Die Stationsschwester auf der Säuglingsstation sah Erich Schwabe kurz an, als sich die beiden Besucher bei ihr anmeldeten. Schwabe kniff die narbigen Lippen zusammen.»Ja, ich bin's«, sagte er rauh.»Gott sei Dank ist ein solches Gesicht nicht vererbbar.«
«Schnauze«, raunte ihm Baumann zu und stieß ihm die Faust in den Rücken.
«Sie können Ihre Tochter gern sehen. «Die Schwester sah auf einer Liste nach und legte den Zeigefinger auf den Namen Erika Schwabe, Bett 12.»Aber nur durch die Glasscheibe.«
«Warum das denn?«fragte Schwabe laut.
«Wegen der Infektionsgefahr.«
«Mein Gesicht habe ich im Krieg verloren, nicht durch Syphilis«, schrie Schwabe plötzlich. Die Schwester prallte zurück, Famulus Baumann machte hinter Schwabes Rücken verzweifelte Zeichen, um anzudeuten, daß der Besucher offenbar die Nerven verloren hatte.
«Alle Väter dürfen die Kinder nur durch das Fenster sehen. Später, nach den ersten Tagen, ist das anders. Ich kann auch bei Ihnen keine Ausnahme machen. «Die Schwester wandte sich zur Tür.»Wenn Sie bitte mitkommen möchten, Ihre Frau können Sie natürlich im Zimmer besuchen, ohne Glasscheibe.«
«Danke«, sagte Schwabe heiser vor Erregung.»Ich möchte nur das Kind sehen.«
Er sagte nicht mein Kind, sondern das Kind. Baumann bemerkte es sofort und hielt Schwabe am Arm fest, während die Schwester schon hinaus auf den langen Stationsgang trat.
«Erich, wenn du Theater machst«, sagte er leise,»ich schwöre es dir: Vor allen hier haue ich dir eine 'runter, daß du ein drittes Gesicht brauchst!«
«Schon gut. «Erich Schwabe senkte den Kopf. Über sein zerstörtes Gesicht zuckte es.»Wie schön habe ich mir das vorgestellt: Mein Kind ansehen — zum erstenmal, und nun.«
Die Schwester stand vor einer großen, vielfach geflickten und notdürftig wieder weißlackierten Tür und sah sich unsicher nach Schwabe um.»Haben Sie irgend etwas für das Kind mitgebracht?«fragte sie leise.
«Nein.«
Die Schwester zögerte, dann ging sie in die Kinderstation. Neben der geflickten Tür war ein breites, längliches Fenster in die Wand eingelassen. Baumann sah dahinter eine Reihe kleiner, weißer Betten und die hin und her huschende Haube einer anderen Schwester.
«Komm näher, Erich«, sagte er.»Hier ans Fenster. Sie zeigen es dir gleich.«
Schwabe kam ein paar Schritte heran und blieb zwei Meter vor dem Fenster stehen. Es war, als habe er Angst, noch weiter näherzutreten, als scheue er davor zurück, sein zerfetztes Gesicht zu eng an die Scheibe zu legen.
Wie in einem großen Bilderrahmen erschien die Schwester wieder im Fenster. Auf den Armen trug sie ein kleines, strampelndes Bündel. Ein runder, blonder Kopf, zusammengekniffene Augen und zu Fäusten geballte Fingerchen, rosig, zerbrechlich, mit kleinen Wülsten an den Gelenken, ein aufgerissener Mund und ganz fern, ganz gedämpft durch die Scheibe dringend, ein langgezogenes, helles Geschrei.
Die Schwester lächelte und hob das schreiende Bündel hoch gegen das Fenster.
Erich Schwabe stand wie aus Stein. Er starrte das Kind an, hatte den Kopf weit vorgebeugt, aber er kam keinen Schritt näher. Die Finger seiner rechten Hand krallten sich in den Arm Baumanns, so wie ein Erstickender sich in Todesangst festklammert. Er sagte kein Wort. Er starrte nur auf das zappelnde Bündel hinter der großen Scheibe, das die Schwester ihm entgegenhielt.
«Na«, sagte Baumann leise,»sieht es dir nicht ähnlich? Sogar den Hals reißt es auf wie du.«
Schwabe antwortete nicht. Wie ein müder Bär tappte er die beiden Schritte bis zum Fenster vor und preßte das zerstörte Gesicht gegen das Glas. Ganz nahe war er jetzt dem Kind, nur getrennt durch drei Millimeter dickes Glas. Zögernd hob er die Hand und streichelte mit zitternden Fingern über das Fenster, rund um den pendelnden Kopf des Kindes über dieses schreiende Gesicht. Die Schwester hielt es ganz dicht an die Scheibe, und der Atem ließ das Glas beschlagen, und über diesen Nebel sah Erich Schwabe zwei große, runde, blaue Augen.
Lautlos rannen aus seinen Augenwinkeln die Tränen über die Falten und Narben. Immer wieder streichelte er mit ergreifender Zärtlichkeit die Scheibe, bis die Schwester das Kind in das Zimmer mit den vielen weißen, kleinen Betten zurücktrug. Schwabe starrte weiter durch das Fenster, er sah, wie man sein Kind flach hinlegte, wie eine weiß bezogene Decke über den winzigen Körper gebreitet wurde, wie ein großes Gazetuch als Schutz gegen Zugluft und Staub über das Bett gespannt wurde.
Famulus Baumann legte die Hand auf Schwabes Schulter.
«Na, du Idiot«, sagte er leise,»kommst du jetzt endlich zur Vernunft?«
Schwabes Kopf zuckte von dem Fenster zurück, als habe man ihn in den Nacken geschlagen. Er steckte die Fäuste in die Taschen des Mantels und zog das Kinn an.
«Komm«, sagte er laut.
«Wohin?«
«Nach Haus.«
«Ein Stockwerk tiefer liegt Ursula. Sie — sie weiß, daß du heute hier bist. Dr. Mainetti hat es ihr sagen lassen.«
«Wir gehen«, sagte Schwabe trotzig.
«Mein Gott, ein solches Kind hat dir deine Frau geschenkt, und du sturer Hund willst nicht einmal.«
Erich Schwabe wandte sich ab und tappte den langen Gang hinunter. Er stieg die Treppen hinab, ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ die Klinik mit gesenktem Kopf und setzte sich in den alten Kübelwagen, den Kragen hochgeschlagen und die alte Wehrmachtswintermütze über die schartigen Ohren gezogen. Baumann kam nach fünf Minuten hinterher. Er war blaß und zog Schwabe mit einem Ruck vom Sitz des Wagens.
«Sie weint«, sagte er rauh.»Keiner hat sie besucht, seit sie das Kind geboren hat. Niemand kümmert sich um sie. Auch deine Mutter nicht. Man sollte euch Schwabes mit den Köpfen gegeneinander schlagen!«
Schwabe antwortete nichts. Er stand im Schnee, sein zerstörtes Gesicht war weiß, mit violetten Kälteflecken durchsetzt.
«Habt ihr denn kein Herz?«schrie Baumann und schüttelte Schwabe.
«Sie hat es verraten.«
«Wenn ich so etwas höre. «Baumann drückte Schwabe gegen den Kotflügel des Kübelwagens.»Nun hör einmal zu, mein Junge: Du warst in Polen.«
«Ja«, sagte Schwabe rauh.
«Und in Frankreich, in Griechenland, auf dem Balkan und zuletzt in Rußland. Und in all diesen Jahren hat deine Ursula treu zu Hause gesessen und darauf gewartet, daß du zwei Wochen im Jahr mal auf Urlaub kommst. Und du? Na, Kumpel, wie ist's? War da nicht was in Griechenland? Und in Jugoslawien? Und wie war's an der Atlantikküste? Oder war der Feldwebel Schwabe der einzige Soldat der deutschen Wehrmacht, der sich wirklich nur für sein Gewehr interessiert hat und sonst für nichts? Na, wie ist das?«
Erich Schwabe atmete ein paarmal tief.»Laß mich in Ruh'«, sagte er dann.
«Du gehst jetzt hinauf zu deiner Ursula und dankst ihr dafür, daß sie dir ein solches Kind geschenkt hat.«
«Nein.«
Baumann faßte Schwabe an den Mantelaufschlägen.»Erich«, sagte er leise,»wenn du jetzt nicht einsiehst, daß es eine Schweinerei ist, was du tust, bist du für mich Luft. Und für alle anderen auf Schloß Bernegg, dafür werde ich sorgen.«
Schwabe nickte.»Gut«, sagte er mit heiserer, stockender Stimme.»Dann bin ich Luft. Ich brauche euch nicht, um weiterzuleben. Ich will nur meine Ruhe haben und nichts mehr von den Menschen wissen.«
«Aber dieses Kind da ist auch ein Mensch«, schrie Baumann und warf Schwabe gegen den Kübelwagen wie einen schweren Sack.
«Darum habe ich auch Abschied von ihm genommen.«
«Abschied?«stammelte Baumann ungläubig.»Von deinem Kind?«
«Fahr schon«, brüllte Schwabe plötzlich und packte Baumann mit ungeahnter Kraft und hob ihn wie eine Puppe in den offenen Wagen hinter das Steuer.»Was geht dich das alles an? Was kümmert ihr euch alle um mein Privatleben? Macht mir ein vernünftiges Gesicht! Mehr geht euch der Erich Schwabe gar nicht an!«
Ohne ein weiteres Wort fuhr Famulus Baumann zurück nach Bernegg. Als sie durch die Stadt kamen, sahen sie in einer Menschenschlange, die vor einem Fischgeschäft stand, auch die Mutter Schwa-bes. Sie hatte einen alten, braunen Mantel an mit einem Krimmerkragen und um die weißen Haare ein rotes Kopftuch gebunden. Baumann verringerte die Fahrt.
«Deine Mutter«, sagte er und nickte zu der Menschenschlange hin.
«Fahr weiter«, sagte Schwabe eisig.
«Erich — sie hat dich erkannt. Sie schaut herüber. Soll ich nicht.«
«Weiterfahren«, schrie Schwabe und schloß die Augen, als sie knatternd an der Menschenschlange vorbeisausten. Er drückte den hochgeschlagenen Mantelkragen an sein Gesicht und wandte den Kopf zur Seite.
Frau Hedwig Schwabe sah ihrem Sohn mit starren Augen nach. Der Arm, den sie zum Winken schon halb erhoben hatte, fiel schlaff an den Körper zurück. Hinter ihr stießen sie die anderen Anstehenden in den Rücken, die Schlange rückte langsam weiter zum Eingang des Fischgeschäftes.
«Kennen Sie einen von denen?«fragte die Frau neben Hedwig Schwabe.»Arme Kerle. Haben ihnen die Gesichter weggeschossen. Manchmal muß man sich richtig zusammennehmen, wenn man sie ansieht, so schrecklich ist das. Meine Tochter, sie ist 13 Jahre, ist neulich vor einem dieser Armen weggelaufen wie vor einem Gespenst. Und drei Nächte lang hat sie von ihm geträumt, und im Schlaf hat sie geschrien.«
Eine andere Frau ging an der Schlange vorbei, sie kam gerade aus dem Geschäft.»Fisch ist nur noch für zehn Familien da«, sagte sie zu den Wartenden.»Aber als Ersatz gibt's Salzheringe.«
«Auch was. «Die Frau mit der 13 jährigen Tochter schob sich an Frau Schwabes Seite weiter.»Sie, ich kann Ihnen da ein neues Rezept verraten, wie man ohne Fett aus Salzheringen knusperige Bratheringe macht.«
Frau Schwabe schluckte mehrmals krampfhaft, als müsse sie einen Kloß in der Kehle herunterdrücken. Der Kübelwagen tanzte auf der glatten Bergstraße zum Schloß hinauf und entschwand langsam ihren Blicken.
«Und ich, ich habe zwölf neue Arten entdeckt, wie man Steckrüben zubereiten kann«, sagte sie leise.
Dann wandte sie sich ab und starrte in den Nacken der vor ihr Stehenden. Er hat mich nicht gesehen, sagte sie sich immer und immer wieder. Sie sind zu schnell gefahren, er konnte mich nicht sehen. Er wäre nie vorbeigefahren, nie, nie. Ich bin doch seine Mutter.
In der Eingangshalle von Block B stand Dr. Mainetti mit Dr. Voh-rer zusammen, als Baumann und Schwabe zurückkamen. Baumann schüttelte den Schnee von seinem Mantel, ließ Schwabe einfach in der Halle stehen und ging auf sein Zimmer. Verwundert trat Lisa auf Schwabe zu.
«Na, wie war's?«fragte sie.»Sieht die Kleine nicht süß aus? Und wie geht es Ihrer Frau?«
«Ich muß mit Ihnen sprechen, Frau Doktor«, sagte Schwabe tonlos.
«Natürlich. Jetzt sofort? Sie wollen wieder nach Haus, was?«
Sie ging voraus, hielt Schwabe die Tür zu ihrem Zimmer auf und wartete, bis sich Schwabe zögernd gesetzt hatte. Dann ging sie zu ihrem Bücherschrank, nahm die letzte Flasche Whisky heraus, ein immer mehr schwindendes Andenken an Major James Braddock, goß zwei Gläser viertelvoll und schob eines von ihnen zu Schwabe über den Tisch.
«Na, nun schießen Sie mal los. Es hat sich alles geklärt, nicht wahr?«
«Ja, Frau Doktor. Ich möchte Sie bitten, meiner Frau zu sagen, sie soll sich scheiden lassen.«
Lisa Mainetti setzte das Glas, aus dem sie gerade trank, abrupt ab.»Was soll der Unsinn, Schwabe?«fragte sie grob.
«Es soll reiner Tisch gemacht werden, Frau Doktor.«
«Sie haben doch das Kind gesehen?«
«Ja.«
«Und Ihre Frau?«
«Nein.«
«Hat Baumann nicht.«
«Er wollte es. Ich habe die Blumen weggeworfen, Frau Doktor. Ich will nicht mehr. Es hat keinen Sinn, länger darüber zu reden. Ich bleibe hier im Lazarett, das wissen Sie. Und wenn Sie mich 'rauswerfen, passiert was.«
«Das ist Erpressung, Schwabe.«
«Ich weiß, Frau Doktor. Kommt es darauf noch an? Ich bin ausgestoßen, ich gehöre nicht mehr zu den anderen Menschen, jetzt überhaupt nicht mehr.«
«Was heißt das, Schwabe: jetzt überhaupt nicht mehr?«
Schwabes Kopf sank auf die Brust.»Ich habe das Kind gesehen«, sagte er leise und mit schwankender Stimme.»Es ist so schön. Und — und es soll nie einen Vater haben, der so grauenhaft aussieht wie ich. Nie soll es wissen, daß ich der Vater bin. Es soll sich nie vor mir fürchten, sich nie vor seinem Vater ekeln, nie von den anderen Kindern hören >Dein Papa sieht aber schrecklich aus.< Alles, was ich jetzt höre und sehe und fühle, soll ihm erspart bleiben. «Er sah zu Dr. Mainetti auf, und seine Augen schwammen wieder in Tränen.»Sorgen Sie dafür, Frau Doktor, daß alles schnell geht. Daß wir geschieden werden. Daß man dem Kind später, wenn es denken kann, sagt: Dein Vater ist irgendwo in Rußland gefallen. Oder vermißt. Oder in einem Lager verhungert. Irgend etwas wird man schon finden, man hat ja Übung im Lügen.«
Dr. Mainetti antwortete nicht sofort. Sie sah Schwabe nur lange und stumm an, bis er den Blick senkte und den Kopf zur Seite wandte.
«Schämen Sie sich nicht?«fragte sie dann leise.
«Nein.«
«Sie wollen Ihr unschuldiges Kind dafür bestrafen, daß man Ihnen das Gesicht weggenommen hat.«
«Ich will ihm lebenslange Qualen ersparen«, schrie Schwabe voller Verzweiflung.
«Für ein Kind ist der eigene Vater nie eine Qual.«
«Ich sehe wie ein Scheusal aus«, brüllte Schwabe.
«Kein Kind wird das empfinden. Wie soll es das auch? Es wächst auf und kennt den Vater gar nicht anders. Gut, er sieht anders aus als andere Papas. Aber kein Mensch sieht aus wie der andere. Das Kind gerade ist es, das Ihnen zeigen wird, daß das Leben weitergeht und daß es so selbstverständlich weitergeht, wie es einen Frühling und einen Sommer gibt, einen Sonnenaufgang und einen Sonnenuntergang, Wolken am Himmel und Sterne in der Nacht.«
Erich Schwabe verkrampfte die Finger ineinander. Sein mühsam zusammengeflickter Mund zuckte wild.
«Ich habe kein Vertrauen mehr zu den Menschen«, sagte er leise.»Zu keinem mehr. Ich will hierbleiben, hinter den hohen Mauern, bei Ihnen, Frau Doktor.«
«Ich bin auch ein Mensch.«
«Aber ein anderer.«
«Das ist eine Täuschung. Ich habe meine Fehler und Schwächen wie jeder andere. Ich bin nicht um einen Pfennig besser als die, vor denen Sie fliehen wollen.«
«Aber Sie sind meine einzige Rettung«, schrie Schwabe. Er sprang auf und streckte beide Arme weit nach Lisa Mainetti aus.»Sie sind doch meine ganze übriggebliebene Welt. Sie machen mir ein neues Gesicht. Sie geben mir alles wieder, was ich verloren habe. Nicht wahr, das tun Sie doch? Sie schenken mir ein Gesicht?«
«Was ich mit Skalpell und Nadel tun kann, das werde ich machen, Sie wissen das, Schwabe. «Dr. Mainetti sprach laut und grob, wie man es im Lazarett früher von ihr gewöhnt war.»Aber Ihre miese Weltanschauung und Ihren Charakter kann ich nicht vernähen. Wenn ein Kind, Ihr Kind, Sie nicht einmal zu rühren vermag. Mein lieber Schwabe — Ihr Gesicht werde ich wieder aufbauen, aber als Mensch verachte ich Sie.«
Erich Schwabe lehnte sich schlaff an die Wand.»Ich will einen Schlußstrich ziehen«, sagte er noch einmal dumpf.»Das Kind soll nie einen solchen Vater sehen. «Er schluckte und wischte sich über die Augen.»Es wird glücklicher sein, bestimmt. Ein toter Vater ist besser als ein lebendes Ungeheuer von Vater.«
Dr. Mainetti schwieg. Es war im Augenblick sinnlos, weiter mit Schwabe darüber zu reden.
Die Monate gingen langsam und träge dahin. Die Tage klebten an den Stundenzeigern der Uhren wie zäher Schmutz. Nach der Schneeschmelze und den ersten warmen Sonnentagen kam der Aprilregen und überschüttete das Land mit Wassermengen, als wolle er die Erde durchweichen und die Wunden des Krieges auswaschen.
Professor Dr. Rusch hatte selbst mit Frau Hedwig Schwabe und Ursula gesprochen. Nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus hatte sich Frau Schwabe ihrer Schwiegertochter wieder angenommen, nicht aus verzeihender Liebe, sondern aus dem Gefühl des Mitleids heraus. Sechsmal hatte sie versucht, Erich Schwabe zu besuchen und zu sprechen, und jedesmal war sie abgewiesen worden. Die Briefe und die vom Mund abgesparten Eßpakete kamen ungeöffnet zurück.
«Es hat keinen Zweck, er steckt in einer seelischen Krise, die nur noch schlimmer wird, wenn man sie mit Gewalt, und sei es die Gewalt der Liebe, zu lösen sucht. Er wird von allein aus seiner Isolation herausfinden. «Das war ein schwacher Trost, den Dr. Mainet-ti geben konnte. Aber sie riet auch gleichzeitig, niemals in eine Schei-dung einzuwilligen. Auch Professor Rusch war der Ansicht und überbrachte Schwabe selbst die Antwort seiner Frau.
«Da können Sie gar nichts machen, Schwabe«, sagte er, den Brief erklärend, den er selbst aufgesetzt hatte und den Ursula nur abgeschrieben hatte.»Ihre Frau lehnt eine Scheidung ab. Sie selbst können keinerlei Gründe angeben, die ein Gericht anerkennen würde, das wissen Sie. Mißtrauen allein genügt nicht!«
Schwabe las den Brief Ursulas mit ihrer strikten Weigerung. Er hob die Schultern und gab das Schreiben an Professor Rusch zurück.
«Auch gut«, sagte er gleichgültig.»Den Brief hat Frau Doktor gut geschrieben.«
«Irrtum. «Rusch faltete den Brief zusammen.»Ich habe ihn aufgesetzt.«
Schwabe wandte sich ab und klappte ein Buch auf. Es war sein einziger Schutz — die Flucht in die Phantasie. Um ihn herum war alles Persönliche gestorben. Er war ein fast anonymer Patient. Dr. Mainetti und Professor Rusch operierten ihn in gewissen Abständen, je nachdem die Eingriffe verheilten und neue Gesichtspartien aufgebaut werden konnten. Sie sprachen dabei nicht mehr wie früher ein persönliches Wort mit ihm. Stumm kletterte Schwabe auf den Operationstisch, bekam seine Narkose und wurde operiert. Famulus Baumann kam nicht mehr Skat spielen, kein Witz machte mehr die Runde durch den Block B, der einzige, der noch zu Schwabe fand, war Walter Hertz mit seiner neuen Rachephilosophie, die in dem Satz gipfelte:»Wir sind dazu geboren worden, die Menschen durch Ekel von ihrer Dummheit zu heilen.«
Die geschwulstartigen Verwachsungen in der Nase Schwabes stellten sich als nicht bösartig heraus. Vier Tage warteten Rusch und Lisa auf den histologischen Befund aus Würzburg, und als er eintraf, atmeten sie erleichtert auf. Es war eine an sich harmlose Wucherung des transplantierten Knochenstücks gewesen, dessen Auswirkung auf die Nerven allerdings äußerst gefährlich werden konnte.
Zwei Stunden dauerte die Operation, die Schwabe seine dritte Nase geben sollte. Als er aus der Narkose erwachte, lag er, wie damals Ur-sula in Würzburg, allein auf dem Zimmer in seinem Bett. Walter Hertz half in der Küche, Baumann, der sonst am Bett gesessen und das Aufwachen und die stummen Fragen mit einigen dummen Bemerkungen zur Seite geschoben hatte, war nach Bernegg gefahren, um sich mit der Kleiderkarte ein Hemd zu kaufen. Wie ein Aussätziger lag Schwabe in dem stillen, großen Zimmer, den dicken Verband über dem Gesicht und die unbeantwortete Frage wie eine Zentnerlast auf dem Herzen: Ist die Operation diesmal gelungen?
In Bernegg hatten sich Frau Hedwig Schwabe und Ursula eine Zweizimmer-Wohnung gemietet. Dr. Mainetti hatte sie durch den Bürgermeister besorgen lassen, nachdem das Wohnungsamt in guter, deutscher Art gesagt hatte:»Eine Wohnung? Wo denken Sie hin. Vierhundertachtzig Antragsteller sind vor Ihnen dran. Und dann noch ortsfremd? Gehen Sie doch nach Köln zurück, die sind da zuständig für Sie.«
Der Bürgermeister fand schließlich zwei Zimmer, unter dem Dach der Schule, wo man früher alte Karten und ausrangierte Schulbänke aufbewahrt hatte. Als Gegenleistung statt der Miete putzte Frau Schwabe die Schulklassen. Außerdem legte sie einen Schulgarten an, und man versprach ihr, sie dürfte von der kommenden Ernte die Hälfte behalten.
In ihrem Dachzimmer hatte sich Ursula eine winzige Schneiderwerkstatt eingerichtet. Sie hatte vor ihrer Ehe mit Erich Schwabe in einer Schneiderei gelernt, und es reichte aus, um alte Wehrmachtsmäntel in flotte Ulster umzunähen, Jacken zu wenden oder aus gefärbten Decken und Katzenfellen modische Wintermäntel zu nähen. Auch hierbei hatte ihr Dr. Mainetti geholfen. In dem Geräteschuppen, in dem noch immer >Berneggs Geheimwaffe<, das uralte Auto Fritz Adams, verrostete, fand man eine fast neue Nähmaschine, die von den amerikanischen Soldaten irgendwo mitgenommen worden war. Wozu, das wußte niemand mehr, denn nie hatte jemand einen der US-Soldaten an der Nähmaschine gesehen. Vielleicht war es auch nur ein ausgefallenes und dann wegen der Größe zurückgelassenes >Souvenir from Germany<.
Nachdem der Bürgermeister von Bernegg die Nähmaschine vierzehn Tage lang auf dem Schwarzen Brett dem Besitzer zur Rückgabe angeboten und sich niemand gemeldet hatte, durfte Ursula die Maschine zunächst leihweise auf ihr Zimmer nehmen.
So fing die Tätigkeit im >Atelier Schwabe< an, wie Professor Rusch Ursulas nächtliche Arbeit nannte. Erst, wenn die kleine Erika in Omas Zimmer fest schlief, setzte sich Uschi an die Nähmaschine, und das rhythmische Rattern klang die ganze Nacht hindurch bis in den frühen Morgen. Dann schlief Ursula ein paar Stunden, Frau Schwabe kochte die erste Milch für Erika und weckte dann ihre Schwiegertochter, denn es war Zeit, daß sie die Klassen ausfegte und die Räume in Ordnung brachte, bis um 8 Uhr die Kinder kamen.
Mit der Zeit spielte sich alles gut ein. Sogar aus Würzburg kamen Frauen nach Bernegg zu Ursula und brachten alte Kleider und neue, getauschte Stoffe. Es sprach sich herum, daß die kleine blonde Frau fleißig und gut arbeitete und weniger Lohn nahm als ihre Kolleginnen in der Stadt. Für einen halben Liter Öl nähte sie ein neues Kleid, und die Umänderung einer Wehrmachtsjacke in ein grünes Jägerjackett kostete zehn Pfund Kartoffeln und ein halbes Pfund Speck. Das zusätzliche Bargeld zählte nicht. Was war es denn noch wert? Wenn eine amerikanische Zigarette 6 Mark kostete und ein Pfund Butter 400 Mark. Was sind da 100 Mark für ein schickes Kostüm aus weichen holländischen Flauschdecken?
Im Juli bekam sie eine neue Kundin. Lisa Mainetti brachte ihr einen dunkelblauen Kostümstoff, ein Vorkriegsstoff, der in all den Jahren im Schrank Lisas gelegen hatte und auf die Gelegenheit gewartet hatte, die jetzt bevorstand.
«Für das Standesamt«, sagte Dr. Mainetti.»Wenigstens an diesem Tage will ich etwas Neues anziehen.«
Ursula nahm Maß, aber so sehr Lisa darauf wartete — Ursula fragte nicht nach Erich. Er arbeitete unterdessen im Garten, schnitt die großen Rasenflächen, pflegte die Blumenrabatten und hatte vor allem einen Gemüsegarten angelegt, der die Spezialklinik von den unzureichenden Lebensmittelzuteilungen unabhängig machen sollte.
Noch 64 Gesichtsverletzte waren auf dem Schloß. Block A und C waren geräumt und umgestaltet worden. Die Krankenzimmer und Säle waren zu Wohnräumen geworden, in denen man die endlosen Flüchtlingskolonnen unterbrachte, die aus Ostdeutschland und der Tschechoslowakei nach dem Westen strömten. Die ausgewiesenen Familien wohnten einige Wochen in den Schloßgebäuden, bis sie weitergeleitet wurden, in die ländlichen Gebiete Unter- und Oberfrankens, in Barackenlager und Privatzimmer, die manchmal mit Gewalt beschlagnahmt wurden.
Zu den ständigen Insassen des Blocks B kamen die Ambulanten. Sie reisten von allen Ecken Westdeutschlands heran und ließen sich nachoperieren. Viele Bekannte aus den Kriegstagen kehrten für Wochen nach Bernegg zurück, auch Fritz Adam, der Medizinstudent, dessen püppchenhafte Frau Irene ihn wegen Dr. Fred Urban verlassen hatte.
Ohne Anmeldung war er plötzlich auf dem Schloß, und Baumann fiel ihm um den Hals wie einem zurückgekehrten Bruder. Dora Graff, die kleine Rotkreuzschwester, war mitgekommen. Sie hieß jetzt Dora Adam, und das Glück strahlte froh aus ihren Augen.
«Kinder«, sagte Dr. Mainetti und legte die Arme um die Schultern der beiden.»Ich freue mich so, daß ihr beide es geschafft habt!«
Fritz Adam studierte wieder Medizin in Heidelberg. Es war die erste Universität, die wieder voll arbeitete. Schon am 15. August 1945 hatte die medizinische Fakultät die Arbeit aufgenommen, und seit dem 7. Januar 1946 war die Universität mit allen Fakultäten wieder eröffnet. Dora Adam arbeitete in der Medizinischen Klinik als Oberschwester und verdiente den gesamten Unterhalt der jungen Ehe. Die Scheidung von seiner ersten Frau Irene war nur eine Formsache gewesen. Das Gericht, das darüber zu entscheiden hatte, schloß die Verhandlung nach wenigen Minuten, als Irene unbefangen sagte:»Es ist mir unmöglich, mit einem Mann ohne Gesicht zusammenzuleben. Dazu bin ich noch zu jung. «Der wahre Scheidungsgrund war allerdings die Sache mit Dr. Urban gewesen, die Irene ebenso unbefangen zugab.
Nach der Verhandlung drückte der Vorsitzende fast provokatorisch Fritz Adam die Hand und sagte:
«Ich gratuliere Ihnen, die haben Sie los.«
«Wie geht es den anderen?«fragte Fritz Adam, als sie jetzt in Dr. Mainettis Zimmer saßen und ein Stück trockenen Hefekuchen aßen.
«Von dem Berliner weiß ich, daß er im Harz ist und das halbe Dorf schon >'ne Molle< sagen kann. Der Wastl beackert seinen Hof wieder und hat mir dreimal ein Freßpaket geschickt und Oster… na, Sie haben das ja gehört.«
«Von Oster?«Professor Rusch erinnerte sich sofort an ihn. Christian Oster, der als einziger unter den Gesichtsverletzten von Schloß Bernegg mit einem neuen Gesicht entlassen worden war. Drei Jahre hatte man an ihm aufgebaut, was nur möglich war. Die vielen kleinen Eingriffe waren gar nicht mehr zu zählen.»Was ist mit Oster?«
Adam warf einen raschen Blick hinüber zu seiner Frau.»Oster — Oster ist tot.«
«Tot?«Rusch riß erstaunt die Augen auf.»Wie kam denn das? Er war doch kerngesund.«
«Sie haben es nicht gelesen?«
«Gelesen?«Dr. Mainetti hatte ein ungutes Gefühl.»Ist etwas geschehen mit Oster?«
«Er hat erst seine Frau und dann sich selbst getötet.«
Professor Rusch setzte die Tasse, aus der er gerade dünnen Bohnenkaffee trank, hart auf den Tisch.»Aber er war doch am besten dran von allen!«
Fritz Adam hob die Schultern.»Trotzdem. Seine Frau, die sich mit diesem fremden Gesicht nicht abfinden konnte, die Umwelt, die Oster mit triefendem Mitleid überschüttete, das Saufen, bei dem er Zuflucht suchte — es muß für ihn eine unbeschreibliche Hölle gewesen sein. Und dann kam der Kurzschluß. «Adam sah Rusch und Lisa an, die starr auf ihren Stühlen saßen.»Ich dachte, Sie wüßten es. Man hatte mir eine Nachricht geschickt, weil man unter Osters Post auch Briefe von mir fand. Ich bin zum Begräbnis gefahren. Die Nachbarn Osters standen stumm um das Doppelgrab und starrten mich an, als müßte ich der nächste sein. Es war furchtbar. Und der Pfarrer sagte: >Er zerbrach an seinem Schicksal.. Das war falsch. Christian Oster zerbrach an seiner Umwelt, die ihn nicht mehr aufnahm.«
Professor Rusch sah auf seine Hände und bewegte die Finger, als spiele er auf unsichtbaren Tasten.»Da gibt man einem Menschen wieder ein Gesicht«, sagte er leise,»man operiert ihn drei Jahre lang, mit unendlicher Geduld, Millimeter um Millimeter holt man ihn zu den Menschen zurück — und dann kommen sie her und treiben ihn in die Verzweiflung, aus Dummheit, aus Borniertheit, aus Seelenkälte, aus Gleichgültigkeit. Verdammt, es ist zum Kotzen. «Er sprang erregt auf und lief in dem großen Chefzimmer hin und her.»In diesem Augenblick könnte ich lernen, die Menschen zu hassen wie Schwabe«, rief er laut. Fritz Adam und seine Frau Dora zuckten fast gleichzeitig zusammen.
«Was ist mit Erich?«Adam wandte sich an Dr. Mainetti.»Ich habe seit Monaten keine Nachricht von ihm. Meine Karten kamen als >unzustellbar< zurück. Wir alle haben ihn damals um seine Frau und seine Mutter beneidet. Als wir, wie man so sagt, auf der Schnauze lagen, hat er uns mit seinem verteufelten Glauben an die Zukunft aufgerichtet. Das ist doch nicht möglich, daß der Erich jetzt.«
«Er ist hier.«
«Hier?«Dora Adam sprang auf.»Im Schloß?«
«Ja. Als Gärtner. Und Walter Hertz ist auch hier.«
«Der Walter auch?«Adams Stimme war leise, sie schwankte.»Was ist denn mit seiner Petra? Sie hatte ihn doch selbst von Braddock abgeholt.«
«Es ist wie bei Oster. Die Umwelt stößt ihn zurück. Ein Mensch ohne Gesicht ist den Gesunden ein Greuel. «Dr. Mainettis Stimme war voller Bitterkeit.»Hertz und Schwabe kamen zu uns zurück, weil sie noch soviel Lebensmut hatten, nicht das zu tun, was Oster tat. Aber wie es weitergehen soll — ich weiß es nicht. «Lisa hob die Arme und ließ sie hilflos sinken.»Manchmal kommen sie mir vor wie aus dem Nest gefallene junge Vögel, die keiner ihrer Art mehr annimmt, wenn eine fremde Hand sie berührt hat.«
«Kann ich mit Walter und Erich sprechen?«fragte Adam und sprang auf.
«Natürlich. «Rusch stand am Fenster und blickte hinaus in den schon wieder vor Hitze flimmernden Park.»Aber es wird wenig Sinn haben. Sehen Sie, da sind sie, die beiden siamesischen Zwillinge.«
Adam und Dora traten ans Fenster. Unter den Bäumen am Teich kehrten Schwabe und Hertz mit großen Reisigbesen, die sie selbst hergestellt hatten, die Wege von Blättern sauber. Beider Gesichter waren wieder mit Leukoplast verklebt, so als läge kein Jahr zwischen dem Abschied auf dem Bahnhof von Würzburg und heute. Sogar die alten Drillichanzüge trugen sie. Das POW der Amerikaner hatte man zu entfernen versucht. Da es zu fest in den Stoff eingesogen war, hatte man Drillichlappen darüber genäht. Nun sah es aus, als hätten sie im Rücken ein aufklappbares Fenster.
Fritz Adam trat wieder in den Raum zurück. Sein verschmortes, verbranntes Gesicht zuckte. Dora hielt seine rechte Hand fest, und Lisa bemerkte, wie sie sie heimlich und beruhigend drückte.
«Wir würden, wenn es geht, Herr Professor, einige Wochen hierbleiben, Dora und ich. Wir haben uns Urlaub genommen und etwas erspart, um diese Zeit zu überbrücken. Ich möchte, daß Sie mir eine Reihe der Narben auftrennen und das linke Ohr formen. Aber nur, wenn es geht.«
Rusch nickte.»Die Narben, sicherlich. Aber mit dem Ohr, Adam. Sie wissen, daß der Mensch nicht so viel Knorpel besitzt, daß wir ein neues Ohr aufbauen können. Aus Amerika hört man jetzt viel von Kunststoffohren, die man einsetzen kann. Aber bis zu uns ist noch nichts gedrungen. Wir müssen noch nach den altbewährten Methoden arbeiten. Als Mediziner wissen Sie, wieviel Knorpel man zum Aufbau einer Ohrmuschel braucht. Woher nehmen?«
«Schnippeln Sie an mir herum, so gut es geht. «Fritz Adam warf wieder einen Blick auf die beiden arbeitenden Männer im Park.»Vielleicht gelingt es mir und Dora, die beiden Einsiedler umzustimmen.«
Dr. Mainetti hob die Schultern.»Es wäre alles kein Problem, wenn sie einen äußeren Halt hätten.«
«Ja, Hertz kann ich noch verstehen. Aber Schwabe? Er hat doch eine liebe, hübsche Frau, und auch das Kind ist doch da.«
Dr. Mainetti sah Adam stumm an.
«Ach so«, sagte er und senkte den Kopf. Er verstand plötzlich.»So ist das.«
«Schwabe braucht Zeit — aber ob er sie durchhält?«
«Ich werde mit ihm sprechen. «Fritz Adam faßte Dora unter.»Und den Wastl, den Berliner und den Bloch hole ich auch hierher. Schließlich war ich der Stubenälteste. Und hier geht es nicht um den einzelnen, sondern es ist unser aller Problem. Wir haben versprochen, uns gegenseitig zu helfen. Bei Oster haben wir versagt — wir wußten ja von nichts. Aber hier können wir helfen, ehe es völlig zu spät ist.«
Drei Tage später traf der Wastl Feininger in Bernegg ein. Keuchend trabte er den Schloßberg hinauf und schleppte einen dicken Rucksack auf seinen breiten Schultern. Sein Gesicht hatte sich etwas verändert, und die Narben der transplantierten Hautlappen lagen auf der Haut wie kleine, runde, pralle Weißwürste. An dem großen Rol-lappen, mit dem er entlassen worden war, hatte niemand etwas verändert. Er wabbelte noch immer an seiner Gesichtsseite; wie ein Henkel sah er aus, an dem man den Kopf in die Höhe heben konnte.
«Kruzidonnerwetter«, brüllte der Wastl, als er in der Halle von Block B stand und der Famulus Baumann ihn in die Rippen boxte.»Nix hot sich verändert, sogar der saudumme Baumann is do, der damische Hirsch. Und wo san d'andern? Holodrio. «Er jodelte mit erhobenem Kopf und aufgerissenem Rachen das Treppenhaus hinauf und wuchtete seinen schweren Rucksack auf den blanken Steinboden.»Und z' fressen hob i dabei. Eigenschlachtung, ös vertrocknete Zwetschgn. An Kuchen von der Resi. Und drei Büchsen Schmalz.«
Mit dem Nachmittagszug traf Paul Zwerch, der Berliner, ein.»Det ick hier bin, is reine Kameradschaft«, verkündete er als erstes bereits unten in der Halle, als ihn Adam, der Wastl, Schwabe und Hertz umringten.»Mensch, 'ne Puppe saß im Zug. Hellblond, Oojen wie 'n Schaukelpferd und Kurven wie de Avus. Det gab vielleicht 'n Zucken in meenem Maisgrießherz. Und se hat mir anjeblinzelt — so, Kameraden, mit 'nem Blick wie sechs Steppdecken. Aba ick habe mir jesagt: Die Kameraden warten uff dir, und vazichten ist jetzt die erste Bürgerpflicht.«
Kaspar Bloch kam nicht. Er war mit seinem Vater auf einer Vortragsreise in Schweden. Er schickte ein Telegramm:»Macht's gut, Jungens. Beim nächsten Treff bin ich dabei.«
«So, det wär'n wa nun«, sagte der Berliner, als sie ihre Betten in der Stube B/14 gebaut hatten. Er legte zwei Päckchen Spielkarten auf den Tisch und zog seinen Rock aus.»Und nu 'n Doppelkopp, det et kracht. Ick kenn' da 'n paar neue Tricks — die Hosen zieh' ick euch vom Hintern.«
Erich Schwabe saß auf seinem Bett. Vor vier Tagen hatte man ihm einen breiten Hautlappen zur Deckung der linken Wangenpartie transplantiert. Er sah im Augenblick so deformiert aus wie kurz nach seiner Einlieferung 1944. Fritz Adam hatte drei Tage lang mit ihm gesprochen und nichts erreicht als die Bemerkung:»Wenn du weiter über diese Dinge redest, lass' ich mich auf ein anderes Zimmer verlegen. Ich will meine Ruhe haben, verstehst du. Endlich Ruhe.«
«Eins will ich euch gleich sagen«, Schwabe sah in die Gesichter, die sich ihm zuwandten,»wenn ihr hierhergekommen seid, um ein großes Palaver mit mir zu veranstalten — spart euch den Atem. Ich weiß, daß ihr alle Pfundskerle seid und daß wir versprochen haben, uns gegenseitig immer zu helfen. Aber ich brauche keine Hilfe. Bei mir ist alles in Ordnung. Ich fühle mich wohl, so wie es jetzt ist. Und auf eine solche Dummheit wie Oster komme ich auch nicht. Ich habe jetzt andere Freuden. Da ist Otto.«
«Otto ist eine Grünmeise«, erklärte Walter Hertz.
«'ne Meise haste im Jehirn«, sagte der Berliner und warf die Karten, die er gerade mischte, auf den Tisch zurück.»Seh' ick aus wie'n Pastor, der dir zureden will? Jut, vielleicht hat deene Uschi mal an'n falschen Jlas jenippt — Mensch, trinkste denn selbst imma Himbeerwasser? Mensch, Erich — stell dir nicht an wie 'n Heiliger.«
«I hob mit zwoa Sennerinnen a Kind«, schrie der Wastl entrüstet.»Jessesmaria — wenn's Resl oiwei so an Spektakel machn tät. Dös ganze Lebn war ja koa Freud nimma!«
«Ich habe nicht gewußt, daß die Stube B/14 wirklich aus lauter Idioten besteht«, sagte Erich Schwabe laut. Dann stand er auf und verließ demonstrativ das Zimmer. Auf dem Flur stieß er auf Baumann.
«Ich möchte auf ein anderes Zimmer«, sagte Schwabe.
«Was anderes habe ich von dir auch nicht erwartet.«
«Na also. Und wie ist's?«
«Schlaf im Schuppen.«
«Auch gut. «Schwabe hob die Schultern und verließ den Block B. Er ging um den Teich herum spazieren, setzte sich dann unter einer alten Linde ans Ufer und warf Steinchen über die glatte im Schein der Abendsonne goldene Wasserfläche. So traf ihn Dr. Mainetti an, die von dem kleinen Schloßfriedhof herüberkam.
«Das habe ich auch als Kind gemacht«, sagte sie und setzte sich neben Schwabe in das schattige Gras.»Zwölfmal habe ich einen Stein über die Oberfläche flitschen lassen, aber das ist mir nur ein einziges Mal gelungen.«
«Warum laßt ihr mich nicht in Ruhe?«sagte Schwabe dumpf.»Merkt ihr denn nicht, daß ich um so weniger will, je mehr ihr auf mich einredet? Es hat keinen Sinn — bitte, merken Sie sich das auch, Frau Doktor. Ich bin jetzt >drüber<, wie man so sagt. Und ich kann dieses Gewäsch nicht mehr hören. Sagen Sie das auch den anderen.«
«Gut also, Schwabe. «Lisa Mainetti erhob sich und warf die Steine, die sie in die Hand genommen hatte, auf einmal in den Teich.»Wir werden nicht mehr darüber reden, nie mehr. Ich stelle fest: Für Sie existiert die Welt da draußen nicht mehr?«
«Genauso ist es.«
«Sie werden auch nichts mehr davon erfahren. Nicht, wie es Ihrer Mutter geht, was Ihre Frau macht.«
«Es interessiert mich nicht«, sagte Schwabe heiser und gepreßt.
«Und auch was das Kind macht, erfahren Sie nicht mehr. Es ist ja nicht Ihr Kind, nicht wahr?«
Schwabe schwieg hartnäckig. Er starrte Dr. Mainetti nach, wie sie zurück zum Block B ging. Er wußte, daß sie ab sofort alles fernhalten würde, was ihn interessieren könnte.
«Erika«, sagte er leise.»Sie verstehen alle deinen Vater nicht. Ich will doch nur, daß ihr glücklich werdet. Mit mir zusammen könntet ihr es nie.«
Dann ging er langsam tiefer in den Park hinein, warf sich zwischen den Bäumen auf den Rücken und starrte in den blauen Himmel und auf die träge ziehenden Sommerwolken.
«Mein Gott«, schrie er plötzlich,»verstehst du mich denn?«
Der Berliner fuhr wieder ab, nachdem man ihm ein paar Narben herausgetrennt hatte. Dem Wastl nahm Professor Rusch endlich den dicken Rollappen weg, indem er ihn als Deckung der aufgerissenen und zerfurchten Stirn einpflanzte. Dann stand auch der Wastl abmarschbereit und mit leerem Rucksack im Zimmer B/14 und drehte seinen grünen Lodenhut mit dem dicken Gamsbart in den Fingern.
«Noch amol, Erich, komm mit. I bring' di unter bei mir. I hob an großen Hof — und Weiber gibt's genug. Von dö Stadt kemmas 'rüber zum Tauschen. Für a Wurst kriagst fast a jede.«
Erich Schwabe lächelte schwach und klopfte dem Wastl auf die breite Schulter.
«Bist ein prima Bursche, Wastl. Aber was soll ich bei euch? Hier im Schloß habe ich meine Arbeit. Und ich bin von allem genauso weit entfernt wie auf deinem Hof. Vor allem aber werde ich operiert.«
«Das stimmt«, sagte der Wastl.»An neue Visagen kann i dir net bieten. Mach's guat, Kumpel.«
Baumann brachte mit Schwabe, Hertz und Adam zusammen den Wastl nach Würzburg an den Zug. Die Leute auf dem Bahnsteig bil-deten einen weiten Kreis um die vier Männer ohne Gesichter. Der Wastl nickte und winkte aus dem Fenster.
«Mir san koane Zirkusaffen«, brüllte er.
Die Leute wandten sich ab, teils beschämt, teils empört.
«So muaß ma's machen«, sagte der Wastl und winkte mit dem leeren Rucksack, bis der Zug hinter einer Biegung verschwand.
Nach dem Gesetz, daß sich die Ereignisse, sind sie erst einmal richtig im Fluß, wie Sturmwellen überstürzen, brach über die Stube B/14 eine neue und diesmal wesentlich lautere Entscheidung herein.
In der Halle des Blockes B, abgefangen von Baumann und einer Ordensschwester, stand plötzlich Petra Wolfach und verlangte, Walter Hertz zu sehen.
«Ich bin gekommen, ihn abzuholen«, sagte sie zu Baumann, der sie an der Hand nahm und ins Besuchszimmer zerrte. Dort drückte er sie auf einen der geflochtenen Stühle und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
«Abholen. Wie damals, was?«sagte er grob.»Haben Sie eine Zwangsjacke mitgebracht? Anders kriegen Sie Walter nicht mehr aus dem Bau. Der hat von allen Wolfachs die Schnauze voll.«
«Ich bin nicht wie mein Vater«, schrie Petra zurück und sprang auf.
«Mag sein — aber Sie sind von Papas Tasche abhängig.«
«Nicht mehr. Ich habe eine Stellung als Sekretärin angenommen. Ich verdiene genug für Walter und mich. Und außerdem bin ich jetzt 21 Jahre.«
Baumann rieb sich die Nase und sah Petra nachdenklich an. Er wußte, daß Walter Hertz noch immer an sie dachte, daß er sie liebte und sein ganzer Weltschmerz, seine Rachephilosophie nichts anderes waren als ein Schutz vor seinen eigenen Gefühlen, denen er unterliegen würde, wenn er sie nicht unterdrückte. Nachdem sich erst einmal die Verzweiflung gelegt hatte, waren die Monate des Grübelns gekommen, und in diesem Stadium befand sich Walter Hertz immer noch, weil er sich scheute, die Wahrheit zu erkennen: die Lie-be zu dem Mädchen Petra, die unter einem Weihnachtsbaum mit Sternen aus Stanniolpapier begonnen hatte.
Die Tür schwang auf, ehe Baumann etwas antworten konnte. Dr. Mainetti kam herein, ihr Gesicht war vor Aufregung leicht gerötet. Jetzt fliegt sie 'raus, dachte Baumann und empfand plötzlich Mitleid mit dem Mädchen, das bis zu den Fenstern zurückwich. Jetzt feuert sie die Mainetti in alter Stabsarztmanier hinaus. Und zwar so, daß sie nie wiederkommt. Baumann hielt den Atem an. Es war wie die Windstille vor einem Taifun.
«Gut, daß Sie da sind«, sagte Dr. Mainetti laut und streckte Petra beide Hände entgegen.»Ich habe mir immer gewünscht, daß Sie noch einmal kommen. Ich brauche Sie so nötig, wie ein Verdurstender das Wasser. Kommen Sie mit — die Überraschung kann nicht groß genug sein.«