Major James Braddock lachte und schob mit dem Zeigefinger der rechten Hand den runden Helm in den Nacken. Er lachte richtig laut wie über einen fabelhaften Witz und sah dabei die stummen, mit verschlossenen Gesichtern dastehenden deutschen Ärzte der Reihe nach an.»Ein guter Witz!«sagte er, als er sich etwas beruhigt hatte.»Morphium! Ich kann Ihnen viertausend Flugblätter geben mit dem Aufruf, die Waffen wegzuwerfen und der US Army mit erhobenen Armen entgegenzukommen — aber Morphium?«
Dr. Lisa Mainetti hob die Schultern.»Wir haben noch 24 Ampullen für 236 Verwundete, Major. Ich nehme an, daß Sie durch das Lazarett geführt werden wollen. Der Rundgang wird Sie überzeugen, daß die Situation durchaus nicht zum Lachen ist!«
James Braddock nahm seinen Helm ab. Seine Haare waren schon angegraut. Ohne Helm sah er älter aus, fast wie ein kleiner Gemüsehändler, der sich für einen Kostümball eine Uniform ausgeliehen hatte. Hinter ihm, in der Eingangshalle und von der Hauptwache her, hörte man Lärmen, amerikanische Kommandos und das Umstürzen von Stühlen und Schränken. Die Panzerbesatzungen durchsuchten die Hauptwache nach versteckten Waffen und Munition. Mit dem Gesicht zur Wand, die Hände in den Nacken gelegt, standen die deutschen Soldaten im Wachraum.
«Ich bin kein Arzt, Miß!«sagte Braddock.»Ich habe die Aufgabe, das Lazarett militärisch zu besetzen, die gesunden deutschen Soldaten als Gefangene abzuliefern, die Gebäude nach Kriegsmaterial zu durchsuchen und Ihnen zu sagen, daß auch Sie sich als Gefangene der US Army zu betrachten haben. Es wird auf Sie sofort geschossen werden, wenn Sie den Lazarettbereich verlassen!«
Professor Rusch nickte. Er griff in die Tasche und hielt Braddock auf der flachen Hand seine kleine Offizierspistole entgegen.»Das ist meine ganze Bewaffnung, Major«, sagte er dabei.»Ob Krieg oder nicht Krieg, ob unter Hitler oder Roosevelt — ich bin Arzt und gehöre zu meinen Patienten. Ich stehe dafür ein, daß niemand versuchen wird, das Lazarett heimlich zu verlassen. Unsere Verwundeten sind nicht das, was man landläufig Verletzte nennt, die jeder Arzt behandeln kann. Hier liegen über 200 Männer, die kein Gesicht mehr haben!«
James Braddock klemmte seinen Helm unter den linken Arm. Er war sehr ernst geworden.»Es ist mir bekannt, Professor. Ich wurde auf Ihre Spezialklinik schon in Frankfurt aufmerksam gemacht, und später in Aschaffenburg. «Er sah auf seine mit einem Schutzleder eingefaßte Armbanduhr.
«In zwei Stunden etwa treffen sie ein.«
«Wer?«fragte Lisa Mainetti.
«Drei amerikanische Soldaten. Sie haben bei Darmstadt, Hanau und Miltenberg ihr Gesicht verloren. Es ist der Wunsch unseres Generals, daß sie bei Ihnen so lange versorgt werden, bis sie in die Staaten ausgeflogen werden können.«
«Ohne Morphium, Major?«sagte Lisa steif.
«Für unsere drei Verwundeten werden die Medikamente mitgeliefert werden. Außerdem wird Dr. Red Stenton mitkommen, der die Oberaufsicht übernimmt. «Braddock wurde wieder dienstlich.»Räumen Sie drei gute Zimmer!«Und zu Professor Rusch:»Bitte, führen Sie mich durch das Haus, Sir.«
Dr. Vohrer übernahm die Aufgabe, drei Zimmer räumen zu lassen. Er verlegte die Gesichtsverletzten in die größeren Räume und ließ aus dem Bunker die frei gewordenen Strohsäcke heraufkommen. Frei geworden bedeutete, daß die bisherigen Inhaber der Strohsäcke im Laufe des Tages gestorben waren.
Langsam, sehr gründlich, ging Major James Braddock durch die Zimmer. Er prüfte die Betten für die drei amerikanischen Soldaten, besah sich die Gesichter einiger Neueingänge, die mit Druckverband, Schienen und einer Tracheotomie, zum Teil noch im Wundschock, regungslos auf den Säcken lagen. In Zimmer B/14 erwartete ihn ein besonderer Genuß. Kaum öffnete sich die Tür, schrie der Berliner» Achtung!«. Die Männer sprangen vom Tisch hoch, um den sie in Erwartung der kommenden Dinge gesessen hatten, nahmen Haltung an, und der Wastl Feininger, aufgeregt, erschüttert, aus der Fassung gebracht, daß für ihn der Krieg endlich zu Ende war, vergaß das Denken. Mit dem Kommando» Achtung!«verband sich bei ihm eine jahrelange selbstverständliche Reaktion. Und so stand er auch jetzt wie ein Pflock und brüllte in die Stille hinein:»Heil Hitler!«
Der Famulus Baumann wurde bleich und faßte sich an die Stirn, Major Braddock drehte sich zu Dr. Mainetti um.
«Aha!«sagte er.»Das ist die Stube, in der Sie die Verrückten aufbewahren?«
Auch dem Wastl war nach seinem zackigen Heilgebrüll klar geworden, was für ein Hornochse er war. Sein Gesicht mit dem riesigen Rollappen wurde tief rot, seine stramme Haltung weichte auf, Fritz Adam trat ihm schmerzhaft gegen das Schienbein, und der Berliner murmelte:»So wat sollte man kastrieren!«
Major Braddock kam langsam auf Feininger zu. Zwei Schritte vor ihm blieb er stehen und sah ihn gründlich an. Der Wastl grinste verlegen und breit. Jetzt haut er mir die Fresse ganz kaputt, dachte er. Gerade jetzt, wo der Krieg vorbei ist. Und der Urban ist schuld, dieses Mistvieh. Er hat uns eingedrillt, nach >Achtung< immer >Heil Hitler< zu schreien. Wie kann man verlangen, daß der Mensch sich so schnell umstellt.
«Ein klein wenig blöd, was?«fragte Braddock ruhig.
Feininger nickte.»Dös bin i, Herr Ami.«
«Der Krieg ist vorbei!«
«Juchhei!«machte der Wastl.
Blöd sein, dachte er innerlich verzweifelt. Das ist noch der einzige Ausweg. Der Kaspar Bloch hat den Tauben gespielt und ist durchgekommen. Maria hilf, daß mir das Blödsein so gut gelingt. Er grinste Major Braddock breit an und hob wedelnd den Zeigefinger.
«Seids ganz schön g'fahrn. Von Neff York bis Bernegg. Tempo habts ihr, dös muß ma sagen!«
Major Braddock wandte sich zu Dr. Mainetti um.»Sind die in dieser Stube alle so?«
«Nein.«Über Lisas schmales, südländisches Gesicht zog ein Schimmer stiller Freude und unterdrückten Lachens.»Auch dieser Mann da, der Wastl Feininger aus Berchtesgaden, ist nicht blöd, Major. Was er jetzt macht, tut er aus Verzweiflung. Es ist ihm vorhin so 'rausgerutscht. Er hat es ja nicht anders gekannt. Und nun hat er nichts als Angst.«
Feininger starrte Lisa an wie ein bettelnder Hund. James Braddock wandte sich ihm wieder zu.
«Wir fressen keinen!«Er klopfte Feininger auf den Arm und nickte ihm zu.»Hoffentlich klappt alles mit Ihrem Gesicht. «Er sah sich nach Professor Rusch um.»Es wäre übrigens eine Idee, Fotos besonders ausgesuchter Gesichtsverletzter in die Zimmer aller Staatsmänner zu hängen — für den Fall, daß sie einmal das Gesicht des Kriegs vergessen sollten!«
Eine Stunde lang ging Major Braddock durch den Block B. In den Bunkern blieb er besonders lange, bei den Sterbenden und den Schreienden, für die kein Morphium mehr vorhanden war.
«Ich bin mit meinem Stab unten in Bernegg«, sagte er, als er wieder in seinen Jeep stieg, zu Professor Rusch. Die beiden leichten Panzer blieben am Eingang stehen, ein Zug amerikanischer Infanterie hatte die Wache übernommen. Ein neu hinzugekommener Lastwagen transportierte die deutschen Soldaten ab, sie standen eng zusammengepfercht auf der Ladefläche und hielten sich an den Seitenwänden fest.»Leutnant Potkins wird im Lazarett bleiben.«
Professor Rusch sah verwundert auf die Hand, die sich ihm entgegenstreckte. Braddock bemerkte das Erstaunen.
«Mein Händedruck gilt dem Arzt, der meine drei Kameraden pflegen wird, nicht dem Deutschen!«sagte er hart.
Rusch legte seine Hand in die des Amerikaners.»Sind meine Gesichtsverletzten auch Kriegsgefangene?«fragte er.
«Was denken Sie?«Braddock winkte. Der Motor des Jeeps heulte auf.»Ob mit oder ohne Gesicht — bis zu anderslautenden Befehlen sind es deutsche Soldaten.«
Drei Stunden später fuhr in schneller Fahrt ein amerikanischer Sanitätswagen durch das Einfahrtstor vor die Aufnahme. Ein junger Offizier, der über seiner Uniform einen weißen Kittel trug, sprang aus dem Fahrerhaus, kaum daß der Wagen hielt. Von der amerikanischen Wache rannten sechs Mann heran und ergriffen die Tragen, als die Rückwand des Wagens aufklappte. Lisa Mainetti und Dr. Vohrer standen bereits im OP, als die drei amerikanischen Gesichtsverletzten hereingetragen wurden. Man hatte ein Tuch über ihre Köpfe gelegt, als könne selbst die Sonne den Anblick nicht ertragen.
«Doktor Stenton«, sagte der junge Offizier. Auch er betrachtete Lisa verblüfft, wie sie in Gummihandschuhen neben dem Operationstisch wartete, neben sich den Famulus Baumann und die OP-Schwester.
Es waren schwere Gesichtsverletzungen, aber sie waren blendend versorgt worden. Die Schienen an den zerschossenen Kiefern saßen, obwohl sie nur provisorisch waren, genau und rutschfest, die Druckverbände waren aus bestem Material, die Verwundeten schliefen unter der Einwirkung beruhigender und schmerzstillender Drogen. Das erstaunlichste war ein weißgraues Pulver, das auf einigen offenen Wunden lag. Dr. Mainetti sah Dr. Stenton an, der auf der anderen Seite des Tisches gewandt, wortlos, mit schnellen Fingern bei der Bloßlegung der Gesichter half.
«Was ist das?«fragte Dr. Mainetti und zeigte auf den Puder.
«Penicillin!«
«Dieses geheimnisvolle Wundermittel?«
«Nicht geheimnisvoll. «Doktor Stenton lächelte.»Vielleicht für Germany. Sind hier 50 Jahre zurück! Wo Penicillin, keine Eiterungen!«
Lisa Mainetti schwieg. Wir sind nicht 50, wir sind 1.000 Jahre zurück, dachte sie verbittert. Wie phantastisch diese neuartigen Klammern sind, mit denen sie die Kiefer ausrichten und stillegen. Wie wundervoll ist das Verbandsmaterial, neu, saugfähig, reißfest. Und wir wickeln seit Jahren mit Binden, die immer wieder gewaschen werden, deren Kanten ausfransen, die dünn sind wie Spinnweben. Und Penicillin haben sie. Wie stolz er es sagt: Es gibt keine Eiterungen mehr. Erst viel später sollte sich herausstellen, daß für die plastische Chirurgie andere Gesetze gelten und es heute eine Grundregel bei Gesichtsverletzungen ist, von der örtlichen Anwendung der Antibio-tica Abstand zu nehmen.
Sie hemmen zwar das Wachstum von Wundbakterien, zugleich jedoch auch die Wundheilung und begünstigen die Entstehung unschöner Narben und Verwachsungen.
Durch die Tür des OP stürzte Professor Rusch. Er war aufgeregt, zum erstenmal sah man ihn mit unordentlichen Haaren und flatternden Bewegungen. Er rannte an den Tisch Dr. Mainettis und drehte sie an den Schultern zu sich um.
«Lisa«, sagte er, atemlos vom schnellen Laufen.»Lisa, ein amerikanischer Wagen ist gekommen. Mit Verbandsmaterial, mit chirurgischem Besteck, mit Morphium, mit diesem neuen Penicillin, mit allem, was uns fehlt!«
«Sie sorgen gut für ihre drei Mann! Sie demonstrieren unseren Irrsinn, gegen sie den Krieg gewinnen zu wollen!«
«Nein, Lisa, nein! Begreifst du denn nicht. «Rusch wischte sich über die Augen, als müsse er aus einem schweren Traum erwachen.»Es ist für uns — für uns, Lisa!«
Dr. Mainetti legte die Schere hin, mit der sie gerade ein Stück Bindegewebe abgetrennt hatte.»Für uns?«Sie sah zu Doktor Stenton.»Für uns?«
Stenton nickte.»Yes! Seit Abraham Lincoln kennen wir die Humanität.«
«Bumm!«Lisa beugte sich wieder über das zerstörte amerikanische Gesicht.»Dr. Stenton ist ein Genie darin, gut sitzende Ohrfeigen zu verteilen!«Während sie den Kiefer vorsichtig mit einer Sonde abtastete, ob lose Splitter vorhanden waren, schielte sie zu Stenton hinauf.»Nun erwarten Sie ein kräftiges >Thank you<, nicht wahr?«
«Yes!«sagte Stenton grinsend.
«Das ist schade. Humanität will keinen Dank. Sie gehört zur Menschenwürde.«
Professor Rusch wandte sich ab und rannte wieder hinaus. Doktor Stenton lachte leise. Mit einer stumpfen, gebogenen Schere drohte er Lisa Mainetti.
«Sie sind ein Teufelskerl!«sagte er.
Auf dicken Gummisohlen an den Stiefeln, fast lautlos, trugen amerikanische Soldaten die Kisten mit Verbandsmaterial und Medikamenten in das Lazarett. Auch zwei Neger waren darunter, große, kräftige Kerle, schwarz wie Ebenholz, mit starken, weißleuchtenden Zähnen und krausen Haaren. Es waren die ersten Neger, die der Wastl Feininger in seinem Leben sah. Er prallte auf sie, als er von der Toilette zurückkam. Obwohl nicht klein, war der Wastl ein Wicht ge-gen sie.
«Kruzisakra!«sagte er in der Stube B/14 und setzte sich betroffen auf sein Bett.»Dös san Mannsbilder! Wenn dös d'Resi sieht — gar nie mehr hoamkemma brauch' i! Mir san ja Zwergl dagegen!«
Mit dem Wagen voller Lazarettmaterial kam noch ein amerikanischer Offizier. Ein Verwaltungsoffizier, der sich in Block A ins Zimmer des Stabsintendanten setzte und ihn und zwei Zahlmeister ins Sammellager nach Bernegg abtransportieren ließ.»Das machen wir allein!«sagte er zu dem Stabsintendanten.
«Ein neuer Zahlmeister, diesmal von den Amis!«meldete der Famulus Baumann im OP, der dem Wechsel zugesehen hatte.»So was haben die also auch!«
«Das beruhigt!«sagte Lisa Mainetti sarkastisch.»Baumann — Kampfer, aber schnell! Man sieht, es bleibt alles beim alten, nur die Monturen wechseln!«
Es blieb nicht alles so, wie es vordem war.
Noch wurde im Ruhrkessel gekämpft, Magdeburg und Leipzig wurden erobert, von Küstrin und Frankfurt/Oder aus nahmen die Sowjets Berlin in eine tödliche, sich immer enger schließende Zange, da erschien Major James Braddock wieder auf Schloß Bernegg. Er hatte die Belegungslisten des Lazaretts studiert und war auf einen Fehler gestoßen.
«Ich möchte Dr. Fred Urban sprechen«, sagte er, als er im Chefzimmer mit Rusch und Dr. Mainetti zusammensaß.
«Ich auch!«sagte Lisa.
«Was heißt das?«Major Braddock wurde sehr grob.»Sie hatten mir Ihr Wort gegeben, Professor, daß niemand.«
«Dr. Urban setzte sich ab, bevor die amerikanischen Truppen einrückten, Major. «Professor Rusch zerdrückte die amerikanische Zigarette, die Braddock ihm angeboten hatte. Der ungewohnte Virginiatabak verursachte ihm ein flaues Gefühl im Magen.
«Warum ist er weg? Als einziger, nicht wahr?«
Rusch hob die Schultern.»Es wird eine Art Panik gewesen sein. Wir wissen es nicht. «Dabei sah er Lisa an, bittend, zu schweigen. Sie verstand seine Anständigkeit nicht und blickte weg, Braddock bemerkte es, ohne darauf einzugehen. Aus seiner Uniformtasche holte er eine kleine, flache Flasche Whisky und stellte sie auf den Tisch.
«Haben Sie drei Gläser, Madam?«
«Sofort.«
Während Lisa drei Gläser aus Ruschs Bücherschrank nahm und sie unter dem Wasserhahn ausspülte, blätterte Braddock in den Röntgenaufnahmen und Krankengeschichten. Rusch wartete auf die nächsten Fragen, er spürte, wie Braddock nach einem Übergang suchte.
«Der Krieg ist für Deutschland verloren«, sagte der Major langsam.»Es kann sich nur um einige Wochen bis zur völligen Kapitulation handeln. Ihr Land, Professor, ist zerstört, es wird noch ärmer werden nach der Kapitulation. Ihr Volk hat einen Krieg verloren, wie noch nie ein Volk vorher einen Krieg verloren hat.«
Er goß die Gläser voll, die ihm Lisa reichte. Professor Rusch legte seine Hand über sein Glas, als könne sich der Whisky verflüchtigen.
«Warum erzählen Sie mir das, Major? Wir wissen es, und wir haben es nicht anders verdient. Wenn eine Hammelherde einem Leithammel nachrennt und dieser stürzt in eine Schlucht, so stürzt die Herde blindlings hinterher. Das ist ein Naturphänomen.«
«Es ist verfrüht, darüber zu sprechen, ich weiß. «Braddock trank sein Glas Whisky mit raschen, kleinen Zügen leer und reichte es Lisa wieder hin, die es erneut vollgoß.»Aber ich könnte mir denken, daß es auf der Welt andere Plätze für Sie gibt als gerade einen Aschenhaufen.«
Professor Rusch nippte an seinem Glas. Der ungewohnte, pure Whisky brannte in seiner Kehle. Er mußte husten und setzte das Glas ab.»Ich bin Deutscher, Major.«
«Aber Ihr gesichtschirurgisches Können ist international bekannt.«
«Ich bin erstaunt, Major. «Rusch nahm trotz der Stärke des Tabaks eine neue Zigarette aus der Packung Braddocks.»Ihr General Eisenhower hat das >No fraternisation< verkündet, und Sie sitzen hier wie ein guter Freund.«
«Das ist meine Privatsache. «James Braddock trank wieder.»Die unangenehme Seite meines Dienstes hat damit nichts zu tun. Ich muß Ihnen zum Beispiel ankündigen, daß ab sofort nur noch 700 Kalorien pro Mann und Tag zugeteilt werden können! Deutsche Bestände sind nicht mehr da. Wir müssen diese 700 Kalorien also von unseren Truppenkontingenten abzweigen. Es muß genügen!«
«Wäre es nicht besser, einige hundert Ampullen Morphium zu liefern? Wir könnten dann unsere Verwundeten schneller erlösen als durch einen langwierigen Hungertod!«sagte Lisa Mainetti. Sie stellte das Whiskyglas hart auf den Tisch und zerdrückte ihre Zigarette.
Braddock verstand die Demonstration. Er erhob sich abrupt.»Machen Sie bitte Herrn Hitler dafür verantwortlich. Wir haben die Aufgabe, Deutschland zu erobern, nicht, es zu ernähren!«
Er steckte seine Whiskyflasche wieder ein und trank sein Glas aus. An der Tür drehte er sich noch einmal um.
«Ich habe die Personalakten dieses Dr. Urban heraussuchen lassen. Ich bin informiert. «Er schüttelte den Kopf, als stehe er vor einem Rätsel.»Euch Deutsche soll einer verstehen. Ihr putzt die Schweine noch, die euch den Stall verdrecken.«
Die 700 Kalorien wirkten sich bald aus.
Dünne Suppen, ein Kleckschen Margarine, ein paar amerikanische Kekse, ein Büchschen Schinken mit Ei, ein Würfelchen Preßtee, ein flaches Stanniolmäppchen Nescafe, eine Stange aus getrockneten Früchten und ab und zu eine Kelle voll rosafarbener Rosinensuppe aus Trockenmilch — das war die Ernährung.
Es gab keine Post mehr. Irgendwo mußte sie sich stapeln, vielleicht verbrannte man sie auch, weil sie nur den Transport wichtigerer Güter belastete. Vor allem Walter Hertz wartete auf ein Lebenszeichen von Petra. Bei dem Zusammenbruch Deutschlands mußte auch der
Fabrikant Wolfach hinweggefegt worden sein. Und mit ihm Petra. In langen vergangenen Wochen war es Walter Hertz klargeworden, daß er falsch an dem Mädchen gehandelt hatte. Es war im Grunde so einsam gewesen wie er, in eine Welt gestellt, die ihrem Wesen zuwider war und die sie ertragen mußte, weil der Mittelpunkt dieser Welt ihr eigener Vater war. Nun war das alles zusammengebrochen, und irgendwo mochte sie jetzt sein, ausgestoßen ohne Hoffnung.
Aber schlimmer als alle seelischen Qualen waren die 700 Kalorien.
Der Wastl Feininger fiel vom Fleisch und schreckte nachts mit einem Aufschrei hoch, weil er von Weißwürsten, G'selchtem und einer Haxe mit Kraut träumte. Er war es auch, der eine glorreiche Idee gebar und dem Spruch Wahrheit verlieh: Ein Genie muß hungrig sein.
Er führte seine Idee im Alleingang aus, sich bewußt, daß die anderen ihn für blöd halten würden. Mit einer Bettpfanne in der Hand, als habe man ihn zur Unterstützung gerufen, pilgerte er zu den drei ausgeräumten Zimmern, in denen die drei amerikanischen Gesichtsverletzten allein lagen. Neben Dr. Red Stenton kümmerte sich noch Dora Graff und natürlich Dr. Mainetti um sie.
Feininger hatte Glück. Im ersten Zimmer war niemand. Der amerikanische Soldat lag allein. Man hatte ihm die Trachealkanüle wieder entfernt und den Luftröhrenschnitt vernäht. Er atmete wieder durch den Mund und durch zwei Plastikröhrchen, die seine Nasenlöcher offenhielten. Bei jedem Atemzug rasselte und pfiff es.
«Bye-bye!«sagte der Wastl und setzte sich an das Bett. Er hatte dieses Wort von den Negern aufgeschnappt und glaubte irrtümlich, daß es eine Begrüßung sei. Der amerikanische Verwundete nickte schwach. Er hatte helle, blaue Augen und kurzgeschorene, blonde Haare, die jetzt wie Stoppeln den Kopf überwucherten.
«Langweilig, was?«fragte der Wastl. Er stellte die Bettpfanne auf den Boden, um sie als Alibi sofort hochzureißen, wenn jemand das Zimmer betreten sollte. Ich setz' ihn sogar drauf, ob er will oder nicht. Sagen kann er ja nichts, dachte er.
Da kann gar nichts passieren.
«Nix Lust?«fragte er und machte vor den Augen des Amerikaners die Bewegung von Kartenmischen und Aufspielen.»Skat! 17 und 4! Mauscheln! Herzblättchen! 66! Doppelkopp! Sakrament, kennt's ihr koa G'spül?«
Der amerikanische Gesichtsverletzte schien zu verstehen. Er hob die Hände und zuckte mit den Schultern. Wastl Feininger atmete auf. Er nahm den Block Papier, auf dem der Verletzte seine Wünsche aufschrieb, und malte in dicken, klobigen Buchstaben:
«Nr. B/14.«
Er reichte das Blatt hin und tippte auf die Zahl.
«Dös bin i!«sagte er.»I!«Er zeigte auf sich. Dann bückte er sich, nahm die Bettpfanne und nickte dem Amerikaner zu.»Bye-bye!«sagte er wieder freundlich grinsend und verließ zufrieden das Zimmer.
Der Erfolg war verblüffend. Er stürzte Dr. Stenton in einen Gewissenskonflikt, der ihn zwang, bei Major Braddock anzurufen. Brad-dock kam sofort hinauf zum Schloß.
«Wem gehört diese Schrift?«fragte er und zeigte das Blatt Papier mit der Zahl B/14 zuerst Professor Rusch, dann Dr. Mainetti.»Der Kerl, der das geschrieben hat, bringt meine Verwundeten durcheinander. Sergeant Rondey verlangt — und er ist nicht davon abzubringen
— auf Zimmer B/14 verlegt zu werden. Er tobt, weil er nicht mehr allein sein will.«
Dr. Mainetti gab Braddock den Zettel zurück.»Für Verletzte, wie unsere Fälle es sind, ist es immer eine große psychologische Hilfe, in der Gemeinschaft mit Gleichleidenden zu leben. Einzelzimmer fordern zu sehr zum Nachdenken heraus und verstärken nur noch das Gefühl, ausgestoßen zu sein.«
«Das leuchtet ein!«Braddock rannte erregt hin und her.»Aber es ist unmöglich! Ein Sergeant der US Army auf einem Zimmer mit deutschen POWs! Das ist völlig ausgeschlossen! Wenn das bekannt würde!«
«Aus diesem Hause sind noch nie Geheimnisse getragen worden, Major. Es ist eine Welt für sich — die abgeschlossene Welt der Gesichtslosen. Hier gelten ganz andere Gesetze als draußen, viel bes-sere.«
Major James Braddock steckte die Hände in die Hosentaschen.»Wer hat diesen Zettel geschrieben?«
«Das wird sich nie feststellen lassen«, sagte Professor Rusch.
«Schweinerei!«Braddock blieb vor Rusch stehen.»Was soll ich tun?«
«Legen Sie Ihren Sergeanten Rondey auf Zimmer 14.«
«Diesen billigen Rat konnte ich mir selbst geben!«
Wütend rannte Braddock hinaus. Zwei Stunden verhandelten Braddock, Leutnant Potkins und Dr. Stenton mit dem Verwundeten. Es wurden Seiten vollgeschrieben und harte Worte gebrüllt. Sergeant Rondey wollte weg. Heraus aus der Einsamkeit. Er wollte Karten spielen.
«Ich liebe die Deutschen nicht«, schrieb er auf seinen Block,»aber es sind Menschen.«
Endlich gab Braddock seufzend nach, nachdem er durch Handschlag Leutnant Potkins und Dr. Stenton zum Schweigen verpflichtet hatte.
Am Abend fuhr man Rondey durch die Tür des Zimmers 14. Sein Bett war aufgeschlagen, die Insassen der Stube 14 hockten auf ihren Stühlen — es war ein ebenso feierlicher Augenblick wie bei der Überreichung eines Weihnachtsgeschenkes.
«Bye-bye!«sagte der Wastl wieder, als Rondey in seinem Bett lag und mit einem Winken und einem glücklichen Leuchten seiner hellen, blauen Augen die deutschen Gesichtsverletzten begrüßte.»Die Kuh ist da.«
«Wieso Kuh?«fragte der Berliner.
«Ja, seid's ihr denn blöd! In vier Wochen frißt er wieder. Aber so-vüll, wie der kriagt, kann er gor net fressen! Und wos übrigbleibt, bleibt, ihr Deppen — a Melkkuh is der doch, ihr Deppen, ihr damischen!«
Die Männer der Stube 14 schwiegen andächtig und sahen zu Sergeant Rondey hinüber. Ein herrliches Ei war ihnen ins Nest gelegt worden. Wenn es ausschlüpfte, hatten alle etwas davon. Es gab zu essen, es gab zu rauchen, es gab Pakete aus Amerika, und es gab et-was, was den Berliner und den Wastl vom Stuhl riß, als sie es beim Auspacken aus dem Kleidersack Rondeys zogen: eine Kollektion Fotos nackter Frauen.
«Sakrakruzidonnerwetter!«brüllte der Wastl.»Jetzt san 700 Kalorien noch zuvüll!«
Der Selbstmord Hitlers, die Eroberung der letzten deutschen Städte, wen kümmerte es noch auf Schloß Bernegg. Nur als Berlin von der Roten Armee überflutet wurde, saß der Berliner auf seinem Bett in der Ecke und weinte. Man verstand diesen Schmerz, niemand redete ihm zu oder versuchte, ihn zu trösten, weil es sinnlos war. Allein saß er da, mit dem Gesicht zur Wand, und schluchzte. Auch Sergeant Rondey schien zu wissen, was diese Stunde im Leben dieses Mannes bedeutete. Er winkte Fritz Adam zu sich, kramte in seinem Brotbeutel herum und holte eine Büchse Erdbeermarmelade heraus. Er zeigte auf den Berliner und gab die Büchse Adam. Leise, als störe er damit, legte Adam die Marmeladendose neben den Berliner auf das Bett. Der sah es nicht. Mit geschlossenen Augen hockte er auf der Bettkante, ein kleiner, armer Mensch, dem man nun alles genommen hatte: die Heimat, die Mutter — und sein Gesicht.
Was kann ein Mensch noch mehr verlieren?
Es war der einzige Tag, dessen Ereignisse noch unter die Haut gingen. Was dann kam, war so weit fort und von so geringem Interesse, daß auf Schloß Bernegg erst der Tag wieder beachtet wurde, an dem die deutsche Wehrmacht bedingungslos kapitulierte. Am 9. Mai 1945 um 0.01 Uhr war der Krieg zu Ende. Von den noch erhaltenen Kirchtürmen klangen die übriggebliebenen Glocken. In der Kapelle von Schloß Bernegg hing wieder der Glöckner mit dem halben Gesicht am Seil, und der dünne, scheppernde Klang wehte über den frühlingsgrünen Park hin.
Ein ausgeblutetes Volk sank in die Knie.
Es hatte dreieinviertel Millionen Wehrmachtstote.
1,6 Millionen Wehrmachtsvermißte.
Über eine halbe Million getötete Zivilisten.
Über zwei Millionen Kriegsbeschädigte.
1,2 Millionen Kriegerwitwen.
1,4 Millionen Halbwaisen.
60.000 Vollwaisen.
Es war die blutigste Lehre seiner Geschichte.
Dr. Lisa Mainetti saß im verdunkelten Zimmer Professor Ruschs in einem der Sessel und hörte das Ende des braunen Deutschlands im Radio. Von der Hauptwache herüber klang Grölen und Gesang. Unten in Bernegg wurde Salut geschossen. Vom Tor des Schlosses antworteten die amerikanischen Wachmannschaften. Sie hielten die Maschinenpistolen in den Nachthimmel und feuerten ihre Magazine leer. Dann begannen auch die beiden Panzer zu schießen. Sie zielten in den Wald neben der Schloßmauer, und bei jeder Explosion, bei jedem Zusammenkrachen der hohen Fichten erhob sich ein Johlen und ein Geschrei:»Happy victory!«
Professor Rusch stand auf und ging in der Dunkelheit zu seinem Bücherschrank. Aus dem unteren Regal räumte er alle Bücher aus, dicke, hohe medizinische Werke, die seit Jahren dort standen und verstaubten. Hinter der Bücherreihe war noch Platz bis zur Rückwand des Schranks. Dort lag, in Packpapier eingewickelt, eine Flasche Wein. Professor Rusch entfernte das Papier und kam zu Lisa Mainetti zurück.
«Eine 1938er Brauneberger Juffer Auslese«, sagte er.»Es ist die letzte Flasche aus meinem Keller. Für den heutigen Tag habe ich sie aufgehoben. Er mußte ja einmal kommen.«
Mit dem Korkenzieher an seinem Taschenmesser öffnete er die Flasche und goß den Wein in die Gläser, aus denen sie damals den Whisky getrunken hatten.
«Nun ist der Krieg vorbei, Lisa«, sagte er feierlich.»Wir haben ihn überlebt. Laß uns das weitere Leben gemeinsam durchstehen.«
«Ein neuer Antrag, Walter?«Lisa legte beide Hände um ihr Glas.
«Ja. Vielleicht der letzte.«
Das Glas in Lisa Mainettis Hand zitterte plötzlich.
«Warum der letzte?«fragte sie stockend.
«Wenn du nein sagst, hält mich nichts mehr in Deutschland. Ich weiß es von Major Braddock. Sie werden mit einem Angebot kommen. Bald. Es gibt Ausnahmen im allgemeinen Deutschenhaß. In mir sieht man eine solche Ausnahme. Ich werde zusagen, wenn du nein sagst.«
«Eine Erpressung, Walter?«
«Man kann Liebe nicht erpressen. «Professor Rusch lehnte sich zurück.»An deiner Antwort werde ich sehen, ob ich in einer Illusion gelebt habe, ob alles wirklich nur eine Liebe war, die der Krieg gebiert und der Frieden erwürgt. Wir kennen uns über zwei Jahre — wir sollten uns keine solchen Erklärungen mehr zu machen brauchen.«
Lisa Mainetti hob ihr Glas und trank.
«Es ist gut, Walter«, sagte sie danach.»Wir können nicht anders.«
«Was?«Ruschs Stimme wurde atemlos.»Ja — oder nein!«
«Ja.«
«Lisa!«Rusch sprang auf. Er warf sein volles Glas mit dem köstlichen Wein an die Wand und riß Dr. Mainetti aus dem Sessel empor.»Lisa! Ich glaube, ich habe als einziger den Krieg gewonnen!«
In den beiden Fenstern des Zimmers B/14 hingen Schwabe, Adam, der Berliner und Feininger, Kaspar Bloch und Walter Hertz. Sergeant Rondey wurde von ihnen gestützt. Er hatte zwar noch strengste Bettruhe, aber das Siegesfest seiner Landsleute sollte er miterleben und mithören. Auch Kaspar Bloch hörte wieder, aber nur im Rahmen seiner Stube und bei Dr. Lisa Mainetti. Sonst spielte er die Rolle des Tauben weiter, gewarnt durch einen Vorfall im Block C. Dort hatten die Amerikaner alle gehfähigen Kranken der Inneren Abteilung als Gefangene mitgenommen. Nur die Bettlägerigen und die Leute auf den Isolierstationen blieben zurück.
«Bleib taub, Kaspar!«hatte Fritz Adam geraten, der durch Dora Graff schnellstens über alle Maßnahmen der Amerikaner unterrichtet wurde.
«Hört das denn nie auf. «schrie Bloch.»Mein Gott, ich will nach zwei Jahren endlich ein vernünftiger Mensch sein!«
Aber er spielte weiter und fiel weder Dr. Stenton noch Major Brad-dock auf.
In Bernegg schossen sie noch immer. Die Panzer vor dem Schloß schwiegen. Die Wolken des Pulverdampfes zogen träge durch die Büsche und durch den Park. Der Wastl schnupperte wie ein Kaninchen.
«Dös werden wir jetzt nie mehr riechen!«sagte er.»Gott sei's gedankt. Wir Deitschen schiaßen nie mehr!«
Und die Glocken läuteten dazu aus allen Tälern.
Mit dem Ende des Kriegs begann, fast über Nacht, der Aufbau. Wie ein Heer Ameisen sich über den zerstörten Bau stürzt und Hälm-chen und Hölzchen und Tannennadeln zusammenträgt, so wimmelte es in den Trümmern der Städte von tätigen Menschen.
Eine Hilfspolizei mit weißen, gestempelten Armbinden wurde eingesetzt, erste Ausweise wurden ausgestellt, Bürgermeister wurden ernannt, die bisherigen Beamten blieben bis zur kommenden >Durch-leuchtung< im Amt, soweit sie nicht besonders stark belastet waren, was sich anhand der überall sofort beschlagnahmten Parteilisten feststellen ließ.
Auch in Köln standen die Frauen und die alten Männer auf den Straßen, räumten die Fahrbahnen frei, warfen die Trümmer in ausgebrannten Häusern zu Haufen zusammen, zogen Lichtleitungen, flickten die Wasserrohre und bargen die letzten Toten aus den Kellern, die freigeschaufelt wurden.
Auch in der ehemaligen Horst-Wessel-Straße begann das Aufräumen. Ursula und Frau Schwabe waren mit einer Handkarre, die ihnen die Nachbarin für zwei Pfund Kartoffeln und eine Wochenzuteilung Butter geliehen hatte, von Straße zu Straße gezogen, von einem ausgebrannten Haus zum anderen, waren in verlassene Keller geklettert und hatten verschüttete Hinterhöfe durchforscht.
Sie suchten eine Tür.
Bei einem der letzten Angriffe auf Köln war eine Luftmine in die Trümmer der gegenüberliegenden Straßenseite gekracht. Der Luftdruck hatte die Kellertür gesprengt und die beiden Frauen gegen die Wand geschleudert. Dort hatten sie mehrere Stunden lang bewußtlos gelegen, mit Mörtel und Staub bedeckt, grau gepudert, wie die Bombenleichen, die noch überall lagen. Es war ein alltäglicher Anblick geworden, und die Nachbarn, die nach dem Angriff in den Schwabe-Keller sahen, nickten nur und gingen wieder.
«Lungenriß!«sagte einer.»Isch jeh zur Ortsjrupp und hol da Papiersack.«
Ein Sarg war ein Märchen aus einem Bilderbuch, eine pietätvolle Erinnerung geworden. In Säcken aus präpariertem Papier wurden die Bombenleichen in Reihen- oder Massengräbern verscharrt.
Aber Ursula und Frau Schwabe hatten den Luftdruck bis auf einige Beulen am Körper überlebt. Als dann die Amerikaner einrückten, waren sie drei Tage lang nicht aus dem Keller herausgekommen, aus Angst, ein Neger könne sie anfallen. Erst als die Kampftruppen weiterzogen und die Besatzungssoldaten kamen, als Köln zur Nachschubdrehscheibe wurde und die Bäckereien pro Kopf 100 Gramm glitschiges Brot ausgaben, wagten sie sich hervor und stellten sich mit in die lange Reihe der Wartenden — von 4 Uhr morgens, sich alle zwei Stunden ablösend, bis sie um 11 Uhr ihre 200 Gramm bekamen.
Nun war der Krieg zu Ende. Eine neue Tür war notwendig. Dreimal waren Trümmerfledderer in den Keller gekommen. Nur der Hilfeschrei der beiden Frauen hatte sie verjagt.
Am Abend hatten sie endlich eine schöne, feste Tür gefunden. Sie hing im Türrahmen eines bis zum ersten Stockwerk ausgebrannten Hauses und hatte früher einen Korridor vom Treppenhaus getrennt. Sogar der Schlüssel steckte noch im Schloß. Zwar war sie etwas angesengt und verwittert, aber es war eine gute, dicke, feste Eichentür.
Ursula und Frau Schwabe bauten sie aus. Sie hieben mit Hämmern den Rahmen auseinander, luden die Tür auf den Handkarren und schoben ihren Schatz ächzend und keuchend zurück zur Horst-Wes-sel-Straße. Sie hieß noch so, obwohl man die noch vorhandenen Straßenschilder sofort beim Einmarsch abmontiert hatte. Aber einen neuen Namen hatte man der Straße noch nicht gegeben.
Als sie vor dem Hause Nr. 4 ankamen und die schwere Tür von der Karre hoben, saß auf der Kellertreppe ein Mann. Er trug einen zerschlissenen graublauen Anzug, eine karierte Sportmütze und plumpe >Knobelbecher<, über die er die Hosenbeine gezogen hatte. Er sprang auf, als er die beiden Frauen kommen hörte, und tauchte aus dem Kellereingang auf, als sie die Tür auf die Straße hoben.
«Der liebe Junge ist wieder da!«rief der Mann, riß seine Mütze vom Kopf und schwenkte sie durch den Maiabend.
Die Tür glitt aus den Händen Ursula Schwabes.
«Karlheinz.«, stammelte sie.»Karlheinz Petsch.«
Frau Hedwig Schwabe biß die Zähne zusammen. Sie stemmte sich gegen die Tür, damit die Karre nicht umschlug.
«Fassen Sie an!«rief sie.»Wenn Sie schon 'mal da sind!«
Und Karlheinz Pesch, der ehemalige Feldwebel der Luftwaffe, spuckte in die Hände, sagte» Hauruck!«, bückte sich etwas, ließ sich die schwere Tür auf die Schulter schieben und trug sie die Kellertreppe hinunter.
«Er ist zurückgekommen«, stotterte Ursula. Sie lehnte sich gegen die Reste des Hauseinganges.»Er muß weg, Mutter. Er muß sofort weg. Du mußt ihm sagen, daß Erich jeden Tag kommen kann. Du mußt ihn hinauswerfen. Sofort, hörst du, Mutter. Sofort!«
«Die paßt wie nach Maß gemacht!«rief Petsch aus dem Keller.»Nur das Schloß geht nicht. Aber 'n Schloß kriegen wir auch noch!«
«Jag ihn weg, Mutter«, stammelte Ursula. Ihre Augen waren schrek-kensweit.»Bitte, bitte.«
Frau Schwabe nickte und stieg in den Keller.
Karlheinz Petsch saß auf einem Stuhl und hatte sich eine Zigarette angezündet. Es war eine süßliche Virginiazigarette. Fünf Stück davon genügten den Amerikanern, um dafür ein deutsches Mädchen zu kaufen. Frau Schwabe wedelte mit der Hand durch die Luft, um den Rauch zu vertreiben, der zu ihr hinzog. Petsch wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
«Tja, Muttchen — da bin ich wieder«, sagte er. Es war eine lahme Rede. In Frau Schwabes Augen las er genau, was sie dachte und was sie ihm gleich sagen würde. Er kam dem zuvor, indem er sich erhob und die Zigarette auf dem Betonboden zertrat. Die Kippe schob er mit der Schuhspitze zum Ofen.
«Ich wußte nicht, wohin, Muttchen. Meine Heimat ist von den Iwans besetzt, Verwandte habe ich nicht mehr, ich habe eigentlich nichts auf der Welt als mich selbst. Ja, und die Erinnerung an Ursula. Das war's. Das hat mich nach Köln getrieben. Gehste hin und fragste höflich, ob du bleiben kannst, habe ich mir gedacht. Und nützlich kann-ste dich machen, habe ich mir gedacht. Ein Mann kann mehr organisieren als zwei Frauen. Organisieren haben wir schließlich gelernt beim Barras, Muttchen!«
«Nennen Sie mich nicht immer Muttchen!«sagte Frau Schwabe streng. Was sie Karlheinz Petsch entgegenschleudern wollte, war hinfällig geworden. Er hatte kein Zuhause mehr, keine Eltern, keine Geschwister, niemanden mehr. Er war zum Strandgut geworden, das die letzten Wellen des Krieges zu ihnen getrieben hatten.
«Wie stellen Sie sich das vor?«fragte sie.
«Wie man sich das so denkt. Ich werde mir einen Nebenkeller ausbauen, und Sie oder Ursula kochen für mich. Das ist alles, was Sie zu tun brauchen. Alles andere mache ich. Ich besorge zu essen, ich beschaffe für euch, was ich kann. Und ich baue das Haus wieder auf.«
«Das Haus?«
«Aber ja! Ich bin doch Maurer und Putzer! Wir werden die Steine schön abklopfen, Wasser gibt's wieder, Sand und Zement werd' ich organisieren. Und Sie sollen sehen, wie schnell wir das Parterre wieder hochgezogen haben! Wenn andere noch in den Bunkern hok-ken, haben Sie schon eine Luxuswohnung! Und als Maurer, Muttchen, da kommt man überall 'ran, da kriegt man alles, was man braucht. Ich bin doch jetzt der wichtigste Mann.«
«Und… und wenn mein Sohn zurückkommt? Jetzt kommt er be-stimmt zurück!«
«Dann geb' ich ihm die Hand und sage: >Guten Tag, Kumpel! Ich hab' mich 'was um deine Frauen gekümmert. Los, die Ärmel hoch und angepackt. Du setzt den Mörtel um, ich mauere.<«
«Und Ursula?«
«Tja«, Karlheinz Petsch hob die Schultern.»Das muß nun Ursula allein wissen. Ich bin immer für sie da.«
«Sie weiß es schon. Sie wartet auf ihren Mann!«
«So sicher bin ich da nicht. Hat sie überhaupt schon einen Gesichtsverletzten gesehen?«
«Ja. Zufällig.«
«Zufällig sehen ist etwas anderes als ein ganzes Leben mit einem solchen Mann zusammenleben. Man kann sich das einmal oder zweimal ansehen. Aber immer? Tag und Nacht? Und man weiß nie: Wird's wirklich anders? Oder bleibt er so?«
Frau Schwabe trat aus dem Eingang. Ihr verhärmtes, vom Hunger gezeichnetes Gesicht zuckte.
«Sie sprechen von meinem Sohn!«sagte sie kalt.»Gehen Sie.«
«Da hört doch alles auf!«Karlheinz Petsch nahm seine karierte Mütze und stülpte sie über die verschwitzten Haare.»Jedem ist heute das Hemd näher als die Hose. Und Sie denken zehn Jahre weiter. Ich könnte mich ja auch hinsetzen und sagen: >So, jetzt wartest du, bis der Iwan wieder aus deiner Stadt 'raus ist.< Einmal muß er ja gehen. Mensch, wo kämen wir da hin? Weitergehen muß es, rundlaufen muß der Motor, sonst wird er sauer! Was ihr macht, ist Blödsinn. Im Keller hocken und sagen: >Es wird schon werden.<«
«Bitte, gehen Sie«, sagte Frau Schwabe eisig.»Wir brauchen Ihre Lebensphilosophie nicht. Wir wissen, was wir tun werden, wenn Erich zurückkommt.«
«Heulen werdet ihr, Kohldampf zu dritt schieben und auf'n Wunder warten! Es gibt aber in Deutschland keine Wunder mehr. Das letzte war, daß wir noch leben!«
Er trappte die Treppe hinauf, die Hände in den Taschen, die Schultern nach vorn gedrückt. Oben am angeschlagenen Hauseingang lehn-te noch immer Ursula und wartete. Als sie Petsch aus dem Keller steigen sah, lief sie ein paar Schritte weiter in die Trümmerberge hinein. Karlheinz Petsch blieb stehen.
«Bin ich ein Wolf?«schrie er zu der zitternden Uschi hinüber.»Ich schlage mich durch Russen, Engländer und Amerikaner durch, um euch 'ne Freude zu machen, und ihr behandelt mich wie ein Stück Dreck!«Er holte tief Atem, griff in die ausgebeulten Taschen seiner Hose und zerrte eine flache Schachtel mit Schoka-Cola hervor, wie sie die Flieger als Sonderverpflegung erhalten hatten. Er legte die Blechdose auf den stehengebliebenen Sockel einer einstigen Zwischenwand und winkte mit dem Kopf.»Hol sie dir. Seit drei Monaten schleppe ich sie mit 'rum. Die bringste der Uschi mit, hab' ich gedacht. Wann hat die zum letztenmal Schokolade gesehen. «Er zögerte, wartete auf eine Antwort, aber als Ursula schwieg, hob er wieder die Schultern.»Also dann nicht, Mädchen. Ich ziehe drei Keller weiter ein. Hab' ihn schon angeguckt, er ist trocken und groß. Und wennste mich brauchst, ich bin immer da. Nicht nur jetzt. Auch wenn der Erich wiederkommt!«
Ursula wartete, bis Karlheinz Petsch über die Trümmer kletterte und hinter den Schuttbergen verschwand. Dann rannte sie zurück zum Keller, an der Schokolade vorbei, und stolperte die Treppe hinab.
Frau Schwabe saß mit versteinertem Gesicht auf ihrem Bett. Das Bild Erichs hielt sie in den Händen und starrte sein lachendes, jugendfröhliches Gesicht an.
«Ich fahre nach Bernegg«, schluchzte Ursula.»Ich fahre morgen schon nach Bernegg, Mutter. Ich… ich will hier nicht mehr bleiben.«
«Es ist gut«, sagte Frau Schwabe und starrte weiter auf das Bild.»Fahr du nur. Es kann dir nur gut tun. Und Erich auch!«
In der Nacht stand Ursula auf und schlich nach draußen. Sie holte die Schokolade.
Die Rechnung Wastl Feiningers mit dem Sergeanten Bill Rondey ging nicht auf. Sie erwies sich als ausgesprochener Fehlschlag. Rondey bekam wegen seines zertrümmerten Kiefers nur flüssige Nahrung, genau abgemessen. Für die Stube B/14 blieb da nichts übrig, ganz davon abgesehen, daß diese Ernährung nicht in der Geschmacksrichtung lag, die man erhofft hatte. Man hatte an Speck und Eier gedacht, an Marmelade, Schmalz und Keks, an Schokolade, Fruchtstangen und Nescafe, an Schinken, Käse und Hühnchen, die tiefgefroren kistenweise direkt aus Amerika in Bernegg ankamen.
«Blöde Hunde sind wir!«sagte der Berliner.»Det müßten wir doch von uns kennen! Wie lange haben wir gebraucht, bis det erste feste Essen kam? Als ob bei 'nem Ami die Visage schneller heilt!«
Der einzige Gewinn war die Fotosammlung. Aber sie stillte nicht den Hunger, im Gegenteil, sie machte hungrig, wenn auch anders. Zwei Wochen nach der Kapitulation holte man Bill Rondey ab. Er sollte nach Amerika geflogen werden, in ein amerikanisches Spezialkrankenhaus für Gesichtsverletzte, nach San Diego.
«Mach's gut, Junge!«sagte der Berliner, als Rondey auf der Trage lag. Sie drückten ihm alle die Hand und gaben ihm ein Geschenk mit. Es war wieder ein Glasmosaik, das Erich Schwabe aus bemalten Glasscherben gebastelt hatte. Ein Bild von der kleinen Schloßkapelle, mit dem hohen Wald dahinter und dem blinkenden Wasserspiegel des Teichs. Unter dem Bild standen alle Namen der Insassen von Stube B/14.
«A souvenir for you, Bill!«sagte Fritz Adam in seinem holprigen Schulenglisch.
Bill Rondey nickte. Seine hellen, blauen Augen waren plötzlich wäßrig. Er nahm seinen Block und schrieb mit großen Buchstaben:
«I like you all together! — Ich mag euch alle zusammen.«
Dann wurde er von zwei riesigen Negern hinausgetragen, und er winkte mit beiden Armen zurück, bis er um die Biegung im Treppenhaus verschwand.
Am nächsten Tag brachte Leutnant Potkins, der >Kommandeur< des Lazaretts, einen Stapel Post zu Dr. Mainetti. Major Braddock hatte ihn vom Postamt Bernegg heraufschaffen lassen, nachdem die Briefe, zum Teil schon drei Wochen alt, die Zensur seiner Schreibstu-be passiert hatten. Auch ein Telegramm war dabei. Es war erst vor zwei Tagen aufgegeben worden und hatte einen abenteuerlichen Weg hinter sich. Über Frankfurt, Darmstadt, Aschaffenburg nach Würzburg und von dort mit anderen Postsachen nach Bernegg.
Lisa Mainetti betrachtete es staunend. Ein Telegramm zu dieser Zeit war seltener als ein Brillant. Entweder war die Weiterleitung ein Irrtum oder ein unsagbarer Glücksfall.
Dr. Mainetti las den Text und zögerte. Soll man es weitergeben? dachte sie. Ist es nicht noch zu früh? Wird Major Braddock es überhaupt erlauben? Aber dann schien es ihr, als sei es nicht recht, das Telegramm zu vernichten und alles in der Stille abzuwenden. Sie faltete das Papier wieder zusammen und ging zu Stube B/14.
Die Männer saßen beim Skat.»Die Hosen 'runter! Ich hab 'n Null-ouvert!«brüllte der Berliner gerade, als Lisa eintrat. Es saß noch in den Knochen, daß Adam >Achtung< rief, und die Spieler die Karten hinwarfen und aufsprangen.
«Kinder, laßt doch den Blödsinn!«sagte Lisa Mainetti. Sie wedelte mit dem Papier und blickte sich um.»Ein Telegramm für Erich Schwabe.«
«Für mich? Ein Telegramm?«Schwabe kam um den Tisch herum. Das Knochengerüst mit dem Periost war gut eingeheilt. In den nächsten Tagen wollten Rusch und Lisa mit der Hautdeckung beginnen. Noch immer sah das Gesicht schrecklich aus, aber es hatte wieder einen vorspringenden Teil, es war keine glatte Fläche mehr.
Mit beiden Händen griff Schwabe zu und faltete das Papier auseinander. Dann begann er zu zittern, riß die Arme hoch, drehte sich im Kreise, umarmte Dr. Mainetti und tanzte im Zimmer herum.
«Sie kommt!«jubelte er.»Frau Doktor, Jungs, sie kommt! Meine Uschi kommt hierher! Sie ist schon unterwegs! Meine Frau kommt, meine Frau. «Er ließ das Telegramm fallen und streckte beide Arme zu Lisa aus, als versinke er in einem rasenden Strudel.»Frau Doktor«, rief er,»Sie müssen mir jetzt einen schönen Verband machen, einen richtig schönen Verband, mit breiten Leukoplaststreifen, damit sie nicht so viel sieht. Mein Gott!«Er setzte sich auf sein
Bett und legte die Hände vor das zerstörte Gesicht.»Sie kommt.«
Der Berliner kratzte sich den Kopf.»Det is schön, Erich«, sagte er langsam.»Aba — ob die Amis se 'reinlassen? Wir sind doch ooch bloß Kriegsjefangene.«