wird es dauern?«

Braddock hob die Schultern.»Wir haben einige tausend Fälle nachzuprüfen. Vielleicht ein Jahr.«

«Ein Jahr?«stammelte Lisa Mainetti.

«Auch das wird vorbeigehen. «Rusch zögerte. Dann nahm er Lisas Gesicht zwischen seine Hände und küßte sie innig. Braddock drehte sich um und scharrte mit den Schuhspitzen.»Ich weiß, daß du auf mich wartest, Lisa«, sagte Rusch leise.

Sie nickte in seinen Händen, und zum erstenmal sah er, daß sie schwarze Augen hatte und daß sie weinen konnte, ohne das Gesicht zu verziehen.

«Ich warte auf dich, Walter«, flüsterte sie.»Es ist mir jetzt, als habe ich auf dich mein ganzes bisheriges Leben gewartet. Paß auf dich auf, ja, und komm gesund zurück!«

Braddock drehte sich wieder um.»Er wird nach Darmstadt kommen«, sagte er.»Beste Nazigesellschaft! Jeden Tag müssen wir die politischen Camps vergrößern.«

Rusch packte einen kleinen Koffer. Noch einmal küßte er Lisa Mai-netti, dann riß er sich los aus ihren umklammernden Armen und ging Major Braddock nach, der schon über den Flur stampfte. Drei riesige MP-Männer folgten Rusch, die Maschinenpistole im Anschlag.

Aus den Türen der Krankenzimmer sahen die Gesichtsverletzten und starrten dem seltsamen Zug nach. In der OP-Tür standen die Ärzte und Schwestern, der Famulus Baumann und die Oberschwester.»Das ist doch ein idiotischer Irrtum!«rief Dr. Vohrer.

«Auf Wiedersehen, Jungs!«rief Professor Rusch mit bebender Stimme.»Auf Wiedersehen. Ich komme ja zurück.«

«Wenn jetzt och noch die Amis verrückt werd'n — wat bleibt denn da von der Welt noch übrich?«schrie der Berliner.

Major Braddock senkte den Kopf. Wie ein wütender Stier rannte er aus dem Lazarett. Professor Rusch stieg in den zweiten Jeep, zwei Maschinenpistolenläufe in seinem Rücken. Er sah sich nicht einmal um, als er in rasender Fahrt abfuhr. Er hielt seinen Kopf sehr gerade, und seine weißen Haare flatterten wild im Wind.

Das Lazarett war verwaist. Allen kam es so vor, auch wenn Dr. Mainetti nun die ärztliche Leitung übernahm und zusammen mit dem amerikanischen Arzt Dr. Red Stenton, diesem stillen, wortkargen Chirurgen aus New Orleans, die laufenden Operationen durchführte. Er war ein guter Allgemeinchirurg, aber von der Wiederherstellung eines Gesichtes verstand er wenig. Er legte die Rollappen an und meißelte die Knochenspäne aus den Schienbeinen, aber die eigentliche Formung des Gesichtes, diese Feinarbeit mit größtem Fingerspitzengefühl, machte Dr. Mainetti allein und ließ Dr. Stenton nur assistieren.

James Braddock kam jetzt dreimal wöchentlich. Er saß im Chefzimmer herum und starrte gegen die Wände, trank seinen Whisky und kaute seinen Gummi und kam sich ungerecht behandelt vor, weil ihn Lisa nie ansprach, ja nicht einmal beachtete. Ob er im Zimmer saß oder nicht — Braddock hatte das Gefühl, daß er überhaupt nicht vorhanden war.

«Ich kann doch nichts dafür!«sagte er einmal, als Lisa Mainetti über Dr. Stenton mit Braddock sprach und auf diesem Umweg, obgleich sie alle zusammen in einem Zimmer standen, neues Verbandsmaterial bestellte.»Ich habe nur meine Pflicht getan!«

«Es war Ihre Pflicht, die Haltlosigkeit dieser Beschuldigungen einzusehen«, sagte Lisa bitter.

«Man hat mich im Generalkommando nicht um meine Ansicht gefragt, sondern mir einen Auftrag erteilt!«

«Die gleiche Sturheit wie bei den Preußen!«

«Sie ist in allen Armeen zu Hause, Miß Doktor. Ein selbständig denkender Soldat ist ein Kuriosum!«

«Die Beschuldigungen eines solchen Schweines wie Dr. Urban zu glauben!«rief Lisa aufgebracht.

«Es wird sich alles herausstellen.«

«Natürlich — aber ein Jahr hat Professor Rusch verloren!«

«Wenn die Deutschen nicht mehr verlieren als nur ein Jahr, sind sie ein glückliches Volk!«Braddock setzte seine Mütze auf.»Ihre Nation hat den Krieg verloren, Madam. Man sollte das nach vier Monaten nicht schon vergessen haben!«

«Danke für den Nachhilfeunterricht, Major.«

Sie ließ Braddock mit Dr. Stenton im Chefraum zurück und ging auf ihr Zimmer.

Mitte September kam wieder ein Sack voll Post nach Bernegg. Famulus Baumann verteilte sie unter Bewachung von Leutnant Pot-kins. Die gesamte Stube B/14 war diesmal dabei. Der Wastl bekam einen Brief aus Berchtesgaden, Ursula Schwabe hatte geschrieben, eine Tante von Fritz Adam, die Mutter von Kaspar Bloch aus Flensburg. Und dann rief Baumann die Namen von zwei Menschen auf, für die ein Brief, ein dünnes, fleckiges Kuvert mit vielen Leitvermerken, eine Seligkeit, ein Taumel des Glückes bedeutete:

Paul Zwerch, der Berliner, hielt seinen Brief in der Hand, und er heulte und zeigte Baumann den Absender und begriff es nicht.

«Meine Mutter, Junge, meine Mutter. In Braunschweig is se jetzt, 'raus aus Berlin. Keen Russe kann ihr wat wollen. Se lebt — Baumann, du stures Rindvieh — se lebt!«

Der zweite Glückliche war Walter Hertz. Petra hatte geschrieben. Ein schmales, rosa Kuvert hielt er in den Fingern und las immer wieder seinen Namen, den Ihre Hand geschrieben hatte. Woher der Brief kam, wußte er noch gar nicht, was in ihm stand, hatte er noch nicht gelesen. Es war ein Brief von ihr — nach den langen Mona-ten verzehrenden Wartens.»Sie hat mich nicht vergessen«, stotterte er, und sein schiefes Gesicht wurde noch formloser.»Ich habe es gewußt, Jungs, ich habe es gefühlt, sie denkt an mich!«

Dann war Ruhe in der Stube. Die Sechs saßen auf ihren Betten und lasen ihre Briefe. Erich Schwabe wischte sich immer wieder über die Augen und zerwühlte sich mit der linken Hand die Haare.»Das — das sollte nicht sein«, sagte er.»Meine arme Uschi. «Er ließ den Brief auf das Bett flattern und stierte vor sich auf das Kissen.»Was mach' ich denn jetzt?«dachte er laut.»Was kann ich denn jetzt bloß machen?«

Fritz Adam, auf dem Nebentisch, beugte sich herüber.»Was ist denn wieder los, Erich?«fragte er leise.

«Uschi bekommt ein Kind!«

«Mensch, freu dich doch! Nun ist doch überhaupt alles kein Problem mehr.«

Schwabe schüttelte langsam den Kopf.»Wer sorgt denn für sie, gerade jetzt, in diesem Zustand. Sie haben doch nichts zu essen, Fritz. Keiner ist da, der ihnen etwas extra besorgen könnte. Jetzt braucht Uschi doch Obst und Fett und Gemüse. Und das Kind braucht es doch auch. Wenn ich jetzt zu Hause wäre, ja, da wäre das anders. Als Glaser kann ich arbeiten, kann ich tauschen, kann ich hintenherum was kriegen. Und nun sitze ich hier. Nicht mal bei der Geburt bin ich dabei. Wir haben uns immer so sehr auf das erste Kind gefreut, Fritz.«

Der Wastl, auf seinem Bett, räusperte sich laut.»Flüchtlinge aus Dresden hab' i kriagt«, sagte er.»An Professor der Zoologie. Jetzt will der mei Hühner kreuzen und veredeln! Aba vun an Neger schreibt's nix, die Resi. Sakrament!«

«Sie ist in Mannheim. Ganz allein ist sie da«, sagte Walter Hertz.»Ihr Vater ist in München. In einer Kantine der US-Airforce arbeitet sie. Wenn's geht, will sie mir ein Paket schicken.«

«Mein Vater liegt in Münster im Lazarett. Kurz vor Kriegsende ist er noch verwundet worden, am Bein. «Kaspar Bloch schüttelte den Kopf.»Sie haben meinen Vater einfach abgeholt und in eine Uniform gesteckt. Und eine Panzerfaust haben sie ihm gegeben. Er hat noch nie eine Panzerfaust in der Hand gehabt. Bevor er damit etwas anstellen konnte, wurde er verwundet. Mehr weiß Mutter auch nicht. «Kaspar Bloch sah sich um. Überall blickten ihn glückliche Augen an.»Aber er lebt, das ist die Hauptsache.«

«Mir is, als ob ick Weihnachten hätte«, sagte der Berliner leise.»Und ick hab' 'n Stück von 'n Engelflüjeln erwischt!«

In ihrem Zimmer saß Lisa Mainetti ebenfalls in einen Brief versunken und durch das Fenster in die Weite des Landes blickend. Professor Rusch hatte geschrieben. Aus dem Lager Darmstadt. Man hatte ihn mit Dr. Urban zusammengeführt und die beiden Männer einander gegenübergestellt. Und Dr. Urban hatte alles, was er gegen Rusch vorbrachte, alle Lügen, beschworen.»Meine Lage ist nicht rosig«, schrieb Rusch ehrlich.»Man wird natürlich alles nachprüfen. Aber wenn die Akten verbrannt oder vernichtet sind, wenn es keine Gegenbeweise gegen diesen gemeinen Eid gibt, kann ich einer der Letzten sein, der Darmstadt verläßt.«

Lisa Mainetti faltete den Brief zusammen. Natürlich, dachte sie. Urban beschwört alles. Er hat nichts mehr zu verlieren. Was macht ihm noch ein Meineid aus? Jetzt kann er die Rache nehmen, die ich ihm immer aus den Händen schlagen konnte. Und was die Nazis nicht konnten, unternehmen jetzt die Amerikaner — die Vernichtung eines Mannes, der nur die Wahrheit denkt. Zu späten Handlangern Hitlers werden sie. Und sie ahnen es nicht!

Sie ging hinüber zum Chefzimmer und rief Major Braddock an. Er war sofort am Apparat, als habe er schon auf den Anruf gewartet.

«Professor Rusch hat geschrieben«, sagte sie. Braddocks Stimme war gleichgültig.

«Ich weiß. Ich habe mir erlaubt, diesen Brief zu öffnen.«

«Natürlich. Sie sind ja auch der Sieger!«sagte Lisa giftig.

«Professor Rusch wird nicht lange in Darmstadt bleiben«, sagte Brad-dock.»Diese Stelle seines Briefes ist ein Fehlgedanke.«

In Lisas Brust zuckte es schmerzhaft.»Woher — woher wollen Sie das wissen, Major?«fragte sie atemlos.

«Aus einigen Berichten, Madam! Kennen Sie Wernher v. Braun?«

«Nie gehört.«

«Ein Genie. Er konstruierte für die Deutschen die V 1 und die V

2 mit. Ein Fachmann für Raketen und Weltraumträume. Er ist auf dem Wege nach den USA! Er wird bei uns arbeiten, für uns. Mit Möglichkeiten, die er sich nie hat träumen lassen in seinem kleinen Peenemünde.«

«Was hat das mit Professor Rusch zu tun?«

«Professor Rusch steht als Fachmann für Gesichtsplastiken auf ebenso einsamer Höhe wie dieser Wernher v. Braun auf dem Gebiet der Raketentechnik. Es wäre nur logisch, wenn mein Land auch diesen Fachmann gebrauchen könnte.«

«Das sind Phantastereien, Major Braddock!«

«Ich habe es schon kurz nach dem Einmarsch angedeutet, erinnern Sie sich?«

Lisa nickte stumm. Natürlich erinnerte sie sich an dieses Gespräch. Rusch hatte schon damals an diese Möglichkeit geglaubt, und wollte zusagen, wenn sie ihn nicht heiraten würde. Nun war alles verändert, Rusch würde Deutschland nie verlassen.

«Er wird ein Angebot nicht annehmen«, sagte Lisa fest.

«Dann wäre er ein dummer Mensch, Miß Doktor! Warum sollte er es nicht?«

«Er weiß, daß er hier gebraucht wird! Wir haben den Krieg verloren, jawohl. Aber es wird auch wieder einen Aufbau geben. Man kann ein 70-Millionen-Volk nicht von der Landkarte löschen. Und darum müssen Männer hierbleiben, die dem blutenden Volke wieder die Wunden verbinden.«

«Dieser verdammte deutsche Nationalismus!«schrie Braddock. Dann klirrte es in der Leitung. Es war, als ob Braddock das Telefon vom Tisch geschlagen hätte.

Karlheinz Petsch, der Maurer und ehemalige Fliegerfeldwebel, hatte sich einen Keller in der neubenannten Rathenaustraße fast feudal ausgebaut. Er hauste dort wie ein kleiner Fürst, beneidet und umschmeichelt von allen, von den Frauen versteckt oder offen mit Angeboten überhäuft, die er je nach Laune wie auf einem orientalischen Markt aushandelte: Ein Pfund Speck hat den Wert von zwei Nächten, zwei Koteletts bedeuten zwei Stunden und zwei Pfund Hülsenfrüchte — na ja, man ist ja nicht kleinlich.

An Ursula Schwabe trat er mit solchen Angeboten nicht heran. Im Gegenteil, aus einer unerklärlichen Dankbarkeit und fast hündischen Anhänglichkeit heraus schaffte er alles heran, was Frau Schwabe und Ursula brauchten. In seiner Freizeit saß er in den Trümmern des Hauses Nr. 4 und klopfte Steine, schichtete Balken und Bretter und planierte die Kellerdecke, um Platz für das Aufsetzen der neuen Wohnungswände zu bekommen.

«Er soll gehen!«hatte Ursula in den ersten Tagen nach ihrer Rückkehr aus Bernegg geschrien.»Ich will ihn nicht mehr sehen. Warum jagst du ihn nicht fort?«

Frau Schwabe hatte die Schultern gehoben. Sie war dünn und eingefallen und ging neuerdings etwas nach vorn gebeugt. Sie hungerte, man sah es ihr an, und sie hatte fast alle ihre Kraft verbraucht in den Monaten vor dem Einmarsch der Amerikaner in Köln und bis zum Waffenstillstand. Nun war sie nur noch eine alte, gebeugte Frau, die Hunger hatte. Er hatte ihren eisernen Willen zerfressen, ihre Vitalität, ihre mütterliche Autorität. Es war ein körperlicher Zusammenbruch, von dem es kein Aufrichten mehr gab.

«Ich kann ihm nicht verbieten, nebenan zu wohnen«, sagte sie schwach.»Und wenn er die Steine abklopft — laß ihn doch!«

«Du weißt, warum er es tut!«rief Ursula verzweifelt.

«Es liegt nur an dir!«Frau Schwabe schälte Kartoffeln. Sie schabte sie ab, damit nicht zuviel mit der Schale verlorenging.»Wenn du Erich liebst, ist es gleichgültig, ob dieser Mann da draußen Steine für uns klopft. Die Liebe schützt dich vor allem! Und außerdem baut er unser Haus wieder auf.«

«Und eines Tages wird er die Rechnung vorlegen«, sagte Ursula dumpf.»Und du weißt, was er dann verlangt!«»Dummheit! Er weiß, daß es sinnlos ist. Ich habe lange mit ihm gesprochen. Er ist nur dankbar.«

«Dankbar wofür?«

Frau Schwabe schwieg. Sie dachte daran, wie sie nach dem Weihnachtsbesuch bei Erich nach Köln zurückkam, unverhofft und früher. Damals hatte sie einen Augenblick die wilde Lust verspürt, ihre Schwiegertochter zu töten, einfach zu töten mit einem Küchenmesser, mit einem Kessel kochenden Wassers, mit einem großen Stein. Sie hatte Erich verraten, mit einem anderen Mann betrogen, sie hatte diesen armen, um Liebe flehenden Menschen ohne Gesicht aus ihrem Herzen verjagt. Aber dann war in Frau Schwabe dieses Gefühl des Tötenmüssens verflogen. Etwas wie Mitschuld hatte sie verspürt, die Strafe für ihren Egoismus, ihrem Sohn Erich in der größten Not alles sein zu wollen, Mutter, Frau, Zukunft und die ganze Liebe.

«Wir haben uns gegenseitig versprochen, nie mehr darüber zu reden«, sagte Frau Schwabe ernst.»Erich wird es nie erfahren.«

«Ich werde es ihm erzählen, wenn er wieder zu Hause ist.«

«Aber warum denn?«

«Ich will nicht mit dieser Lüge im Herzen mit ihm weiterleben. Und darum muß dieser Petsch weg. Ich will ihn nicht mehr sehen, ich will an nichts, an gar nichts mehr erinnert werden.«

Frau Schwabe hob hilflos die Arme.»Wir können ihm nur verbieten, nicht mehr in unser Haus zu kommen.«

Drei Tage nach diesem Gespräch ging Ursula zu Karlheinz Petsch hinaus in die Trümmer. Er saß wieder in den Ruinen des Schwab-schen Hauses, klopfte Ziegelsteine sauber und stapelte sie. Es war ein heißer Abend, staubig und windstill, und Petsch saß zwischen den zerborstenen Mauern mit nacktem Oberkörper, eine alte Feldmütze über den verschwitzten Haaren, zwischen den Zähnen eine dicke Pfeife, in der er besten amerikanischen goldgelben Tabak rauchte.

«Na, Mädchen?«sagte er und reckte den muskulösen Oberkörper.»Das ist nett, daß du mich doch noch kennst.«

«Wie stellst du dir das vor?«fragte Ursula laut.

«Was heißt vorstellen? Ich warte — und arbeite dabei. Nächsten Mo-nat bekomme ich Zement, woher, wird nicht verraten. Und dann geht's los, Kleine. Erst die Umfassungsmauern, dann die Zwischenwände. Ich hab' mir gedacht, vier Zimmer reichen fürs erste, was? Nur mit dem Dachdeckermaterial, da klappt's noch nicht so richtig. Da muß ich mir erst die Verbindung suchen.«

«In drei Monaten etwa wird Erich zurückkommen!«log Ursula.

Karlheinz Petsch nickte eifrig.»Um so besser! 'n tüchtiger Glaser ist was wert! Um so schneller geht's mit der neuen Wohnung. Ein Maurer und ein Glaser — Mädchen, wenn wir nicht in Kürze alles haben, was wir brauchen, will ich wie Göring Meyer heißen!«

«Und worauf willst du warten?«fragte Ursula heiser vor Angst.

«Auf das, was wird!«Karlheinz Petsch legte seinen Hammer und den Flachmeißel hin.»Du liebst deinen Mann, ich weiß es, Uschi. Was zwischen uns war — Schwamm darüber. Ist ja auch lange her. Aber ich sprech' auch nicht mehr darüber. Du kannst's vergessen, ich tu's nicht. Heute zum letztenmal, Ehrenwort! Aber ich weiß, daß es nicht gut gehen wird, Uschi, nicht auf die Dauer. Jetzt hast du noch Mitleid mit dem Erich, und du redest dir ein, daß du ihn mehr liebst als früher — ja, wink nicht ab, laß mich weitersprechen. Diese ganze große Liebe, die du jetzt spürst, ist nur Mitleid, nur Selbstbetrug, ist wie eine Morphiumspritze, die du täglich nimmst, um dir was vorgaukeln zu lassen. Aber wenn der Erich zu Hause ist, und wenn du täglich, stündlich, jede Minute um ihn bist, und wenn die andern weggucken, wenn er kommt, und die Kinder ihm nachlaufen — und Kinder sind so grausam, Uschi —, das ist wie ein steter Tropfen, Uschi, das höhlt dich aus. Und eines Tages bist du fix und fertig und kannst nicht mehr. «Petsch sah sie groß an.»Darauf warte ich. Auf diesen Tag, dann nehm' ich dich zu mir, damit du nicht völlig zusammenklappst.«

«Such dir eine andere Frau!«schrie Ursula wild.»Du hast ja Auswahl genug. Sie laufen dir ja den Keller ein.«

Petsch schüttelte langsam den Kopf.»Das sind Weiber«, sagte er mit tiefer Verachtung in der Stimme.»So etwas wirft man weg wie einen faulen Apfel, von dem man ein Stückchen abgebissen hat. Aber dich liebe ich, Uschi. Ich kann nun mal nichts dafür. Und wenn ich mich geirrt habe, dann habe ich eben Pech gehabt!«

«Du hast dich geirrt! Ich kann es dir schon jetzt sagen. Du brauchst nicht zu warten. Ich liebe Erich, und ich bleibe bei ihm — ganz gleich, was noch kommt!«rief Ursula.

Karlheinz Petsch drückte bedächtig den Daumen auf die heiße Asche in seiner Pfeife und preßte den brennenden Tabak etwas zusammen. Dabei sah er von unten her Ursula nachdenklich und fast mitleidig an.

«Du weißt gar nicht, was kommt, nicht wahr?«sagte er langsam.»Du hast dir gar keine Gedanken darüber gemacht, was? Der Erich kommt nach Hause, und alles ist wieder gut. Mädchen, wenn das so einfach wäre. Das ist ganz anders! Das fängt schon damit an, daß wir den Krieg verloren haben. Solange Krieg war und erst recht, wenn wir den Krieg gewonnen hätten, war es mit dem Erich eine sichere Sache. Er bliebe im Lazarett, er würde operiert, man machte ihm eine neue Nase, neue Ohren, neue Lippen, neue Backen und was weiß ich, was ihm alles fehlt. Und wenn er dann wieder leidlich vernünftig ausgesehen hätte, hätte man ihn entlassen und gesagt: >Nun mach deine Arbeit weiter, Erich Schwabe.< Aber das ist doch alles vorbei, Mädchen! Jetzt wird er aus dem Lazarett 'rausgeworfen, sobald er wieder essen kann — meinetwegen macht man ihm auch noch die Nase. Aber dann ist Schluß! Wie kommen die Amis dazu, dem Erich Schwabe jahrelange kosmetische Operationen zu bezahlen? Er wird als normaler Kriegsgefangener eines Tages — vielleicht schon vorzeitig — entlassen, und dann ist er da! Ohne Gesicht! Essen kann er, sich die Nase putzen kann er auch wieder — und das ist alles! Kein Schwein wird sich um ihn kümmern, denn er ist ja — wie's so schön heißt — funktionsfähig! Und 'ne Rente wird man ihm in die Hand drücken, für die er sechs Ami-Zigaretten kaufen kann. Und jede Operation an seinem Gesicht, jede Narbe, die er wegnehmen läßt, jede neue Verpflanzung, einfach alles, was über dem >funkti-onsfähig< liegt, muß er aus eigener Tasche bezahlen. Das kostet Tausende — und hat er die, Mädchen? Was ist also los, wenn der Erich

kommt? Er wird jahrelang ohne Gesicht 'rumlaufen, denn dafür bekommt er ja seine Rente. Und keiner, keiner wird sich um ihn kümmern.«

Ursula biß die Lippen zusammen. Sie starrte Karlheinz Petsch stumm an, wandte sich dann um und rannte durch die Ruinen davon.

Sie wußte, daß er recht hatte, und dieses Wissen war so grausam, daß sie vor sich selbst flüchten wollte und vor der unterdrückten Frage: Kann ich das wirklich aushalten — ein ganzes Leben lang?

Als er hörte, daß sie ein Kind bekam, hob Karlheinz Petsch nur die Schultern. Die erste Mauer stand bereits, die Nachbarn beneideten die Schwabes wie nach einem Millionengewinn.

«Ich habe das erwartet, Mädchen«, sagte Petsch.»Aber das ändert nichts. Ich nehme das Kind auch mit zu mir.«

«Jetzt kann mich überhaupt nichts mehr von Erich trennen!«rief Ursula.

«Abwarten!«

«Da gibt es nichts zu warten. Es wäre besser, du zögest in eine andere Gegend. Köln ist groß genug.«

«Du kennst die Menschen nicht, Uschi. Im Augenblick bist du noch die kleine, arme Frau, deren Mann schwerverwundet in Gefangenschaft ist. Aber wenn er zurückkommt, ändert sich das.«

«Was soll sich ändern?«

«Alles, Mädchen. Dann ist das Mitleid weg! Dann heißt es nicht: Die arme Frau muß mit solch einem Krüppel leben. Nein, es wird heißen: Die Schwabe ist verrückt! Ist noch so jung und könnte was aus sich machen! Wenn so eine Verstümmelung kein Scheidungsgrund ist — das wird man sagen!«

«Ich werde jeden um die Ohren schlagen, der so etwas zu mir sagt!«

«Ihr werdet isoliert sein. Man wird euch aus dem Wege gehen. Das grausamste aller Tiere ist der Mensch, Uschi! Und wenn es Deutschland jemals wieder gut gehen sollte, ist's ganz aus! Dann seid ihr Abschaum, ein Überbleibsel des Kriegs und der Vergangenheit, an die niemand mehr erinnert werden will! Man wird euch ein Almosen

geben und irgendwo in die dunkle Ecke stellen, damit der neue Glanz nicht ein Fleckchen des vergessenen Vorlebens bekommt.«

«Du bist ein Menschenverächter, weiter nichts!«sagte Ursula gepreßt.

Karlheinz Petsch nickte.»Warte es ab«, sagte er.»Man kann gar nicht so schlecht denken, wie der Mensch ist. Und am schlimmsten ist der satte Mensch! Warte es nur ab. «Er legte seine Hand auf Ursulas Arm, aber sie schüttelte ihn ab, als ekle sie die Berührung.»Darum bleibe ich auch in deiner Nähe«, sagte Petsch leise.»Du bist mir zu schade, um in dieser Mühle zermahlen zu werden.«

Zwei Besucher standen in der großen Halle der Wolfach-Villa auf dem Hügel, in die Major James Braddock als Kommandant des Gebiets Bernegg gezogen war. Offiziere des Sicherheitsdienstes hatten das Haus vor einigen Tagen vom Keller bis zum Dach untersucht und alle vorhandenen Papiere mitgenommen. Braddock erfuhr, daß der Besitzer der Villa, der Fabrikant Hubert Wolfach, auf einer Liste der Kriegsverbrecher stand. Er hatte mit seinen Werken geholfen, den Krieg zu verlängern, hatte Bombenzünder und Granatzünder hergestellt.

Der eine der beiden Besucher, die heute hier warteten, war ein alter, weißhaariger Mann in einem geflickten, schmutzigen Anzug, der um den ausgemergelten Körper schlotterte, als habe er die Kleidung auf seiner Wanderschaft nach Bernegg von einer Vogelscheuche genommen. Nun setzte sich der alte Mann in einen der Gobelinsessel, bewunderte die Gemälde, die an den Wänden in schweren Goldrahmen hingen und registrierte vor sich hinlächelnd den starken Kontrast zwischen alten Meistern und vier uniformierten Negern, die gummikauend um einen runden Tisch in der Halle saßen und Karten spielten.

Der zweite Besucher saß zusammengedrückt und ängstlich in einem anderen Sessel. Es war ein Mädchen, trug einen alten BdM-Rock, eine Wollbluse und zertretene Halbschuhe. Es sah nicht so verhun-gert wie der alte Mann aus, aber in ihrem blassen Gesichtchen spiegelte sich eine große innere Not. Das Mädchen sah die alten Meister an den Wänden nicht einmal flüchtig an, es kannte das alles. Es war hier zu Hause.

In der Tür zum Herrenzimmer erschien jetzt ein Sergeant. Er winkte dem Mädchen zu und stieß den Daumen über seine Schulter in Richtung des Raumes.»Please!«rief er.

Das Mädchen sah den alten Mann an.»Bitte, gehen Sie zuerst hinein«, sagte es.

Der alte Mann schüttelte den Kopf.»Sie waren zuerst da, mein Fräulein.«

«Aber bei Ihnen ist es bestimmt wichtiger. Bitte, gehen Sie.«

Der alte Mann blieb sitzen.»Sie waren zuerst da, nein, es muß seine Ordnung haben. Wo alles aus den Fugen ist, sollte man im kleinen wieder Maßstäbe von Ordnung und Sitte aufbauen. Ich kann warten, ich habe es gelernt. Ob eine halbe Stunde früher oder später. Ich wollte mich nur nach meinem Sohn erkundigen.«

Der Sergeant winkte wieder.»Come in!«rief er wütend.

«Gehen Sie«, sagte der alte Mann.»Wir dürfen den Major nicht wütend machen. Ich habe es gelernt, was es heißt, aus Wohlwollen Nutzen zu ziehen.«

Das Mädchen stand auf und ging an dem Sergeanten vorbei in das Herrenzimmer des Fabrikanten Wolfach. Es war ein großer Raum mit schweren Möbeln im Renaissancestil, einem echten Täbristep-pich und einem mittelalterlichen Globus, der in einer geschnitzten Holzwanne lag und sich in einem bronzenen Radius drehte. Zwei große Fenstertüren führten hinaus in den herbstlichen Park, in dem die Bäume die sterbensbunten Blätter abwarfen.

Major James Braddock saß hinter dem Schreibtisch mit den mächtigen Löwenfüßen und aß ein braungebratenes, kaltes Hühner-schenkelchen. Mit dem Knochen winkte er dem Mädchen zu und zeigte auf den Lederstuhl vor dem Tisch.

«Setzen Sie sich. Was wollen Sie? Eine Beschwerde über einen meiner Leute? Aussichtslos, mein Fräulein. Ich weiß, daß ihr viel zu entgegenkommend seid, als daß man noch von Nötigung reden könnte! Seid weniger wild auf Schokolade und Zigaretten, dann passiert euch auch nichts. «Braddock legte den Hühnerknochen in den Alabasteraschenbecher.»Noch etwas?«

«Ja«, sagte das Mädchen.»Ich bin Petra Wolfach.«

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