Kapitel 6

Er ist bei vollem Bewußtsein, dachte Dr. Lisa Mainetti und half

_imit, den starren Körper auf den Operationstisch zu heben. Sie

sah die bleichen Gesichter der Sanitäter und des Famulus Baumann, und sie hatte selbst Mühe, ein Frösteln zu unterdrücken.

Wie kann ein solcher Mensch noch leben, dachte sie dann. Warum hat das Herz nicht einfach aufgehört zu schlagen? Was soll ein solches Wesen noch auf dieser Welt: ein blutiger Brei mit einem großen Auge darin?

Dr. Mainetti beugte sich über Leutnant Rudolf Fischer, als er auf dem OP-Tisch lag. Sie wußte nicht, ob er sie hören konnte. Aber als sie nahe an seinem Auge war, erkannte sie, daß er sie genau beobachtete.

«Das bekommen wir schon wieder hin, mein Junge«, sagte Dr. Lisa Mainetti mit fester Stimme.»Es sieht immer alles schlimmer aus, als es wirklich ist! Schon in einer Stunde ist alles ganz anders.«

Sie las noch einmal den Laufzettel durch. Der Famulus Baumann kam mit einer Spritze Eukodal und reichte sie ihr stumm. Lisa sah wieder auf das unheimlich klare Auge. Wenn ich ihm jetzt Morphium gäbe, dachte sie, würde er selig einschlafen. Herz und Kreislauf wer-den das nicht mehr verkraften. Dazu der Blutverlust. Ich kann ihm auch Eukodal und Strophantin geben, dann lebt er weiter. Aber wozu soll er leben? Kann ein Mensch noch leben, den man so zugerichtet hat?

Lisa legte den Laufzettel beiseite. Mitleid und ärztliches Gewissen rangen einen kurzen Augenblick miteinander.

«Eukodal und Stroph, Baumann.«

Baumann reichte ihr die Injektionsspritze, köpfte mit geübter Hand die Ampullen. Dr. Mainetti zog die Flüssigkeit auf und injizierte in den Oberschenkel.»So«, sagte sie aufatmend, und jetzt war ihre Stimme rauh wie nach einer durchschrienen Nacht. Das Eukodal würde reichen, den heftigsten Schmerz zu betäuben, wenn sie das formlose Gesicht untersuchte und die erste Behandlung durchführte.

Lisa Mainetti wartete, bis kurz nach der Injektion das Auge trüber und kleiner wurde. Es war, als ziehe sich ein Schleier über den Blick. Dann kippte das Auge einfach weg, drehte sich schräg nach oben, und nur der weiße Augapfel, durchzogen von den roten Fäden geplatzter Äderchen, schimmerte gespenstisch unter der starken Lampe über dem OP-Tisch.

«Er ist bewußtlos!«sagte Baumann überflüssigerweise.

«Für diese ungemein kluge Bemerkung sollte man Ihnen eine Dozentur anbieten!«sagte Lisa Mainetti grob.»Los! Fahren Sie den Bestecktisch her.«

Sie kontrollierte mit dem Stethoskop Herzschlag und Puls und begann dann Stück für Stück des zerstörten Gesichtes zu untersuchen, indem sie es abtastete; gleichzeitig diktierte sie einem Sanitäter den Befund.

Als Lisa Mainetti damit fertig war, lehnte sie sich müde an den OPTisch. Auch die OP-Schwester war inzwischen aus der Kapelle gekommen; jetzt stand sie neben Lisa und wischte mit dem Zellstofflappen über die Stirn der Ärztin.

«Lesen Sie vor«, sagte Lisa. Und während die monotone Stimme des Sanitäters das Diktat vorlas, säuberte sie die schreckliche Wunde, stillte eine Sickerblutung aus der Arteria lingualis, legte einen

Druckverband mit eingestreutem Claudenpulver an und injizierte 20 ccm Calciumlösung 10prozentig intravenös.

«Stirnbein und Schläfenbein rechts zersplittert«, las der Sanitäter und blickte ab und zu auf das völlig formlose Gesicht mit dem umgekippten einen Auge.»Rechtes Auge entfernt. Weichteile der rechten Gesichtshälfte bis zum Ohr einschließlich Oberlippe und Nasenflügel abgerissen. Jochbogen zertrümmert, knöcherner Teil des Oberkiefers sichtbar, Gaumenloch gebrochen, Zähne entfernt. Beweglicher Teil der Zunge abgerissen, Sickerblutung aus der Arteria lin-gualis rechts. Unterkieferabriß rechts am aufsteigenden Ast, im Gehörgang Blut. Links Unterkieferabriß in der Gegend des ersten Molaren, im Gehörgang links Blut, Schädelbasisbruch, linkes, erhaltenes Auge Bluterguß. Luftröhrenschnitt, im HVP gemacht. Konturen vom Hals bis über den ganzen Brustkorb verstrichen, bretthart, Hämatom. Im vierten Halswirbel Granatsplitter. In der Lendenwirbelsäule mehrere Granatsplitter, fest eingekeilt. Untere Körperhälfte ohne Reflexe.«

Der Sanitäter schwieg, seine Stimme war heiser geworden. Famulus Baumann reichte Lisa Mainetti eine Spritze mit 1 ccm Clauden.»Das reicht«, sagte er erschüttert.»Wäre es nicht besser, Frau Doktor, wenn er.«

«Baumann, so etwas zu denken ist verzeihlich, aber trotzdem unwürdig! Solange ein Mensch lebt, sind wir da, dieses Leben zu erhalten. «Lisa injizierte zuerst das Clauden intramuskulär, dann 1 ccm Sym-patol.

Fast eine Stunde lang arbeitete sie an diesem zerstörten Kopf. Sie legte Zugstreifen an, nachdem die Sickerblutung gestillt war, machte einen Kopfverband und einen Polsterverband in der Lendenwirbelgegend.

Während sie die letzten Handgriffe tat, kam Professor Rusch in den OP. Er hatte den Kreisleiter abgeholt, dabei war ihm an der Pforte der neue Frontzugang gemeldet worden. Ohne weitere Erklärungen hatte er den Kreisleiter unten stehenlassen und war hinüber zum Operationstrakt gelaufen. Verblüfft sah ihm der Parteimensch nach.

«Was ist denn los?«fragte er einen Sanitäter, der vorbeikam.

«Ein neuer Fall.«

«Und darum die Aufregung?«Der Kreisleiter machte ein beleidigtes Gesicht, weil sich niemand um ihn kümmerte.»Ihr habt doch das ganze Haus voll davon!«

Mit kampfwütig gesenktem Kopf setzte sich der Kreisleiter in Bewegung und ging Professor Rusch zum OP-Trakt nach.

«Schwer?«fragte Rusch, als er neben Lisa Mainetti stand. Er sah, wie abgespannt und müde sie war, wie ergriffen und noch immer entsetzt.

«Es ist manchmal nicht mehr zu ertragen«, sagte Lisa leise.»Hast du deinen Parteibonzen mitgebracht?«

«Ja. Er steht in der Halle.«

«Bring ihn her und zeig ihm dieses Gesicht. Und dann soll er den Mut haben, von der Ehre und Freude des deutschen Mannes zu sprechen, für Führer und Vaterland sein Blut zu geben!«

Im Rücken der Ärzte klappte eine Tür, ein Windzug strich unter der heißen Lampe durch. Dr. Mainetti drehte sich schnell um und schrie:»Tür zu! Verdammt!«

«Bin ich hier richtig?«Der Kreisleiter stand im OP, ein wenig verlegen, in seiner kinderdurchfallfarbigen Uniform wie ein Schmutzfleck inmitten der weißen Kittel. Das Band des Kriegsverdienstkreuzes und das runde Parteiabzeichen leuchteten matt in der grellen OP-Beleuchtung.

«Sie kommen wie gerufen!«sagte Lisa Mainetti. Professor Rusch trat sie hart auf den Fuß. Sie verzog zwar das Gesicht, aber sie sprach weiter, mit einer vor Erregung zitternden Stimme.»Kommen Sie näher, Herr Kreisleiter. Ich habe die Ehre, Ihnen einen Helden zu zeigen.«

Der Kreisleiter kam langsam durch die Gasse der weißen Mäntel an den OP-Tisch heran. Noch verdeckte die Gestalt der Ärztin den grauenhaft verstümmelten Kopf des Leutnants Rudolf Fischer.

«So etwas sieht man nicht alle Tage«, sagte der Kreisleiter. Er spürte, wie ihm unheimlich wurde. Zudem legte sich ihm der Geruch von

Chloroform, warmem Blut, Körperausdünstung und Eiter schwer auf Zunge, Gaumen und Magen.

«Da haben Sie recht«, sagte Lisa Mainetti. Sie trat zur Seite und gab den Blick frei.»Das Gesicht des Krieges«, sagte sie.

Der Kreisleiter starrte auf das eine umgekippte Auge, auf diesen Kopf, der kein Kopf mehr war. Ein plötzliches Würgen schüttelte ihn, er schluckte krampfhaft, sein Gesicht wurde erst weiß, dann gelb, schließlich farblos. Er griff um sich, suchte Halt, aber niemand war da, der ihn stützte. Da fiel er in sich zusammen und sank ohnmächtig vor dem OP-Tisch auf den Boden.

Lisa Mainetti sah mit vorgewölbter Unterlippe auf die braune Gestalt hinab.

«Frohe Weihnachten!«sagte sie laut. Dann verließ sie stumm den OP.

Während im großen Gemeinschaftssaal die Weihnachtsfeier der Partei abrollte — der Kreisleiter stand vor der Führerbüste auf dem Rednerpult und sprach einige Worte über stilles Heldentum und Vaterlandsliebe, und es war, als würge er Klöße heraus, die in seiner Kehle versteinert waren —, saß Lisa Mainetti auf dem Bett Fritz Adams. Das Zimmer B 14 war leer. Alle Verwundeten saßen unten im Saal, neben ihren Frauen und Müttern und Vätern oder neben den BdM-Mädchen, die die Betreuung alleinstehender Verwundeter übernommen hatten. Der Chor der Waisenkinder sang die alten Weihnachtslieder, der große Tannenbaum funkelte mit seinen Kerzen und seinen aus Stanniol gebastelten Behängen, ein Streichquartett gesichtsverletzter Musiker spielte Stücke von Telemann, Bach und Schütz, die ein ebenfalls verwundeter Kapellmeister für Streicher umgeschrieben hatte. Die Bratsche spielte ein Blinder, ein Granatsplitter hatte ihm beide Augen und einen Teil des Stirnbeins abgesägt. Er spielte aus dem Gehör, sein Kopf nickte leicht, wenn er die Takte zählte, und ein glückliches, weit entrücktes Lächeln spielte um seinen Mund, wenn er die Einsätze fehlerlos fand und der Klang seines ausgezeichneten Instrumentes unter seinen tastenden Händen wundersam und singend aufblühte. >Lobe den Herren<, spielten sie, und die Mütter, Frauen und Väter hatten ihre Hände in die Hände der Verwundeten gelegt, als beteten sie gemeinsam in dieser stillen Stunde. Sogar der Wastl Feininger hatte den Kopf gesenkt und hielt die Hand seiner Frau umklammert.

Oben, auf Zimmer 14, lag Fritz Adam mit dem Gesicht zur Wand und weinte.

Lisa hatte ihn so angetroffen, als sie, ohne anzuklopfen, in den Raum gekommen war. Sie sah, daß sie nicht viel zu sprechen brauchte. Daß Irene nicht wiedergekommen war, hatte Fritz Adam genug gesagt. Er war mit der gleichen Heftigkeit zusammengebrochen, mit der er sich vorher auf das Wiedersehen mit seiner hübschen, jungen Frau gefreut hatte.

Nun saß Lisa Mainetti neben ihm, die Hände in den Schoß gelegt, und wartete darauf, daß sich der erste Schmerz mit den Tränen auflöste und wegfloß. Als Adam stiller wurde, legte sie ihm beide Hände auf die zerwühlten Haare.

«Ich habe mit ihr gesprochen«, sagte sie,»und daß sie nicht wiedergekommen ist, daran bin ich schuld.«

«Sie?«Fritz Adam warf sich herum. Sein Gesicht, das wie ein Bratapfel aussah, verzerrte sich noch mehr.»Aber wieso denn, Frau Doktor? Was… was ist denn passiert?«

«Ich habe Ihre blonde Puppe hinausgeworfen!«sagte sie ganz ruhig.»Jawoll, Sie hören richtig: hinausgefeuert habe ich sie. Nur, weil ich sie nicht anfassen wollte, habe ich ihr keinen Tritt in den Hintern dazu gegeben.«

«Aber Frau Doktor«, stotterte Fritz Adam. Seine Augen waren starr, und die Lippen, die erst wieder halb mit Lippenrot bedeckt waren, zitterten wie in einem Krampf.»Sie… sie war doch nur entsetzt. Das ist doch ihr gutes Recht. Sie war immer so zart, so ängstlich, so leicht erschrocken. Man muß ihr Zeit lassen. Und nun tun Sie selbst. «Fritz Adam sprang auf und riß seinen Uniformrock aus dem Kleiderspind.»Wo ist sie jetzt? Ich gehe zu ihr! Sofort! Sie werden se-hen, sie hat es gar nicht so gemeint! Ich weiß doch, daß sie mich liebt! Sie hat es mir doch noch vor drei Stunden gesagt.«

Dr. Mainetti hielt Adam am Rockärmel zurück und zog ihn zum Bett.

«Setz dich«, sagte sie.

«Ich muß zu ihr!«

«Setz dich!«schrie Lisa. Fritz Adam zuckte zusammen und setzte sich auf die Kante seines Bettes. Sein Gesicht war ein einziges nervöses Zucken. Stumm, voller Abwehr, starrte er vor sich hin.

«Du gehst nicht zu ihr!«sagte Lisa.

«Doch! Ich liebe sie. Mein Leben hat keinen Sinn mehr, wenn Irene.«

«Keinen Sinn mehr! Wie die kleinen Kinder reden die Männer, wenn sie einen Rock in der Hand fühlen! Mensch, Fritz Adam — besteht denn die Welt nur aus dieser Irene?«

«Meine Welt — ja.«

«Und sie ist einfach nicht mehr da, wenn auch Irene nicht mehr da ist, was? So einfach ist das! Weib weg, Leben weg! Man sollte euch durchprügeln, euch Mannsbilder! Hat dich das Schicksal nur dafür vor dem Tode bewahrt, daß du jetzt alles wegwirfst? Haben wir in zwei Jahren nur darum Stück für Stück deines Gesichtes wiederhergestellt, damit du jetzt sagst: Ohne dieses Weib will ich nicht mehr! Ich haue ab aus dieser Welt! Ist denn der ganze Sinn des Lebens nur diese eine Frau, dieses Modepüppchen, dieses Betthäschen, das nichts als schnurren kann, wenn man es krault, und das wegläuft, wenn ein rauhes Lüftchen weht? Gibt es nicht Tausende von Frauen, die hundertmal wertvoller sind als diese kleine, dumme Hure?«

«Frau Doktor!«Fritz Adam sprang auf. Er hatte die Fäuste geballt, als wollte er Lisa Mainetti ins Gesicht schlagen.»Auch von Ihnen lasse ich meine Frau.«

«Deine Frau!«schrie Dr. Mainetti.»Als ich hierherkam, wollte ich behutsam mit dir sprechen, so wie man zu einem Kranken spricht. Aber ich sehe, daß es sinnlos ist. Du liebst diese Frau, und diese Liebe ist ein Gift, das man nur mit einem Gegengift ausräuchern kann! Jetzt hör einmal zu, du großer, dummer Junge, du Riesenschaf. «Lisa zog Fritz Adam zurück zum Bett und drückte ihn auf die Matratze. Sie sah in seinen Augen ein Flackern und eine panische Angst vor dem, was ihn erwartete. Sie biß einen Augenblick die Zähne aufeinander. Es geht nicht anders, dachte sie. Hier hilft nur ein neuer Schock. Er liebt diese Irene so sehr, daß er ihr alles verzeihen würde. Vielleicht sogar das, was sich da draußen zwischen ihr und Dr. Urban tut. Er ist vernarrt in diese weißblonde Larve, in diesen schlanken, biegsamen Körper, in diese wiegenden Hüften, in die schlanken Beine. Es ist wie ein Wahnsinn in ihm, und solange er davon nicht geheilt ist, wird er nie zurückfinden in das Leben, das so grausam, so mitleidlos, so vergeßlich und so brutal ist.

«Du bist doch ein kluger Mensch«, sagte Lisa Mainetti.»Du hast dein Abitur gemacht, du hast begonnen, Medizin zu studieren. Und dann lernst du diese Puppe kennen und heiratest sie einfach, anständig, wie du bist. Dann kommst du gleich darauf weg, an die Front, und nun bist du wieder da und siehst nicht mehr aus wie der Fritz Adam, der einmal die schöne Irene geheiratet hat. Und diese Irene kommt nun zu mir und sagt: Ich habe einmal einen schönen Mann geheiratet, und wie sieht er jetzt aus? Alles, was ich einmal an ihm liebte, ist weg! Keiner kann es mir zumuten, daß ich mein ganzes Leben.«

«Nein!«schrie Fritz Adam. Er preßte die Fäuste auf seine Ohren.»Nein! Nein!! Das hat sie nicht gesagt. Das kann Irene gar nicht sagen… das.«

Dr. Mainetti riß ihm die Hände mit einem Ruck von den Ohren.»Hör mir zu!«sagte sie hart.»Warum, glaubst du, habe ich sie hinausgeworfen wie eine Nutte, die ihre Zimmermiete nicht bezahlt hat? Glaubst du, ich würde eine Frau so behandeln, wenn ich auch nur den leisesten Funken Hoffnung hätte, daß noch etwas zu retten ist? Ich war euch immer mehr als eure Ärztin, das wißt ihr alle. Ich war eure Freundin, euer Beichtvater, eure Mutter, wenn es nötig war. Ich habe mit euch gelitten und habe mich mit euch gefreut, und alles, was ihr hier in diesem Lazarett erlebt habt, habe ich miterlebt! Glaubst du Hornvieh wirklich, ich würde mich so benehmen, wenn ich keinen Grund hätte?«

Fritz Adam starrte sie aus seinem Bratapfelgesicht mit flatternden Augen an.

«Irene hat.«, stammelte er.»Frau Doktor… das ist doch gar nicht möglich. Sie hat doch noch vor drei Stunden gesagt, daß sie mich liebt! Frau Doktor. das kann doch nicht sein. Warum hat sie denn.«

«Weil sie ein Charakterschwein ist!«sagte Lisa laut.»So nun weißt du's!«Sie drückte ihn an den Schultern aufs Bett zurück, als er wieder aufspringen wollte.»Vorhin, als ich 'reinkam, hast du geheult wie ein kleines Kind. Da hast du geglaubt, daß sie nicht wiederkommt. Jetzt willst du's plötzlich nicht mehr glauben? Warum denn? Es ist besser, unter großen Schmerzen einen Wahn aus seinem Herzen zu reißen, als immer mit einem Selbstbetrug herumzulaufen und an ihm langsam, aber sicher zugrunde zu gehen! Komm, leg dich wieder hin, heul wieder, beiß in die Kissen, schrei gegen die Wand, trommle mit den Fäusten gegen das Bett, tu irgend etwas, was dich befreit! Aber glaub es endlich und reiß dich selbst über diesen Schmerz hinweg! Es wird einmal die Zeit kommen, wo du für diese Stunde unendlich dankbar sein wirst. Und es wird gar nicht lange dauern.«

«Sie hat einen anderen, nicht wahr?«Fritz Adam krallte die Finger um den Bettpfosten.»Irene hat einen anderen Mann. Sie hat es Ihnen gesagt, Frau Doktor, nicht wahr? Sie können es mir ruhig verraten. Nach all dem, was Sie schon gesagt haben.«

Lisa schüttelte den Kopf. Der Junge tat ihr leid, unendlich leid. Aber sie sah keinen anderen Weg, sie mußte ihn durch diese Hölle jagen, um ihm ein neues Leben zu eröffnen.

«Ich weiß es nicht«, sagte sie.»Aber ich glaube es fast.«

«Ich bringe sie um!«schrie Adam grell.

«Und was hättest du davon?«Lisa griff in die Tasche ihres weißen Mantels und holte einen Spiegel hervor.»Wird dein Gesicht davon anders? Komm, sieh es dir an! Ich weiß, du siehst es täglich beim Rasieren der wenigen Stellen, auf denen dein Bart noch wächst. Aber trotzdem: Guck hinein! Das ist der neue Fritz Adam!«Sie hielt ihm den Spiegel vor das Gesicht.»Los, sieh dich an!«befahl sie laut, als Adam dem Spiegelbild auswich.»Das ist Fritz Adam! Der andere Fritz Adam, der mit der Irene Puppenfee verheiratet war, ist in einem glühenden Panzer auf Rußlands Steppen geblieben. Für diesen neuen Fritz Adam mußt du leben. Und für den lohnt es sich auch zu leben. Er hat die Zukunft vor sich. Er ist ein neuer Mensch. Ein Mensch ohne Vergangenheit. Sieh ihn dir genau an, Fritz Adam: für diesen Menschen gibt es keine Irene mehr — sie paßt einfach nicht zu ihm!«

Fritz Adam starrte sein verschrumpeltes Gesicht an. Dann warf er plötzlich die Hände nach vorn, riß den Spiegel aus Lisas Hand und schleuderte ihn mit einem Aufschrei auf den Boden.

«Gut so!«sagte Lisa ruhig.»Tob dich aus, mein Junge! Das befreit von den letzten Schlacken. Aber vergiß nicht, daß morgen auch noch ein Tag ist!«

Sie stand auf und verließ, ohne sich umzublicken, das Zimmer B 14. Als sie die Tür schloß, hörte sie, wie Fritz Adam aufheulte wie ein getretener Hund.

Auf dem Flur traf Lisa Mainetti die kleine Schwester Dora Graff. Sie kam von der Weihnachtsfeier im großen Saal. Der Neueingang, der einäugige Leutnant Rudolf Fischer, war erwacht. Sie war zu ihm gegangen und hatte ihm eine neue Beruhigungsinjektion gegeben.

«Dora, Sie können mir einen Gefallen tun«, sagte Dr. Mainetti nachdenklich und blickte auf die Tür von Zimmer 14.»Warten Sie hier zehn Minuten, und gehen Sie dann ins Zimmer. Da drinnen ist ein Mann, der dringend einer weiblichen Hand bedarf. Aber sie muß jünger sein als meine. Ich werde Sie unterdessen bei der Weihnachtsfeier vertreten.«

Im großen Saal hatte die Bescherung begonnen.

Was die Verwundeten gebastelt hatten, wurde an die Waisenkinder verteilt. Als Dank sagten sie Gedichte auf oder machten auch nur einen verlegenen Diener oder Knicks. Der Kreisleiter hatte seinen Schwächeanfall überwunden. Er ließ von zwei Propagandafotografen Aufnahmen machen und untermalte die Bescherung mit markigen Worten wie» Front und Heimat bilden einen Block «oder» Wo die Waffen schweigen, sprechen die Herzen«. Niemand hörte ihm zu, er stand im Wege, wurde herumgeschubst, und der Wastl Feininger, der das Modell einer Sägemühle gebastelt hatte und sie einem Waisenjungen vorführte, trat ihm auf den Fuß und sagte:»Ruck a weng, i muaß dös Mühlradi klappern lassen.«

In der letzten Stuhlreihe saß Walter Hertz. Man hatte seinen großen Rundstiellappen mit Mull überdeckt und mit Leukoplast ver-pflastert. So sah er aus wie ein Mann, der einen Ziegenpeter hatte, nur einen nach oben verrutschten. Das Gesicht war völlig schief. Neben ihm saß ein junges Mädchen in BdM-Uniform. Eine grüne Kordel an der Bluse zeigte, daß sie sogar eine Führerin war. Sie saß neben dem schiefen Gesicht, ein wenig gedrückt und fast ängstlich. Ihre Aufgabe, den ihr zugewiesenen Verwundeten zu betreuen, hatte sie erfüllt. Nun hatte sie nichts mehr zu sagen und wußte nicht, wie es weitergehen sollte mit der Betreuung.

Es hieß, nach der offiziellen Weihnachtsfeier solle getanzt werden. Zwei Akkordeons standen in der Ecke neben der Hitlerbüste. Das Mädchen sah sich verstohlen um. Tanzen, dachte sie. Diese armen Menschen wollen tanzen? Ich glaube, man muß die Augen dabei zumachen.

Walter Hertz, neben ihr auf den Stuhl geklemmt, die Hände zwischen die Knie gepreßt, suchte ebenfalls nach Worten. Was sagt man zu einem jungen Mädchen, dachte er verzweifelt. Natürlich, was man so sagt, das wußte er. Aber es waren alles Worte eines normal aussehenden Menschen. Fräulein, können wir uns irgendwo treffen, wo nicht soviel um uns herum sind. Wie wär's mit einem Kinobesuch? Oder: Ich weiß, wo noch eine tolle Kapelle spielt, da könnten wir mal eine Sohle hinlegen. Alles Worte und Wünsche von Menschen mit Gesichtern. Was aber sagt ein Mann, der kein Gesicht mehr hat?

Seine Hemmung war so groß, daß er stocksteif neben dem Mädchen saß und unverwandt die Führerbüste anstarrte. Da er auch nichts gebastelt hatte, weil er handwerklich eine Niete war, konnte er nicht an der allgemeinen Bescherung teilnehmen. So saß er, plötzlich schwitzend vor Verlegenheit, auf seinem Stuhl und kaute auf der Unterlippe.

Wie eine Erlösung kam ihm ein Gedanke. Er wandte den schiefen Kopf zu dem Mädchen und berührte sie leicht am Arm. Das Mädchen zuckte zusammen und sah ihn an.

«Ich habe noch gar nicht gefragt, wie Sie heißen«, sagte er.»Sie haben mir so viel Freude gemacht.«

«Ich heiße Petra Wolfach.«

«Petra — ein schöner Name. Ich heiße Walter Hertz.«

«Herz! Wie lustig. Richtig wie Herz?«

«Nein. Mit tz. Wie der Physiker Heinrich Hertz, der Entdecker der elektromagnetischen Wellen. Nach ihm sind die Einheiten der Frequenzen benannt worden. Hertz, Kilohertz und so weiter.«

«Wie interessant«, sagte Petra Wolfach.

Das Gespräch versickerte wieder. Walter Hertz mit tz kaute weiter auf der Unterlippe. Sicherlich versteht sie nichts von Physik, dachte er. Dumm von mir. Man sollte Herz wie Herz heißen, ohne tz. Dann wäre es leichter, ein Gespräch zu beginnen. Er räusperte sich und berührte Petra wieder am Arm.

«Fräulein Wolfach«, sagte er unsicher.»Es ist nicht meine Schuld, das mit dem tz. Aber trotzdem habe ich ein Herz ohne tz! Und dieses Herz sagt mir, daß es schön wäre, wenn wir mal zusammen ins Kino gehen könnten. Unten spielen sie gerade >Die große Liebe< mit Zarah Leander. Ein paar von meinen Kameraden waren drin. Sie waren hell begeistert.«

Petra Wolfach sah den Mann mit dem schiefen Gesicht lächelnd an. Wie nett und wie unbeholfen er spricht, dachte sie. Wie alt mag er sein? Bei keinem von ihnen kann man es mehr schätzen. Ihre Gesichter haben die Sprache verloren. Sie sehen alle gleich alt aus — so, als seien sie gerade von Gott geschaffen worden und noch nicht fertig. Gesichter aus einer Arbeitspause der Schöpfung.

«Das könnte man machen«, sagte sie und nickte ein paarmal.»Be-kommen Sie denn Urlaub?«

«Wenn ich mit der Frau Doktor spreche. «In Walter Hertz glomm ein Glücksgefühl auf und setzte sich in seiner Kehle als harter Kloß fest.»Dr. Mainetti ist eine tolle Frau. Wenn wir die nicht hätten.«

«Und Sie glauben, daß sie es tut?«

«Bestimmt. Geht es am nächsten Donnerstag?«

Petra Wolfach zögerte einen Augenblick. Ins Kino, dachte sie. Was werden meine Freundinnen sagen, wenn ich mit ihm ausgehe? Was werden die Leute denken? Man wird uns nachsehen und die Köpfe zusammenstecken. Wie kommt die Petra an einen solchen Mann? Ein Mann ohne Gesicht. Und was wird Vater sagen?

«Ja!«sagte sie fest, um sich selbst von der Richtigkeit ihres Entschlusses zu überzeugen.»Ja. Es geht.«

«Wir treffen uns vor dem Kino. Um halb acht?«

Petra nickte. Im Kino war es dunkel. Da sieht man sie nicht. Und was nach dem Kino sein würde, das mußte man abwarten. Vielleicht konnte man sitzenbleiben, bis alle das Kino verlassen hatten, und als letzte gehen?

«Donnerstag um halb acht«, sagte sie.»Ich besorge die Karten, einverstanden?«

«Einverstanden!«In Walter Hertz' Stimme schwang Jubel.»Und nun freue ich mich auf den Tanz nach der Feier! Können Sie tanzen, Petra?«

«Ja.«

«Ich auch! Ich war der Beste im Tanzkursus der Pennäler! Walzer links 'rum und rechts 'rum, wie gewünscht. Kinder, ist das ein schönes Weihnachtsfest!«

Es brach aus ihm heraus wie eine wilde Woge, und sie war so ur-gewaltig, daß sie auch Petra Wolfach mitriß.

«Ja, ich freu' mich auch!«lachte sie, wie befreit.»Und vor allem Tango tanze ich gern.«

«Tango. Da war ich unschlagbar!«

Und plötzlich hielten sie sich an den Händen wie zwei erwartungsvolle Kinder und sahen der Bescherung zu, die auch an ih-nen nicht vorbeigegangen war.

Nur wußten sie es noch nicht.

In einer anderen Ecke des Gemeinschaftssaales saßen Erich Schwabe und seine Mutter. Sie hatten sich alles erzählt, was zu erzählen war, hundert Kleinigkeiten vom Leben in Köln, und die weniger großen Sorgen, die in den langen Nächten im Klinikbett geboren worden waren. Nun war von allem nur eine einzige Frage übriggeblieben, und jeder dachte im Innern anders darüber, ohne es dem anderen zu gestehen: Wie wird die Zukunft sein? Gab es noch einen Anschluß an das Gestern, oder begann mit einem Gesicht auch ein völlig neues Leben?

«Du hast Ursula alles erzählt?«fragte Erich Schwabe seine Mutter. Man hatte ihm verschwiegen, daß seine Frau über die Mauer hinweg einen Blick auf die zerstörten Gesichter geworfen hatte und ahnte, wie Erich aussah.

«Ja, mein Junge«, sagte Frau Schwabe tapfer.»Sie hat gesagt: Deshalb bleibt er doch immer der Erich.«

«Aber wenn sie mich so sieht, Mutter? Sie macht sich doch gar kein Bild, wie ein Mensch ohne… wie er eben aussieht, wenn er so ist wie ich.«

«Ich habe ihr alles erklärt. Sie war wirklich tapfer, die Uschi. Und sie hat zwei Tage lang geweint, daß sie gerade jetzt die Grippe bekommen mußte und nicht mitfahren konnte.«

Wie gut ich lügen kann, dachte Frau Schwabe. Ich habe es nie gekonnt. Man sieht dir jede Unwahrheit an den Augen an, hatte ihr Mann, der Glasermeister Schwabe, einmal gesagt, als sie ihm verheimlichen wollte, daß sie ihr Portemonnaie mit 150 Mark darin verloren hatte. Und jetzt ging es ihr so glatt von den Lippen, und auch ihre Augen verrieten die Wahrheit nicht mehr.

«Ich werde Vaters Geschäft wieder aufbauen«, sagte Erich Schwabe.»Nach dem Krieg wird es viel Arbeit geben. Stell dir vor, wieviel zerstörte Häuser bloß in Köln wieder aufgebaut werden, wieviel Fenster verglast werden müssen! Da habe ich gar keine Sorge, Mutter. Angst habe ich nur, daß sich Uschi an meinen Anblick nicht gewöhnen kann.«

«Du bist immer noch ein dummer Junge!«sagte Frau Schwabe streng. Sie gab Erich einen leichten Klaps auf den Hinterkopf, ganz sacht, so daß es mehr wie eine Liebkosung war. Erich Schwabes Augen lächelten.

«Wenn man wochenlang nachts wach im Bett liegt, kommen einem viele Gedanken, Mutter. Und wenn der Krieg zu Ende ist, werden viele gesunde Männer zurück in die Heimat kommen. Und eine so hübsche Frau wie Uschi.«

«So eine Dummheit!«rief Frau Schwabe.»Uschi und ein anderer Mann! Das ist wirklich das Dümmste, was du je gesagt hast, Erich! Wenn andere Männer so eine treue Frau hätten wie du.«

«Sie hat mich anders in Erinnerung, als ich jetzt bin.«

«Ach was!«Frau Schwabe wischte mit der Hand durch die Luft. Sie sah Dr. Mainetti in den Saal kommen und atmete auf.»Da kommt die Frau Doktor«, rief sie ablenkend.»Ich werde ihr sagen, sie soll dir jeden Tag einmal den Kopf zurechtsetzen!«

Lisa war an der Tür des Saales stehengeblieben. Die Bescherung war fast zu Ende. Der Kreisleiter machte ein finsteres Gesicht, weil die Feierstunde nicht so ablief, wie sie geplant war. Alles hatte einen familiären, zivilen Charakter, wo es doch gerade darauf ankam, die innere Verbindung von Front und Heimat darzustellen. Außerdem wurde er von den Ärzten und Verwundeten kaum beachtet. Dr. Urban war nicht anwesend, und das Erscheinen Lisa Mainettis erinnerte ihn wieder an den zersplitterten Kopf mit dem einen Auge. Ihm wurde wieder übel, und er ging zu der Hitlerbüste und setzte sich neben sie auf einen leeren Stuhl, als suche er Schutz im Schatten des Führers.

Professor Rusch trat auf Lisa Mainetti zu. Sein schmales, hageres Gesicht mit den an den Schläfen weiß werdenden Haaren überragte die meisten Anwesenden. Er sah Lisa mit leicht geneigtem Kopf an, und in seinem Blick lag tiefe Sorge.

«Du siehst abgespannt aus«, sagte er, leise.»Du solltest dir einen Tag wirklicher Ruhe gönnen. Wollen wir morgen eine Schlittenfahrt in die Berge machen?«

Lisa lächelte ihn schwach an. Sie wischte sich mit der Hand über das schwarze Haar. Es war eine Geste, die sagen sollte: Schön wär's, aber es geht nicht.

«Ich habe Angst um Fritz Adam, Walter. Ich möchte ihn nicht allein mit Urban lassen. Laß uns nach dem Weihnachtsfest für ein oder zwei Tage fortfahren.«

Professor Rusch nickte. Sie standen, durch den Weihnachtsbaum verdeckt, neben der Tür. Das Stimmengewirr umrauschte sie wie ein Wasserfall, und trotz der vielen Menschen spürten sie auf einmal, daß sie in Wahrheit ganz allein waren.

«Es wird nicht mehr lange dauern«, sagte Rusch ganz leise.»Im Osten und im Westen brechen die Fronten zusammen. Und was wird dann, Lisa? Du hast mich vor einigen Tagen einmal gefragt, was ich mir zu Weihnachten wünsche. Ich will es dir heute sagen. Laß uns heiraten, Lisa.«

Lisa Mainetti sah auf die Zweige des Baumes und auf die flak-kernden Kerzen, die fast niedergebrannt waren. Ihr Gesicht war maskenhaft unbeweglich.

«Wir haben nie darüber gesprochen, Walter.«

«Deswegen möchte ich es jetzt tun, Lisa.«

«Als wir uns kennenlernten, näher kennenlernten, war es eine Laune, weiter nichts. Eine Kriegsliebe, wie man so sagt. Sie ersetzt heute die sogenannten Ferienbekanntschaften. «Sie wandte den Kopf zu Professor Rusch um, ihre großen, schwarzen Augen sahen ihn fast wehmütig an. Nichts war mehr an Lisa Mainetti von der energischen Frau, die in den Krankenzimmern kommandierte wie ein Feldwebel und vor der die Sanitäter mehr Angst hatten als vor dem Chefarzt.»Wir sind nicht mehr die Jüngsten, Walter, und wir sind so grundverschieden.«

«Und was willst du tun, wenn dieser ganze Dreck von Krieg und Nazitum vorbei ist?«

«Ich werde irgendwo eine Praxis aufmachen.«

«Und du wirst vom Morgen bis zum Abend auf den Beinen sein,

Pillen und Pulver verschreiben, Herzen abhorchen, Lungen untersuchen, Rheumakranke einreiben und Hustensaft verordnen, Geschwüre aufschneiden und Blutergüsse mit Alkohol kühlen.«

«Dazu haben wir uns berufen gefühlt, Walter. Darum sind wir Arzt geworden. Du wirst eine andere Karriere haben. Dir stehen die Universitäten offen, die großen Kliniken.«

«Komm mit, Lisa. Als meine Frau. Ich weiß, wir haben uns in den letzten zwei Jahren viel gezankt, ich war oft unausstehlich, und mehr als einmal hast du ausgerufen: Die Frau, die dich einmal heiratet, muß wahnsinnig sein! Bitte sei so wahnsinnig — nimm mich. «Professor Rusch lehnte sich an die Wand. Das Stimmengewirr um ihn herum erreichte ihn nicht mehr, er war in einer Welt, die nur ihm und Lisa gehörte.»Wenn diese Welt, in der wir bisher leben mußten, in Kürze zusammenbricht, werden wir alle nackt und unschuldig dastehen. Auch ich. Wir müssen von vorn anfangen wie die ersten Menschen. Ich werde ganz allein sein und mich immer fragen: Wofür fängst du überhaupt an? Lohnt es sich noch für die paar Jahre? Ist dein Rest Leben so viel wert, daß du es in eine Arbeit steckst, deren Früchte du nicht mehr genießen kannst? Es ist eine Sinnlosigkeit, siehst du das denn nicht, Lisa? Aber mit dir hätte ich den Mut weiterzuleben. Da hätte ich ein Ziel, da hätte alles wieder Sinn und Zweck.«

«Wenn die Welt sehen könnte, wie klein der große Chirurg ist. «Lisa Mainetti strich Professor Rusch leicht über den Arm. Es war ein scheues, schnelles Streicheln, weil sie wußte, daß viele Augen sie beobachten konnten. So, wie sie es tat, sah es unverfänglich aus, aber Rusch spürte, wie sehr sie ihn verstand.

«Was hindert dich, ja zu sagen?«fragte er heiser.

«Die Angst, Walter.«

«Angst? Wovor?«

«Vor dir. Du bist unberechenbar.«

«Weil ich einsam bin, Lisa. Ich belüge mich selbst.«

Lisa Mainetti senkte den Kopf.»Wie gut ich dich verstehe«, sagte sie leise.»Es ist das Recht der Einsamen, sonderbar zu sein.«

«Wir haben uns beide gegenseitig nötig, spürst du das nicht, Lisa? Wir zwei könnten zusammen unsere eigene Welt aufbauen, wie sie schöner nicht denkbar ist.«

«Vielleicht. «Lisa strich sich wieder über die schwarzen Haare und sah hinüber zu den Verwundeten und ihren Angehörigen. Die Bescherungsfeier war zu Ende, es gab Kaffee und für die Besucher und für alle, die essen konnten, Kuchen. Viele verschiedene Arten von Kuchen, die von den Müttern und Frauen mitgebracht und gestiftet worden waren.

«Man sollte es versuchen, Lisa. Allein gehen wir sowieso zugrunde.«

«Also die Ehe als Experiment? Fliegt die Sache in die Luft oder nicht?«

Rusch wandte sich mit gequälter Miene ab.»Ich kann nicht mehr sagen, Lisa. Ich liebe dich. Das ist alles.«

Lisa Mainetti strich sich den weißen Arztkittel glatt. Sie sah Erich Schwabe und seine Mutter in der Ecke sitzen und zu ihnen herübersehen.»Und ich liebe dich auch, Walter«, sagte sie leise.»Das ist das Schreckliche.«

Mit schnellen Schritten ging sie hinüber zu Erich Schwabe, ehe Rusch etwas erwidern konnte.

Um die gleiche Zeit, in der auf Schloß Bernegg die ersten Akkordeontöne aufklangen und Walter Hertz und Petra Wolfach als erste die Tanzfläche betraten, klopfte in Köln an die Kellertür des Hauses Horst-Wessel-Straße 4 der Luftwaffenfeldwebel Karlheinz Petsch.

Er hatte den Arm voller Kostbarkeiten: zwei Flaschen Wein, eine Dauerwurst, eine Dose Keks, ein halbes Pfund Butter, etwas Schnittkäse, ein Kommißbrot und ein Paar französische Seidenstrümpfe mit schwarzer Naht. Woher er das alles hatte, war sein Geheimnis. Wie ein übermütiger Junge war er die Kellertreppe hinuntergekommen, pfeifend und schon von oben rufend:»Es kommt der Weihnachtsmann, mein Mädchen! Macht hoch die Tür, die Tor' macht weit!«

Im Keller saß Ursula Schwabe auf der Kiste, die sie vor die verriegelte Tür geschoben hatte. Ein Zittern lief durch ihren schmalen Körper, als sie die Tritte und die Stimme Karlheinz Petschs hörte. Sie starrte hinüber zu Erichs Bild, das von dem flackernden Licht der drei kleinen Kerzen umflammt war.

«Hilf mir«, sagte sie leise.»Erich, hilf mir! Er darf nicht hereinkommen. Warum hast du mich nicht bei dir haben wollen? Warum bin ich jetzt allein?«

Feldwebel Petsch war an der Kellertür angelangt. Er drückte mit dem Ellenbogen des rechten Armes gegen die Klinke.

«Abgeschlossen!«sagte er zu sich, dann stellte er die beiden Flaschen auf den feuchten Boden des Kellers und klopfte gegen die Tür.

«Aufmachen, kleine Frau! Das letzte Weihnachtsfest in diesem Mistkrieg wollen wir feiern!«

Ursula lehnte den Kopf gegen die Kellertür.

«Gehen Sie!«rief sie mit erstickter Stimme.»Wenn Sie nicht gehen, rufe ich um Hilfe.«

Feldwebel Petsch sah verblüfft gegen die rohen Bretter der Tür.»Das ist 'n Ding!«sagte er laut.»Wenn du wüßtest, Kleines, was ich alles hier habe! Für so was würde man heute Leute ermorden. Sogar ein paar Strümpfe hab' ich hier. Aus Paris. Seide mit schwarzer Naht! Einem Zahlmeister aus den Zähnen gezogen. Wenn ich mir diese Strümpfe an deinen Beinen vorstelle! Schon der Gedanke macht mich ohne Alkohol besoffen. Komm, mach auf!«

Ursula schüttelte wild den Kopf. Sie wußte, es war sinnlos, um Hilfe zu rufen. Niemand würde sie hören. Nur durch die Durchbrüche konnte sie in die Nebenkeller flüchten, in verlassene, eingefallene Häuser, in denen die Ratten unter den Trümmern nach Freßbarem wühlten, nach vermoderten Lebensmitteln und vergessenen Leichen.

«Gehen Sie!«sagte sie noch einmal.»Ich mache Ihnen nicht auf. Und wenn Sie versuchen, die Tür einzutreten — ich habe ein Beil hier. Und ich schlage zu — bestimmt!«

«Frohe Weihnachten!«sagte auf der Kellertreppe Karlheinz

Petsch.»Da rennt man einsam durch die Gegend und organisiert ein Festessen, um einem kleinen Mädchen eine Freude zu machen, und was tut sie? Sie will mit einem Beil um sich schlagen. Hab ich das verdient?«

Ehe Ursula antworten konnte, heulten oben die Sirenen wieder auf. Vielleicht war es nur ein Störangriff. Aber auch ein kleiner Angriff brachte Trümmer und Tote, Feuer und Leid.

Feldwebel Petsch trommelte mit den Fäusten gegen die Kellertür.

«Alarm — verdammt noch mal! Jetzt müssen Sie aufmachen! Oder wollen Sie, daß ich hier verrecke, wenn die Eier fallen?«

«Rennen Sie zum nächsten Keller!«schrie Ursula.

«Ich kann mich beherrschen! Da — die Flak schießt schon! Da soll ich 'raus und einen Splitter um die Ohren bekommen? Fünf Jahre hab' ich Glück gehabt, und jetzt wollen Sie mich zur Minna machen lassen? Nee, nein Mädchen — aufmachen, wie es die Nächstenliebe befiehlt!«

Mit zitternden Fingern schob Ursula den Riegel zur Seite. Feldwebel Petsch stieß die Tür auf, schob mit dem Fuß die Kiste zur Seite und trug in zwei Etappen seine Geschenke in den muffigen Kellerraum. Er baute alles auf dem Tisch auf, legte Erich Schwabes Bild mit dem Gesicht nach unten neben die Tannenzweige und setzte sich auf das Luftschutzbett. Seine Mütze warf er auf die Erde.

«Warum hast du Angst?«fragte er und sah Ursula groß und jungenhaft fragend an.»Glaubst du, ich tu' dir was, wenn du nicht willst?«

Ursula schwieg. Sie stand mit dem Rücken an die offene Tür gelehnt, als wolle sie jeden Augenblick flüchten können. Von oben hörte man das Bellen der Flak und das helle Brummen leichter Bombenflugzeuge. Sie zogen über die Stadt, ohne etwas abzuwerfen.

«Ich kannte mal ein Mädel, das war genauso wie du«, sagte Petsch.»Aber nach zwei Stunden kam sie von selbst, und dann war ihr alles egal. Wissen wir, ob wir morgen noch leben?«

Ursula sah hinüber auf den Tisch. Sie sah die Wurst, die Butter, das Brot, den Wein. Und die Strümpfe.

«Soll ich Ihnen etwas zurechtmachen?«fragte sie heiser.»Ein Brot mit Wurst, wollen Sie ein Glas Wein? Ich habe nur einen Becher hier — aber er wird auch daraus schmecken.«

«Mach uns ein schönes Abendessen!«Feldwebel Petsch ergriff eine Flasche Wein und hieb den Hals am Pfosten des Luftschutzbettes ab.»Und laß uns einen trinken. Darauf, daß das nächste Weihnachten anders aussieht! Prost, kleine Frau! Und nun komm her, trink mit mir und laß uns Weihnachten feiern! Und wenn du noch 'n paar Kerzen hast, dann steck sie an. Das macht das alles so schön feierlich. Oben Flak, unten Stille Nacht. Kinder, in was für einer Zeit leben wir!«

Am ersten Weihnachtsfeiertag, gegen Abend, fuhr Frau Hedwig Schwabe wieder zurück nach Köln. Erich durfte sie bis zum Zug begleiten. Der Famulus Baumann hatte seinen Kopf so verbunden, daß man außer den Augen nichts sah. So war Erich Schwabe kein schrek-kenerregender Anblick mehr und konnte sich unter die Leute wagen. Er fiel auch auf dem Bahnhof nicht auf und stand so lange winkend auf dem Bahnsteig, bis der Zug in der Abenddämmerung verschwand. Frau Schwabe setzte sich, als sie Erich nicht mehr sah, und legte vorsichtig das Glasmosaik in das Gepäcknetz. Das rührend-naive Geschenk eines verstümmelten Mannes an seine Frau. Das wortlose Flehen um Liebe und Treue.

Fast zwei Tage brauchte Frau Schwabe, ehe sie durch Umleitungen und Stockungen in Köln eintraf Am 27. Dezember, gegen Mittag, in einer Pause zwischen zwei Luftangriffen, kam sie unverhofft in den Keller zurück, das Glasmosaik vor sich hertragend wie eine unersetzbare Kostbarkeit.

«Ursula!«rief sie schon auf der Treppe.»Uschi, ich bin's. Ich bin wieder da!«

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