Kapitel 15

Langsam stieg Erich Schwabe tiefer in den Keller hinab. Vor der neuen, dicken Tür blieb er stehen und legte das Ohr an das Holz. Sein Herz klopfte wild, und die Erregung schnürte ihm den Hals zu. In seinem Schädel brauste es, und es war ihm, als schlüge man mit einem Hammer gegen seine Trommelfelle. Da hielt er den Atem an und preßte die Ohrmuschel eng an die Bretter der Tür.

Mutters Stimme, dachte er. Und da — Ursulas Lachen, ein helles, herrliches Lachen. Und noch eine Stimme, eine Männerstimme, tief und etwas polternd, in Alkohol gebadet. Was sagen sie? Warum sitzen sie hier, anstatt auf dem Bahnhof zu sein und ihn abzuholen? Natürlich, das Telegramm ist nicht gekommen! Er war schneller als die Nachricht. Da, wieder das Lachen Ursulas. Dann ein deutlicher Satz, unter Lachen ausgerufen:»Du bist eine Type, Karlheinz!«

Wer ist Karlheinz? dachte Schwabe und atmete wieder. Ihm fiel der erste, kurze Eindruck ein, der ihn streifte, als er das zerstörte Haus sah. Ausgebrannt, mit zwei neuen Mauern. Wer hatte sie aufgebaut? Er legte die Hand auf die Klinke und wischte sich mit der anderen Hand über das kalte, schmutzige Leukoplastgesicht. Im Keller begann die tiefe Männerstimme zu singen.»Mädel, ich bin dir so gut. «Geschirr klapperte.

«Noch einen Grog, Karlheinz?«Die Stimme der Mutter. Auch sie

nannte den fremden Mann mit dem Vornamen.

«Nur immer 'ran, Mütterchen.«

Erich Schwabe legte den Kopf wieder gegen die Tür. Meine Heimkehr, dachte er kläglich. So kommt man nach Haus. Nach sechs Jahren Krieg, nach sieben Verwundungen, mit einem verlorenen Gesicht. Jahrelang hat man auf diesen Tag gewartet, hat für diese Stunde gelebt, hat an diesen Augenblick geglaubt, selbst als die Welt um einen herum unterging. Ich komme wieder, hatte man sich immer gesagt. Verdammt noch mal, einmal ist der Mist zu Ende, und dann steht man vor der Frau und der Mutter und breitet die Arme aus und ruft:»Hier bin ich wieder!«Was kann es Schöneres geben als diesen lang herbeigesehnten Augenblick?

Und so ist es nun wirklich. Man steht frierend vor der Tür und hat Angst, sie aufzustoßen. Angst hat man vor dem, was hinter der Tür ist. Es war ein Fehler, einfach heimzukommen. Man hätte anrufen sollen oder sonst irgend etwas tun. Schon vor zwei Stunden, als man allein auf dem Bahnsteig stand und keiner gekommen war, den Heimkehrer abzuholen.

Ob es dem Wastl auch so ergangen ist, dachte Schwabe plötzlich. Und dem Oster? Und was machte der Berliner? Was hatte Fritz Adam vorgefunden?

«Mein Mädel, mein Mädel vom Rhein.«, sang drinnen die dröhnende Stimme. Erich Schwabe warf den Kopf in den Nacken und drückte die Klinke herunter. Dann gab er der Tür einen Stoß und ließ sie gegen die Kellerwand schlagen. Der Gesang verstummte, ein Stuhl fiel um, Ursulas Stimme klang auf. Sie rief:»Wer ist denn da?«

An einer Porzellanschüssel stand Frau Hedwig Schwabe und spülte Gläser. Ihre Augen waren weit und starr. Sie erkannte nichts, weil sie geblendet aus dem hellen Licht in den dunklen Kellergang schaute.

«Wer ist da?«rief Ursula wieder. Ihre Stimme zitterte vor verhaltener Angst.

«Das hab'n wir gleich!«sagte die Männerstimme. Dann schob sich eine untersetzte, breite Gestalt in das Licht, ein kräftiger Bursche in einem weiten Maureranzug, ein Glas Grog dampfend in der Hand.

Erich Schwabe trat langsam einen Schritt vor. Es war, als stürze er aus der Dunkelheit in das Licht. Er stand im Türrahmen, in seinem alten Militärmantel. Er hatte einen Schal um das Gesicht mit den schmutzigen, rußigen Leukoplaststreifen gewickelt, es sah aus wie der zertrümmerte Kopf einer Puppe, den man notdürftig wieder geflickt hatte.

«Erich!«schrie Ursula gellend. Sie warf beide Arme nach vorn. Aber sie schaffte es nicht mehr, die drei Schritte bis zur Tür zu gehen. Sie fiel vornüber auf die Knie und rollte ohnmächtig auf den Kellerboden.

«Mensch, Kumpel, Erich«, sagte Karlheinz Petsch laut. Er bückte sich, griff Ursula unter die Arme und hob sie auf das Bett.»Kommt da 'rein wie 'n Geist im Theater. Die Weiber kriegen ja 'n Herzschlag.«

«Mein Junge«, stotterte Frau Schwabe. Dann fielen die Gläser hin, die Spülschüssel zerschellte auf dem Boden, und das Wasser spritzte an Erich Schwabe hoch und klatschte Karlheinz Petsch in die Schuhe.»Du bist da — du bist entlassen, Erich.«

Sie rannte auf ihn zu, umarmte ihn, drückte den starren Körper an sich. Aber dann verließen auch sie die Kräfte, sie weinte plötzlich und hing schlaff in den zupackenden Händen ihres Sohnes.

«Ihr — ihr habt mich nicht erwartet, was?«sagte Erich Schwabe über den Kopf seiner Mutter hinweg, zu Karlheinz Petsch gewandt.

«Aber nein, wieso denn?«

«Mein Telegramm — «

«Hier ist keins angekommen.«

Petsch schloß die Tür hinter Schwabe und wischte sich schnell über das Gesicht. Verdammt, dachte er, das ist eine Panne. So sollte es nun auch wieder nicht sein. Ganz langsam in die Situation hineinwachsen, so hab' ich mir das gedacht.

«Ich bin Karlheinz Petsch«, sagte er und ging um Schwabe herum.»War mal Feldwebel bei der Luftwaffe. Und Ihre Frau hat mir das Leben gerettet.«

«Ursula?«

«Genaugenommen, Ihr Keller. Ich kam in einen Luftangriff 'rein und flüchtete hier 'runter. Und da hab' ich mir gedacht: Das vergißt du nie. Und wenn's man anders kommt, baust du das Haus wieder auf. Tja, und nun bin ich da dran.«

Erich Schwabe nickte. Er führte seine Mutter zu einem Stuhl, zog den Mantel aus und band den Schal von seinem Kopf. Nun erst sah man die völlige Zerstörung des Gesichtes, den lippenlosen Mund, die notdürftig neugeformte Nase, die Narben der Hautplastiken, die durch die Kälte rotviolett angelaufen waren.

«Einen Grog, Kumpel?«fragte Petsch mit etwas belegter Stimme und hielt ihm ein Glas hin. Schwabe schüttelte den Kopf und setzte sich neben Ursula auf das Bett. Er starrte sie stumm an. Dann hob er zögernd die Hand und strich ganz leicht und mit einer hilflosen, zitternden Zärtlichkeit über ihre blonden Haare und das bleiche, schmale Gesicht. Jetzt erst bemerkte er, wie sich ihr Leib rund und mächtig vorwölbte, und seine Hand glitt über ihren Körper und blieb auf ihrem schweren Leib liegen.

Mein Kind, dachte Schwabe, und plötzlich wich alles von ihm, was ihn starr und stumm gemacht hatte. Die Einsamkeit, die er auf dem leeren Bahnsteig des Bahnhofes gespürt hatte, die wilde Verzweiflung, die ihn erfaßt hatte, als er den Kopf gegen die Kellertür lehnte, der eisige Schreck, als er den Mann so vertraut mit Mutter und Ursula fand. Alles, was ihn innerlich zerrissen hatte, verflüchtigte sich wie Morgennebel vor den ersten Sonnenstrahlen, als er die Hand auf Ursulas gesegneten Leib legte und unter seinen Fingern das Zuk-ken und die ruckartigen Bewegungen des Kindes spürte.

Mein Kind, dachte er wieder und schloß glücklich die Augen. Mein Gott, ich bin ja zu Haus, ich bin wirklich zu Haus. Es gibt keinen Krieg mehr, und wir werden von vorn anfangen, wirklich von vorn mit diesem Kind.

«Man sollte ihr 'was zu trinken geben«, sagte Petsch und zeigte auf Ursula.

Schwabe nickte. Er nahm aus Petschs Hand ein Glas mit Schnaps und flößte es Ursula langsam und vorsichtig ein. Sie schluckte krampf-haft, hustete wild und bäumte sich wie in Abwehr auf. Dann öffnete sie die Augen und starrte in Erichs schmutziges, verklebtes Gesicht, auf diesen formlosen Kopf, an dem nur die Augen das einzig Menschliche waren.

«Erich«, sagte sie schwach und schlang die Arme um seinen Hals.»Wie freue ich mich.«

«Tut dir was weh?«fragte er besorgt.»Hast du Schmerzen? Spürst du etwas durch den Fall?«

Sie schüttelte den Kopf.»Nichts«, sagte sie schwach.»Nun ist alles gut. Du bist da. Du bist endlich da.«

Sie küßte ihn, indem sie seinen Kopf zu sich herabzog.

Als sich Schwabe aufrichtete und sich nach Karlheinz Petsch umsah, war der nicht mehr im Keller. Er war gegangen, und keiner hatte ihn weggehen hören.

Erich Schwabe fragte nicht nach ihm. Es würden noch viele Tage der Fragen kommen. Zwischen seiner Mutter und seiner Frau saß er auf dem Bett, hielt beider Hände fest und erzählte von den letzten Stunden in Schloß Bernegg.

Bis gegen Morgen erzählte er. Und dann lag er neben Ursula im Bett, hatte den Arm um ihre Schulter gelegt, und ihr Kopf lag, müde, klein und leicht auf seiner Brust. Sie schlief mit einem kindlichen Lächeln und kuschelte sich im Schlaf zärtlich an ihn.

Ich bin zu Haus, dachte Schwabe wieder. Und er war so glücklich, daß er weinen konnte. Im Bett nebenan schlief mit rasselndem Atem die Mutter. Sie hatte die Hände über der Brust gefaltet, als bete sie im Traum.

Morgen beginnt ein neues Leben, dachte Schwabe, auch wenn sich nicht viel ändern wird. Er hörte auf die Atemzüge der beiden Frauen und konnte selbst nicht schlafen.

Um sieben Uhr morgens hörte er jemanden die Kellertreppe herabkommen. Er schob Ursulas Kopf vorsichtig von sich, drehte sich aus dem Bett und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Ein Hilfspostbote schwenkte ein dünnes Kuvert durch die eiskalte Morgenluft, als er das Gesicht im Türspalt sah.

«Ein Telegramm«, sagte er.»Sind Sie Schwabe?«

«Ja.«

«Bitte.«

Erich Schwabe schloß die Tür wieder. Er sah das Telegramm an, dann zerriß er es langsam und streute die Schnipsel in den Kohlenkasten neben dem eisernen Ofen. Es war ihm, als käme diese Nachricht aus einer Welt, die ferner als die Sterne war.

Dann kroch er zurück ins Bett, zog Ursula an sich und spürte wohlig ihren warmen, glatten Körper nah und vertrauensvoll an seiner ausgekühlten Haut.

Zu Haus, dachte er wieder. Mein Gott, ist das schön.

Für den Gefreiten Christian Oster, den Zauberer von Schloß Bernegg, war die Heimkehr ein entscheidendes Experiment.

Seine kleine, pausbäckige, braungelockte Frau Susanne hatte nie die Gelegenheit gehabt, ihn auf Bernegg zu besuchen. Nach seiner Einlieferung hatte er sich wie fast alle Gesichtsverletzten geweigert, überhaupt jemanden zu sehen. Dann hatte er seine Mutter kommen lassen und seine ganze seelische Qual herausgeschrien. Aber Susanne Oster, die zweimal unangemeldet in Bernegg erschien, wurde von Dr. Lisa Mainetti abgefangen, bevor sie noch in den eigentlichen Lazarettbereich kommen konnte. Wie zu allen Frauen hatte Lisa auch ihr gesagt:»Geduld ist das größte Geschenk, das Sie Ihrem Mann machen können. Jeder Tag warten ist mehr als alles Gold.«

Das war alles, was die kleine, rundliche Susanne Oster von ihrem Mann erfuhr. Zwar gingen im Laufe der Monate viele Briefe hin und her, und immer hieß es:»Mir geht es gut. Es wird alles an mir getan, was möglich ist. Von Woche zu Woche wird es besser mit mir. «Ja, sogar ein Foto schickte Christian Oster an seine Frau, ein Foto schräg von hinten, so daß man nur die linke Gesichtspartie ein wenig erkennen konnte, und dieses Foto trug Susanne Oster immer mit sich und zeigte es jedem: Seht, so schlimm ist es ja gar nicht. Man sieht ja überhaupt nichts. Was sie nicht wußte, war die grau-same Verstümmelung von Nase, Mund und rechter Gesichtsseite, ein aufgerissenes, von einem glühenden Granatsplitter völlig zerfetztes Antlitz, bei dessen Einlieferung sogar Dr. Lisa Mainetti leise zu Professor Rusch gesagt hatte:»Mein Gott — wo sollen wir hier noch anfangen?«

Fünfundvierzig größere Operationen hatten Christian Oster nun wieder zu einem Menschen werden lassen. Lisa und Professor Rusch hatten an diesem Gesicht nicht nur Deckungen und Funktionsherstellungen durchgeführt, sondern sie hatten es regelrecht wie ein Bildhauer modelliert. Mit unendlicher Geduld wurde das Lippenrot millimeterweise rund um die Lippen verpflanzt, eine sogenannte Abbe-Plastik, die aus Fleischwülsten wieder Lippen werden ließ. Lippen, die einmal wieder eine Frau küssen sollten, ohne würgenden Ekel zu erzeugen.

Was an Christian Osters Gesicht geleistet wurde, war das Musterbeispiel eines >neuen< Gesichtes. Nach den fünfundvierzig größeren Operationen — die vielen kleinen Eingriffe wurden gar nicht mehr gezählt — sah sich Oster in einem Spiegel verblüfft und nachdenklich an. Dann nahm er ein Paßbild aus der Brieftasche und verglich es mit dem Antlitz, das ihm aus dem Spiegel entgegenschaute. Er erkannte sich nicht mehr. Der alte Christian Oster war von dem glühenden Granatsplitter weggewischt worden. Nur die Haarfarbe war geblieben und der Ausdruck der blauen Augen. Das Gesicht aber war ein fremdes Gesicht. Christian Oster lächelte gequält.

«Es ist, als müßte ich jetzt Sie zu mir sagen«, sagte er leise.

Dr. Mainetti legte ihm die Hand auf die Schulter.

«Denken Sie, das ist mein Friedensgesicht. Das alte hat der Krieg genommen. Es war der unvermeidbare Kaufpreis für das Weiterleben.«

«Ich könnte mich schon daran gewöhnen — aber meine Frau?«Christian Oster drehte sich vom Spiegel weg.»Sie hat doch — wenn man es genau bedenkt — einen anderen Mann geheiratet als den, der jetzt zurückkommt, nicht wahr?«

«Man heiratet nicht nur ein Gesicht, Oster.«

«Aber eine große Rolle spielt's doch, Frau Doktor. «Er drehte sich wieder zum Spiegel. Sein Blick tastete über die neue Wange, die neue Nase, den neuen Mund. Alles war fremd, wie eine Maske, hinter der man das wirkliche Gesicht, das alte vertraute, erwartete.»Was wird sie bloß sagen, meine Susanne? Ich bin doch ein völlig fremder Mann.«

«Wir werden es ihr vorher schreiben, Oster.«

Aber es waren Worte, weiter nichts, was Dr. Mainetti an Frau Oster schreiben konnte. Susanne Oster las sie und nickte. Natürlich wird Christian anders aussehen, dachte sie. Er wird Narben haben oder vielleicht ein schiefes Gesicht. Aber daran gewöhnt man sich, und man kann es auch im Lauf der Zeit immer wieder ändern und verbessern. Auch als Christian selbst schrieb:»Erschrick nicht, wenn ich einmal nach Hause komme. Ich sehe ganz anders aus, aber ich bin's wirklich.«, da hatte sie nur vor sich hingelacht und sich gesagt: Sieh an, jetzt macht er schon wieder dumme Witze. Als ob ich meinen Christian nicht erkennen würde.

Das war schon vor Monaten gewesen. Und nun war der Tag gekommen, ganz plötzlich, an dem Christian Oster zurückkehren sollte aus einem Schloß, hinter dessen Mauern sich das schauerlichste Erbe des Kriegs verbarg.

Auch Oster hatte von Würzburg, wie alle der Stube B/14, ein Telegramm nach Hause geschickt.»Ankomme heute 11.23 Hauptbahnhof. Christian. «Dann saß er in dem überfüllten Zug und ratterte durch die Schneelandschaft nach Norden. Und je näher er seiner Heimatstadt kam, um so mehr schnürte die Angst sein Herz ein. Über zwei Jahre ist es her, seit ich Susanne gesehen habe, dachte er. Zwei Jahre, in denen man aus mir einen anderen Menschen gemacht hat. Einen Menschen, dessen Vater das Skalpell und dessen Mutter Rollappen und Stiellappen aus Brust, Stirn und Oberschenkel waren.

Mit einer Stunde Verspätung rollte der Zug fauchend in die zerstörte Bahnhofshalle ein. Die verbogenen und zerrissenen Stahlträger wirkten gegen den Nachthimmel wie das Skelett eines zerfetzten Brustkorbes. Wenige trübe Lampen brannten auf dem Bahnsteig, über die Schneehaufen und die verharschten, ausgetretenen Pfade zum Ausgang. Ein paar Menschen standen frierend und mit zusammengezogenen Körpern in der Kälte und starrten dem Zug entgegen.

Christian Oster hockte am Abteilfenster und sah hinaus auf die näherkommende Menschengruppe. Dort ist sie, durchfuhr es ihn heiß. Dort, die kleine Frau in dem dicken Wollmantel und dem hochgeschlagenen Persianerkragen. Der Persianerkragen — er war ein Hochzeitsgeschenk ihrer Mutter, und er hatte ihr zu diesem Kragen zum ersten Weihnachtsfest in ihrer Ehe einen schwarzen Mantel gekauft. Susanne hatte den Kragen selbst daraufgenäht, und er hatte sich gefreut, wie stolz sie war, wenn die Frauen ihren Pelzkragen musterten und sie offen darum beneideten.

Der Zug hielt. Christian Oster sah, wie Susanne an der Wagenreihe entlangschaute, wie sie jeden musterte, der ausstieg, wie sie einem Soldaten entgegenlief, der mit dem Rücken zu ihr stand und wie sie enttäuscht umkehrte, als sie sah, daß es nicht ihr Christian war.

Oster stand im Gang, seitlich von der Tür, und wagte nicht, auszusteigen. Immer wieder strich er sich mit der Hand über das narbige, neue Gesicht. Als letzter kletterte er schließlich aus dem Wagen und sprang von der untersten Stufe in den Schnee. Er zog seinen schlaffen Rucksack nach, hängte ihn über den linken Arm und wandte sich Susanne zu, die noch immer den Zug entlangsah und suchte.

Einmal glitt ihr Blick auch über ihn, blieb kurz an ihm haften und irrte dann weiter.

In Oster stieg ein heißer Schrei empor, er brannte in der Kehle, trocknete den Gaumen aus und drückte wie eine stählerne Faust auf das Herz.

>Sie erkennt mich nicht<, schrie es in ihm. >Mein Gott, mein Gott — sie sieht mich an und erkennt mich nicht.<

Die Wagen waren leer. Die wenigen Menschen hatten den Bahnsteig verlassen. Zwei Schaffner liefen an den Wagen entlang und war-fen die Türen zu. Vom Zugende schrillte die Pfeife eines Rangierers. Nur Susanne Oster und Christian Oster standen noch im Schnee unter dem Eisengerippe der Bahnhofshalle und sahen sich stumm an.

Noch einmal blickte Susanne an dem Zug entlang. Sie wartete, bis er nach hinten zum Abstellgleis weggezogen wurde und hob dann frierend und resignierend die Schultern. Sie drückte den Persianerkragen gegen das Gesicht und kam zögernd die wenigen Schritte auf Christian Oster zu. In ihren verschreckten Augen glitzerten unterdrückte, in der scharfen Kälte beinahe kristallisierende Tränen.

«Verzeihen Sie«, sagte sie zu Christian Oster,»ist das der letzte Zug, der aus Würzburg kommt?«

In den Ohren Osters brauste und gellte es. Er starrte in Susannes Augen, und er sah, daß sie ihn bittend anblickten, doch ohne die geringste Regung des Erkennens. Ich bin es doch, wollte er schreien. Er wollte die Arme vorwerfen, Susanne an sich reißen, brüllen wollte er, bis das Herz aus der Kehle quoll: Ich bin es! Ich bin es! Ich bin es! Aber er blieb wie gelähmt stehen und schüttelte nur den Kopf.

«Keiner mehr?«sagte Susanne und wandte sich ab.»Danke schön. Dann wird er morgen kommen.«

Ein paar Schritte war sie langsam gegangen, als die Erstarrung von Christian Oster wich. Mit einem gurgelnden Schrei warf er den Rucksack in den Schnee und streckte beide Arme nach der kleinen, rundlichen Frau aus.

«Susanne — «, stammelte er.»Ich — ich — «

Er stürzte vor, ergriff seine Frau und riß sie an sich. Sie wehrte sich, als Christian sie küssen wollte.

«Susanne!«flehte er.»Susanne, erkenn mich doch! Meine Augen, die Haare — «Er riß die Mütze vom Kopf und stöhnte, als er die Frau wieder an sich preßte und ihre Brüste spürte und das Zittern ihres Leibes.»Susanne, ich — «

Susanne Oster krallte sich in die Schultern des Mannes. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in das fremde Gesicht. Sie begriff nun.

Sie sah Christians Augen, sie sah seine Haare, sie hörte seine Stimme. Und doch war es ihr, als hänge sie an einem unbekannten Mann, als wären es fremde, nicht gewollte Lippen, die über ihr Gesicht glitten und um ein bißchen Zärtlichkeit bettelten.

«Das — das bist du?«sagte sie leise.

Es war der furchtbarste Satz, der je gesprochen wurde. Sie merkte es, kaum, daß sie ihn gesagt hatte.

«Christian«, sagte sie deshalb mühsam.»Christian, wie schön, daß du gekommen bist. Ich — ich habe so auf dich gewartet. Komm nach Haus.«

Und sie nahm seine Hand und zog ihn mit sich fort aus dem Bahnhof. Er folgte ihr wie ein Blinder, tappend und mit leblosen Augen. Der Rucksack blieb im Schnee liegen.

Sie gingen durch die verwüstete, ausgestorbene Stadt, über Straßen, die durch Mondlandschaften zu führen schienen, durch Trümmerwüsten und ein Gebirge zerfetzter Mauern. Über eine Stunde gingen sie stumm, Hand in Hand, durch die Stadt, bis aus der Dunkelheit am Rande eines Grünstreifens das kleine Haus auftauchte. Sein Haus. Der Vater hatte mit dem Bau begonnen, und als er verunglückte, hatte er es zu Ende gebaut. An der Gartentür blieb er stehen und sah hinüber zu dem spitzen, schlanken Dach.

«Ich — ich bin es wirklich«, sagte er mühsam.»Gleich hinter der Tür hängt an der Wand ein Geweih. Vater hat es geschossen, als er einmal eingeladen war. Und über dem Bogen im Flur hängt ein Schild in Brandmalerei: Gott schütze dieses Haus. Stimmt es?«

«Komm 'rein«, sagte Susanne kaum hörbar. Sie wagte nicht, Christian anzusehen.

«Ich — ich bin es wirklich«, wiederholte er heiser.»Ich habe doch geschrieben — «

Susanne drückte ihr Gesicht an seine schneebedeckte, eissteife Brust.

«Komm doch!«schrie sie gegen den Stoff.»Komm — ich spüre doch, daß du es bist.«

Sie spürt es, dachte Oster, und wieder ergriff ihn ein heißer Schwindel. Sie spürte es, aber sie sieht es nicht mehr. O Gott — das hal-ten wir nicht aus!

Wie ein Tanzbär, den man an einem Nasenring hinter sich herzieht, tappte er an der Hand seiner Frau durch den Vorgarten zum Haus. In der Diele sah er sich um. Das Geweih hing nicht mehr hinter der Tür, und der Spruch >Gott schütze dieses Haus< war abgenommen worden.

«Auch das ist nicht mehr da«, sagte Oster laut.

Dann brach er zusammen, sank auf eine alte Truhe und weinte. Und Susanne stand vor ihm, starrte ihn an und dachte, so stark sie sich dagegen wehrte: Da sitzt er nun und weint — ein fremder Mann. Was sollte man tun?

Kurz vor Weihnachten kam Major Braddock wieder hinauf aufs Schloß und brachte eine Flasche Whisky mit. Er verband diesen Besuch mit einer Inspektion des Lazaretts und ließ sich von Dr. Sten-ton und Leutnant Potkins durch die halbleeren Zimmer und Säle führen.

«Langweilig, was?«fragte er Lisa Mainetti nach diesem Rundgang und goß den Whisky zwei Finger hoch in die Gläser.»Auch meine Jungs gähnen. Es scheint, als habe diese verfluchte Stube 14 so etwas wie die Funktion eines Motors gehabt. Nun ist er ausgebaut, und der Karren liegt verrostend herum.«

«Ich habe immerhin noch vierunddreißig Gesichtsverletzte, die täglich versorgt und nachoperiert werden müssen. «Lisa nippte an dem Whisky und sah über den Glasrand hinweg Major Braddock an. Was will er, dachte sie. Hat er Neuigkeiten von Walter Rusch? Ist etwas geschehen? Sie unterdrückte ihre aufkommende Angst und setzte das Glas ruhig zurück auf die Tischplatte.»Wird unser Lazarett eigentlich aufgelöst?«

«Vorläufig nicht. Sie werden sogar noch Zugänge bekommen. Aus anderen Lazaretten wird man Gesichtsverletzte nach Bernegg verlegen. Es spricht sich rund, welch zärtliche Hand hier Narben wegstreichelt.«

«Reden Sie nicht solchen Blödsinn, Major!«sagte Lisa grob.»Ich hatte gedacht.«

James Braddock nickte mehrmals. Er trank mit Genuß sein Whiskyglas leer und schnalzte mit der Zunge, als wolle er ein Pferd antreiben.

«Ich weiß, daß man Ihnen nichts vormachen kann, Miß Doktor. Also gut — wir könnten eine kleine Reise machen.«

«Wir?«

«Nach Darmstadt.«

«Nach.«

«Zu Professor Rusch, richtig. «Braddock goß sich wieder Whisky ein. Er vermied es, Lisa ansehen zu müssen. Er ahnte, daß ihre Sicherheit sich auflöste, daß ihr Gesicht alle Strenge und Härte verlor, und es war diese plötzliche Nacktheit ihres Wesens, die er nicht sehen wollte.

«Ich habe angefragt und eine Nachricht erhalten: Sie können vor Weihnachten Rusch besuchen und sprechen. Natürlich nur im Beisein von zwei GIs, aber immerhin — «

«Sie haben. «Dr. Mainetti ergriff Braddocks Hand, als er die Flasche wieder zurückstellen wollte.»Major — warum tun Sie das?«

«Verdammt — diese deutsche Gründlichkeit, immer alles analysieren zu wollen! Nehmen Sie es doch hin! Fahren wir nach Darmstadt.«

«Wann?«Es war fast ein Schrei. Ein Jubelschrei.

«Von mir aus schon morgen.«

«Morgen habe ich vier Operationen auf dem Plan. Übermorgen?«

«Auch gut. Übermorgen. Sie dürfen Eßbares mitbringen, was nicht in Büchsen ist.«

«Eßbares? Sie sind ein Zyniker, Major. «Dr. Mainetti war aufgesprungen.»Darf ich Krankengeschichten mitnehmen.?«

Braddock starrte zu Lisa empor. In seinem Gesicht spiegelte sich völlige Ratlosigkeit.»Krankengeschichten?«

«Ja. Und Röntgenplatten und Plastikzeichnungen und — «

«Sind Sie übergeschnappt, Miß Doktor?«

Lisa schüttelte wild den Kopf. Ihre langen, schwarzen Haare flo-gen über ihr schmales Gesicht wie ein schwarzer Schleier im wehenden Sturm.

«Das verstehen Sie nicht, Major. Walter Rusch ist Arzt, nichts als Arzt. Seine Welt ist der OP, sind seine Patienten, mehr als zehn Pfund Butter oder drei Brote — um es profan zu sagen —, wenn jemand in einer verzweifelten Lage zu ihm kommt und sagt: Hier sind Röntgenbilder. Was würden Sie jetzt tun, was sollen wir machen?«

Braddock schob die Unterlippe vor. Welch eine Frau, dachte er. Natürlich hat sie recht. Das richtet ihn auf, das zeigt ihm, daß er trotz allem gebraucht wird, das gibt ihm Lebensmut.»Versuchen wir es«, sagte er nachdenklich.»Ich werde mit dem Kommandanten sprechen. Röntgenplatten sind ja nichts Gefährliches. Allerdings werden sie genau überprüft werden. Wegen Geheimnachrichten, verabredeter Zeichen und was es da noch alles gibt.«

«Und wir fahren bestimmt übermorgen?«

«Hat James Braddock jemals sein Wort nicht gehalten, Miß Doktor?«

«Nein. «Lisa breitete die Arme aus.»Ich möchte Sie küssen, Major!«rief sie voller Glückseligkeit.

«Ich bitte darum. «Braddock schloß die Augen.»Ich mache die Augen zu, nicht aus Leidenschaft, sondern nur, um als Kommandant von Bernegg diese unerlaubte Fraternisation nicht sehen zu müssen.«

«Sie werden einmal an Ihrem Sarkasmus ersticken, Major«, lachte Lisa. Dann nahm sie Braddocks Kopf in beide Hände und küßte ihn erst auf die Stirn und dann auf die gespitzten Lippen. Braddock öffnete mit einem Lächeln die Augen.

«So hat mich meine Schwester auch immer geküßt, wenn der kleine James hingefallen war und sein Knie blutete. Aber immerhin — wenn ich im Kasino erzähle, Miß Doktor hat mich geküßt, werden die anderen platzen!«Er steckte die Whiskyflasche in seine Rocktasche und setzte seine Mütze auf.»Das sind die kleinen Freuden eines abseits abgestellten Mannes«, lachte er.»Eigentlich müßte man Professor Rusch schon deswegen bestrafen, weil er von Ihnen geliebt wird. Also denn — bis übermorgen. Ich komme Sie abholen.«

Der Rest des Tages war für Lisa Mainetti eine Qual. Sie wußte nicht, was sie mit ihrer Freude und ihrem Glück anfangen sollte. Sie rannte durch den kalten, verschneiten Schloßpark, umkreiste den Teich und starrte über das stille Land, bis der Frost von den Füßen her durch den Körper zog und Nase und Ohren zu jucken begannen. Da rannte sie zurück in den Block B und suchte im Zimmer Ruschs alle Röntgenplatten zusammen, die interessant waren, selbst Aufnahmen von Verwundeten, die längst entlassen worden waren. Fast die ganze Nacht hindurch schrieb sie alte Krankengeschichten ab, veränderte die Namen und schrieb nur die ersten Eingriffe hin. Alles andere, die ganze Weiterbehandlung, ließ sie offen. So schaffte sie fast >neue< Fälle, um die sie Professor Rusch um Rat fragen wollte. Gegen Morgen erst legte sie sich hin und schlief bleiern bis gegen 10 Uhr. Dora Graff weckte sie nach langem Zögern.

«Dr. Vohrer und Dr. Stenton operieren schon«, sagte sie, als Lisa endlich aufwachte und sich betroffen umsah.»Sie wollten nicht, daß ich Sie weckte. Aber ich dachte — «

«Ich komme sofort!«

Lisa Mainetti sprang auf und rannte in das Badezimmer. Unter dem heißen Wasserstrahl der Brause drehte sie sich wohlig und ließ die Hitze in ihren Körper dringen.

Noch einen Tag, dachte sie, dann sehe ich Walter wieder.

Ob er sich sehr verändert hat?

Sie reckte den Kopf in die dampfenden Strahlen und prustete und ließ sich von dem heißen Wasser streicheln.

Zum erstenmal gab sie vor sich selbst zu, daß sie Sehnsucht nach seiner Umarmung hatte, und es war ein herrliches Gefühl, darauf zu hoffen.

In der Kommandantur des Lagers Darmstadt saß Dr. Lisa Mainetti einsam und mit gefalteten Händen in einem kahlen Zimmer, dessen einziger Schmuck eine an der Rückwand aufgespannte amerikanische Fahne war. Das Sternenbanner. Davor stand ein Tisch. Auf

dem einzigen Stuhl saß Lisa. Sonst war der Raum leer.

Major Braddock hatte sie allein gelassen und war mit dem dicken Paket aus Röntgenplatten und Krankengeschichten irgendwo in den weitverzweigten Zimmern verschwunden. Dort saßen jetzt voraussichtlich einige Abwehrexperten und studierten die Papiere, sekundiert von Major James Braddock, der die Gefahrlosigkeit der Schriftstücke und Röntgenfilme immer wieder beteuerte.

Von dem großen Lager hatte Lisa auf der Hinfahrt kaum etwas gesehen. Ein Wall von hohem Stacheldraht, einige Wachtürme, viele Baracken, ein Gewimmel von braunen amerikanischen Uniformen und riesige Wagenkolonnen, die meistens von Negern gefahren wurden. Sie mußten drei Kontrollen passieren, bis sie vor dem Stellvertreter des Kommandanten standen. Es war ein sehr wortkarger, zugeknöpfter, jüngerer Offizier, der Lisa Mainetti ohne viel Worte in den kahlen Raum führen ließ und sie dort allein in eine Qual von Hoffnung und Angst stieß.

Auch Professor Rusch in Camp III erfuhr nichts von diesem Besuch. Er hatte dienstfrei und brauchte heute nicht in das Lagerlazarett. Dort arbeitete auch Dr. Fred Urban, ein bißchen weniger arrogant, aber immer noch eingepreßt in seinen unverlierbaren Charakter: Was auch immer im Lazarett geschah — er meldete es gewissenhaft weiter an die Lagerleitung. Zwar stand eines Morgens an sein Bett mit Schuhkrem gemalt: >Du Schwein<, aber darum kümmerte man sich weniger als um die Frage: Wie kommt die Schuhkrem in das Lager?

Für Professor Rusch hatte man sich eine besondere, >weichma-chende< Arbeit gedacht: Er mußte in dem Team Urbans arbeiten, nicht als Chef, sondern als Assistent. Der Teamchef war Dr. Urban. Zwar vermied es Urban immer, mit Rusch zusammenzustoßen. Er gab ihm weder Anweisungen, noch wehrte er sich, wenn Rusch ihn einfach zur Seite schob und an seiner Stelle operierte — aber allein die Gegenwart Urbans war Rusch eine Qual, und Urban spürte es und beobachtete Rusch wie eine Katze die Maus.

An diesem Tag saß Rusch vor einer Waschschüssel und wusch sein altes Hemd. Er hatte einen Seifenrest aus dem Lazarett mitgebracht — und dieses winzige Stückchen Seife wanderte nun von Hand zu Hand und erzeugte herrlichen Schaum, in dem Hemden, Unterhosen, Taschentücher und Strümpfe gewaschen wurden. Das gebrauchte Waschwasser wurde dann weiterverkauft, für ein paar Zigaretten, für ein paar Kekse, bis die Lauge schwarz war und in die Latrine gegossen wurde.

«Mitkommen zum Kommandanten!«sagte ein junger GI zu Professor Rusch, als er gerade sein Hemd zum Trocknen aufhängen wollte. Rusch hob die Schultern und zeigte auf das nasse, tropfende Wäschestück.

«Wie?«fragte er.»Ich habe nur das eine Hemd! Ich kann doch nicht.«

«Let's go«, sagte der junge Soldat und winkte energisch.

«Aber ich kann doch nicht mit nacktem Oberkörper zum Kommandanten!«

«Schnell, schnell!«rief der Soldat ungeduldig.

Professor Rusch hob noch mal resignierend die Schultern. Er zog seine Jacke über, schlug die Revers und den Kragen hoch, hielt sie mit beiden Händen vor der Brust zu und folgte dem GI durch die verschneiten Campgassen zur Kommandantur. Dort stand er in dem langen Flur, lehnte sich an die warme Holzwand und strich sich mit gespreizten Fingern mehrmals durch die Haare, um etwas Ordnung in das verwehte, nasse Gestrüpp zu bringen.

Aus einer Tür kam Major Braddock. Er stutzte, als er Rusch stehen sah, und kam dann überrascht mit schnellen Schritten auf ihn zu.

«Professor, Sie? Schon da?«

«Major Braddock! Sie hier? Hat man Sie versetzt?«

Braddock drückte Rusch beide Hände. Dabei fielen die Revers herunter, und der Major sah erstaunt die nackte Brust unter der Jacke.

«Was ist denn das?«

Rusch lächelte schwach.»Ich hatte mein Hemd gewaschen und zum Trocknen aufgehängt, als man mich holte.«

«Ich werde Ihnen sofort ein neues Hemd besorgen, Professor. «Brad-dock sah den jungen GI an, der starr geradeaus sah, als höre er nichts und sei aus Wachs.»Hatten Sie tatsächlich nur ein Hemd mit?«

«Vier, Major.«

«Und die drei anderen?«

Rusch senkte den Kopf.»Ich hatte Hunger«, sagte er leise.»Ich habe sie gegen Brot eingetauscht.«

Braddock schwieg. Er starrte Rusch einen kurzen Augenblick an, wandte sich dann ab und stampfte durch den langen Gang davon. Ein Leutnant kam aus einem der vielen Zimmer und winkte dem GI.»Professor Rusch?«rief der junge Offizier.

«Ja«, rief Rusch zurück.

«Okay! Zimmer sechs. Eine Stunde.«

Die Tür klappte wieder zu. Verwundert sah Rusch sich um.

«Was ist eine Stunde?«

Der GI winkte mit starrem Gesicht.»Go on. «Er ging bis zur Tür Nr. 6 und stieß sie auf. Rusch folgte ihm langsam, vorsichtig, wie ein sicherndes Wild. Ein neues Verhör, dachte er. Hat Urban wieder eine Lüge verbreitet? Will man mich auf >humane< Art weichmachen zu einem sinnlosen Geständnis? Soviel wurde in den Camps erzählt von erlaubten Methoden, die jeden an den Rand des Wahnsinns bringen. Gehirnwäsche nennen sie es.

Das erste, was Rusch in dem Zimmer sah, war eine ausgespannte Fahne an der Wand. Dann bemerkte er einen Tisch. Er war leer und ein wenig staubig. Was soll das alles, dachte er verblüfft. Er trat in das Zimmer, schnell, um zu zeigen, daß er die Angst überwunden hatte.

Vor ihm schnellte etwas hoch. Es geschah so plötzlich, daß er gar nicht wahrnahm, was es war. Aber einen Schrei hörte er, und er erkannte die Stimme, noch bevor seine Augen die Gestalt der Frau erkannt und er ihre Arme warm und zärtlich um seinen Nacken spürte.

«Lisa«, stammelte er.»Lisa. Ist das denn wahr, Lisa?«

Der junge GI hatte die Tür geschlossen und stand wie ein Pfahl an der Wand. Mit unbewegtem Gesicht sah er zu, wie sich der weiß-haarige Mann und die schöne, schwarzlockige Frau küßten, immer und immer wieder, er beobachtete, wie Rusch sie zurück zum Stuhl führte und die Frau kraftlos darauf niedersank und ihren Kopf in seine Hände legte.

«Du bist gekommen«, sagte Rusch stockend.»Wie schön ist das, wie schön.«

«Wie — wie dünn du geworden bist. «Lisa strich mit den Fingern über seine nackte Brust und tastete über die aus der Haut stechenden Rippen.»Wie geht es dir, Walter? Hast du großen Hunger? Behandelt man dich gut? Du hast doch keinem etwas getan, du hast doch nur allen Menschen geholfen.«

«Darauf kommt es jetzt nicht an, Lisa. «Er setzte sich auf den Tisch und schlug Kragen und Revers der Jacke wieder hoch.»Wieso konntest du hierherkommen?«

«Braddock hat es möglich gemacht.«

«Ich glaube, er ist unser einziger Freund.«

«Er wird dich auch wieder herausholen aus diesem Lager.«

Rusch schüttelte den Kopf.»Ich glaube es nicht mehr, Lisa.«

«Aber du hast doch niemals.«

«Urban hat einen Eid geleistet.«

«Solch ein Lump!«Lisa sprang auf. Ihr Gesicht flammte auf, und sie ballte die Fäuste vor ohnmächtiger Wut.»Und was hast du getan?«

«Was sollte ich tun? Ich habe einen Gegeneid geleistet. Aber man glaubt anscheinend Urban. «Rusch senkte den Kopf.»Sie geben ihm in kleinen Dosen Morphium. Dafür sagt er alles, was gewünscht wird, und beschwört es auch. Natürlich wird sich alles als sinnlos herausstellen — aber wann, Lisa, wann? Es kann noch Monate dauern, bis man alle Listen durchgegangen ist, die sich mit KZ-Ärzten und Euthanasiebeauftragten beschäftigen. Und das ist es ja, was Urban beschworen hat: Ich soll bei einer dieser Euthanasiekommissionen mitgewirkt haben. «Rusch hob beide Arme und ließ sie resigniert wieder herabfallen.»Ich habe keine Gegenbeweise. Ich kann immer nur wiederholen: >Ich bin es wirklich nicht.<«

«Ich bin es nicht?«sagte Lisa atemlos.»Was heißt das?«

Rusch schluckte mehrmals, ehe er weitersprach.»Es gab einen Dr. Rusch bei diesen Kommissionen.«

«Walter!«rief Lisa Mainetti entsetzt.

«Man hat es mir gezeigt. Diagnosen und Empfehlungen, unterschrieben mit Rusch. Ich habe meine Unterschrift als Gegenbeweis gegeben. Man sagt, ich verstelle meine Schrift jetzt. Ich habe zu beweisen versucht, daß dieser Dr. Rusch neun Jahre jünger ist als ich. Man sagt: >Sie haben jetzt gefälschte Papiere. Alle Nazis haben falsche Papiere. Sie sind dieser Rusch. Sie haben Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Gestehen Sie!< Ich habe gerufen: >Dieser Rusch ist doch Psychiater — ich bin Chirurg!< Und man hat mir geantwortet: >Alles Tarnung. Nirgendwo steht, daß dieser Rusch Psychiater ist.< Und Urban, dieses Schwein, beschwört, daß ich dieser Dr. Rusch bin.«

Major Braddock kam ins Zimmer. Er hatte ein grünes amerikanisches Hemd über dem Arm und einen wütenden Ausdruck im Gesicht.

«Diese sturen Gehirne!«schrie er bei offener Tür.»Ich weiß, was man Ihnen vorwirft, Professor. Idioten sind das! Aber sie lassen nicht mit sich reden. Sie wollen für das Geld, das man ihnen zahlt, auch was tun. Also machen sie Mist. Nachher entschuldigen sie sich und werfen Sie auf die Straße. Sie werden sehen, so kommt es! Nur weil es zwei Ruschs gibt, spielen sie verrückt. Dabei stehen Sie auf der Liste jener Personen, denen wir ein Angebot für die USA machen wollen. Ein Freundesangebot! Es sollte mich nicht wundern, wenn dieser andere Rusch in die Staaten fährt. Es ist zum Kotzen mit der Militärbürokratie!«

Er warf Rusch das olivenfarbene Hemd hin und nickte.»Ist ganz neu. Ziehen Sie es an, Professor!«

«Morgen wird man es mir wieder abnehmen.«

«Ich habe es gekauft.«

«Das weiß aber der Campleutnant nicht!«

«Dann lasse ich Ihnen mit Farbe auf den Rücken schreiben: Dieses Hemd kaufte Major James Braddock!«brüllte der Major.

Zwei junge Offiziere kamen ins Zimmer. Sie trugen einen Stapel Schriftsachen und warfen sie auf den Tisch.

«Okay!«sagte der eine.»Sie können fragen, Miß Doktor.«

Rusch starrte auf die Röntgenplatten, die neben seinen Händen lagen. Er erkannte die Formulare, auf denen man die Krankengeschichten schrieb, und seine Hand tastete langsam nach einem der großen entwickelten Filme.

«Was — was soll das, Lisa?«fragte er vor innerer Erregung.

«Die neuen Krankengeschichten, Walter«, sagte Dr. Mainetti fest.»Ich wollte sie dir zeigen und dich um Rat fragen. Manchmal komme ich nicht mehr weiter. Du fehlst uns überall.«

Major Braddock zog die Luft laut durch die Nase ein. Er sah, wie die Augen Ruschs sich belebten, wie er über die Zeilen der oberen Krankengeschichte las und wie sein Gesicht sich straffte und so etwas wie eine leichte Röte durch die bleiche Haut schimmerte. Wie gut sie ihn kennt, diese Frau, dachte er. Man muß ihn wirklich beneiden, ohne sich dafür zu schämen.

«Noch eine halbe Stunde habt ihr«, sagte Major Braddock.»Ich will sehen, ob ich diese sturen Hunde nicht doch zum Bellen bekomme.«

Dann waren sie wieder allein, nur der stumme Posten stand an der Tür, unbeweglich, mit starrem Gesicht, wie hingemalt. Er störte nicht, er war ein Teil des Zimmers wie das ausgespannte Sternenbanner an der Wand.

Aufmerksam las Rusch die einzelnen Krankengeschichten und hob die Röntgenplatten gegen das Licht, das fahl durch das schmale Fenster drang. Nach der vierten Platte lächelte er leicht vor sich hin. Er erkannte sie wieder, auch wenn die Namen weggewischt und durch neue ersetzt worden waren. Sein bewundertes Gedächtnis hatte nicht gelitten. Dies war der Mann aus Dresden, dachte er, als er eine neue Platte hochhielt. Ich habe ihm ein neues Schläfenbein gemacht. Und das hier ist ein Unteroffizier aus Wuppertal gewesen. Ein schwerer Fall. Neben dem Unterkiefer war der Oberkiefer gespalten, als habe ein Beil ihn durchhackt. Der ganze Nasenraum hatte offen gelegen.

Liebe, liebe Lisa — es ist ein herrlicher, ein das Herz weitender Betrug. Ich danke dir dafür.

«Wann eingeliefert?«fragte er und spielte die Komödie mit.

«Vor neun Wochen. Aus einem anderen Lazarett.«

«Ein schwerer Fall, Lisa.«

«Darum komme ich ja zu dir, Walter. Nur du kannst hier raten, was ich tun soll.«

Er nickte, legte die Röntgenplatte vorsichtig auf den Tisch zu den anderen zurück und küßte Lisa mit einer zitternden, fast vergehenden Innigkeit.

«Du bist alles, was ich jetzt noch habe«, sagte er leise.»Und doch fühle ich mich reicher als je zuvor. Und stärker, Lisa. Viel, viel stärker.«

Erich Schwabe besuchte drei Tage nach seiner Heimkehr Karlheinz Petsch in dessen Kellerwohnung. Petsch hatte sich seit diesem Abend nicht wieder bei den Schwabes sehen lassen. Da der Frost gekommen war, ruhte auch die Bauarbeit an der Schwabe-Wohnung. Petsch verputzte in Köln warme Innenräume gegen Brotmarken, Raucherkarten und Speck. Er fuhr mit einem eingetauschten Fahrrad bis ins Vorgebirge und reparierte die Ställe der von der Kriegswelle überrollten Bauern. Abends kam er mit prallem Rucksack auf dem Gepäckständer zurück und bestellte die Baustofflieferanten zu sich. Es war ein reges und fruchtbares Geschäft.

«Wir sollten uns zusammentun«, sagte Erich Schwabe, nachdem er von Petsch einen Schluck echten französischen Cognac bekommen hatte.»Maurer und Glaser, das paßt zusammen. Ich habe mit Uschi über alles gesprochen. Du hast dich gut benommen, Kumpel. Es wird mal die Zeit kommen, wo ich dir das danken kann.«

«Halt's Maul und sprich nicht solchen Blödsinn. «Karlheinz Petsch scharrte mit den Füßen. Alles wird sie ihm nicht erzählt haben, dachte er. Warum auch? Und es wird sich noch manches ändern in den nächsten Monaten. Bei aller Liebe kann Uschi mit solch einem Gesicht nicht zusammenleben. Es wird genau so kommen, wie ich's gesagt habe. Dafür werden schon die anderen sorgen.

«Wie ist's denn mit Glas?«fragte er.

Schwabe hob die Schultern.»Ich will sehen, ob die alten Lieferanten — «

«Die blasen dir quer durch den Hintern, Kumpel. Ohne Kompensation ist nichts mehr auf der deutschen Welt. Komm her! Hier sind zwei Pfund Speck. Ich pump' sie dir als Anfangskapital. Damit gehste zu deinen Scheichen und winkst ihnen damit unter der Nase. Und sagst: Ich brauche soundsoviel Glas. Oder ich fress' das Zeug allein! Du sollst sehen wie die in die Ecken kriechen und dir das Glas hinhauen. Und übermorgen fährste mit nach Pfeffern. Ein Bauer will da ein Hühnerhaus gebaut haben. Hühnerhaus — hörste die Glocken läuten? Mensch, Erich — das wäre gelacht, wenn wir nicht auf alle vier Beine fallen, was?«

Mit zwei Pfund Speck in der Hand kroch Erich Schwabe wieder aus dem Keller.

Es gibt noch Kameraden, dachte er froh.

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