Kapitel 18

Der Zug hielt wieder auf der rechten Rheinseite, im Bahnhof KölnDeutz. Ein eiskalter Wind pfiff den Rhein hinauf und schlug mit seiner nägelgespickten Faust Erich Schwabe ins Gesicht.

Schwabe ging langsam über die von den Amerikanern und Engländern konstruierte Pontonbrücke, blieb in der Mitte des Stroms stehen und starrte in die graubraunen Wellen.

Was soll ich tun, wenn es wahr ist? dachte er. Man könnte vieles tun, gewiß. Man könnte zum Beispiel töten, beide und sich selbst. Aber was nützte es?

Hinter ihm blieb ein englischer Soldat stehen und betrachtete ihn mißtrauisch.

«Ueitergähenn«, sagte er laut.»Los, los!«

Schwabe nickte und tappte weiter über die leicht schwankende Pontonbrücke. Weitergehen — ja, wie soll es weitergehen? Hat es überhaupt einen Sinn, mit einem solchen Gesicht noch zu leben? Wie kann man hoffen, daß andere Menschen es ertragen können, wenn sich die eigene Frau davor erschreckt.

Der Schmerz zuckte wieder von seiner Nase in das Gehirn. Er umklammerte das Geländer der Brücke, beugte sich vor, krümmte sich und drückte das Gesicht gegen das eisige Gestänge.

Hineinfallen, dachte er plötzlich. Einfach in diesen Fluß fallen, den Mund weit aufmachen, schlucken, schlucken und sich wegschwemmen lassen. Und dann war Ruhe, endlich Ruhe.

«Ueitergähenn«, sagte hinter ihm wieder die Stimme des englischen Brückenpostens. Schwabe richtete sich auf und drehte sich um. Es war ein junger Soldat, der seine Militärdienstpflicht im besetzten Germany absolvierte.

«Du hast gut reden, mein Junge«, sagte Schwabe schwach.»Du hast ein nettes, schönes Kindergesicht. Und es wird sicherlich ein Mädchen geben, das dich streichelt und deine Lippen küßt und glücklich ist, wenn es deine Augen sieht. Und was habe ich? Eine Fratze!«

«Nix värstähenn«, sagte der junge Soldat und winkte mit der Maschinenpistole, weiterzugehen.»Go on.«

«Wer könnte das auch verstehen, mein Junge?«Schwabe nestelte in seiner Manteltasche, um eine Zigarette zu suchen. Der Schmerz hatte nachgelassen. Nun mußte er rauchen, eine Kippe oder eine Zigarette, gedreht aus vier gesammelten Kippen. Der junge Soldat grinste breit. Er griff in seinen Uniformmantel und hielt Schwabe eine Packung hin.

«Danke, mein Junge«, sagte Schwabe und zog sich eine der langen, goldgelben Zigaretten heraus. Er zündete sie an und hustete, weil der süßlich-schwere Rauch wie eine Wolke in seine Lunge drang und ihn fast erstickte.»Du ekelst dich nicht vor mir, nicht wahr? Du denkst dir nur: Armer Kerl — haben dir die Visage weggeschossen. Kann mir auch passieren. Stimmt, mein Junge, kann dir auch passieren. Und vielleicht stehst du dann irgendwo auf einer Brücke, vielleicht auf der Tower-Bridge, und starrst in die schmutzige Themse und denkst dir: Jetzt da unten schwimmen als stumme, gefühllose Leiche. Das wäre eine Lösung. Aber du springst nicht — so wenig wie ich. Weil du nämlich glaubst, daß es wirklich weitergeht. Irgendwie. Mach's gut, mein Junge.«

Er klopfte dem verblüfften englischen Soldaten auf die Schulter und tappte auf das linke Rheinufer zu. Der Dom ragte vor ihm auf wie zwei Finger einer Schwurhand, die aus der Erde wächst und gegen den Himmel stößt.

Mit großen Schritten ging Schwabe durch die Trümmerstadt. Aber als er in seine Straße einbog, wurden seine Schritte kürzer und langsamer. Schließlich blieb er zwei Häuser vor seinem Haus stehen und drückte sich in einen dunklen, zerstörten Hauseingang.

Was soll ich sagen, wenn ich plötzlich vor ihnen stehe? dachte er. Was kann geschehen, wenn dieser Brief nur eine Lüge ist? Wenn er wahr wäre — bestimmt hätte Mutter etwas zu mir gesagt. Mutter hätte es mir nie verschwiegen, nie. Sie hätte Ursula hinausgeworfen und diesen Karlheinz Petsch dazu.

Ein neuer, ihn voll und ganz ausfüllender Zweifel hemmte in ihm alle Aktionen. Mein Gott, wenn es nicht wahr ist, dachte er.

Vom anderen Ende der Straße rappelte ein Auto heran. Schwabe erkannte es: der P4 mit der seitlichen Ölfarbenaufschrift >Schwabe & Petsch. Wiederaufbau GmbH<. Die letztere, dumme Bezeichnung stammte von Petsch und war auf Schwabes Widerstand gestoßen. Aber es zeigte sich, daß Petsch ein fabelhafter Psychologe war: Das Wort Wiederaufbau GmbH< war wie ein Magnet. Es zog Butter, Eier, Kaffee, Tabak, Schinken und Speck an, wo es auch auftauchte.

«Man muß die Mentalität der Menschen kennen, dann klappt's«, war Petschs zweites Wort, und er hatte bisher immer recht behalten.

Schwabe zertrat seine Zigarettenkippe und drückte sich gegen die zerborstene Mauer. Der Wagen hielt vor dem Schwabekeller. Petsch sprang aus dem Auto, rannte um den Kühler herum und riß wie ein Chauffeur die andere Tür auf. Langsam stieg Ursula heraus. Sie war durch ihren schweren Leib unbeweglich und unsicher geworden. Petsch faßte sie unter — fast zu liebevoll, dachte Schwabe — und stellte sie auf die glatte Straße.

«Na, das hätten wir«, hörte Schwabe deutlich Petsch sagen.»Zufrieden, Mädchen?«

«Ja, Karlheinz.«

«Und was kriegt der gute Heinzi dafür?«

Ursula lachte. Sie beugte sich vor und gab Petsch einen Kuß auf die Augen.

«Wie zahm«, sagte Petsch.»Früher war's mehr.«

Erich Schwabe preßte die Hände flach gegen die rissige Mauer. Zitternd starrte er hinüber zu Ursula und Petsch, der wieder um den Wagen herumging und einstieg.

«Ich bring' die Karre weg und komm noch auf 'nen Sprung zu euch«, rief er.»Und dem Erich kannste schreiben, daß du hierbleibst.«

Schwabe verhielt sich still. Er sah, wie Ursula in den Keller hinabstieg und drückte sich eng an die Wand, als Karlheinz Petsch mit dem P4 an ihm vorbeifuhr. Trotz des Motorenlärms hörte Schwabe, wie Petsch lustig und laut pfiff.

Dann war wieder die einsame, kalte Nacht um ihn, und auch in seinem Inneren war es Nacht und kalt und von einer grenzenlosen Öde.

Es war nicht mehr nötig, hinabzugehen in den Keller und zu fragen. Es war sinnlos geworden, Lügen zu hören und sich zu bemühen, sie zu glauben, um sich selbst zu betäuben vor der zerreißenden Wahrheit.

Was sollte jetzt noch gefragt werden? Was hatten Beteuerungen, gestammelte Worte, Tränen, Schwüre, Erklärungen noch für einen Sinn?

Erich Schwabe löste sich aus der Dunkelheit der Trümmer und tappte durch das Ruinenfeld, quer durch die zerstörten Häuserreihen, zurück in die Innenstadt. Erst drei Häuserblocks weiter, wo er eine Begegnung mit Petsch nicht mehr zu befürchten hatte, trat er wieder auf die Straße und stapfte durch den eisigen Wind wieder dem Rhein zu.

Auf der Pontonbrücke kam ihm ein anderer junger Soldat entgegen, der Zigarettenspender war abgelöst worden und schlief jetzt unter einer warmen flauschigen Decke in seiner Wachbaracke. Vielleicht träumte er von dem Mann ohne Gesicht, dem er eine Zigarette geschenkt hatte, aus purem Entsetzen, weil er noch nie ein so zerstörtes Gesicht gesehen hatte.

Im Deutzer Bahnhof klemmte sich Schwabe in eine Ecke des notdürftig mit Sperrholz und Pappe abgedichteten Wartesaals. Die ätzende Luft von Schweiß, trocknenden, nassen Kleidern, Ausdünstungen von ungewaschenen Körpern trieb die Müdigkeit in seine Augen. Wie die hundert Menschen um ihn rollte sich auch Schwabe zusammen und schlief.

Nun bin ich ganz allein, war das letzte, was er deutlich dachte. Kein Gesicht, keine Heimat, keine Frau, keine Mutter, keine Zukunft. Wie eine Ratte liegt man hier, wie sie verfolgt von Abscheu und Ekel.

Ein Abfall des Krieges.

Von den gesunden Menschen weggestoßen.

Was ist das: Vaterland?

Am späten Nachmittag tappte Schwabe wieder durch die Ein-gangshalle von Schloß Bernegg, schmutzig, hungrig, müde, mit trüben Augen. Er stierte Dr. Mainetti, die auf der Treppe stand, wie eine Fremde an, und es war offensichtlich, daß er sie gar nicht bemerkte.

«Schwabe«, sagte Lisa laut.»Mensch, wo waren Sie denn? Wie sehen Sie denn aus?«

«Wie eine Ratte«, sagte Schwabe dumpf.

«Wo waren Sie?«

«In Köln.«

«In Köln? Ohne etwas zu hinterlassen? Ist das Kind denn schon da?«

«Das Kind?«Schwabe starrte Dr. Mainetti wie einen explodierenden Vulkan an.»Das — Kind —?«

Er warf die Arme hoch, und dann schrie er gellend auf und fiel vornüber auf das Gesicht, wie ein Baum, den der letzte Axthieb umwirft.

Es war mit ihm nicht mehr zu reden. Dr. Mainetti erreichte nichts, Professor Rusch gab resignierend auf, und auch der Famulus Baumann sagte nach einer Stunde:»Mach, was du willst, du sturer Hund. Aber den Brief an deine Frau schreibe ich nicht. Sieh zu, wer dir diesen Blödsinn schreibt!«

Erich Schwabe saß, gebadet und wie in alten Zeiten mit leukoplastverklebtem Gesicht, in Zimmer 14 und hatte die Fäuste auf den Tisch gelegt. Seit drei Stunden hatte man versucht, ihn von seinem Plan abzubringen.

«Es ist völlig sinnlos, was Sie alles sagen«, hatte er Lisa angefaucht.»Ich bleibe hier. Ich gehe nie mehr nach Köln zurück. Ich will ihnen nicht einmal mehr selber schreiben. Ihr habt den Walter Hertz wieder aufgenommen — bitte, nun nehmt auch mich auf. Ich kann mich nützlich machen. Ich kann alles, schreinern, mauern, Leitungen legen, alle Reparaturen. Stellt mich als Hausmeister ein oder als Lokuspfleger — mir ist alles egal. Aber ich bleibe hier. Und wenn ihr mich 'rausschmeißt«, er stockte und sah Dr. Mainetti aus entschlossenen Augen an,»bitte, dann ist da noch der Teich. Und Bäume gibt's hier auch genug. Ich will nichts mehr von der Welt sehen — nichts mehr, nichts«, brüllte er.

Der einzige, der ihn verstand, war Walter Hertz. Der hatte Schwabe seine Geschichte mit der Familie Wolfach erzählt.»Wir gehören eben einfach nicht mehr zu denen da draußen, Erich«, sagte er.»Es war eben ein großer Fehler, daß wir weiterleben. Als Tote wären wir jetzt Helden — aber als Menschen ohne Gesicht sind wir ein Ärgernis. Alle wollen so schnell wie möglich vergessen, und da kommen wir mit unseren Fratzen und sagen: >Seht, so war's. Das ist der Krieg.<«

Walter Hertz strich sich über sein hängendes Auge.»Der Deutsche will nicht an seine unliebsame Vergangenheit erinnert werden. Und das wird schlimmer werden von Jahr zu Jahr. Du wirst es sehen: Man wird uns persönlich übelnehmen, daß wir durch unser Weiterleben die anderen am Vergessen hindern. «Er ballte die Fäuste und hieb mit ihnen auf den Tisch wie auf eine Riesentrommel.»Aber sie sollen nicht vergessen. Sie sollen uns immer ansehen«, schrie er.»Die Schieber, die dick und fett werden, die Generäle, die ihre Memoiren schreiben über die >großen Zeiten<, die Politiker, die alles am schnellsten vergessen und von neuen Silberstreifen am Horizont träumen. Vor ihnen müssen wir stehen und sie angrinsen aus unseren zerstörten Gesichtern, bis sie im Schlaf aufschreien vor dem Anblick, der sie verfolgt bis in ihre tiefste Seelenfalte. Erich, das wäre ein Ziel, um weiterzuleben: das lebendige Gewissen einer geopferten Generation sein. Eine Mahnung für die Jungen, denen man bald wieder Kanonen und Panzer und Gewehre zum Spielen geben wird und zu denen man sagen wird: Es ist eine Ehre, eine Uniform zu tragen. Dann müssen wir dastehen, Erich, und unsere Gesichter zeigen. Und weißt du, was dann geschehen wird? Man wird uns wegschaffen, man wird uns verhaften — wegen Gefährdung des Staats.«

«Das ist alles ganz gut und schön«, sagte Schwabe und ging im Zimmer hin und her.»Aber mich geht es einen Dreck an. Ich will nichts mehr wissen, hörst du? Nichts mehr von Politik, nichts von denen da draußen außerhalb der Schloßmauer. Ich will nur leben. Ganz ruhig, ganz allein. Ich will am See sitzen und angeln, ich will im Park Spazierengehen, und ich will malen. Jawohl, malen will ich. Ich habe einmal damit angefangen, und es war ganz gut. Bäume will ich malen, und Blumen und Schmetterlinge und Wolken und die Abendsonne. Alles will ich malen — nur keine Menschen. Und hier im Park sollen sie mich begraben, dort wo die anderen Gesichtsverletzten liegen. Ich will nie mehr zurück zu den Gesunden. Nie mehr. Auch als Toter nicht.«

«So haßt du sie?«fragte Walter Hertz dumpf.

Schwabe nickte.

«Ja, so hasse ich sie. Eigentlich gibt es kein Wort für das, was ich empfinde.«

Walter Hertz war es denn auch, der den Brief an Ursula schrieb, den Schwabe selbst nicht schreiben wollte. Hertz schrieb ihn nach Schwabes Diktat.

Es war eine kurze Abrechnung, ein endgültiger Abschied, ein totaler Verzicht auf alles, was einmal die Welt des Erich Schwabe gewesen war.

«Es hat keinen Sinn, hierherzukommen. Ich werde niemanden empfangen, ich will keinen mehr sehen. Ich schließe hiermit das Leben des Erich Schwabe ab, für Euch und für alle. Was übrigbleibt und hier hinter einer Mauer weiterlebt — was kann es Euch interessieren? In eine Scheidung willige ich hiermit ein. Besorgt alles und macht es schnell.

Und lebt weiter — und laßt mich in Ruhe.

Erich Schwabe.«

Das war der Schluß des Briefes, den Walter Hertz mit seiner schönen Handschrift für Schwabe schrieb. Baumann, der die Post auf den Stationen einsammelte, brachte den Brief sofort zu Dr. Mai-netti, die das Kuvert sinnend zwischen den Fingern drehte.

«Man sollte es aufmachen, Frau Doktor«, sagte Baumann.»Hier dürfen wir es.«»Warum?«Lisa legte den Brief Schwabes auf den Stapel der anderen Post zurück.»Ich weiß, was er geschrieben hat.«

«Ich auch, Frau Doktor. Ich habe es abgelehnt, diesen Blödsinn zu schreiben. Aber der Hertz ist ja genauso verrückt. Was sollen wir tun?«

«Abschicken, Baumann.«

«Aber die Frau? Wenn es nun gar nicht wahr ist? Wenn der Erich sich das zurechtgesponnen hat?«

«Das wird sich jetzt herausstellen. Sie wird diesen Brief ja nicht unbeantwortet lassen. Vor allem die Mutter wird kommen.«

«Und er wird keinen anhören.«

«Abwarten, Baumann. «Dr. Mainetti gab ihm die Briefe zurück.»Ich bin ja auch noch da. «Sie dachte an das Gesicht Schwabes und an das, was noch an ihm getan werden mußte, ehe man sagen konnte: >Mehr können wir nicht tun.< Es würde drei oder vier Jahre dauern.

«Und Zeit haben wir, Baumann, viel Zeit. Bei Schwabe ist manches zu schnell gegangen. Das war ein Fehler, an dem auch ich mitschuldig bin.«

Drei Tage später trafen Ursula und Frau Hedwig Schwabe in Bernegg ein.

Dr. Mainetti hatte es erwartet, als ein Telegramm auf dem Schloß eintraf, das Schwabe ungeöffnet zerriß und wegwarf. Lisa aber hatte sofort ein Doppelzimmer auf Abruf reservieren lassen, und Professor Rusch hatte mit der Würzburger Klinik telefoniert und ein Bett auf der Wöchnerinnen-Station bestellt.

Dr. Mainetti fuhr sofort hinunter nach Bernegg, als Frau Hedwig Schwabe anrief Ursula sah aus, wie eine Frau aussieht, die drei Tage und Nächte nicht geschlafen hat. Unter ihrem bleichen, aufgedunsenen Kopf und den schmalen Schultern wirkte der schwere Leib noch unförmiger, und Lisa sah, daß es nur noch Stunden dauerte, bis das Kind zur Welt kam.

Ursula saß starr auf der äußersten Kante eines Stuhls, als Lisa in das Hotelzimmer trat. Bevor sie etwas sagen konnte, hob Ursula die Hand.

«Bitte, bitte, sagen Sie die Wahrheit, Frau Doktor. Ist — ist Erich verrückt geworden?«

«Nein. Nicht direkt. «Lisa Mainetti drückte Frau Hedwig Schwabe die Hand. Die alte Frau war wie damals bei ihrem ersten Besuch in Bernegg von einer beherrschten Ruhe und einer mütterlichen Kraft, die Lisa deutlich spürte. Sie hatte nichts von der Verzweiflung Ursulas an sich. Jetzt, wo ihr Sohn die Wahrheit wußte, begann sie wieder zu kämpfen. Gegen Karlheinz Petsch, gegen Ursula, nur um das Wohl ihres Sohnes sorgend, eine eisgraue Tigerin, die kein Mitleid mehr kannte, mit niemandem — außer mit ihrem Sohn.

Sie hatte in Köln sofort nach dem Eintreffen des Briefes und der Ohnmacht, in die Ursula gefallen war, Karlheinz Petsch in den Keller gerufen. Sie hatte ihm den Brief gezeigt, und als Petsch fröhlich sagte:»Na also, hab' ich doch immer gesagt: >Alles löst sich von al-lein.< Wenn alles normal läuft, können Uschi und ich im Sommer heiraten«- da hatte sie stumm ihre Hand gehoben und kräftig in das Gesicht Petschs geschlagen.

«Aber Mütterchen.«, hatte Petsch gestammelt, und Frau Schwabe hatte ruhig gesagt:

«Hinaus. Oder ich rufe die Polizei und zeige deine ganzen Schiebereien an.«

«Davon habt ihr ja auch gelebt«, hatte Petsch gebrüllt.

«Natürlich. Und ich werde auch dafür ins Gefängnis gehen. Einer alten Frau macht das nichts mehr aus, es schadet ihr nichts mehr. Aber vor dir haben wir dann endlich Ruhe.«

Und Karlheinz Petsch war hinausgegangen und mit dem P4 abgefahren.

Irgendwohin. Am nächsten Tag holte ein Spediteur seine Möbel aus dem Keller. Frau Schwabe und Ursula fragten nicht. Auch das Paket, das er ihnen bringen sollte, wiesen sie zurück.

«Es sind drei Pfund Rollschinken«, sagte der Möbelpacker.

«Essen Sie ihn.«

«Sie schenken mir drei Pfund Schinken?«

«Ja.«

«So Verrückte müßte ich jeden Tag finden.«

Dann fuhr er mit Petschs Möbeln ab. Und Frau Schwabe sagte etwas, was auch Ursula empfand und was ihr eine flammende Angst durch das Herz trieb:

«Zu spät. Was nun?«

«Wir fahren nach Bernegg, Mutter.«

«Und dort?«

«Es wird alles gut werden.«

«Das glaube ich nicht. «Frau Schwabe sah ihre Schwiegertochter kalt an.»Ich bleibe in Bernegg bei Erich. Er ist mein Kind.«

«Und ich, Mutter?«

Frau Schwabe hob stumm die Schultern und wandte sich ab.

«Ich habe ein Kind von Erich!«schrie Ursula.

«Wenn er es nicht glaubt?«

«Aber er weiß doch.«

«Er weiß von Petsch. Einmal mußte es soweit kommen. Er ist mein Sohn, und er hat kein Gesicht mehr. Mich wird er wiedersehen wollen — ich bin seine Mutter.«

«Das heißt — das heißt — «, stammelte Ursula,»- daß ich.«

Frau Schwabe nahm ihren Einkaufskorb und legte einen Schal um ihre weißen Haare.»Vielleicht. Ich gehe jetzt einkaufen. Auf Abschnitt 10 gibt es drei Eier.«

Nun saßen sie Dr. Mainetti gegenüber, und Lisa spürte den Bruch, der zwischen den beiden Frauen war.

«Sie wissen, wie die Situation ist«, sagte sie ernst.»Ihr Mann, Frau Schwabe, war heimlich in Köln.«

«Er — er war in Köln?«sagte Ursula wie eine aufgezogene Sprechpuppe.

«Er hat einen anonymen Brief bekommen. In Köln erlebte er, durch

Zufall, von einem Trümmergrundstück aus, wie Sie mit diesem Karlheinz Petsch in seinem Wagen nach Hause kamen und ihn küßten.«

«Hure«, sagte Frau Hedwig Schwabe eisig.

Ursulas Kopf sank auf die Brust. Sie schüttelte ihn ganz schwach und kaum sichtbar.

«Ich weiß«, sagte sie mit heller Stimme wie ein Kind.»Aber es war ganz anders.«

«Auch als er bei dir im Bett lag und dir Seidenstrümpfe schenkte? Wie eine Hure hat er dich bezahlt.«

«Nein, damals war es wahr. «Ursula sah mit flatternden Augen zu Dr. Mainetti auf.»Ja, ich habe etwas mit diesem Petsch gehabt. Aber ich habe es bereut, jeden Tag, jede Stunde bereut. Damals war ich verzweifelt und einsam, und er kam herein, und er war Leben, warmes, lustiges Leben. Aber seitdem war nichts mehr, gar nichts. Warum glaubt ihr mir denn nicht?«

«Und der Kuß, den Erich gesehen hat?«fragte Frau Schwabe hart und mitleidlos.

«Das war Dankbarkeit.«

«So kann man's auch nennen«, lachte Frau Schwabe bitter.

«Petsch war mit mir zur Klinik gefahren. Ich habe mich noch einmal untersuchen lassen, um genau zu wissen, wann das Kind kommt. Ich — ich hatte einen Plan. Wenn ich noch etwas Zeit gehabt hätte, wollte ich nach Bernegg fahren, zu Erich. Aber der Arzt sagte, ich solle in Köln bleiben. Es wäre ungewiß, ob ich die lange Eisenbahnreise überstehen könnte. Und dann hat mir Petsch angeboten, mich mit dem Auto nach Bernegg zu bringen. Und darum habe ich ihm einen Kuß gegeben — nur darum.«

Frau Hedwig Schwabe sah starr aus dem Fenster. Ihr Gesicht war maskenhaft weiß und unbeweglich. So war es, dachte sie, oder so könnte es gewesen sein. Und wenn es nur eine Lüge war? In ihrer Kampfbereitschaft für ihren Sohn war sie gewillt, an das letztere zu glauben. Sie lügt, redete sie sich ein. Es darf nicht anders sein. Sie lügt.

Dr. Mainetti ging wortlos im Zimmer auf und ab. Sie war bereit,

Ursula zu glauben, und grübelte nun darüber nach, wie man es Erich Schwabe erklären sollte. Eines war nun gewiß: Es hatte ein paar Stunden gegeben, in denen Ursula Schwabe ihren Mann vergessen hatte. Diese Stunden so zu erklären, daß sie auch Erich Schwabe begriff, war ein Unternehmen, das selbst Lisa Mainetti in diesem Zustand Schwabes als aussichtslos betrachtete. Für ihn gab es keine Erklärungen mehr, keine Argumente, keine verzeihende Vernunft. Für ihn gab es nur noch die Abkehr von allem, was gewesen war, die völlige Isolierung seines Ichs, eine kleine, neue Welt, die so eng war, daß sie nur Platz bot für ihn allein. Und heute und auch in den kommenden Wochen war es unmöglich, ihn aus dieser Welt herauszureißen. Es bedurfte nur eines Blicks in den Spiegel, und er würde wieder zurückrasen in die Einsamkeit. Erst wenn sein Gesicht wieder so aussah, daß er selbst von sich sagen konnte: Ich sehe wieder wie ein Mensch aus — erst dann gab es eine Möglichkeit, eine Brücke zwischen Einsamkeit und Leben zu bauen.

Dr. Mainetti blieb stehen. Sie sah die beiden Frauen mit einem Ausdruck an, der Frau Hedwig Schwabe instinktiv erkennen ließ, daß hier eine Gegnerin vor ihr stand. Sie straffte sich und erwiderte den Blick Lisas.

«Nun?«fragte sie kampfbereit.

«Sie haben mir die Wahrheit gesagt«, begann Dr. Mainetti.»Erwarten Sie, daß Ihr Sohn und Ihr Mann diese Wahrheit einfach hinnimmt?«

«Nein. «Frau Hedwig Schwabe räusperte sich.»Aber ich kann als seine Mutter mit ihm sprechen und ihm.«

«Sie werden nicht mit ihm sprechen.«

«Doch.«

«Nein.«

«Ich möchte wissen, wer mich zurückhalten könnte.«

«Ich.«

«Ich werde vor das Schloß ziehen und so lange schreien, bis mein Sohn mich hört«, sagte Hedwig Schwabe mit einer Kälte, die selbst Lisa erschauern ließ.

«Und ihr Sohn wird Sie schreien lassen. Er haßt alles, was außerhalb dieser Mauern ist.«

«Ich bin seine Mutter. Ein Sohn kann seine Mutter niemals hassen. Das gibt es nicht.«

Dr. Mainetti blieb vor Frau Schwabe stehen. Sie starrten sich an — zwei unerbittliche, mitleidlose Feindinnen.

«Warum haben Sie über ein Jahr geschwiegen?«fragte Lisa leise.

Frau Schwabes Augen begannen zu flimmern.

«Um meinen Sohn zu schonen.«

«Und nun ist das nicht mehr nötig?«

«Er weiß es jetzt. Nun braucht er mich, um es zu überwinden.«

«Das glauben Sie. «Lisa holte Atem. Es ist gemein, was ich sage, dachte sie, aber ich muß es aussprechen, um Erich Schwabe zu retten.»Ich weiß, daß Ihr Sohn Sie als eine Mitschuldige betrachtet. Er weiß, daß Sie diesen Petsch in Ihrer Wohnung geduldet haben. Weil er Speck und Butter brachte, Eier und Schinken. Und Schnaps. Frau Schwabe — Schnaps, den Sie heimlich tranken, um Ihr Gewissen zu betäuben. So ist das. Auch Sie will Ihr Sohn nicht mehr sehen.«

Frau Schwabe saß wie ein Wachsfigur, steif und unbeweglich. Nur ihre Augen flackerten. Neben ihr weinte Ursula lautlos in ein Taschentuch, das sie sich vor das Gesicht hielt.

«Mein — mein Sohn soll mir das selbst sagen. Mir ins Gesicht. Seiner Mutter ins Gesicht«, sagte Frau Schwabe dumpf.»Erst dann glaube ich es und gehe.«

«Er hat es gesagt«, rief Lisa Mainetti grob.»Durch mich.«

«Und was soll nun werden?«fragte Ursula kläglich.»Es kann doch nicht so bleiben. Es ist doch sein Kind. Sie glauben es mir doch, Frau Doktor, nicht wahr?«

Lisa nickte und legte den Arm um die zuckende Schulter Ursulas.»Vor einem Jahr sagte ich zu Ihnen: Geduld, Geduld. Ich kann Ihnen heute nichts anderes sagen. Doch — ein anderes Wort ist dazugekommen: Kraft. Besitzen Sie die Kraft, unendlich geduldig zu sein. Das ist alles, was Sie tun können. Und bringen Sie Ihr Kind zur Welt — mit Freude. Dieses Kind könnte eine Brücke sein — die einzige.«

«Und ich kann Erich nicht sehen?«»Nein. Er will es nicht.«

«Dann darf ich Sie bitten, einen Brief an ihn mitzunehmen«, sagte Frau Hedwig Schwabe. Sie hielt Dr. Mainetti ein Kuvert hin. Lisa schüttelte den Kopf.

«Wozu? Er wird ihn ungeöffnet zerreißen, wie er das Telegramm zerrissen hat. Für ihn gibt es jetzt kein >Draußen< mehr.«

«Aber ich bleibe in Bernegg«, sagte Frau Schwabe steif.

«Ich auch«, stammelte Ursula.

«Wir warten hier.«

«Das ist doch sinnlos. Es kann Monate dauern, vielleicht Jahre. «Dr. Mainetti sagte das Letzte, was sie eigentlich verschweigen wollte.»Es wird für Erich Schwabe nicht eher einen Weg zurück zu den Menschen geben, bis er sein Gesicht völlig wiederhat.«

Frau Hedwig Schwabe nickte.»Ich bin jetzt 63 Jahre«, sagte sie.»Ich bin noch nicht zu alt zum Warten. Ich bleibe hier.«

Dr. Mainetti spürte, daß es endgültig war. Es gab keine weiteren Worte mehr, die nutzbringend gewesen wären. Sie blieben hier, eine alte Frau und eine junge Mutter. Sie würden hier unten im Tal sitzen, in Bernegg, in einer kleinen Wohnung, sich mit irgend etwas ernähren. Und warten, warten, immer nur warten. Und jeden Tag hinaufstarren zum Schloß, wo hinter einer hohen Mauer ein Mann durch den Park ging und nach jeder gelungenen Operation an seinem Gesicht sich mehr zum Leben zurücksehnte.

«Ich kann Sie nicht daran hindern«, sagte Lisa Mainetti.

«Nein. Das können Sie nicht«, antwortete Frau Schwabe fast stolz.

«Wenn ich Ihnen helfen kann.«

«Danke. Wir helfen uns selbst. Helfen Sie meinem Sohn.«

Ohne ein weiteres Wort verließ Dr. Mainetti das Zimmer und fuhr zurück zum Schloß. Sie hatte das deutliche Empfinden, der alten Frau unterlegen zu sein. Diese unerklärliche, mütterliche Kraft — das war etwas, vor dem jeglicher Verstand versagte.

In der Nacht bekam Ursula die ersten Wehen. Ein Krankenwagen brachte sie nach Würzburg in das bereitgestellte Bett.

Um 9 Uhr morgens gebar sie das Kind. Einsam, weinend, nur im

Beisein der Hebamme. Und als sie zurückkam in das Krankenzimmer, erschöpft, schweißgebadet, den Lysolgeruch des Kreißsaales um sich, empfingen sie kein Blumenstrauß, kein liebevoller Händedruck, kein Dankeskuß, kein liebes Wort, keine glücklichen Augen, keine Zärtlichkeit.

Man hob sie in ihr Bett, stellte eine Tasse Tee neben sie auf den Nachttisch und überließ sie der Einsamkeit.

«Ein Mädchen«, sagte Ursula, nur um etwas zu hören, einen Laut, eine menschliche Rührung.»Es ist ein Mädchen, Erich. Sollen wir es Erika nennen?«

Dann drehte sie sich zur Wand und weinte mit gegen den Mund gepreßten Fäusten.

Lisa Mainetti traf Erich Schwabe im Park. Er saß, in einen dicken, alten Militärmantel gehüllt, am Teich und fütterte mit Maiskörnern einen Schwarm Grünmeisen.

«Gratuliere«, sagte Lisa und klopfte Schwabe auf die Schulter. Erich Schwabe nickte beifällig.

«Nicht wahr, sie sind fast zahm. Es ist schön, mit Tieren zu leben. Sie machen es einem leicht, nicht mehr an die Menschen zu denken.«

Lisa bückte sich, nahm eine Handvoll Mais und streute sie in den girrenden Vogelschwarm hinein.

«Es soll Erika heißen«, sagte sie dabei.

Schwabes Hand, die zu den Maiskörnern griff, blieb auf halbem Wege in der Luft hängen. Es war nur ein kurzes Zusammenzucken — dann griffen seine Finger in den Topf und streuten neue Körner auf den festgestampften Schnee.

«Der dort, der Dicke, Grüne — das ist Otto. Ich hab' ihn so getauft. Er ist der Chef. Sehen Sie nur — er verteilt die Körner. Gestern saß Otto sogar auf meinem Zeigefinger und pickte mir auf den Nagel.«

«Es wiegt 8 Pfund und 345 Gramm, ist gesund und kräftig und hat ganz blonde lange Haare — wie Sie und Ursula. Petsch hatte dunkle Haare, nicht wahr?«

Schwabe stand auf. Dabei trat er den Topf mit den Maiskörnern um. Er merkte es nicht. Er hörte auch nicht, wie Otto schimpfte und mit den Flügeln schlug. Er sah Dr. Mainetti stumm an, fast anklagend, wandte sich dann ab und ging vornübergebeugt tiefer in den verschneiten Park hinein.

Lisa Mainetti folgte ihm nicht. Sie sah ihm nach, bis er zwischen den Buschgruppen verschwand. Sie bückte sich, drehte den Topfum und schöpfte mit der hohlen Hand die Maiskörner wieder hinein.

Was wird er tun? fragte sie sich. Er muß darauf reagieren. Es gibt keinen Menschen, der es einfach hinnimmt, ein schönes, gesundes, blondes Kind zu haben, 8 Pfund und 345 Gramm schwer.

Über zwei Stunden blieb Schwabe allein im kalten, verschneiten Park. Als er endlich zum Block B zurückkam, hatte Baumann eine Kanne Tee mit etwas Rum bereitgestellt und goß ihm stumm eine große Tasse voll ein. Schwabe trank den dampfenden Tee in kurzen, durstigen Zügen. Baumann beobachtete ihn lauernd wie ein Jäger das gestellte Wild.

«Wo ist es?«fragte Schwabe gleichgültig, als er die Tasse getrunken hatte. Er wischte sich den Schweiß ab, den ihm das heiße Getränk auf die Stirn getrieben hatte.

«In Würzburg. Zimmer 9. Frauenstation.«

«Kannst du mich hinfahren?«

«Ja«, sagte Baumann atemlos.»Morgen schon.«

«Gib mir noch 'ne Tasse.«

Baumann goß ein.»Eigentlich müßtest du einen ausgeben, Erich«, sagte er dabei.

«Warum?«

«Na, wenn man Vater wird.«

«Wer ist denn Vater geworden?«

«Verrückter, sturer Hund!«schrie Baumann und goß die heiße Tasse Tee über den Tisch.»In die Fresse müßte man sie dir gießen, wenn das nicht der Lisa wieder neue Arbeit machen würde!«

Erich Schwabe wartete, bis Baumann das Zimmer verlassen hatte. Dann goß er sich selbst wieder eine Tasse voll und malte mit dem Zeigefinger über die nasse Tischplatte.

Erika, schrieb er in den Tee mit Rum. Erika. Erika.

Dann nahm er die ganze Handfläche und putzte alles wieder weg und schob die Pfütze auf den Boden.

Sie hat lange blonde Haare, dachte er. Wie Ursula und ich.

Er sprang auf und stürzte an das Fenster, riß es auf und beugte sich hinaus. Unten hüpften die Grünmeisen noch immer um die Maiskörner.

«Otto«, rief er.»Otto — komm her.«

Ein Schrei war es, ein verzweifelter Schrei. Ein sinnloser Schrei. Sinnlos wie alles, was er sich vorgenommen hatte zu tun.

Dann sah er über die verschneiten Hügel hinweg und klammerte sich an den Fensterrahmen, als müsse er sich festhalten.

Dort liegt Würzburg, dachte er. Und acht Pfund wiegt es. Und blond ist es.

Erika.

Es war, als springe ihm das Herz aus der Kehle.

Eines Abends kam Christian Oster wieder betrunken nach Haus. Aber es war eine andere Trunkenheit als bisher. Daß er mit glasigen Augen und verschwitzten Haaren heimkam, daß sein Atem nach billigem Selbstgebranntem Schnaps stank und er seine Frau Susanne ohne viele Worte unter seinen Willen zwang, war fast zu einer Gewohnheit geworden. Einmal hatte Susanne es gewagt, sich heftiger als sonst zu widersetzen. Sie hatte einen Knüppel in der Hand, als Oster singend durch den kleinen Vorgarten marschiert war, und diesen Knüppel hatte sie dem verblüfften Oster vor die Nase gehalten und ge-schrien:»Ich will nicht mehr. Wenn du mich anrührst, zerschlage ich dir den Schädel!«

Christian Oster hatte den Knüppel und sie angestarrt.»Der Schädel ist ja schon zerschlagen, Liebchen«, hatte er gestottert.»In Ruß-land. Was willst du denn noch zerschlagen, he?«Und dann war er wie ein Panther vorgestürzt, hatte Susanne auf den Boden geworfen und war wie ein wildes Tier über sie hergefallen. Sie war unfähig, mit dem Knüppel um sich zu schlagen. Er schien die Kraft von zehn Menschen zu besitzen.

Aber an diesem Abend war es anders. Oster kam still nach Haus, mit gesenkten Augen, bleich und offenbar bis in den Grund seiner Seele verwirrt. Zwar roch er wieder nach billigem Fusel, aber er hatte anscheinend nicht soviel getrunken, um das Tier in sich erweckt zu haben.

Er setzte sich mit einer für Susanne unheimlichen bürgerlichen Bravheit hinter den Tisch, aß sein Abendessen, trank eine Flasche Dünnbier, die er sonst nie angerührt hatte, und blieb dann stumm am Tisch sitzen, stierte vor sich hin und faltete sogar die Hände auf der Tischdecke.

«Was hast du denn?«fragte Susanne Oster stockend.»Ist etwas passiert? So sag doch etwas!«

Christian Oster sah seine Frau an, als sähe er sie zum erstenmal.»Es ist aus«, sagte er dumpf.

«Was heißt das, es ist aus?«

«Ganz einfach — es heißt, daß es aus ist. Begreifst du das nicht?«

«Nein.«

In Susanne jagten sich die Vermutungen. Wollte er weg von ihr? Hatte er eingesehen, daß ein Weiterleben wie bisher unmöglich war? Wollte er ein anderes Leben beginnen? Sollte die nächtliche Qual endlich zu Ende sein?

«Hast — hast du es eingesehen, daß es so unmöglich ist?«fragte sie vorsichtig. Sie ließ offen, was sie damit meinte. Aber Christian Oster verstand sie anscheinend, er nickte mehrmals.

«Es ist aus«, sagte er wieder mit dumpfer Stimme.

«Aber wie kommst du so plötzlich.«

Die Worte gefroren ihr in der Mundhöhle. Oster sah sie an, und in seinen Augen war weder etwas Menschliches noch das Tierische, das sie an ihm kannte. In seinen Augen war nichts mehr, war ab-solute Leere.

«Was — was ist denn?«stammelte sie und wich zur Wand zurück. Eine panische Angst kroch an ihr hoch wie ein klebriges Riesentier.

«Sie haben mich entlassen«, sagte Oster leise.»Hinausgeworfen. Einfach gesagt: >Gehen Sie. So etwas wie Sie können wir nicht gebrauchen. Ein Mann, der jeden Tag seine Frau vergewaltigt, der immer betrunken ist — also gehen Sie.< Das haben sie gesagt. Und Herr Berger sagte noch: >Wir wissen es von den Nachbarn, wie Sie sich benehmen. Und Ihre Frau hat es überall erzählt. Natürlich haben wir Mitleid mit Ihnen. Sie haben Ihr Gesicht verloren, man kann vieles verstehen. Aber das geht zu weit. Es ist unserer Firma nicht zuzumuten, daß Sie weiterhin als Leiter des Lohnbüros…< Das hat Herr Berger gesagt. Und nun bin ich draußen. Hinausgeworfen, weggejagt wie ein räudiger Hund, von der Schwelle getreten. Die Nachbarn haben es erzählt. Und meine Frau hat es überall erzählt.«

«Christian. «Susanne Oster legte die Hände flach an die Wand.»Du mußt das verstehen. Ich habe Hilfe gesucht. Schutz.«

«Hilfe. Schutz. Vor mir. «Oster nickte wieder. Seine leeren Augen starrten auf seine Frau, aber es war, als sehe er durch sie hindurch, und auch durch die Wand, weit weg über das Land hinweg, in die Ferne, dort irgendwo im Osten, wo ein Granatsplitter den alten Christian Oster wegfegte.»Natürlich«, sagte er leise.»Ich bin ja ein fremder Mann. Niemand erkennt mich mehr. Fünfundvierzigmal haben sie mich operiert, und wie stolz waren sie, als sie fertig waren, der Professor Rusch und die schöne Dr. Mainetti. Jetzt sind Sie wieder ein Mensch, Oster<, haben sie zu mir gesagt. Und ich habe in den Spiegel geguckt und gesagt: >Das bin ja ich nicht mehr.< Und sie haben geantwortet: >Die Hauptsache ist, daß die Seele des Christian Oster geblieben ist, sein Wesen, seine Art. Ein Mensch besteht nicht nur aus Gesicht.< Wie wenig kannten sie die Menschen, Susanne?«

«Man — man braucht Zeit«, stotterte Susanne Oster.

Oster schüttelte den Kopf.»Wir haben nun keine Zeit mehr. Hinausgeworfen haben sie mich. Worauf sollen wir denn noch warten? Es wird nie mehr anders sein. Nie. Nie. Ich werde nie mehr der Christian Oster sein. «Er starrte sie wieder an, leer, mit der Weite der Einsamkeit in den Augen.»Aber ich liebe dich«, sagte er leise.»Ich habe dich immer geliebt, du weißt es. Ich habe alles mit mir machen lassen, nur weil ich dich liebte. Fünfundvierzigmal habe ich mich operieren lassen.«

Susanne schluckte krampfhaft.»Vielleicht — vielleicht wäre es besser gewesen, du wärst so nach Hause gekommen, mit den Narben, mit der zerstörten Nase, so, wie du warst. Ich — ich hätte dich eher wiedererkannt, du wärst mir nie so fremd gewesen wie jetzt.«

«Es ist eben aus«, sagte Oster dumpf.

Er stand auf, ging ein paarmal sinnlos um den Tisch herum, trat ans Fenster und sah hinaus auf den verschneiten Garten. Eine lange Reihe Grünkohl stand im Schnee. Er schmeckte nach dem ersten Frost am besten. Grünkohl mit gebratener Mettwurst.

Dann machte Christian Oster seinen Rundgang durchs Haus, wie er es jeden Abend tat. Er schloß alle Türen ab, verriegelte die Fensterläden und drehte in der Küche den Wasserhahn kräftig zu, weil er tropfte und die Dichtung verrostet war.

Als er alles in Ordnung fand, kam er ins Zimmer zurück und blieb vor Susanne stehen. Er war bleich, und sein neues Gesicht sah merkwürdig verstört und wie eine leblose Maske aus Gummi aus.

«Es ist soweit«, sagte er mit ruhiger Stimme.

Susanne gab keine Antwort. Sie konnte nicht mehr. Osters Finger hatten ihren Hals umklammert, mit einer blitzschnellen Bewegung, die alle Gegenwehr ausschloß. Es war nur eine Sekunde Qual, bis Susanne das Bewußtsein verlor.

«So schnell geht es«, sagte Oster in die aufgerissenen Augen Susannes hinein.»So schnell, mein Liebling — und wir wollten uns ein ganzes Leben lang quälen. Warum denn? Warum?«

Als die letzte Regung in dem rundlichen Frauenkörper erloschen war, fing er Susanne auf, trug sie auf den Armen in das Schlafzimmer, deckte das Bett auf und legte sie hinein. Aus dem Wohnzimmer hol-te er aus zwei Vasen die großen Immortellensträuße, die Susanne jeden Winter als Dauerschmuck aufstellte, und legte sie neben den Kopf der Toten. Eine große, rote Immortelle schob er zwischen ihre Finger, die er über der Brust faltete.

Nachdem er sie aufgebahrt hatte, stieg er hinab in den Keller, nahm einen scharfen Spaten und begann, ein Loch in den nicht betonierten Boden des Holzkellers zu graben. Nach dreißig Zentimetern traf er auf eine Blechkiste. Er hob sie aus der Grube, öffnete sie und entnahm ihr ein Paket, eingewickelt in Fettpapier und mit Öl durchtränkt. Er riß die Verschnürung ab und wickelte eine neue, fettglänzende 08-Pistole aus dem Papier. Ein volles Magazin lag daneben.

Christian Oster stieß den Spaten in die Erde, lud die Pistole, und tappte wieder nach oben ins Haus. Dann setzte er sich neben seine Frau auf das Bett, sah auf die Uhr und nickte. Zehn Uhr abends. Es war noch früh. Er legte die Pistole auf sein Kopfkissen und schob seine Hände zwischen die erkaltenden Finger Susannes.

So saß er die halbe Nacht hindurch und ging in der Erinnerung sein Leben durch.

Er sah sich als Kind im Sandkasten spielen, und die Mutter saß davor auf einer Bank und strickte. Sie hatte immer gestrickt, eigentlich hatte er sie nie anders gesehen als mit klappernden Nadeln. Seinen Vater hatte er kaum gekannt. Als er zu denken begann, verunglückte der Vater in der Erzgrube bei einem Strebbruch. Als zusammengequetschte Fleisch- und Knochenmasse lag er in der Waschkaue der Grube, und Mutter begann jetzt schwarze Pullover zu stricken.

Die Schulzeit, die Lehrjahre, die erste Liebe. Emmi hieß sie, ein dralles Mädchen, der Vater war der Lebensmittelhändler des Orts, und bei ihm kaufte der junge Lehrling Christian Oster seine ersten Zigaretten und sogar eine Zigarre, weil er männlicher aussehen und der schönen Emmi imponieren wollte.

Dann kamen andere Mädchen. Die Stellung im Lohnbüro der Zeche. Die bessere Stellung in der Möbelfabrik Berger. In der Fußballmannschaft wurde er Torwart und Sportwart in der SA. Und dann lernte er Susanne Burte kennen, bei einem Sportfest. Sie tanzte mit anderen BdM-Mädchen einen Reigen und führte irgendeine Reifengymnastik vor. Hinterher hatte er sie angesprochen, sie hatten ein Eis gegessen. Und sie wußten gleich, daß sie sich liebten. Sie machten Ausflüge an den Sonntagen, und sie waren glücklich, wie es nur Verliebte sein können. Dann heirateten sie. Neun Tage später kam der Brief, der begann:»Sie haben sich am.«

Aus Susannes Armen weg zog er nach Polen. Dann kamen Frankreich und Griechenland. Und dann Rußland. Die Weite der ukrainischen Felder, die Steppe hinter Smolensk. Die vereisten Wälder bei Gorkij. Die schwabbenden, alles in sich hineinsaugenden Sümpfe des Pripjet.

Und dann heulte diese eine Granate heran, ein immer tiefer werdender Orgelton wie Tausende vorher. Es war nichts Neues, man sah und hörte schon gar nicht mehr hin. Man duckte sich. Und doch war es diesmal anders. Die Flammen waren um ihn, die Erde drückte ihn in sich, als habe sich eine Spalte gebildet und ihn eingeklemmt. Etwas Heißes jagte über sein Gesicht und nahm ihm den Atem.

Das Ende des Christian Oster. War es wichtig, daß der Körper noch lebte?

Oster schob seine Hände aus Susannes starren Fingern heraus. Er unterbrach seine Erinnerung, er schloß sie ab. Was nun noch geschehen war, war gespenstisch, war nicht mehr das Leben des Christian Oster. Sein Leben war in jener Sekunde erloschen, als um ihn die Erde aufriß und aufbrüllte wie der kleine Mensch, der auf ihr gelegen hatte.

«Es war ein schönes Leben«, sagte Oster zu Susanne und rückte die große Immortelle in ihren Fingern zurecht.

Dann lud er die Pistole durch, legte sich neben die Tote auf sein Bett und steckte den Lauf der Waffe in den Mund.

Niemand in der Nachbarschaft hörte den einzelnen Schuß. Man wunderte sich nur, daß am nächsten Morgen die Läden so lange geschlossen blieben.

Er schläft sich aus, dachte man. Er hat gestern wieder gesoffen.

Und außerdem war Sonntag.

Nach dem Morgenkaffee fuhren der Famulus Baumann und Erich Schwabe nach Würzburg.

Man hatte nicht mehr darüber gesprochen. Auch Dr. Mainetti und Professor Rusch verzichteten auf alle Aussprachen. Rusch hatte lediglich die Operation um wiederum zwei Tage verschoben.»Das ist das Äußerste, Lisa«, sagte er.»Wir können Schwabe nicht wie einen Ballon mit Morphium vollpumpen.«

Baumann war einfach mit dem alten Wehrmachtskübelwagen, den man dem Spezialkrankenhaus als >Dienstwagen< überlassen hatte, vorgefahren und hatte zu Schwabe gesagt:»Los, du Flasche, steig ein. Zufällig sind die Straßen eisfrei.«

Während der ganzen Fahrt sprach Erich Schwabe kein Wort. Aber je näher sie Würzburg kamen, um so unruhiger wurden seine Hände und schabten an der Tür auf und ab. Kurz vor dem großen Tor des Krankenhauses hielt Baumann den Kübelwagen an.

«Was ist?«fragte Schwabe.»Eine Panne?«

«Nee. Warte mal. «Baumann griff nach hinten unter den Hintersitz und holte einen Strauß blaßroter Alpenveilchen hervor.»Von der Frau Doktor«, sagte er.»Du sollst sie ihr von ihr geben.«

«Wem?«fragte Schwabe hart.

«Du Dussel, deiner Frau natürlich.«

Schwabe antwortete nicht. Er nahm den Alpenveilchenstrauß und warf ihn in hohem Bogen aus dem Wagen in die Haustrümmer.

«Nun fahr weiter«, sagte er heiser.»Oder ich laufe zu Fuß.«

Mit heulendem Motor raste Baumann der Klinik zu.»Darüber sprechen wir uns nachher«, brüllte er. Regungslos saß Schwabe neben ihm, undurchdringlich, mit zusammengekniffenen, farblosen Lippen.

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