Kapitel 13

Major Braddock blies die Flamme des Streichholzes aus, bevor er seine Zigarette angezündet hatte. Er blickte zu dem Sergeanten hinüber, der gelangweilt an einem kleinen Tisch neben der Tür zum Salon saß wie der Erzengel vor dem Eingang zum Paradies.

«Wolfach?«fragte Braddock gedehnt.»Hier — dieser Fabrikant Wol-fach?«

«Ja. Es ist unser Haus, in dem Sie jetzt wohnen. Ich bin seine Tochter.«

Major Braddock kratzte sich die Stirn.»Und warum sind Sie zurückgekommen? Das Haus ist beschlagnahmt. Ihr Vater ist ein Kriegsverbrecher!«

«Man sagt es.«

«Was heißt: Man sagt es? Er ist es! Daß er geflüchtet ist, beweist, daß er von seiner Schuld überzeugt ist. «Braddock beugte sich vor und sah Petra fordernd an.»Wo ist er denn?«

«Sie erwarten doch nicht, daß ich meinen Vater verrate?«

Braddocks Faust fiel auf den Schreibtisch.»Dieser deutsche Geist!«brüllte er.»Haben wir ihn denn noch immer nicht gebrochen?«

Petra Wolfach saß steif auf dem Lederstuhl. Ihr bleiches, hübsches Gesicht war versteinert.

«Wie würde ein Amerikaner einen Menschen nennen, der seine Verwandten oder Freunde denunziert?«fragte sie laut. Braddock winkte mit beiden Händen ab.

«Ein Nazi hat keinen Anspruch darauf, mit moralischen Wertmaßen gemessen zu werden! Wer zwölf Jahre lang die Moral verachtet hat, kann von uns nicht Milde verlangen! Sie wissen, daß ich Sie festnehmen kann.«

«Die Sippenhaft ist eine Nazi-Erfindung.«

«Was wollen Sie hier!«brüllte Braddock und sprang auf.»Ich lasse Sie hinauswerfen!«

Petra Wolfach senkte den Kopf.»Ich komme aus Mannheim«, sagte sie leise und mit mühsam beherrschter Stimme. Das Weinen gluckste in ihrer Kehle, aber sie schluckte es tapfer bei jedem Atemzug hinunter.»Nein, mein Vater ist nicht dort. Er lebt woanders. Ich arbeite in Mannheim in einer Kantine der US Air-Force.«

«Weiß man in Mannheim, daß Sie.?«

«Natürlich. Ich habe alles erzählt, auch daß ich im BdM war. Führerin.«

«In wieviel Offiziersbetten müssen Sie dafür liegen?«fragte Braddock gemein.

Petra schüttelte den Kopf. Sie blickte nicht auf. Braddock sollte nicht sehen, wie naß ihre Augen waren.»Sie können mich beleidigen, Herr Major«, sagte sie leise.»Ich bin ein wehrloses Mädchen. Ich nehme an, es ist eine große Freude, so vollkommen ein Sieger zu sein.«

«Diese Hochnäsigkeit hat die Deutschen seit dreihundert Jahren überall in der ganzen Welt die Freundschaft der anderen Völker gekostet.«

«Ich bin nicht hochnäsig, Herr Major. «Petra schüttelte wieder den Kopf. Jetzt blickte sie auch auf, und Braddock sah die Tränen in ihren Augen.»Ich bin zu Ihnen gekommen, um Sie um etwas zu bitten.«

«Zu bitten? In diesem Ton? Mit dieser deutschen Arroganz?«

«Sie haben mich, gleich als ich eintrat und ohne daß ich etwas sagen konnte, wie eine Soldatendirne behandelt, die sich beschweren will.«»Ich schöpfe aus einer reichen Erfahrung!«sagte Braddock höhnisch.»Also — was wollen Sie?«

«Ich möchte einen Soldaten besuchen. Einen deutschen Soldaten. Ich weiß nicht, ob er noch dort ist. Kurz bevor Ihre Truppen in Bernegg einmarschierten, war er noch auf dem Schloß.«

Braddock legte den Kopf zur Seite.»Oben, im Lazarett?«

«Ja. Ein Gesichtsverletzter.«

«Und Sie lieben einen dieser Männer?«

«Ja. Ich weiß nicht, ob er noch oben ist. Walter Hertz heißt er, Gefreiter Hertz.«

«Wie soll ich bei 200 Gesichtsverletzten wissen, wer Walter Hertz ist? Entlassen ist keiner aus dem Schloß. Sie sind noch alle dort.«

«Dann ist auch Walter Hertz noch oben!«sagte Petra glücklich. Ihre Augen bekamen einen freudigen Schimmer. Braddock steckte einen Kaugummi in den Mund und wölbte die Unterlippe vor.»Das ist anzunehmen. Und nun?«

«Kann ich ihn sehen?«

«Nein. Er ist Kriegsgefangener.«

«Sehen wenigstens.«

«Das müßte ein Zufall sein. «Braddock setzte sich wieder.»Sie können ihm schreiben.«

«Das habe ich schon getan. Und er hat nicht wiedergeschrieben.«»Dann ist etwas faul an der Sache.«

«Oder der Brief ist verlorengegangen oder falsch geleitet worden. «Petra preßte die Handflächen gegeneinander und stand langsam auf.»Ich kann ihn nicht sehen?«

«Nein.«

«Und wann werden sie ihn entlassen?«

«Da müssen Sie in Washington anfragen.«

«Danke. Entschuldigen Sie, Herr Major.«

Braddock sah ihr nach, wie sie schleppend, als habe sie Blei in den Füßen, zur Tür ging. Der Sergeant erhob sich, um einen der großen Flügel zu öffnen.

«Mein Fräulein vom BdM!«sagte Braddock laut. Petra blieb ste-hen, aber sie drehte sich nicht um.»Ich könnte eine Ausnahme machen, wenn Sie mir einen gewissen Ort sagten.«

Petra antwortete nicht. Sie ging weiter, an dem Sergeanten vorbei in die Halle, vorbei an dem alten, wartenden Mann, und sie hatte den Kopf gesenkt und weinte still vor sich hin.

Braddock kratzte sich wieder die Stirn.»Sie gefällt mir«, sagte er zu sich. Irgendwie erinnerte ihn Petra an Lisa Mainetti. Auch diese hatte jenen Stolz, der ihn rasend machte. Als Hitler an die Macht kam, war dieses Mädchen Petra acht Jahre alt, dachte er. Von Mitschuld kann man da nicht sprechen. Ihr Vater, ja. Und weil ihr Vater schuldig ist, muß auch sie.»So ein Mist«, sagte Braddock laut.

«Da kann ich Ihnen beipflichten, Major.«

Braddocks Kopf flog hoch. Der alte, abgerissene Mann stand im Zimmer und verbeugte sich.

«Entschuldigen Sie, wenn ich Ihrem Selbstgespräch Beifall zolle«, sagte er.»Leider fehlt unserer Welt ein neuer Herkules, der diesen Augiasstall ausmistet.«

«Wer sind denn Sie?«fragte Braddock ungnädig.»Wenn Sie Hunger haben, wenden Sie sich an die deutschen Behörden.«

«Ich habe keinen Hunger. Ich habe nur einen väterlichen Wunsch.«

«Natürlich. Sonst ständen Sie nicht hier! Väterlicher Wunsch?«Brad-dock stützte den Kopf in die rechte Hand.»Sie haben einen Sohn oben im Schloß, im Lazarett? Einen Gesichtsverletzten?«

«Ja. «Der alte Mann hielt sich an der hohen Lehne des Lederstuhles fest.»Ich bin Thomas Bloch. Professor Thomas Bloch.«

Major Braddock schnellte hoch, als habe ihn ein Stachel getroffen.»Professor Bloch!«rief er.»Und das sagen Sie erst jetzt?«Er kam um den Schreibtisch herum und gab Bloch beide Hände.»Nehmen Sie Platz, ruhen Sie sich aus. Phillips — Whisky, Kaffee, was zu essen, was Kräftiges. «Der Sergeant rannte aus dem Zimmer. Braddock hielt Bloch seine Zigarettenpackung hin.»Rauchen Sie, Herr Professor?«

«Ja, schon. «Professor Bloch lächelte schwach.»Aber ich glaube, ich vertrage die starken amerikanischen Zigaretten nicht. Ich kippe vom Stuhl. Früher rauchte ich immer gern die Brissagozigarren. Wissen Sie, die mit dem Strohhalm im Mundstück. Früher — wie lange ist es her? Es ist wie das Blättern in einem Buch über die Geschichte der Vorzeit.«

Braddock setzte sich vor Bloch auf die Kante des Schreibtisches.»Sie wollen Ihren Sohn sprechen, nicht wahr? Natürlich ist das möglich. Unter der Hand natürlich. Wissen Sie, daß man Sie sucht? Ich habe eine Akte über Sie hier. Professor Rusch hat sie noch angelegt. Sie kennen Rusch?«

«Aber ja. Ein ehrenwerter Mann, ein blendender Chirurg. Ich habe ihm die Rettung meines Sohnes zu verdanken.«

«Er ist weg«, sagte Braddock.

«Weg? Wieso?«

«Im Nazilager in Darmstadt.«

«Rusch? Das ist doch wohl ein Witz oder ein fataler Irrtum.«

«Wenn sich das letztere herausstellt, ist's ein fataler Witz.«

«Dann lassen Sie uns jetzt schon zusammen bitter lachen, Major«, rief Professor Bloch.»Rusch ein Nazi? Ebensogut hätte man Sie einsperren können.«

Braddock hob die Schultern.»Ich habe nur einen Befehl des Hauptquartiers ausgeführt.«

«Und wieso besteht eine Akte über mich?«fragte Bloch.

«Professor Rusch hat uns berichtet, daß Sie von den Nazis verfolgt wurden.«

«Verfolgt? Nein. «Professor Bloch schüttelte den weißen, ausgehungerten Kopf.»Ich war nie in einem KZ, in keiner Gestapohaft.«

«Aber man hat Sie als Chefarzt Ihrer Klinik zwangsweise entlassen, Ihnen die private Praxis geschlossen und Sie ohne weiteres zur Fabrikarbeit eingezogen.«

«Das stimmt. Ich habe viele Benachteiligungen durch das sogenannte Dritte Reich erfahren. Auch meine Lehrbücher über die neuen Erkenntnisse der Psychiatrie durften nicht erscheinen, weil sie das Euthanasieprogramm gefährdeten. Aber ich war nie in einem KZ. Man hat mich nie geschlagen oder in den Gestapokellern gefoltert. Das sind die echten Verfolgten, die so etwas erleiden mußten.«

«Merkwürdig. «Braddock nahm seinen Kaugummi aus dem Mund und klebte ihn unter die Tischkante.»Sie glauben nicht, wie viele Naziverfolgte es gibt, seitdem wir hier sind. Jeder, den ein Blockleiter wegen des rückständigen Parteibetrags scharf mahnte, betrachtet sich als verfolgt. Alle waren innerlich dagegen, wir haben plötzlich ein Volk von Gezwungenen, ein Millionenheer der stillen Gegner. Es ist ein phantastisches Rätsel, daß die NS-Idee nach diesen neuen Entdeckungen nur in den Hirnen einer Handvoll Irrer bestand. Das wäre doch ein Problem für einen Psychiater, was, Professor?«

Professor Bloch schüttelte wieder den Kopf.»Es ist gar kein so schwieriges Problem, Major. Es ist eben nur das allgemeine große Hosenscheißen einer von jeher trägen, denk- und konsequenzfaulen Masse Mensch.«

«Sehr gut. «Major Braddock lachte laut. Sergeant Phillips brachte ein Tablett mit Nescafe, Keksen, Fruchtstangen, zwei dick belegten Weißbrotschnitten und einer Flasche Whisky ins Zimmer. Braddock schob das Tablett hin.»Guten Appetit, Professor.«

Bloch aß vorsichtig und langsam kauend eine der Weißbrotschnitten mit gekochtem Schinken. Man sah es ihm an, wie er den Schinken genüßlich auf der Zunge liegen ließ, ehe er ihn zerkaute. In Braddocks Magen bildete sich ein merkwürdiges Gefühl, als quelle ein großer Kloß rasend schnell auf und versteinere dann.

«Ich lasse Ihren Sohn sofort holen, Professor«, sagte er.»Und er wird der erste sein, den wir entlassen. Ich werde sofort einen Antrag ans Hauptquartier weitergeben.«

«Was wollte das junge Mädchen von Ihnen?«fragte Bloch und schlürfte vorsichtig den heißen Kaffee. Braddocks Miene verdunkelte sich.

«Sie hat einen Freund oben auf dem Schloß.«

«Ein Kamerad meines Sohnes?«

Braddock spürte den stillen Angriff, der in dieser Frage lag. Er wich nicht zurück, er stemmte sich dagegen.

«Ja!«

«Sie ging weinend hinaus.«

«In Deutschland weinen hunderttausend Frauen.«

Bloch nickte.»Sie sind die wahren Schuldigen, nicht wahr? Gerade sie muß man hart bestrafen.«

«Wieso?«fragte Braddock steif.

«Die Mütter haben die Söhne geboren, die Soldaten wurden, und die Frauen haben diese Soldaten geheiratet und ihnen durch ihre Liebe Mut zum Kämpfen gegeben. Nach der neuen Denkweise sind also die Mütter und Frauen die Hauptschuldigen.«

«Professor!«Braddock ging mit langen Schritten hin und her.»Auch von Ihnen lasse ich mir diese Ironie nicht gefallen. Sie wissen, daß wir durch Kriegsgesetz zur Härte gezwungen sind. Es besteht ein Sprech- und Besuchsverbot für die Kriegsgefangenen und.«

«Und dieses Verbot gilt natürlich auch für meinen Sohn Kaspar Bloch. «Professor Bloch erhob sich. Er hatte nur eine Scheibe Brot gegessen und eine halbe Tasse Kaffee getrunken.»Ich habe von jeher nach dem Prinzip der Gerechtigkeit gelebt, Major. Bei den Nazis — nun ja, was konnte man da erwarten? Sie haben mit Ihrer Armee diesen Staat zerschlagen, um endlich die Gerechtigkeit einzuführen. Es ist merkwürdig, daß nun auch bei Ihnen die Gerechtigkeit zwei Gesichter haben soll.«

Major Braddock blieb vor den Fenstertüren stehen und starrte hinaus auf den herbstlichen Park.»Dieses verdammte Deutschtum«, sagte er laut.

«Darf ich mich verabschieden, Herr Major. Ich danke Ihnen für das Brot und den Kaffee. Sie haben damit einem alten Mann eine Köstlichkeit bereitet. Und im übrigen werde ich warten, bis mein Sohn mit den anderen entlassen wird. Es ist schon etwas Schönes, hier unten zu stehen, zu dem Schloß hinaufzusehen und zu sagen: Dort oben ist mein Junge. In meinem Alter sind die bescheidenen Freuden die nachhaltigsten.«

Major Braddock fuhr herum.»Der Vater dieses Mädchens ist ein Kriegsverbrecher, Professor.«»Das ist eine klare Antwort, Major. «Professor Bloch schob den Lederstuhl an den Tisch heran.»Es ist wirklich eine Frechheit, daß dieses Mädchen sich nicht das Leben genommen hat, sondern die Stirn besitzt, zu hoffen, zu glauben und zu lieben.«

«Hinaus!«schrie Braddock dröhnend.»Gehen Sie hinaus!«

Eine Stunde später holten zwei Jeeps Kaspar Bloch und Walter Hertz hinunter nach Bernegg.

Warum man sie aus dem Lazarett holte, wußten weder Kaspar Bloch noch Walter Hertz. Die MPs sagten es nicht, und auch Lisa Mai-netti hatte es nicht erfahren können. Braddock hatte angerufen und ins Telefon gebellt:»Die POWs Bloch und Hertz werden sofort abgeholt. Ohne Gepäck. Bereiten Sie alles vor. «Dann hatte er aufgelegt, bevor Dr. Mainetti fragen konnte, was das bedeuten sollte.

So war es nur natürlich, daß die beiden lediglich ihre Uniformen anzogen und ohne besondere verdeckende Verbände, die vor allem Walter Hertz nötig hatte, für die Fahrt nach Bernegg bereitstanden, als die Jeeps eintrafen.

Auf Stube B/14 jagten sich die Mutmaßungen.

«Det is klar wie Wurstbrühe«, sagte der Berliner.»Kaspar wird entlassen, und der Walter kriegt eenen hinjepfeffert, weil er der Petra 'n Kind jemacht hat.«

«Blödsinn!«schrie Walter Hertz.»Das hätte sie im letzten Brief geschrieben.«

«Und dann heißt es ausdrücklich: Ohne Gepäck. «Fritz Adam schüttelt den Kopf.»Das ist was Neues. Wenn das hier ein KZ wäre. Jungs, bei der SS hieß >ohne Gepäck<…«

Walter Hertz wurde blaß.»Mein Vater war Kreisobmann in der Arbeitsfront«, sagte er leise.

«Quatsch!«Erich Schwabe winkte ab.»Da gibt es ganz andere braune Tiere. Wer weiß, was die Amis wollen. Vielleicht nur eine Auskunft. Die Brüder machen ja alles so spannend.«

«Ick bleib' dabei, det es um Alimente jeht«, sagte der Berliner.

Man kam zu keiner Übereinstimmung der Vermutungen. Als die Jeeps abfuhren, hingen die Zurückgebliebenen von Stube 14 in den Fenstern und winkten. Die neueste Auslegung des Falles stammte von Wastl Feininger.

«Leut«, hatte er gesagt,»dös is doch klar, Walter und Kaspar sein die G'sündesten von uns. Arbeiten müassens.«

Man war geneigt, diese Ansicht einstimmig als die einzig richtige hinzunehmen.

Die Jeeps rasten in einem Halbkreis in den Schulhof von Bernegg und hielten vor dem Eingang. Major Braddock kam aus dem Tor, mit finsterer Miene und in schlechtester Laune. Er sah den beiden POWs ohne Gesicht entgegen und überlegte, wie er mit einem Satz, mit einem Wort nur bitterste Galle über sie ausgießen konnte. Aber je näher sie kamen, diese erbarmungswürdigen Fratzen des Krieges, um so mehr schämte sich Braddock vor der eigenen Unbeherrschtheit. Schließlich schob er nur seine Mütze in den Nacken und steckte die Hände in die Hosentaschen.

«Wer ist Kaspar Bloch?«fragte er rauh.

«Hier. «Das Wort entfuhr Bloch unwillkürlich, und erst, als Hertz ihn von hinten in den Rücken stieß, wurde Bloch blaß und starrte Braddock erwartungsvoll an. Über zwei Jahre hatte er meisterhaft und ohne den geringsten Fehler den Tauben gespielt, sogar Dr. Urban hatte ihn nicht überführen können. Jetzt aber, durch diese plötzliche Frage überrumpelt, gab er Antwort und bewies, daß er hören konnte.

«Rindvieh«, murmelte Hertz hinter ihm. Bloch senkte den Kopf. Gebe Gott, daß er nicht weiß, daß ich taub zu sein habe, dachte er. Eigentlich ist es unmöglich, daß Braddock alle Krankengeschichten auswendig kennt. Aber er wird sich an dieses» Hier!«erinnern, wenn einmal die Krankenpapiere wegen Entlassungen durchgekämmt werden und hinter dem Namen Bloch >taub< steht.

«Dann sind Sie Walter Hertz?«fragte Braddock. Er betrachtete das unverbundene, schiefe, eingedrückte, von Narben und Nähten übersäte Gesicht, das hängende Auge und die weggerissene Braue. Ist es nicht ein Wunder, dachte er, daß dieser arme Mensch von einem Mädchen wie dieser Petra Wolfach geliebt wird? Man kann es auch unverständlich nennen. Aber hinter der Mauer in meinem Rücken wartet sie in einer Schulklasse, und um diesen Walter Hertz zu sehen, hat sie eine Verhaftung riskiert, Verhöre, Einweisung in ein Lager.

«Mitkommen«, sagte Braddock.»Sie in Klasse 1, Bloch — und Sie in Klasse 2, Hertz. Eine halbe Stunde — mehr geht beim besten Willen nicht.«

Bloch und Hertz sahen sich verwundert an. Sie verstanden Brad-dock nicht.»Was soll das?«flüsterte Hertz.»Soll'n wir die Klassen schrubben? Das fängt ja gut an.«

«Wenn sie uns dafür etwas extra zu fressen geben, putz' ich die ganze Schule, Mensch.«

Braddock drehte sich um und ging in die Schule zurück. Die MP-Männer lehnten an ihren Jeeps und rauchten. Für sie war die Sache erledigt. Bloch knöpfte sich den Rock auf.

«Na, denn man los, Walter«, sagte er.»Das kennen wir doch: Dreck gleichmäßig verteilen und dann einen Eimer Wasser über alles. Die können uns doch nicht.«

Walter Hertz nickte und lächelte.»Während der Ausbildung mußte ich mal mit 'ner Zahnbürste den Boden der Stube schrubben, und dann kam der UvD und legte ein Brot mit der Butter nach unten auf den Boden und zählte die dranklebenden Staubkörner. «Er sah an der Schulfassade entlang, und plötzlich war es, als habe er einen Schlag in den Nacken bekommen, er kippte nach vorn, hielt sich an Kaspar Bloch fest und krallte die Finger in dessen Oberarm.

«Verrückt, was?«schrie Bloch und wollte Hertz abschütteln.

Hinter einem Fenster war ein Mädchenkopf zurückgezuckt. Den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Walter Hertz hatte ihn noch gesehen, das Erkennen war ein völliger Zusammenbruch.

«Petra!«schrie Hertz auf.

Bloch sah auf die Fenster. Sie waren staubig, ungeputzt, fast schon blind.

«Du Vollidiot!«sagte Bloch und schlug Hertz auf die sich festkrallenden Finger.»Los, komm 'rein.«

Hertz hielt sich an Bloch fest, als habe er Angst, umzufallen. Sein Körper zitterte wild und zuckte im Rhythmus des Herzschlags.

«Petra ist da. Dort, in der Klasse. Ich habe sie gesehen!«Hertz hielt Bloch fest, der in die Schule wollte.»Kaspar, ich bin nicht verrückt, sie ist da. Und ich habe keinen Verband im Gesicht!«

«Mach kein Theater!«Bloch zog Hertz mit sich fort.»Deinen Koller kannste beim Schrubben austoben.«

Walter Hertz riß sein Taschentuch aus der Hose und preßte es gegen seine eingedrückte Gesichtshälfte und das hängende Auge. Er stolperte neben Bloch her in die Schule, stieß mit den Füßen gegeneinander und wäre ein paarmal hingestürzt, wenn Bloch ihn nicht am Rock festgehalten hätte.

«Da, Klasse 2, du Hornochse«, sagte Bloch.»Hoffentlich haben die einen vernünftigen Besen da. Ich werde mir mal meine Klasse 1 ansehen.«

Walter Hertz zögerte. Dann richtete er sich auf, legte das Taschentuch über sein Gesicht, drückte es mit der flachen Hand an und stieß mit der linken Hand die Tür zur Klasse auf.

«Petra!«schrie er.»Petra!«

Fast im gleichen Augenblick ertönte in seinem Rücken, von der Tür der Klasse 1, ebenfalls ein Aufschrei.

«Vater! Vater!«

Dann klappten die Türen zu, und es war vollkommene Stille in den Räumen.

Major Braddock saß am Telefon und sprach mit Dr. Lisa Mainetti.

«Professor Bloch ist soeben hier aufgekreuzt«, sagte er fast gleichgültig. Er hörte, wie oben auf dem Schloß Dr. Mainetti tief Atem holte.

«Bloch? Mein Gott, darum haben Sie Kaspar Bloch heruntergeholt?«

«Yes.«

«Und Walter Hertz? Major, sagen Sie nur noch, seine kleine Petra ist auch da?«»Genau das ist sie. Das liebe Kriegsverbrechertöchterlein von Bernegg.«

«Warum haben Sie das nicht gesagt? Ich hätte Walter Hertz erst verbunden und.«

«Warum immer die Menschen belügen und betrügen. Die Kleine soll ruhig sehen, wie er aussieht. Ein Fegefeuer ist doch dazu da, zu reinigen.«

Lisa Mainetti setzte sich.»Ich werde aus Ihnen nicht klug, Major. Einmal sind Sie eine befehlausführende Maschine, ein Roboter ohne Eigenleben. Und dann entdecke ich in Ihnen wieder einen fabelhaften Menschen.«

Braddock wölbte die Unterlippe vor.»Wir alle haben einen Januskopf, Miß Doktor. Das liegt in der menschlichen Struktur. Im übrigen habe ich einige Aussagen von Professor Bloch über Professor Rusch zu Protokoll genommen und an das Hauptquartier weitergegeben.«

«Was sagte Bloch über Ruschs Verhaftung?«

Braddock zögerte. Dann antwortete er unwillig:»Er war erstaunt.«

Lisa lächelte still. Sie kannte Bloch. Er hatte nie mit seiner Meinung zurückgehalten, früher nicht bei den Nazis, und er würde es heute auch nicht tun. Sie ahnte, was Bloch gesagt hatte, und es machte sie fast fröhlich, einen Menschen zu wissen, der auf der Seite Ruschs stand und erhaben war über allen Verdacht der Schönfärberei oder der Unobjektivität.

«Genügt es, um Rusch freizulassen?«fragte sie gespannt.

«Wohl kaum. Aber es kann die Nachprüfungen abkürzen.«

«Wie kann man bloß einem solchen Schwein wie Dr. Urban glauben? Einem Denunzianten, der selbst.«

Braddock klopfte gegen die Sprechmuschel, um Lisa zu unterbrechen.

«Ein altes Spiel, Miß Doktor. Kain erschlug Abel, und Jakob betrog Esau. Und waren doch alle Gottes Kinder.«

«Mögen Sie nicht Isaak sein!«sagte Lisa und hängte ein.

Major Braddock trank ein großes Glas Whisky.»Phantastisch«, sagte er,»wie in der Bibel alles stimmt.«

Während in der Schule in Bernegg vier glückliche Menschen nebeneinander saßen, bereitete Dr. Mainetti im OP 1 eine neue Operation vor. Sie hatte Dr. Red Stenton und Dr. Vohrer die Röntgenbilder gegeben, und während sie die Aufnahmen betrachteten und in Schulenglisch und holprigem Deutsch sich zu unterhalten versuchten, saß Dr. Mainetti in ihrem Zimmer und studierte noch einmal die Operationsmethode, die sie bei dieser Transplantation anwenden wollte. Sie hatte sie oft bei Professor Rusch gesehen, aber nie selbständig und allein ausgeführt: die von Rusch entdeckte Methode des >Verlötens< von Knochen zur Vermeidung von Pseudoarthrosen.

Nun war Lisa allein auf sich gestellt. Niemand konnte ihr helfen. Dr. Vohrer war ein guter Zahnarzt und Kieferorthopäde, Dr. Stenton ein Allgemeinchirurg. Die Operationen Ruschs lagen nun ganz allein in Dr. Mainettis Händen, und keiner war da, der ihr die große Verantwortung, die sich daraus für sie ergab, abnehmen konnte.

Es war der Gefreite Christian Oster, der in diesen Minuten von Famulus Baumann für die Intubationsnarkose vorbereitet wurde. 24 Operationen hatten sein Gesicht leidlich wieder in eine menschliche Form gebracht. Zuletzt hatte Rusch, kurz vor seinem Abtransport in das Lager Darmstadt, einen Weichteillappen aus der Brusthaut formiert und eingepflanzt. Es war gut verheilt. Nun war es nötig, eine Knochentransplantation aus der Hüfte vorzunehmen und diesen Knochenspan als neuen Unterkiefer einzusetzen.

Christian Oster lag bereits narkotisiert und operationsbereit auf dem Tisch, als Lisa Mainetti in den OP kam und sich wusch. Dr. Vohrer machte ihm noch eine SEE-Injektion, eine große Erleichterung für die Äthernarkose, bei der dann weniger Äther gebraucht wird. Oster war rasiert, jodiert und atmete ruhig durch den Schlauch. Dr. Sten-ton kontrollierte den Puls, den Bauchdeckenreflex, es war alles normal. Er war ein wenig aufgeregt, man sah es an seinen unruhigen Augen, denn es war die erste große Gesichtsoperation, die er als Assistent Nr. 1 machte, der Platz, auf dem sonst Lisa stand, wenn Professor Rusch operierte.

Dr. Mainetti trat an den Tisch heran. Die Oberschwester klapperte mit den Instrumenten. Sie kannte die Griffe im voraus, sie war oft die einzige gewesen, die mit Ruschs Schnelligkeit mitkam und sich nicht irritieren ließ. Sie sprach wenig, und ihr schmales Gesicht unter der weißen Haube der Ursulinerinnen war immer ernst und fast maskenhaft.

«Alles o.k., Doc?«fragte Dr. Mainetti. Dr. Stenton nickte.

«O.k., Madam.«

Lisa machte den ersten Schnitt, von einem Kieferwinkel zum anderen. Stenton klemmte die Gefäße ab und setzte Catgutligaturen. Famulus Baumann kontrollierte und regulierte unter Aufsicht Dr. Vohrers die Narkose. Schnell, an die einzelnen Handgriffe Ruschs denkend und sie wie einen Film vor dem inneren Auge abspielend, schuf Lisa ein Wundbett für die Aufnahme des Knochenspans aus der Hüfte. Die noch stehenden Stümpfe des Unterkiefers wurden präpariert, damit sie genau im Wundbett lagen. Mit einer Fräse glättete Lisa alle Unebenheiten. Mit größter Vorsicht und Sorgfalt führte sie den elektrischen Bohrer, der die Fräse trug, es war eine ungeheure Feinarbeit, denn bei der kleinsten falschen Haltung des Bohrers konnte die Fräse abgleiten, ins Wundbett geraten und dort nach der Mundhöhle zu ein Loch reißen.

Das würde bedeuten, daß alle Arbeit umsonst gewesen war, denn die Sterilität könnte nicht gewahrt werden. Die Schleimhaut der Mundhöhle ist voller Bakterien und nicht steril zu halten.

Lisas Fräse glättete die Kieferstümpfe und schliff die im Laufe der Monate neu gebildeten Knochenbälkchen an. Es war nötig, an das Mark heranzukommen, um die Kallusbildung zu aktivieren, die zum Zusammenwachsen der beiden Knochenteile — des Kieferrestes und des Transplantates — dringend notwendig ist. Ein Einheilen ist sonst unmöglich.

Dr. Vohrer hatte während dieser Millimeterarbeit am Kiefer schon den Hüftschnitt gelegt. Er war 18 Zentimeter lang, der Hüftknochen lag frei, und Dr. Stenton maß mit einem Zirkel die Ausdehnung ab, die der Span haben sollte.

Lisa Mainetti winkte. Der Knochenmeißel wurde gereicht.

«Lassen Sie mich das machen«, sagte Dr. Vohrer.»Das ist Männersache, Lisa.«

Dr. Mainetti schüttelte den Kopf. Sie beugte sich tiefer, die Hitze des OP-Scheinwerfers verbrannte ihr den Nacken, und dann hämmerte sie den Span ab. Es war vollkommen still im OP, nur das Klopfen schwirrte durch den heißen Raum. Da-dam da-dam da-dam. Fünfzig, sechzigmal, das gleiche eintönige Geräusch, in einem fast einschläfernden Rhythmus.

Dann war der Span abgelöst, wurde vorsichtig herausgehoben und von Lisa zweimal angebrochen, um die Kinnwinkel zu formen. Sten-ton hielt den Span in seinen leicht bebenden Fingern. Noch einmal untersuchte Lisa das Wundbett, ob nichts vergessen war. Dann nickte sie und Stenton gab ihr den gebrochenen Span. Auf den Millimeter genau paßte er, als Lisa ihn zwischen die beiden Kieferstümpfe einsetzte.

Stenton atmete auf.»Wonderful!«sagte er leise.

Lisa sah ihn nicht an. Jetzt kam jene Phase der Operation, die Rusch sich erarbeitet hatte. Das Verlöten. Oft kommt es vor, daß die Enden des eingepflanzten Spans und die Kieferastreste nur eine schwache Kallusbildung hatten und nicht zusammenwuchsen: die gefürchtete Pseudoarthrose, also die Bildung einer Art beweglichen Gelenks an einer falschen Stelle. Umfangreiche Nachoperationen wurden dann notwendig, und manchmal war es unmöglich, überhaupt noch Transplantationen vorzunehmen.

«Löffel!«sagte Lisa laut. Die Operationsschwester hatte ihn bereits in der Hand und reichte ihn an.

Lisa begann, wie es Rusch immer getan hatte, das Knochenmark der Hüfte auszulöffeln und zwischen die beiden Enden von Span und Kiefer zu >schmieren<. Wie das feine Vergipsen einer Mauerlücke war das. Als Lisa sich zurückbeugte, waren die Knochenenden nicht mehr sichtbar. Es war eine glatte Fläche geworden.

Dr. Stenton nickte stumm. Auch wenn er wenig davon verstand, leuchtete ihm die an sich primitive Methode ein. Dr. Mainetti hatte ihm erzählt, daß es seit drei Jahren, solange sie mit Professor Rusch zusammenarbeitete, nach der Transplantation mit dieser Methode keine Pseudoarthrosen mehr gegeben habe.

Dr. Vohrer und Lisa stellten den neuen Unterkiefer ruhig, er wurde sozusagen verschnürt, die Wunde wurde mit Silberdraht verschlossen und der Kopf >steif< verbunden, so daß er kaum drehbar war: Eine Gipsmanschette wurde angelegt. Unterdessen vernähte Sten-ton die Hüftwunde, legte einen Schlauch ein und klammerte die Epidermis. Dann entfernte Famulus Baumann den Tubus und injizierte Weckmittel. Noch während der Gefreite Christian Oster mit seinem neuen Kiefer, der ihm das vollständige Aussehen eines Menschen wiedergab, aus der Narkose erwachte, wurde er in sein Zimmer weggerollt, und Baumann blieb bei ihm, bis er wieder völlig zu sich kam und bei Bewußtsein war.

«Na also«, sagte er zu Oster, der stocksteif im Bett lag, unbeweglich durch seine Gipsmanschette.»Das hätten wir. Nur Boxer darfs-te später nicht werden.«

Christian Oster blinzelte mit den Augen. Sprechen konnte er ja nicht. Er machte die Bewegung des Schreibens, und Baumann hielt ihm einen Block hin und gab ihm einen Bleistift.

«Boxer nicht«, schrieb Oster.»Aber dich trete ich bei Gelegenheit noch mal in den Hintern. Ist das Kinn wirklich in Ordnung? Junge, was wird sich meine Frau freuen.«

Baumann nickte, nachdem er die Zeilen gelesen hatte.

«Bestimmt«, sagte er.»War 'ne Arbeit, schon vorher, mit dem Brustlappen. Stell dir vor, wir hätten dir die Brustwarze mit verpflanzt. Junge, das wär 'n Wonnepickel geworden.«

Die anderen im Zimmer brüllten begeistert. Der Bann, der jedesmal über die anderen fiel, wenn ein Frischoperierter aus dem OP zurückkam, war gebrochen.

Die nächsten sind wir, dachten sie. Und wie werden wir einmal aussehen?

Nach dem Mittagessen kamen Kaspar Bloch und Walter Hertz ins Schloß zurück. Sie hatten jeder eine große Schachtel Keks bei sich und eine Büchse Schinken mit Ei.

Der Berliner sah die beiden verwundert an, als sie glückstrahlend ins Zimmer marschierten und ihre Schätze auf den Tisch legten.

«Ich meld' mir ooch zur Arbeit!«rief der Berliner sofort.

«Was gibt es Neues, Jungs?«fragte Schwabe.»Seit einer Woche keine Post mehr. Habt ihr was gesehen von Post?«

«Mein Vater ist gekommen«, sagte Bloch und wischte sich über die Augen.

«Und Petra ist auch da«, rief Walter Hertz.

«Du jrüne Neune! Und die hat dir so in de Oojen jekuckt? Ohne Verband?«Der Berliner sah Hertz entsetzt an.»Det arme Mädchen.«

Erich Schwabe legte Bloch und Hertz die Arme um die Schultern. Er wußte, was es bedeutete, so unendlich glücklich von Bernegg zurückzukommen.»Ich freue mich mit euch, Jungs«, sagte er.»Sieht das Leben nicht gleich anders aus?«

Kaspar Bloch zog seine Uniformjacke aus und warf sie auf sein Bett. Das leuchtend weiße POW kam nach oben zu liegen. Bloch zeigte auf das Zeichen.

«Das ist auch bald vorbei!«sagte er.

«Was hoaßt dös?«brüllte der Wastl.

«Mein Vater hat lange mit Major Braddock gesprochen. Es ist so etwas im Gange, daß wir noch vor Weihnachten entlassen werden. Vor allem die schwersten Fälle.«

«Det is vielleicht 'ne Scheiße!«sagte der Berliner.»Je vernünftiger de Fresse, um so länger in Gefangenschaft! Ick werd' mir weigern, det se weiter an mir operieren!«

Fritz Adam tippte an die Stirn.»Nun überlegt doch mal, Kinder. Gut, ihr werdet entlassen, es geht nach Hause. Und dann? Wollt ihr denn immer und ewig so wie jetzt herumlaufen? Lieber ein Jahr länger hier und ein halbwegs vernünftiges Gesicht, als.«

«Det kann ooch nur der sajen!«schrie der Berliner.»Der hat sein Mäuschen im Stall. Die Dora bleibt, wo er ist. Aba uns kneifen se janz schön in den Hintern. Det Jesicht ham se mir wegjeschossen — alles andere ist normal!«

«Wenn man euch hierbehält, gibt's alles umsonst: Verpflegung, ein Bett, die Operationen und Medikamente. Seid ihr entlassen, müßt ihr alles selbst bezahlen. Und das kostet ein Vermögen!«

«Det is' 'ne schiefe Rechnung. «Der Berliner hob die rechte Hand hoch und zählte an den Fingern ab.»Ick mache dir 'ne andere Mühle. Wat du Verpflegung nennst, ist'n Dreck. 700 Kalorien, die hab1 ick früher nebenbei jeschluckt. Und is det etwa 'n Bett, wo ick allein drin liege? Und Operationen und Medikamente — wofür jibt's denn Krankenkassen? Ick hab' doch mein Jesicht nicht uff'ner Kirmes jelassen! Ick hab' es für'n Staat jeopfert, un nu soll der ooch dafür zahlen.«

«Er wird's nicht tun, Paul. «Fritz Adam schüttelte heftig den Kopf.»Welcher Staat denn? Den du verklagen könntest, der ist bankrott, kaputt. Der existiert gar nicht mehr. Aber solange wir hier im Lazarett sind, sorgt man für uns.«

«Weihnachten zu Haus«, sagte Walter Hertz. Er saß auf dem Bett und hielt ein kleines Bild in der Hand. Ein verknittertes Paßfoto. Das leicht lächelnde Gesicht eines jungen Mädchens mit großen, ernsten Augen.»Ich kann als Elektriker allerhand verdienen, meint ihr nicht auch, Kumpels? Wir wollen heiraten, wenn ich 'rauskomme. Petras Vater ist jetzt auch ein armes Schwein wie ich. Im Gegenteil, ich kann arbeiten und er nicht.«

Erich Schwabe ging nachdenklich zu seinem Spind und holte den letzten Brief Ursulas heraus. Er las ihn noch einmal, und er empfand den großen Zwiespalt, der sich in ihnen allen auf tat. Solange Krieg war, war das Lazarett ihre schöne, sichere Heimat gewesen. Nun war das Sterben abgeblasen worden, und man konnte zurück in die wirkliche Heimat. Die Mutter wartete und die Frau, das Leben ging weiter und wühlte sich aus den Ruinen. Aber ihre Gesichter waren nur halbfertig, und mit dem Schritt hinaus in die Freiheit schlüge das Tor eines erträglichen menschlichen Aussehens hinter ihnen zu. Vorläufig vielleicht nur — aber wer wußte jetzt schon, wie lange es dau-ern würde, bis wieder in mühsamer Kleinarbeit ein Teil des Gesichts nach dem anderen neu geformt wurde. Und gab es dann noch einen Professor Rusch und eine Lisa Mainetti?

Sie schreibt, daß ein Maurer ihnen hilft, die Steine abzuklopfen für den Wohnungsaufbau, dachte Schwabe. Wie nötig wäre ich jetzt in Köln. Ein Glaser, und dann, wenn das Kind kommt. Wer sorgt für Ursula und das Kleine? Sie werden hungern müssen und sich stundenlang anstellen, um eine Sonderzuteilung zu bekommen. Und wenn es nur ein Beutelchen Maisgrieß oder Maismehl ist, diese neueste Ernährungswelle der Sieger. Oder zwei Kellen voll Rosinensuppe in den Volksküchen. Oder rote Rüben, aus denen man allerlei machen konnte, Marmelade und Kompott, Gemüse und süßsaure Suppen, Brotaufstrich und zusammen mit Maismehl sogar einen Kuchen.

«Vielleicht wird alles anders, Kinder«, sagte Schwabe in die gedankenvolle Stille hinein.»Warum sich jetzt den Kopf zerbrechen? Bis Weihnachten ist noch Zeit — und außerdem ist's ja bloß ein Gerücht!«

Zwei Wochen lang sprach man nicht mehr darüber. Es war fast, als habe man es vergessen. Aber dann kam es wie eine Explosion über die Stube B/14 und mit ihr über den ganzen Block B des Lazarettes.

Major Braddock rief an einem Morgen ganz unerwartet wieder Lisa Mainetti an.

«Miß Doktor«, sagte er wohlwollend.»Machen Sie diesen Kaspar Bloch bereit. Er wird abgeholt.«

«Wieder Besuch vom Vater?«

«Nein. Fertigmachen mit Gepäck. Er wird entlassen.«

«Was wird er?«fragte Lisa ungläubig.

«Entlassen. Er wird Zivilist. Das Hauptquartier hat es angeordnet. Name und Schicksal Professor Blochs rechtfertigen eine Ausnahme.«

«Und… und die anderen, Major?«

«Müssen warten. «Braddock klopfte mit einem Bleistift auf den Schreibtisch.»Es wird nicht mehr lange dauern, Miß Doktor. Wir heben dann den Status der Kriegsgefangenschaft auf, und Schloß Bernegg wird Spezialklinik für Gesichtplastik. Das geht allerdings erst dann, wenn wir einen Kostenträger dafür gefunden haben. Bis jetzt tragen wir es ja, weil die Patienten Gefangene sind. Nach ihrer Entlassung aber sind es Zivilpersonen, und die gehen uns nichts an.«

«Das kann ja ein lustiger Zustand werden, Major.«

«Sie leben eben in einem falschen Land, Miß Doktor.«

«Wollen Sie nun auch mir ein Angebot für die USA machen?«

«Wir werden es müssen. Professor Rusch hat verlauten lassen, daß er Sie heiraten wird. Stimmt das?«

«Es stimmt. «Lisas Herz schlug bis zum Hals.»Wann hat er das gesagt? Was wissen Sie von Rusch, Major?«

«Beim letzten Verhör. Dies zu Frage eins. Und wie es ihm geht? Gut. Er ist im Lagerlazarett tätig und zieht ehemaligen Nazigrößen die Zähne. Ist das nicht ein herrlicher Witz?«

«Ihr Humor war immer hintergründig, Major.«

«Im übrigen läuft die Untersuchung auf Hochtouren. Dr. Urban hat man weggebracht aus Darmstadt, in eine Heilanstalt. Er wurde tobsüchtig, weil er kein Morphium mehr bekam.«

«Und man glaubt ihm noch immer?«

«Kaum, Miß Doktor. Aber die politischen Untersuchungen werden nicht von Soldaten, sondern von Beamten gemacht. Und wo Beamte arbeiten, gibt es Akten. Und wo Akten vollgeschrieben werden, steht die Zeit still. Die Beamten in der ganzen Welt sind da wie eineiige Zwillinge.«

Braddock lachte, aber Lisa stimmte in seine Fröhlichkeit nicht ein. Sie legte den Hörer auf und starrte aus dem Fenster in den fast kahl gewordenen Schloßpark. Die Bäume hatten die Blätter abgeworfen, der erste kalte Wind schüttelte die letzten bunten Flecken von den Ästen, und auf dem Teich schwammen traurig und eng zusammen die beiden Schwäne in der Nähe des Ufers, als wollten sie aus dem kalten Wasser herausgeholt werden. Daß sie noch lebten, verdankten sie Fritz Adam. Der Wastl Feininger hatte etwa um Mitte Juli herum den Gedanken gehabt, die Schwäne zu einem Gebüsch zu lok-ken und als Kalorienaufbesserung zu verwerten. Nur die Behauptung

Adams, daß Schwäne bis zu 100 Jahre alt würden und die beiden vielleicht schon fünfzig Jahre alt wären, was bedeutete, daß der Wastl auch eine Schuhsohle kauen könnte, hielt ihn davon ab, seinen Mordgedanken auszuführen.

Vielleicht ist Rusch Weihnachten wieder hier, dachte Lisa Mainetti. Dann könnten wir heiraten, und wenn man uns hier nicht mehr braucht, könnten wir eine Praxis aufmachen. Eine Praxis? Wovon?

Sie ging zu Baumann und unterrichtete ihn, daß Bloch entlassen würde. Dann betrat sie das Zimmer 14 und nickte Kaspar Bloch zu, der gerade einen herrlichen Grand ausspielte.

«Es ist soweit. Packen Sie alle Sachen. Sie werden abgeholt.«

«Abgeholt?«fragte statt Bloch der Berliner.»Wieso denn, Frau Doktor?«

«Kaspar ist der erste, der wegkommt. Entlassung.«

«Was? Entlassung?«rief Bloch und sprang auf. In seiner Erregung warf er den Tisch dabei um. Auch die anderen sprangen auf und stolperten über die Tischbeine in der Mitte des Zimmers.

«Ja, Ihr Vater wartet unten in Bernegg.«

«Es geht nach Haus! Nach Haus, Jungs!«schrie Kaspar Bloch. Er stürzte zu seinem Spind, riß die Tür auf und warf alles auf das Bett und den Boden.

«Professor muß man sein«, sagte der Berliner.»Die Söhne der Witwen kommen zuletzt, wat?«

«Und… und wir, Frau Doktor?«fragte der Wastl gedehnt.»Mei Hof braucht mi. Die Wintersaat muaß i — Sakramentnoamoi!«Er wandte sich um und ging ans Fenster. Nur an seinem breiten Rücken und dem dicken Stiernacken sah man, daß er weinte. Der Wastl weinte. Man wußte gar nicht, daß er es konnte, man hatte es für unmöglich gehalten.

Lisa Mainetti biß sich auf die Unterlippe. Ihr taten die anderen Männer leid. Sie wollten ein neues Gesicht, aber stärker als alles, was sie außerhalb der schützenden Mauern von Schloß Bernegg erwarten mochte, war ihr Drang zu den Müttern und zu den Frauen, jene Kraft eines wiedergewonnenen Lebens, die ihnen die ersten Begegnungen und das Bewußtsein der erhaltenen Liebe gaben.

«Auch ihr kommt dran«, sagte Lisa Mainetti.»Aber erst legt ihr euch noch auf den Tisch. Schwabe machen wir neue Lippen und einen schönen Stirnlappen. Hertz, Ihnen richten wir das Auge. Feininger, bei Ihnen müssen wir die linke Wange polstern. Bei Ihnen, Zwerch, müssen wir die dicken Wulstnarben wegtrennen, und Sie, Adam, bekommen mindestens noch fünf Hauttransplantationen. Und erst dann gebe ich euch frei.«

«Prost Mahlzeit«, sagte der Berliner.»Jehn wir also wieda Skat kloppen!«

Adam und Schwabe halfen Kaspar Bloch beim Packen. Es war nicht viel, was er mitnahm. Das meiste verschenkte er an seine Kameraden.»Was brauch' ich die Klamotten noch?«sagte er.»Rock und Hose, das ist alles. Und wenn ich zu Hause bin, fliegt die Uniform in den Ofen. Ich glaube, ich habe noch nie so selig ein Feuer betrachtet wie das, was dann kommen wird.«

Baumann erschien im Zimmer 14.»Fertig?«rief er.»Die Amis sind schon da.«

Noch einmal drückte Kaspar Bloch die Hände seiner Stubengenossen. Es wurde ihm plötzlich schwer zu gehen, trotz der seligen Freude, die ihn durchrann.

«Auf Wiedersehen!«sagte er zu jedem.»Jungs, das ist kein leeres Wort. Wir sehen uns wieder. Wir bleiben immer in Verbindung, ja? Wir wollen uns nie mehr aus den Augen verlieren, ganz gleich, wo jeder von uns stecken wird. Und wenn irgend etwas ist, wenn einer Hilfe braucht — wir helfen ihm, wir sechs zusammen. «Er stockte und wischte sich über die Augen.»Und ich dank' euch für alles, Jungs.«

«Hau ab!«schrie der Berliner.»Soll ick ooch noch heulen?«

«Macht's gut. Und seht zu, daß alles so wird, wie wir es uns zusammen gedacht haben. «Er drehte sich um zu Lisa Mainetti und streckte ihr die Hand hin. Aber bevor sie sie ergreifen konnte, stürzte er vor und legte den Kopf auf ihre Schulter.

«Frau Doktor«, stammelte er.»Sie waren wie eine Mutter zu mir. Sie haben mir geholfen, Sie haben mich geschützt und versteckt.

Ich kann Ihnen nie, nie danken.«

Lisa Mainetti streichelte Bloch über die wirren Haare.»Bleiben Sie ein guter Mensch, Kaspar«, sagte sie leise. Ihre Stimme schwankte.»Das ist mehr als alles andere. Und wenn Sie mir danken wollen — helfen Sie mit, daß Professor Rusch frei kommt. Dann bin ich ewig in Ihrer Schuld.«

«Ich verspreche es Ihnen, Frau Doktor. Ich verspreche es Ihnen. «Kaspar hob den Kopf.»Und wenn ich diesen Urban jemals in meinem Leben wieder treffe.«

«Warum, Kaspar?«Lisa schüttelte den Kopf.»Jede Rache ist im Grund billig. «Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und sah ihm lange in die tränengefüllten Augen.»Ich kann Ihnen nur Gottes Segen wünschen, Kaspar«, sagte sie leise.»Und nun gehen Sie. Jede Minute der Freiheit ist kostbar.«

Mit langen Schritten rannte Kaspar Bloch vor Baumann die Treppe hinunter zur Eingangshalle. Als er draußen vor der Hauptwache in den Jeep stieg, flog ein Gejohle zu ihm hin. Oben in den Fenstern der Stube 14 hingen die Zurückgebliebenen und winkten mit Handtüchern und Bettlaken.

Auch die MP-Soldaten winkten grinsend hinauf. Dann jagte der Jeep die Straße hinab nach Bernegg und verschwand zwischen den Bäumen.

«Der erste von uns«, sagte Fritz Adam leise.»Ob wir den jemals wiedersehen?«

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