Kapitel 22

Als sich Erich Schwabe bei Professor Rusch melden ließ, wurde er sofort vorgelassen. Lisa saß an der Schmalseite des großen Schreibtisches und füllte Krankenpapiere aus.

«Ich weiß, weshalb Sie kommen«, sagte Rusch, ehe Schwabe den Brief aus der Tasche ziehen konnte.»Das idiotische Schreiben an Sie. Ich habe ja eine Abschrift erhalten. Machen Sie sich keine Sorgen, es wird alles geregelt.«

Schwabe nickte, aber es war ein zaghaftes, ungläubiges Nicken.

«Woher soll ich über 10.000 Mark nehmen, Herr Professor?«

«Reden wir nicht mehr darüber. Wenn Sie das Geld wirklich hätten, würde ich zu Ihnen sagen: Legen Sie es gut an.«

«Sie ja, Herr Professor. Aber die Leute von.«

«Ich werde das klarstellen.«

«Man wird bestimmt Paragraphen haben.«

«Natürlich hat man die. Aber Sie sind eine Ausnahme.«

«Es gibt keine Ausnahmen bei den Paragraphen. Sie werden es sehen, Herr Professor. «Schwabe spielte unruhig mit den Fingern.»Wenn wir wenigstens eine Stundung herausschlagen könnten — eine langfristige Abzahlung.«

Professor Rusch klopfte mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch.»Nichts werden wir. Was kosmetische Operationen sind oder Funktionsherstellungen, das bestimme ich.«

«Natürlich, Herr Professor. «Erich Schwabe sah Rusch fast ein wenig mitleidig an.»Genauso haben Sie bei den Wehrmachtskommissionen gesagt, und Sie haben sich durchgesetzt. Da war aber Krieg. Jetzt ist das etwas anderes, Herr Professor. Jetzt bestimmen Verwaltungsbeamte, was richtig oder nicht richtig ist. Und es gibt nicht mehr den Druck im Nacken, und alle sind wieder satt. Da sieht alles ganz anders aus. Im Kaiserreich hatte man Angst vor den Amtsstuben, unter Hitler Angst vor den braunen Uniformen. Und jetzt sind es wieder die Amtsstuben. In Deutschland läuft doch seit je-

her alles nur im Kreis.«

«Da hat er recht, Walter«, sagte Lisa.

Professor Rusch hob den Kopf. Er holte seinen Tageskalender unter den Papieren hervor und überblickte die Rubriken. Dann klappte er ihn zu und stand auf.

«Ich habe eine halbe Stunde Zeit bis zur Gutachteruntersuchung«, sagte er.»Ich gehe zur Verwaltung. In einer halben Stunde haben wir alles geklärt, Schwabe. Bitte, warten Sie hier.«

Mit forschen Schritten verließ Rusch das Chefzimmer. Schwabe wartete, bis er die Tür hinter sich zugeworfen hatte. Dann setzte er sich und legte die Hände zwischen seine Knie.

«Er ist noch immer Optimist«, sagte er bewundernd. Lisa nickte.

«Er hat eine schreckliche, aber verzeihliche Philosophie aufgebaut«, sagte sie.»>Wir haben eine Diktatur überlebt<, sagte er. >Den furchtbarsten Krieg aller Zeiten, die Jahre des Hungers. Nun haben wir eine echte Demokratie — und jetzt kann aus dem Deutschen endlich ein Europäer werden.< Und in seinem Glück, endlich ein freier Mensch zu sein, sieht er nicht das rapide Anschwellen des bürokratischen Wasserkopfes. Auch in diesem Augenblick glaubt er an die freie Persönlichkeit und an die Überzeugungskraft der Wahrheit.«

«Ich hätte nicht kommen dürfen, Frau Doktor«, sagte Schwabe stok-kend.»Aber ich wußte mir keinen Rat mehr. Woher soll ich denn 10.000 Mark nehmen?«Er schluckte und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht.»Habe ich denn wirklich den Staat betrogen, weil ich mir ein neues Gesicht schenken ließ?«

Die Ärztin biß die Zähne aufeinander.»Schwabe«, sagte sie rauh.»Was auch kommt — wir werden einen Musterprozeß führen. Sie bezahlen keinen Pfennig für Ihr zerstörtes und wiederhergestelltes Gesicht.«

Im Block A saß der Verwaltungsdirektor des Versorgungskrankenhauses Schloß Bernegg sichtlich betreten in einem Ledersessel und sah Professor Rusch ernst an. Er wedelte mit dem Brief durch die Luft, als

sei es ihm zu heiß geworden in dem großen Zimmer.

«Diese Forderung ist berechtigt, Herr Professor«, sagte er.

«Eine Infamie ist sie«, rief Rusch.»Verlangen Sie, daß ein Mensch mit dem Gesicht eines Ungeheuers herumläuft? Was heißt Funktionsherstellung? Es ist nicht damit getan, daß man wieder kauen und schlucken kann, daß man eine Nase und zwei Ohren hat, Lippen und ein rundes Kinn. Für mich ist die Funktion eines zerstörten Gesichtes erst dann wiederhergestellt, wenn dieses Gesicht auch den ästhetischen Maßstäben genügt.«

«Für Sie, Herr Professor. Sie haben eine großzügigere Auslegung der Bestimmungen als der Kostenträger unserer Klinik. «Der Verwaltungsdirektor legte den Brief vorsichtig auf den Tisch zurück.»Natürlich soll der Mann nicht wie ein Untier herumlaufen. Aber man muß zuerst die Kostenfrage klären, ehe man daran geht, ihn wieder schön zu machen.«

«Haben Sie >schön< gesagt?«fragte Rusch gefährlich leise.»Haben Sie wirklich >schön< gesagt?«

«Klammern wir uns nicht an Worte. Sie wissen, was ich meine. Also: Man muß klären, wer das bezahlt. Das Versorgungsamt? Es hat abgelehnt. Die Krankenkasse? Sie hat abgelehnt. Beide stehen auf dem Standpunkt, daß es kosmetische Regulierungen des Gesichtes sind. «Er hob beide Arme und sah Rusch ehrlich hilflos an.»Ich kann nichts daran ändern. Ich habe nur die Pflicht, die Gelder hereinzubekommen.«

«Man hat Erich Schwabe als Gärtner und Hausmeister für das Schloß angestellt. Er hatte freie Wohnung, freies Essen und bekam ein Gehalt von.«

«Das ist etwas anderes. «Der Verwaltungsdirektor beugte sich zu Rusch vor.»Sehen Sie, da haben wir ein gutes Beispiel: Wir zahlen Herrn Schwabe für seine Dienstleistung ein Gehalt und so weiter. Mit gleichem Recht steht uns eine Zahlung zu, wenn wir an Herrn Schwabe eine Leistung vollbringen. Auf der einen Seite war er unser Gärtner und Hausmeister, auf der anderen Seite war er aber auch Patient. Man muß das streng voneinander trennen.«

«Sie bleiben also dabei: Schwabe muß 10.000,- DM zahlen.«

«Ich bleibe dabei, daß wir unsere Unkosten ersetzt bekommen. Da weder Krankenkasse noch andere Institutionen. Oder wollen Sie das bezahlen, Herr Professor?«

Rusch erhob sich brüsk.»Ich habe Schwabe in die Klinik geholt, ich habe ihn die ganzen Jahre umsonst behandelt.«

«Ihr Edelmut ist allgemein bekannt, Herr Professor.«

«Und ich lasse mich durch keinerlei engstirnige Bestimmungen an der Ausübung meiner ärztlichen Pflicht hindern.«

«Das ist Ihre Sache, Herr Professor. Wenn Sie einen Privatpatienten unentgeltlich behandeln, so kann Ihnen niemand dreinreden. Aber das Haus, Herr Professor, hatte Unkosten. Benutzung des OPs, Verbände, Medikamente, die stationäre Pflege, Bettwäsche — wer soll das tragen? Sie bekommen Ihr Gehalt, Ihre Gattin, die Assistenzärzte, die freien Schwestern, die Krankenpfleger, der Klinikapotheker, ich bekomme mein Gehalt und meine Mitarbeiter —, wie sollen wir das bezahlen, wenn wir die Patienten umsonst behandeln? Der Staat buttert sowieso Millionen in die Krankenhäuser. Da ist es unmöglich, daß wir — auch wenn es sich um einen Mann handelt, der sein Gesicht dem Vaterland geopfert hat — auch noch die Schönheitsoperationen bezahlen.«

Professor Rusch hatte einen Augenblick den unwiderstehlichen Drang, das zu tun, was er bisher nie in seinem Leben getan hatte — selbst nicht bei Oberst Mayrat, als dieser sagte:»Zum Panzerfahren und MG-Abdrücken brauchen die keine Visagen wie die Filmschauspieler. Für uns ist eine Funktion hergestellt, wenn der Mann wieder schießen kann. «Er hatte den Drang, sich vorzubeugen und mit beiden Händen in das Gesicht des Mannes vor sich zu schlagen.

«Das also ist aus uns geworden«, sagte er heiser.»Das ist die Lehre, die wir aus dem Krieg gezogen haben sollen.«

«Ich verstehe Sie nicht, Herr Professor«, sagte der Verwaltungsdirektor steif.»Was dem Staat gebührt.«

«Dem Staat gebührt Einsicht, Reue, Verzeihen, Hilfe, Achtung und Menschenehre«, schrie Rusch.»Aber das alles fehlt ihm. Zu satt ist er wieder geworden, und die Hirne bemühen sich verzweifelt, den Krieg zu vergessen, den Zusammenbruch, den Hunger, das jammernde Elend. Wie ein Mädchen ist dieses Deutschland, das nicht an einen Fehltritt erinnert werden möchte. Es ist zum Kotzen.«

Rusch holte einen anderen Brief aus der Tasche und warf ihn dem etwas blaß und noch steifer gewordenen Direktor auf den Tisch.

«Was soll das?«fragte dieser konsterniert.

«Lesen Sie. Ein Brief von Major Braddock. Sie kennen ihn doch noch? Er ist heute Präsident der Internationalen Arznei-For-schungs-Gesellschaft in New York.«

«Eine erstaunliche Karriere für einen Offizier«, sagte der Direktor sarkastisch. Er entfaltete den Brief und strich ihn glatt, aber er begann nicht, ihn zu lesen.»Warum geben Sie mir den Brief?«

«Zur Information. Es ist ein neues Angebot, meine Forschungen und meine chirurgische Tätigkeit in den USA fortzusetzen. Man bietet mir dort so viel Dollar, wie ich hier D-Mark erhalte. Und Freiheit der Forschung. Und volle Unterstützung meiner Arbeit. Keine Paragraphen von Beamten mit gesunden Gesichtern, die den zerstörten Gesichtern nur die Funktionen wiedererlauben.«

Der Direktor schob das Schreiben weg, als ströme es einen schlechten Geruch aus.»Was soll das, Herr Professor?«

«Ich nehme den Ruf an und verlasse mein Vaterland, wenn die Idiotie, die ich jetzt hier sehe, weiter um sich greift. Ich habe immer eine verzweifelte Liebe zu Deutschland gehabt, und ich habe in all den Jahren gehofft: nach dem Krieg wird es besser. Diese fürchterlichen Jahre sind ein Fegefeuer, das ein für allemal die Hirne der Deutschen reinigt. Man wird Vernunft lernen, Einsicht und Gerechtigkeit, es wird ein Vaterland geben, das wirklich danken kann.«

Der Verwaltungsdirektor war aufgesprungen. Sein Gesicht war gerötet vor Erregung.»Herr Professor«, rief er hell.»Auch ein Mann wie Sie kann sich eine Erpressung nicht leisten. Wenn Sie nach Amerika gehen wollen — bitte, gehen Sie. Es wird Nachwuchs geben. Oder glauben Sie, Sie könnten damit eine Streichung der Schuld dieses Schwabe erzwingen? Das ist ja lächerlich. So stellt sich der kleine Mo-ritz die Gesetze vor. Ein Staat ohne festumrissene Bestimmungen ist wie ein Schiff ohne Ruder — es treibt hilflos auf den Wellen. Und ich wiederhole es: Auch bei den Gesichtsverletzten, so schrecklich ihre Verwundung ist, muß es eine Grenze geben, wo die Notwendigkeit aufhört und die Kosmetik beginnt. Und diese Grenze hat dieser Schwabe seit langem überschritten.«

Professor Rusch nahm den Brief Braddocks, den der Direktor nicht lesen wollte, wieder an sich und steckte ihn ein. Ganz ruhig, als habe es sich in den vergangenen Minuten nicht um Grundsätzliches in seinem Leben gehandelt, sagte er:

«Ich übernehme die Schuld des Herrn Schwabe. Die zehntausend D-Mark bezahle ich.«

«Bitte innerhalb von vierzehn Tagen. Wir müßten sonst die Summe einklagen.«

Rusch blieb an der Tür stehen. Er sah den Verwaltungsdirektor mit dem geröteten Gesicht an wie einen dampfenden Misthaufen.

«Meine Erziehung verbietet es mir, Ihnen zu sagen, was Sie mich können«, sagte er, jedes Wort deutlich betonend.»Aber wenn Sie es erraten, was ich meine — genau das können Sie mich.«

«Das war nicht das letzte Wort«, rief der Direktor bebend vor Wut. Rusch schüttelte den Kopf und riß die Tür auf.

«Das letzte Wort schon. Aber die Handlung steht Ihnen jederzeit frei.«

Zufrieden ging Erich Schwabe zurück nach Bernegg.

«Es ist alles in Ordnung«, hatte Professor Rusch gesagt, als er von Block A zurückkam.»Sie brauchen nichts zu bezahlen. Ich habe mit dem Direktor gesprochen. Die Kosten übernimmt ein anderer. Also, Schwabe — keine grauen Haare. Bleiben Sie blond.«

Lisa wartete, bis Schwabe gegangen war. Dann kam sie zu Rusch und legte ihm die Arme um den Hals.

«Der andere — das bist doch du?«fragte sie.

«Wieso?«Rusch blätterte abwesend in einer dicken Krankenge-schichte.

«Weil du mir nicht in die Augen sehen kannst und weil du gar keine Begabung hast, mich zu belügen, mein Lieber. «Sie küßte seinen Nacken und legte ihren Kopf an seine Wange.

«Wetten, es hat einen Mordskrach gegeben?«

«Wette gewonnen«, sagte Rusch hart.

«Und nun bist du mit allem fertig, nicht wahr? Auswandern, Deutschland vergessen, in der Fremde vor Heimweh umkommen?«

«Ich nehme den Ruf Braddocks an. Ich werde ihm noch heute abend schreiben. Wenn zwei Weltkriege es nicht vermocht haben, die deutsche Bürokratie zu zerstören.«

«Und jetzt mit dem Kopf gegen die Wand. Aber die Wand ist stärker, Walter. Du rennst dir den Schädel ein.«

«Ich kann hier nicht mehr bleiben«, rief Rusch und trommelte mit den Fäusten auf den Schreibtisch.»Die Vertrauensärzte, die im Auftrag ihrer Behörden die Schadensprozentsätze drücken, die Höhe der Kriegsbeschädigtenrenten, die ohnehin eher ein Trinkgeld für die Komparsen des Kriegstheaters sind, als eine gerechte Unterstützung für verlorene Gesundheit im Dienst des Vaterlandes — diese fast höhnische Behandlung der Verletzten, als wolle man ihnen sagen: Ihr seid ja selbst schuld, warum habt ihr euch da hingestellt, wo es krachte? Nein, das mache ich nicht mehr mit, Lisa. Habe ich deshalb jeden einzelnen meiner Gesichtsverletzten wie ein eigenes Kind behandelt, damit man jetzt sagt: Sie sehen aber wieder gut aus, und arbeitsfähig sind Sie ja auch, wir streichen Ihnen die Rente bis auf einen Bruchteil? Einmal ist die Grenze erreicht — ich gehe nach Amerika.«

«Aber wann!«fragte Lisa sanft.

«Sofort.«

«Das wird nicht gehen.«

«Warum?«

«In fünf Monaten kommt ein neuer oder eine neue Rusch auf die Welt.«

Rusch ergriff Lisas Hände und drückte sie.»In New York, Lisa. Und dieser Junge oder dieses Mädchen wird einmal mit Staunen in einem Lesebuch lesen, daß es jenseits des großen Teiches ein altes Land gibt, das eine zweitausendjährige Kultur besitzt und es in einem Teufelsrhythmus von jeweils einer Generation immer wieder fertig bekommen hat, diese Kultur stückweise selbst zu zerstören.«

«Vielleicht. Aber ich bin altmodisch, Liebster. «Lisa hielt die streichelnden Hände Ruschs fest.»Ich will, daß mein Kind hier geboren wird. Nicht allein in Deutschland, nein, auf diesem alten Schloß Bernegg.«

«Verrückt«, knurrte Rusch.»Wie sentimental!«

«Mag sein. Aber hier war ich zum erstenmal in meinem Leben richtig glücklich. Und ich möchte das größte Glück hier erleben: ein Kind zu haben. Kannst du das nicht verstehen, du Brummbär?«

Rusch schwieg. Er schüttelte auch nicht den Kopf, noch nickte er.

«Gut«, sagte er nach langem Schweigen.»Dann gehen wir in die USA, wenn das Kind da ist.«

«Dann wird Theo Adam zu dir kommen als Assistent. Und auch Baumann wird dann so weit sein. Du hast es beiden fest versprochen. Und Kaspar Bloch kommt schon in vier Monaten zu uns. Er will sein Praktikum in der psychologischen Behandlung Gesichtsversehrter machen. Er hat heute geschrieben. Du hast den Brief vor lauter Ärger noch nicht gelesen.«

Professor Rusch schwieg wieder. Er konnte nichts sagen, weil er fühlte, wie recht Lisa hatte. Schloß Bernegg und seine Gesichtsverletzten waren eine eigene, waren seine Welt geworden. Hier war er wie ein kleiner Herrgott, der durch die Kraft des großen Herrgotts mit seinen Händen neue Gesichter schuf und neues zukunfttragendes Leben schenkte. Hier war er die letzte Station, der letzte und einzige Retter, Vater und Mutter zugleich. Zu ihm kamen die Wesen ohne Gesicht, die einmal Menschen gewesen waren und denen er das Menschsein in mühseliger Kleinarbeit millimeterweise wiederschenkte.

«Nun trinken wir einen Cognac«, sagte Lisa Rusch leise und trat zurück.»Und dann spreche ich mit dem Verwaltungsfritzen wegen der Abzahlung. Ober haben wir 10.000 Mark übrig?«

«Nein.«

«Auch darüber werden wir kommen. «Sie goß die Cognacschwenker halb voll und trug sie zu Rusch.»Wir haben das Braune Reich, den Krieg und die Hungerjahre überlebt. Es wäre ja gelacht, wenn wir jetzt am Frieden zerbrechen sollten.«

Zwei Besucher trafen in Abständen von zwei Tagen auf Schloß Bernegg ein. Ohne sich anzumelden, ohne Vorankündigung, sie waren plötzlich da, überraschend wie Schnee aus Sommerwolken.

Major James Braddock und der Wastl Feininger.

Zuerst kam der Wastl. Nicht freiwillig, sondern notgedrungen. Er kam auch nicht forsch oder zumindest mit Galgenhumor, nein, er stand mächtig, dick und breit im Chefzimmer, drehte seinen Hut mit dem gewaltigen Gamsbart in den Händen, und die Kläglichkeit einer zerstörten Kreatur lag über ihm wie eine glänzende Ölhaut.

Sein Gesicht war dick verbunden: wie in alten Zeiten trug er wieder den mächtigen Turban, der ihm damals den Namen >Wastl-Pa-scha< eingebracht hatte.

«Was ist denn das?«fragte Lisa, als sie sich von dem ersten Erstaunen erholt hatte.»Wastl, Mensch, was ist denn mit Ihnen los? Wie sehen Sie denn aus?«

Der Wastl ließ seinen Hut schneller zwischen den Fingern rotieren.»Dös is a Kreiz«, kam es mühsam aus den Verbänden und Leukoplaststreifen.»Hab' i ahnen könna, daß 's Mariandl an festen Burschen hat? Und a Mordstrumm dazua. Himmisakra no amoi.«

Die Ärztin kam auf den Wastl zu und betastete dessen Gesicht. Sie sah, wie sich sein Mund im Schmerz verzerrte.

«Dös Nosenboa is es«, sagte er rauh.»Und der große Lappen, der überpflanzte, abg'rissen hot er 'n mir, der Bazi, der verfluachte. Und i hob d' Loater no net am Fensterl g'habt.«

Lisa trat zurück und wusch sich die Hände.»Also ganz klar: Sie wollten irgendwo einsteigen, und da kam der Bräutigam und hat Ihnen das Nasenbein zerschlagen und unseren so mühsam transplantierten Rollappen abgerissen. Wissen Sie, was wir jetzt machen, Wastl? Wir nähen Ihnen den Hintern ins Gesicht. Dann hören die Weibergeschichten endlich auf.«

«Ich wollt' doch nur, Frau Doktor.«

«Ruhe, Wastl. Sparen Sie sich alles auf, bis der Professor kommt. Der wird Ihnen was erzählen.«

«Ich bezahle alles«, schrie der Wastl.

Lisa sah den Wastl Feininger nachdenklich an.»Sie haben doch einen großen Hof, nicht wahr?«fragte sie.

«Ja.«

«Wieviel Vieh?«

«Dreißig Kühe und neunundvierzig Schweinderln.«

«Dann werden Sie zwei Kühe und vier Schweine verkaufen müssen. Bei solchen Dummheiten, Wastl, müssen Sie bluten. Das behandele ich Ihnen nicht auf Ihren Versorgungsschein.«

«Dös is mir klor. «Der Wastl schien zu schwitzen, aber es war nirgendwo mehr ein unverbundener Fleck in seinem Gesicht, wo er den Schweiß abwischen konnte.»Zwei Küh und vier Schweinderl, dös san a paar Tausender, Frau Doktor.«

«Noch immer billiger als sechzehn Jahre Alimente«, sagte Lisa grob. Der Wastl nickte wissend.

«Dös is a Argument«, stellte er fest.»Einverstanden, Frau Doktor. Macht's mir nur wieder a guats G'sicht — und Zeit hob i a. Und wenn i wieder auf Zimmer B 14 dürft'.«

Lachend ließ Lisa den Wastl von einer Schwester auf das Zimmer bringen. Dann ging sie zu Rusch in den OP I.

«Alles klar«, sagte sie ihm ins linke Ohr, während er das Ohr eines Patienten verband. Ihre Stimme war voll unterdrücktem Jubel. Verwundert schielte Rusch zur Seite.

«Welche Fröhlichkeit? Was ist klar?«

«Soeben ist der Wastl Feininger eingetroffen.«

«Der Wastl? Was will denn der hier?«»Er bezahlt die Hälfte von Schwabes Schulden.«

Es war einer der seltenen Augenblicke, in denen Professor Rusch überhaupt nichts mehr verstand und seine Frau nur entgeistert anstarrte.

James Braddock traf ebenso naturgewaltig ein. Allerdings nicht mit einem von einem Nebenbuhler zerschlagenen Gesicht, sondern in einem hellen Flanellanzug, Schuhen in Form indianischer Mokassins und in jeder Hand eine Flasche Whisky. So stand er unten in der Eingangshalle, bestaunt von den Schwestern, und brüllte durch das Treppenhaus.

«Hallo. Hallo. Miß Doktor. Goddam old James ist wieder da.«

Lisa und Rusch hörten das Gebrüll im Vorbereitungszimmer. Sie wuschen sich gerade nach einer anstrengenden Operation. Rusch hatte wieder einen Unterkiefer >verlötet<.

«Das ist doch nicht wahr«, sagte Lisa und ließ die Seife fallen.»Der kann doch nicht einfach da sein und >Miß Doktor< brüllen.«

Sie stieß mit dem Ellenbogen die Tür auf und rannte mit nassen, tropfenden Händen auf den Gang. Braddock streckte die Arme weit aus, kaum, daß er Lisa sah. Sein rundes Gesicht unter den noch immer stoppeligen Haaren leuchtete wie pomadisiert.

«Lisa, Darling«, schrie er.»Come on — kiss me!«

«Braddock. Er ist es«, schrie Lisa zu der offenen Tür zurück. Nun erschien auch Professor Rusch, er trocknete sich die Hände ab und warf das Handtuch einer Schwester zu, die wie die anderen mit halboffenem Mund im Flur stand.

«Major«, rief Rusch.»Welche Freude!«

«Nicht Sie will ich ans Herz drücken, sondern Lisa. Come on, baby

— darauf habe ich mich einige tausend Kilometer lang gefreut.«

Er umarmte Lisa und küßte sie ungeniert auf die lachenden Lippen. Dann hob er eine der Whiskyflaschen, schrie» hopp «und warf sie Rusch entgegen. Dieser fing sie eben noch auf und schüttelte lachend den Kopf.

«Jetzt kann ich sie küssen«, brüllte Braddock und küßte Lisa wieder.»Jetzt ist sie Ihre Frau, Professor. Und jetzt hat's auch keinen Sinn mehr, Sie zu erwürgen.«

Im Chefzimmer trank James Braddock erst einmal zwei Gläser Whisky, ehe er zu erzählen begann. In Zivil wirkte er viel zierlicher und kleiner, und man mußte sogar etwas Phantasie aufwenden, sich daran zu erinnern, daß dieser Mann einmal mit einem Jeep und umgeben von MP-Riesen vor das Schloß gefahren war und gesagt hatte:»Ich habe den Befehl, das Lazarett zu besetzen. «Und der ganze Bezirk Bernegg hatte Angst vor ihm.

«Meinen Brief haben Sie doch bekommen?«sagte Braddock. Er holte wieder die lange, flache Schachtel mit den Brissagozigarren aus der Innentasche des Rockes, zog den Strohhalm heraus und brannte sich die starke Zigarre an.»Er war ein Vorläufer. Damals stand mein Europatrip schon fest. Ich muß hier sein, wissen Sie. Kontaktaufnahme mit den europäischen chemischen Fabriken. Kinder, wenn ich bedenke, wie völlig zertrümmert Germany war und wie es heute wieder dasteht — man könnte direkt wieder Angst bekommen!«

Braddock seufzte und trank einen neuen Whisky.»Ich habe überall in den Staaten erzählt, welch ein toller Kerl Sie sind, Professor. Boys, habe ich gesagt, der setzt euch neue Nasen ins Gesicht, daß ihr von der alten nicht mal mehr träumen wollt. Und euch, liebe Mammies, nimmt er sechs Pfund Fett aus dem Hintern und modelliert euch eine Figur, deren Fotos man in der Brieftasche trägt.«

«Aber Braddock. «Professor Rusch schüttelte den Kopf.»Ich bin Gesichtschirurg. Was Sie da schildern, sind rein kosmetische Operationen.«

«Eben, eben. Damit können Sie im Monat einige tausend Dollar machen. Was glauben Sie, welche Publicity ich Ihnen drüben gemacht habe. Wenn Sie 'rüber kommen, werden sich die Zwei-ZentnerWeiber in Ihrer Praxis drängeln.«

Lisa Rusch sah schnell hinüber zu ihrem Mann. Sie wußte, was er in diesem Augenblick dachte, und er tat ihr leid. Die Illusion, in die er sich hineingesteigert hatte, zerstob wie eine Seifenblase. Man sah es Professor Rusch an. Er saß still und in sich gekehrt am Tisch und hörte stumm den Begeisteiungsausbrüchen James Braddocks zu.

«Sie werden in einem Jahr in Mode sein«, rief er unbeirrt und schwenkte seine Brissagozigarre wie eine brennende Fahne.»Man wird sich zuflüstern: >Na, Nelly, auch schon bei Rusch gewesen? Ein smarter Boy, was?< Lieber Professor — und dann später Ihre Memoiren: >hunderttausend Kilo Fett in meinen Händen<. Sie werden die USA erobern.«

«Bestimmt«, sagte Rusch etwas mühsam und lächelte dazu. Mein armer Bajazzo, dachte Lisa voll Mitleid. Du hältst dich tapfer.»Aber ich glaube nicht, daß ich nach Amerika passe.«

«Wenn Sie nicht — wer sonst? Professor, denken Sie sich bloß diese Publicity: Bilder Ihrer Gesichtsverletzten vor und nach der Operation. In jedem Kino, an den Anschlagsäulen, in den Hotelhallen, auf den Sportplätzen. Und dazu der Slogan: Ruschs Hände formen jedes Antlitz. Das gibt eine neue Welle, Professor. Die Million liegt auf der Straße. Und dann Hollywood, ein Film: >Die zwei Gesichter der Linda B.< Sie wären ein Dummkopf, wenn Sie in Deutschland blieben.«

«Ich bin ein solcher Dummkopf«, sagte Rusch ernst.

James Braddock starrte Rusch an. Dann ließ er seine Zigarre fallen und stieß fast sein Whiskyglas um. Verwirrt starrte er zu Lisa hinüber.

«Der meint es ja ernst«, stotterte er.

«Ja, er meint es ernst«, nickte Lisa.

«Er will nicht?«

«Nein — er kann nicht.«

«Was heißt hier, er kann nicht? Verträge? Kleinigkeit. Als wenn wir keine Übung im Lösen von Verträgen hätten.«

«Und er will nicht.«

«Aber das gibt's doch gar nicht. Ein Mensch allein kann doch nicht so blöd sein.«

«Auch das stimmt, Braddock. «Lisa lächelte ihn freundlich an.»Es gibt zwei Blöde, ihn und mich. Ich will auch nicht.«»Sie auch nicht?«sagte Braddock entgeistert.

«Nein.«

«Aber warum denn nicht, um Himmels willen?«

«Wenn Sie Rusch nicht als einen Operationsvirtuosen, sondern als Mensch und Arzt betrachten, werden Sie es verstehen, Braddock. Es ist nicht seine Welt.«

«Damned. «James Braddock sprang auf. Er war sichtlich wütend wie damals, als seine Truppe von einem Unbekannten zaubern lernte und seine Neger plötzlich auf Berneggs Straßen jodelten.»Was ist denn seine Welt? Das alte, verfaulte Germany? Das degenerierte Europa? Die Schlafmützigkeit der westlichen Welt? Spukt bei euch schon wieder dieser verdammte deutsche Nationalismus herum?«

«Nichts von alledem, James, aber für uns ist das menschliche Gesicht ein Kunstwerk, das die Seele widerspiegelt. Es ist eine Visitenkarte Gottes, auf der man lesen kann: Seht, so vollkommen arbeitet der Schöpfer.«

Braddock wandte sich ab. Plötzlich schämte er sich.»Ich verstehe«, sagte er leise.

«Für uns ist ein Gesicht kein dollarspuckender >Esel-streck-dich< — das ist der einzige, aber auch der unüberwindliche Unterschied zwischen James Braddock und Walter Rusch.«

Professor Rusch nickte. Er griff über den Tisch nach Lisas Händen und drückte sie.»Ich danke dir, Lisa«, sagte er.»Du hast eine wundervolle Gabe, Niederlagen in Siege hinaufzureden.«

«Sonst wäre sie keine Deutsche«, sagte Braddock giftig. Aber es war kein ätzendes Gift mehr, sondern kapitulierender Sarkasmus.»Also schweigen wir über USA. Was hat sich hier ereignet in den Jahren?«

James Braddock erinnerte sich noch an alles, sogar einen großen Teil der Namen hatte er behalten.»Es war merkwürdig«, sagte er und umfaßte die Whiskyflasche.»Man rückt ein, um die Deutschen zu bestrafen. Und was tut man? Man liebt sie auf einmal. Wirklich, es war eine schöne Zeit in Bernegg.«

Lisa erzählte von dem tragischen Ende Christian Osters, von Fritz Adam, der jetzt auch schon Arzt war, von Famulus Baumann, der in drei Monaten sein Staatsexamen beendet haben würde, von dem Berliner, der auf den Brettern eines Kabaretts seine Maschinengewehrschnauze verschoß, von Kaspar Bloch, der die wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen hatte, von Schwabes und Walter Hertz' Lebenshetze und von Wastl Feiningers Abenteuern. Braddock nickte bei jedem Namen und erinnerte sich.

«Hertz, der Junge mit dem Kriegsverbrechertöchterchen. Ist es gut gegangen?«

«Nach dreimaligem Anlauf.«

«Und die schreckliche Villa unten in Bernegg?«

«Haben die Wolfachs verkauft und sich bei München im Isartal eine neue gebaut. Einen kleinen Palast. Der alte Wolfach steht wieder auf beiden Beinen und exportiert sogar in die Länder, die ihn einmal zum Kriegsverbrecher stempelten. Walter Hertz ist technischer Assistent eines der neuen Werke bei Donaueschingen. Sogar Frau Wolfach gewöhnt sich an seinen Anblick. Er wird im Winter zu Nachoperationen zu uns kommen.«

«Und der Wastl? Dieses Urvieh?«

«Der ist hier.«

Braddock sprang auf.»Hier? Und das sagen Sie mir jetzt erst? Der Kerl, der meinen Negern das Jodeln beibrachte. Kann ich ihn sehen?«

Eine Stunde später kam Braddock in das Zimmer 14. Der Wastl Feininger saß allein am Tisch und starrte trübsinnig in ein altes Buch der Klinikbibliothek. Es war ein Roman von der Waterkant, und der Wastl verstand nicht einen einzigen Ausdruck von Fischfang und Seefahrt.»Auch dös is deutsch«, seufzte er und kam um vor Langeweile.

Seine Nase hatte Rusch wieder gerichtet. Jetzt trug der Wastl in den Nasenlöchern Kunststoffröhrchen, die ein Stück aus der Nase herausragten. Der abgerissene Rollappen war völlig entfernt worden. Rusch hatte angekündigt, daß er übermorgen mit dem >Transport< eines neuen Lappens beginnen wollte, und der Wastl wußte, wie langwierig und lästig das war.

Als James Braddock ins Zimmer trat, sah der Wastl kurz auf und musterte den Eintretenden. Da das Gesicht des >Neueinganges< normal war, brummte der Wastl:»Kannste Skat spielen, Kumpel?«

«Ohne dritten Mann?«fragte Braddock zurück.

«Den kriag'n ma a.«

Braddock setzte sich an den Tisch und tippte dem trübsinnigen Wastl auf die Schulter. Lisa und Professor Rusch waren in der Tür stehengeblieben. Wastl sah sie nicht, er saß mit dem Rücken zum Eingang.

«Wir kennen uns doch«, sagte Braddock.

«Hä?«machte der Wastl.

«Hast du nicht den Negern das Jodeln beigebracht? Und als damals der amerikanische Major ins Zimmer kam, hast du Rindvieh >Heil Hitler< gerufen.«

Den Wastl durchlief es wie eine elektrische Stromwelle.»Him-mioarschsakrament«, brüllte er plötzlich und sprang auf.»Der Major. «Er stand stramm und sah jetzt auch Lisa und Rusch in der Tür stehen.»Dös mit dem Zaubern, Herr Major, dös wor'n nur die 700 Kalorien. I hob an Hunger g'habt.«

Braddock nickte und zog Wastl Feininger auf den Stuhl zurück.»Ich war nicht schuld, mein Junge. Aber ich will versuchen, etwas nachzuholen. «James Braddock sah sich zu Lisa und Rusch um.»Wer ist eigentlich noch erreichbar von den boys des Zimmers 14?«

Lisa lachte.»Alle. Bis auf Oster«, fügte sie leise hinzu.

«Very good. «Braddock legte den Arm um den verblüfften Wastl.»Ich bleibe noch zwei Wochen hier. Sie sollen alle wieder hierher kommen — auf meine Kosten. Und dann wollen wir ein Wiedersehen feiern und meine schönste Zeit in Old Germany. Und.«, er sah Professor Rusch plötzlich ernst an,»und meinen Abschied von euch allen. Denn Sie kommen ja doch nicht in die Staaten, Professor.«

«Nein, bestimmt nicht, Braddock. Und ich weiß, daß Sie mich jetzt sogar verstehen können.«

«Vielleicht. Zugeben werde ich es nie. «Er schüttelte den Wastl und hieb ihm auf die Schulter.»Und du bringst mir das Jodeln bei. Ich kann's noch immer nicht. Obwohl ich es damals heimlich in meinem Dienstzimmer geübt habe.«

Es war ein weiter Weg von diesen Tagen bis zu jenem Vormittag im Frühjahr 1962, an dem Erich Schwabe mit seiner Frau Ursula im Gang des neuen Behördenhauses wartete. Es lagen 13 Jahre dazwischen, und man glaubt, das sei eine schier endlose Zeitspanne. Und doch waren die Jahre weggeflogen wie früher die Monate. Nur an den Menschen der Umgebung erkannte man, daß Altern und Wachsen sich im ewig gleichen Rhythmus vollzogen, auch wenn man es nicht deutlich wahrnahm.

Erika Barbara war nun über fünfzehn Jahre alt und besuchte die Oberschule, ein schlankes, hübsches, hellblondes Mädchen, mit dem Schwabe stolz durch die Straßen ging. Und wenn die jungen Männer ihr nachblickten, dachte er fröhlich: Na wartet, der Weg zu Erika führt über mich.

Die Schwabes waren nach fünf Jahren aus Bernegg weggezogen, wieder zurück an den Rhein. Die alte Sehnsucht der Kölner, im Umkreis der Domtürme zu leben, war auch in Schwabe mächtig geworden.»Ich kann nun mal nichts dafür«, hatte er gesagt und sich in Köln eine schöne Wohnung genommen. Dort hatte er wieder als Glaser begonnen, fleißig und zäh. Inzwischen besaß er eine Glasgroßhandlung, ein Häuschen am Rande des Stadtwaldes und vier Glaserkolonnen, die Hochhäuser und Bürobauten verglasten. Frau Hedwig Schwabe lebte bei ihnen. Sie war jetzt sehr gebeugt und wurde vom Rheuma gepeinigt.»Die Jahre im Keller«, sagte sie immer.»Jetzt kommt's 'raus. Wir haben alle unser Andenken an diese Zeit.«

Nun warteten sie im Flur der Behörde, Erich Schwabe und Ursula. Das große Wartezimmer war überfüllt. Dicke Schwaden von Zigaretten- und Pfeifenrauch zogen durch die offene, breite Glastüre des Warteraumes auf den Flur. Gegenüber befanden sich zwei weitere Türen. >Vorzimmer — Vertrauensarzt^ stand auf einer Tür, und >Untersuchungszimmer — Eintritt verboten — Anmeldung Zimmer

10< stand auf der anderen.

Schwabe blickte in den vollen Warteraum. Dort saßen sie herum und lasen Illustrierte oder unterhielten sich. Männer mit schiefen Schultern, Amputierte, Männer mit Narben im Gesicht, mit dick-sohligen Schuhen, mit scharfen Brillengläsern. Elegante Herren und Männer in zerknitterten Hosen. Und immer wieder kamen neue durch die große Pendeltür und stellten sich an den Wänden des Flures auf.

«Die will der alle heute vormittag abfertigen?«sagte ein Armamputierter.»Na Prosit. Wie in alten Zeiten — erste Reihe vor, Zunge 'raus, Ahhh sagen, kv. Ab durch die Mitte. «Er sah Schwabe an und nahm seinen Hut vom Kopf.»Gesichtsverletzt, nicht wahr?«

«Ja«, sagte Schwabe etwas steif. Er sah auf die Masse Kriegserinnerung, die hier herumstand und hinter den Illustrierten saß, und ein plötzlicher Widerstand gegen das, was ihn hier erwartete, wuchs in ihm heran. Schon als er das amtliche Schreiben bekam >zur Nachuntersuchung wegen Neufestsetzung des Rentensatzes<, hatte er zu Ursula gesagt:»Wann geben die endlich Ruhe? Die Behörden sollten innerhalb von 17 Jahren gemerkt haben, daß ich mein Gesicht verloren habe. Wozu immer diese Neufeststellungen?«

«Mir haben sie den Arm abgeschossen. Russisches Explosivgeschoß. Kennen Sie ja, nicht?«Der Mann neben Schwabe stopfte den lose herabhängenden Jackenärmel in die Seitentasche.»Das ist ja nun klar. Das sehen die Brüder von der Rente ja. Aber seit einigen Jahren hab' ich dazu Kreislaufstörungen bekommen. Und das wollen sie nicht als Kriegsschaden anerkennen. Vor allem der da drinnen«, er nickte zu der Tür mit der Aufschrift Untersuchungszimmer,»der hat zu mir gesagt: >Wo gibt's denn das? Was hat das Herz mit dem Arm zu tun? Nachher kommen die Leute noch und wollen Rente, weil ihnen aufgrund einer gebrochenen Zehe die Haare ausfallen.< Ich habe nun geklagt, ich habe drei Fachgutachten mit, daß meine Kreislaufstörungen in ursächlichem Zusammenhang mit meiner Amputation stehen. Bin mal gespannt, was der da drinnen sagt. Kennen Sie ihn?«

«Nein. Ich bin zum erstenmal hier.«

«Na, dann wappnen Sie sich mit Fassung. Der wird Ihnen erzählen, Sie sähen aus wie ein Filmstar.«

Obwohl es bei jedem einzelnen bemerkenswert schnell ging, wobei keiner das Vorzimmer ohne wütende Miene wieder verließ, dauerte es doch über drei Stunden, bis Schwabe an der Reihe war. Er trat in das Vorzimmer, gab zwei hübschen jungen Damen seine Personalien an, man suchte seine Akte heraus und wartete dann auf ein akustisches Signal — ein vornehmes Summen —, um die Tür zum Untersuchungszimmer zu öffnen.

Schwabe trat langsam ein. Eines der Mädchen legte seine Akte auf einen kleinen Seitentisch und ging schnell wieder hinaus. Die Tür fiel lautlos zu. Es war ein großer, quadratischer Raum, modern und sachlich eingerichtet. Ein großer Schreibtisch, helle Anbaumöbel, ein Untersuchungsbett, einige Meßinstrumente, zwei Instrumenten-schränke, eine blau gekachelte Waschecke und zwei große Fenster auf einen schönen Garten.

Der Vertrauensarzt stand am Waschbecken und wusch sich die Hände. Er war groß, schlank, hatte blonde, gelockte Haare und trug unter dem weißen Arztkittel enge hellbeige Hosen ohne Aufschläge. Seine spitzen italienischen Schuhe blitzten vor Sauberkeit.

Erich Schwabe war an der Tür stehengeblieben. Mit großen Augen starrte er auf den Rücken des sich waschenden Arztes. Dieser griff gerade nach dem Handtuch und trocknete sich ab, noch immer der Tür abgewandt.

«Na, was ist denn?«fragte er.»Ihren Namen bitte. Oder sind Sie stumm?«

Schwabe schluckte mehrmals. Dann sagte er laut und abgehackt:»Nein, Herr Oberarzt Dr. Urban.«

Dr. Urban fuhr herum. Jetzt sah Schwabe, daß Urban etwas fülliger um den Leib herum geworden war. Aber das Gesicht war das gleiche, schmal, hochmütig, etwas verkniffen. Nur unter den Augen hingen Tränensäcke und machten dieses nordische Gesicht alt.

«Sie kennen mich?«fragte Dr. Urban steif. Er ging hinter seinen

Schreibtisch und setzte sich.

«Sie kennen mich nicht?«fragte Schwabe.

Urban betrachtete den Mann vor sich. Die Narben im Gesicht, die immer noch etwas deformierten Ohrmuscheln, der von einer Seitennarbe leicht nach links verzogene Mund. Urban faltete die Hände und schob die Unterlippe etwas vor.

«Sie waren einmal in Bernegg?«fragte er lauernd.

«Bis 1949. «Schwabe sah Urban ernst an.»Auch als die Amis einrückten, war ich da, Herr Oberarzt.«

Dr. Urban winkte ab. Man sah, daß er sich bemühte, die Peinlichkeit der Situation durch Großzügigkeit wegzuschieben.

«Lassen wir das. Wie heißen Sie eigentlich?«

«Schwabe. Erich Schwabe. Damals Zimmer B 14.«

«Schwabe?«Urban griff nach dem seitlich von ihm liegenden Aktenstück und blätterte darin herum.»Schwabe?«

«Ich mußte damals mit zerfetztem Gesicht vor Ihnen strammstehen und >Heil Hitler< rufen.«

Dr. Urban warf die Akte zur Seite, zurück auf den kleinen Beitisch. Sein schmales Gesicht war von Freundlichkeit überzogen.

«Ja, das waren Zeiten, nicht wahr?«sagte er breit.»Wenn wir damals nicht alle mitgemacht hätten, wäre es uns an den Kragen gegangen. Eine schreckliche Zeit war das. Ich erinnere mich ungern daran.«

«Das kann ich mir denken.«

«Ich finde Ihre Bemerkung unpassend, Herr Schwabe. «Dr. Urban stützte sich auf und erhob sich hinter dem Schreibtisch. Er stand jetzt da wie vor 18 Jahren, hochmütig, seiner Macht bewußt.»Ich habe nichts zu vergessen. Nur, damit Sie heute nacht besser schlafen können: Ich bin in einem ordentlichen Verfahren als Nichtbetroffener entnazifiziert worden und seit sieben Jahren Amtsarzt. Daß ich Offizier war, ist ja kein Verbrechen. Einer Ihrer Kollegen aus Bernegg, ein Herr Kaspar Bloch, hatte eine Klage gegen mich laufen. Sie ist abgewiesen worden. «Dr. Urban lächelte mokant auf Schwabe herab.»Als alter Bernegger sollten Sie das auch wissen, Herr Schwa-be, darum erzähle ich es Ihnen.«

Schwabe schwieg. Er sah Dr. Urban lange an, und Urban wußte, was Schwabe jetzt dachte. Er ging um den Tisch herum und stellte sich vor Schwabe auf.

«Man hat Sie vorgeladen wegen einer Neufestsetzung der Rente, nicht wahr?«sagte er mit dienstlicher Stimme.»Heben Sie das Gesicht mal gegen das Licht.«

Schwabe reagierte nicht auf den Befehl. Er blieb sitzen und starrte auf die unruhigen Hände Dr. Urbans.

«Na, dann nicht«, sagte der Arzt.»Ich sehe es auch so. Sie haben ja wieder ein fabelhaftes Gesicht bekommen. Professor Rusch ist ein Künstler.«

«Es hat mich bis heute 10.000 D-Mark gekostet«, sagte Schwabe dumpf.»Professor Rusch hatte das Geld ausgelegt, und ich habe es ihm zurückgezahlt. Der Staat, der mir das Gesicht genommen hat, hat 10.000 D-Mark verlangt, weil ich ein neues Gesicht habe.«

Dr. Urban trat zwei Schritte zurück und steckte die Hände in die Taschen des weißen Arztkittels.»Na und? Andere geben 10.000 DMark für Reisen, für Weiber, für Sauferei aus. Sie haben wenigstens für das Geld ein anständiges Gesicht bekommen.«

«Und jetzt will man die Rente niedriger setzen, weil mein Gesicht so gut aussieht.«

«Das wird sich nicht vermeiden lassen, Herr Schwabe. Die Kriegsschäden sind weitestgehend beseitigt. Wozu soll der Staat dann noch zahlen?«

«Ich habe diese Schäden mit meinem Geld, mit eigenen 10.000 DMark beseitigt«, schrie Schwabe plötzlich.»Soll ich jetzt dafür bestraft werden? Hätte ich meine Fratze behalten sollen?«

«Für die Rente wäre es von Vorteil gewesen.«

Schwabe schluckte ein paarmal. Es war ihm, als bliebe ihm die Luft einfach weg.»Ist… ist das der Dank des Vaterlandes?«stieß er hervor.

«Reden Sie nicht solchen Quatsch«, rief Dr. Urban grob.»Ich sehe aus Ihren Akten, daß Sie die Rente ja gar nicht brauchen. Es geht

Ihnen prächtig, auch finanziell. Es ist überhaupt eine Frechheit, hierher zu kommen und sich eine Rente zu erschleichen, wo Sie wieder aussehen wie ein Engelchen von Botticelli.«

Schwabe erhob sich langsam. Er nahm seinen Hut und drückte ihn gegen seine Brust.

«Sie waren immer ein Schwein, Urban«, sagte er ruhig.»Ich werde klagen.«

«Tun Sie das. «Dr. Urban lächelte verzerrt.»Mit diesem neuen schönen Gesicht werden Sie nie einen Ersatzanspruch erhalten.«

«Und meine 10.000 D-Mark?«

«Betrachten Sie sie als private Investition. Es hat Sie ja niemand amtlich aufgefordert, dieses Geld herzugeben. Wo kämen wir hin, wenn wir jede Schönheitsoperation bezahlen sollten?«

«Ich werde ein Gutachten von Professor Rusch vorlegen.«

«Der gute Rusch. «Dr. Urban lachte.»Er soll sich die Arbeit sparen.«

«Es sind noch mehr da, Dr. Urban. Dr. Lisa Rusch, geborene Mainetti als Dozentin, Dr. Adam als I. Oberarzt, Dr. Baumann als II. Oberarzt. Alle an der Klinik von Professor Rusch. Lauter Bernegger.«

Dr. Urban winkte ab, so wie man einen alten Witz abtut.

«Nehmen Sie sich einen Spiegel, Schwabe«, sagte er hämisch grinsend,»und sehen Sie einmal länger hinein als nur beim Rasieren. Vielleicht eine Viertelstunde, das genügt schon. Sie werden dann erkennen, daß niemand Ihnen für dieses menschlich und ästhetisch wieder annehmbare Gesicht einen Ersatzanspruch zubilligt. Sie können eine vom Sitzen zerknitterte Hose auch nicht im Geschäft umtauschen oder Ihr Geld wiederverlangen. Man wird Ihnen sagen: Bügeln Sie sie doch selbst auf. Und glauben Sie, daß man Ihnen dann das Bügeleisen bezahlen wird? Na also, Schwabe. Seien Sie kein Don Quichotte — nehmen Sie die Tatsachen gelassen hin. Wir leben schließlich in einem Rechtsstaat.«

Erich Schwabe senkte den Kopf. Er sah auf das dicke Aktenstück, das auf dem kleinen Tisch lag und das alle seine Krankenpapiere ent-hielt — von der Einlieferung im Hauptverbandsplatz bis zum heutigen Tag. Ein Lebenslauf voller Grauen und Schmerzen, voller Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, und später, langsam wachsend, voll Glauben an die Zukunft und voll Freude über die Rückkehr zur Menschheit — mit einem neuen, geschenkten Gesicht.

«Na also, gehen wir, Schwabe«, sagte Dr. Urban fast gemütlich.»Es freut mich, daß Sie voll und ganz den Anschluß wieder gefunden haben.«

«Ja, gehen wir«, nickte Schwabe.

Er machte zwei rasche Schritte um den Schreibtisch herum und ergriff seine Krankenakte. Ehe Dr. Urban zugreifen konnte, hatte Schwabe sie weggerissen, rannte zum Fenster und warf das Aktenbündel hinaus in den Garten. Dort flatterten die einzelnen Blätter im Wind davon, in die Büsche, über den Rasen, in die Baumzweige, über ein Mäuerchen auf die Straße.

«Sind Sie verrückt geworden?«schrie Dr. Urban und riß Schwabe vom Fenster zurück.»Das sind amtliche Dokumente.«

«Wozu noch Akten, Dr. Urban?«sagte Erich Schwabe ruhig. Er strich sich über die Hände, als habe er sie sich voll Schmutz gemacht.»Es ist doch wertloses Papier. Sehen Sie, wie es davonflattert. Den Erich Schwabe, der dort fliegt, den gibt es doch nicht mehr. Oder?«

Dr. Urban wandte sich ab.»Gehen Sie«, sagte er heiser.

«Guten Tag, Herr Oberarzt«, sagte Schwabe.

Auf dem Flur wartete ungeduldig Ursula. Sie ging hin und her und starrte immer wieder die Tür an, aus der Schwabe kommen mußte.

Endlich öffnete sie sich. Schwabe kam heraus. Nicht mit wütendem Gesicht wie die anderen vor ihm, sondern ernst und doch irgendwie zufrieden.

Ursula stürzte auf ihn zu.»Was ist, Erich?«fragte sie atemlos.»Ist alles klar?«

«Es ist jetzt alles klar«, sagte Schwabe deutlich.

«Man hat dir endlich recht gegeben?«

«Das Recht ist immer auf den Seiten der Stärkeren«, nickte Schwa-be.

«Gott sei Dank. «Ursula atmete hörbar auf. Sie faßte Schwabe unter und ging mit ihm zum Ausgang.»Und was machen wir jetzt, Erich?«

Schwabe sah noch einmal zurück zu der weißlackierten Tür. Untersuchungszimmer — Eintritt verboten — Anmeldung in Zimmer 10.

«Komm«, sagte er rauh.»Laß uns schnell gehen. Laß uns hinaus in die Sonne gehen. Ich will die Sonne sehen — und keine Schatten mehr.«

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