Kapitel 7

Ursula riß die Kellertür auf. Ihre blonden Haare waren unordentlich, sie hielt einen Schrubber in der Hand und war gerade damit beschäftigt gewesen, den Kellerboden zu scheuern.

«Mutter.«, sagte sie, und in ihrer Stimme war weniger Freude als verborgene Angst.»Du bist schon da.«

«Ja, da staunst du, was?«Frau Schwabe legte das Paket mit dem Glasmosaik vorsichtig auf ihr Bett und hing dann ihren Mantel in den Spind.

«Du wolltest doch bis Neujahr bei Erich bleiben?«

«Das wollte ich. Aber Erich hat mich heimgeschickt. Zu dir. Sein Geschenk sollst du haben. Keine Ruhe hatte er mehr. Und ich hatte, ehrlich gesagt, auch keine Ruhe. Erich geht es soweit gut, ihm fehlt nichts, er wird von allen verwöhnt. Und da habe ich gedacht: die Uschi ist so ganz allein, und die Angriffe. und wer weiß, wie es jetzt in Köln aussieht. Aber vor allem das Geschenk. «Frau Schwabe blinzelte und legte große Spannung in ihre Worte.»In mühsamer Arbeit hat er's selbst gemacht, hat sich die Stückchen einzeln zusammengesucht und gefärbt.«

Ursulas Kopf sank tief auf die Brust. Sie hielt die Augen geschlossen und preßte unter der Schürze die Hände gegeneinander.

«Er hat mir etwas geschenkt«, sagte sie leise.

«Also zunächst: Nachträglich frohe Weihnachten!«Frau Schwabe nahm ihre Schwiegertochter in die Arme, küßte sie, und ihre Freude, Erichs Geschenk zu überbringen, war so groß, daß sie das Zittern in Ursulas Schultern nicht bemerkte. Sie zog sie mit sich zu ihrem Bett und zeigte auf das dick verschnürte Paket.»Na, nun mach es schon auf. Mein Gott, hatte ich eine Sorge, daß ich es heil nach Hause bekomme! Vor Frankfurt hatten wir einen Luftangriff. Alles habe ich im Wagen gelassen, als wir den Zug verlassen mußten, aber das da habe ich mitgenommen. Nun mach es schon auf. Augen wirst du machen, Uschi.«

Ursula setzte sich auf das Bett. In ihrer Kehle würgte der Aufschrei, mit dem sich die ungeheure Qual in ihrem Innern lösen wollte. Das Gefühl, nicht mehr die Ursula Schwabe zu sein, für die dieses Geschenk gebastelt worden war, machte ihre Finger bleiern schwer. Sie bekamen den Knoten der Kordel nicht auf, es war nicht einmal Kraft genug in diesen Fingern, um die Schlingen herauszuziehen.

«Da hat er wieder einen Knoten gemacht, der Junge!«sagte Frau Schwabe. Sie holte eine Schere, zerschnitt die Kordel und zog sie weg.

Wenn man alles so zerschneiden könnte wie diese Schnur, dachte Ursula. Wie einfach das ist, ein Schnitt, und vor dir liegt etwas Neues, greifbar, man kann es auspacken und Besitz von ihm nehmen. Oh, wenn das Leben auch so wäre!

«Na?«fragte Frau Schwabe und rieb sich die Hände.»Na, was ist es denn?«

«Du hast es selbst noch nicht gesehen, Mutter?«

«Aber nein! Erich hat es mir so verpackt gegeben. Es ist sehr zerbrechlich, hat er gesagt. Und erklärt hat er mir, was es ist. Aber gesehen — nein! Es ist doch dein Geschenk. «Frau Schwabe sah auf Ursulas zuckenden Rücken. Sie deutete es anders, die Tränen stiegen ihr in die Augen, sie legte die Hände auf das blonde Haar der jungen Frau und streichelte es.»Mach es auf«, sagte sie stockend.»Alles wird bald anders sein. Sie wollen ihn gleich nach Neujahr operieren. So schnell hintereinander, wie es nur geht. Ich habe mit der Ärztin gesprochen und mit dem Chefarzt. Nachdem sie Erichs Bild gesehen und sein richtiges Gesicht genau betrachtet hatten, waren sie sehr zuversichtlich. Ich weiß, wie schwer es ist, mein Kleines, und ich weiß auch, wie sehr du Erich liebst.«

Ursulas Kopf fiel nach vorn. Sie drückte das Gesicht neben dem halb geöffneten Paket in die Decken und schrie ihre Qual hinaus. Durch die Decken erstickt, klang es wie ein heiseres Röcheln. Wie gemein, wie gemein, schrie es in ihr. Ich bin doch nichts als eine Hure. nur eine Hure bin ich, Mutter! Aber ich war so allein. Und immer habe ich die zerstörten Gesichter gesehen. Überall waren sie, aus allen Ecken des Kellers kamen sie auf mich zu, riesengroß hingen sie über mir. Und dann war er da. Und er sah aus wie alle anderen Menschen, er hatte ein Gesicht, ein lachendes, fröhliches Gesicht, warme Lippen und leuchtende Augen. Es war so herrlich, und die anderen, die schrecklichen Gesichter verschwanden, und ich hatte plötzlich keine Angst mehr. Warum hast du mich allein gelassen, Mutter, warum hast du mich nicht mitgenommen nach Bernegg. Ich kann doch nichts dafür… und nun bin ich eine Hure.

«Ich mach' es für dich auf, Uschi«, sagte Frau Schwabe, und auch sie weinte.»Erich würde jetzt nichts dagegen haben.«

Sie wickelte das Glasmosaik aus, trug es zum Nachttisch, stellte es neben Erichs Fotografie und zündete die Kerze an, die daneben stand. Mit einem Seitenblick sah sie, daß auf Ursulas Kopfkissen gewaschene, neue seidene Strümpfe lagen. Nur ganz kurz zuckte ihr der Gedanke durch den Kopf: Woher hat sie die denn? Wo gibt es denn noch seidene Strümpfe? Dann war der Gedanke aber schon wieder überdeckt von dem Erleben, das zuckende Licht der Kerze über die bunten Gläser des Mosaiks huschen zusehen, so, als komme Leben in die beiden der Sonne entgegengehenden, sich an den Händen haltenden Menschen.

«Sieh es dir an, Uschi«, sagte sie leise.

Ursula hob den Kopf. Ihr Gesicht war wie zerflossen und weiß wie ein gebleichtes Tuch. Sie starrte auf das bunte Glasmosaik, auf die beiden Menschen, die der Sonne zugingen, und auf die Worte, die Erich Schwabe kunstvoll aus winzigen Glasscherben geformt hatte: Nur mit dir gibt es ein Morgen.

«Ist es nicht schön, Uschi?«

«Ja, Mutter.«

«Wir haben den ganzen Weihnachtstag nur von dir gesprochen.«

«Ja, Mutter.«

«Er hat gesagt: Und wenn es zehn Jahre dauert und wenn jeden Monat eine Operation ist — er will durchhalten für dich.«

«Zehn Jahre?«

«Es war nur so eine Zahl. Er hat wieder so viel Lebensmut.«

Ursula schloß wieder die Augen. Lautlos weinte sie jetzt. Was soll ich tun, dachte sie. Mein Gott, was soll nun werden? Sie faltete die Hände und drückte sie gegen die zuckenden Lippen. Ich habe doch nur Angst gehabt, nichts als Angst.

Oben an der Kellertreppe entstand Lärm. Es hörte sich an, als setzte man einen schweren Gegenstand ab, und ein Mann putzte sich laut die Nase. Frau Schwabe hob den Kopf. In die Augen Ursulas sprang Entsetzen. Sie biß in die gefalteten Hände und preßte unglücklich und verzweifelt die Stirn gegen den hölzernen Pfosten des Bettes.

Von oben erklang eine Stimme. Laut, unbekümmert und fröhlich.

«Püppchen, du bist mein Augenstern.«, sang die Stimme. Dann polterte etwas die Kellertreppe hinab, als würde ein schwerer Gegenstand die Stufen hinabgestoßen.

«Wer — wer ist das?«fragte Frau Schwabe verblüfft.

Ursula antwortete nicht. Sie preßte sich, ohne ein Wort zu sagen, an den Bettpfosten.

«Trari — trara! Ein Zentner Kartoffeln sind da!«rief die Stimme von der Treppe. Dann wurde die Tür aufgestoßen, und ein Sack Kartoffeln rollte in den Kellerraum. Ihm folgte schwitzend, aber mit lachendem Gesicht Karlheinz Petsch. Seine Uniform war auf der Schulter, wo er den Sack getragen hatte, dick mit Kartoffelstaub bedeckt. Er stellte sich in der Tür auf und klopfte sich ab.

«Hast du eine Bürste, Kleines?«rief er.

Erst in diesem Augenblick sah er Frau Schwabe steif und mit zusammengekniffenen Lippen im Zimmer stehen. Seine Hand blieb mitten in der Bewegung ruckartig stehen, dann hob sie sich zu einem Winken, ein wenig linkisch und gehemmt.

«Guten Tag, Mütterchen!«sagte Feldwebel Petsch.»Schon wieder zurück? Ein Sonderlob der Reichsbahn. Räder müssen rollen auch für die Heimat.«

«Wer sind Sie?«

Frau Schwabe sah hinüber zu Ursula. Sie hatte sich auf ihr Bett geworfen. Wie leblos lag sie da, lang hingestreckt. Es bedurfte keiner Erklärungen mehr.

«Karlheinz Petsch«, sagte der Feldwebel.»Zweimal mit Erfolg geimpft, zweimal verwundet, ledig, von Beruf — wenn jemals wieder normale Zeiten werden — Maurer und Putzer, erbgesund und seit 200 Jahren arisch. Außerdem.«

«Gehen Sie!«sagte Frau Schwabe laut.

«Aber Mütterchen!«Feldwebel Petsch sah hinüber zu Ursula. Ein Mist ist das, dachte er. Übermorgen geht's wieder ab zur Truppe. Wer hätte gedacht, daß sie schon jetzt zurückkommt! Uschi sagte doch, sie wolle bis nach Neujahr in diesem fränkischen Nest bleiben.

«Wenn Sie wüßten, wie schwer es ist, einen Sack Kartoffeln zu organisieren«, sagte er und wischte sich über die schweißnasse Stirn.»Nur weil ich noch vier Paar französische Strümpfe hatte.«

Frau Schwabe dachte an die Strümpfe, die auf Ursulas Bett lagen. Ihr Gesicht wurde steinern.

«Wir brauchen Ihre Kartoffeln nicht!«sagte sie laut.»Gehen Sie!«Und plötzlich brach es aus ihr heraus — ihr ganzer mütterlicher Schmerz, ihre Enttäuschung, ihr Nichtverstehenkönnen, ihr Entsetzen und ihre Angst um den Sohn machten sich frei in einem Schrei.»Sie. Sie wollen ein Kamerad sein!«schrie sie. Es war das einzige, was ihr einfiel, eine läppische Anklage, aber sie schrie es heraus, als hieße es: Du Mörder!

Karlheinz Petsch knöpfte sich mit bebenden Fingern den Waffenrock zu.

«Wenn ich Ihnen was erklären darf.«, sagte er stockend.

«Hinaus!«

«Ursula kann wirklich nichts dafür. Es war Fliegeralarm und ich.«

«'raus!«schrie Frau Schwabe grell. Sie hielt sich am Nachttischchen fest. Das Glasmosaik Erich Schwabes fiel durch die Erschütterung herab und kippte auf den Rücken Ursulas. Wie ein harter Schlag war es, wie eine rächende Faust, die sie mit voller Wucht traf. Sie zuckte darunter zusammen, aber sie rührte sich nicht und ließ es auf ihrem Rücken liegen.

Feldwebel Petsch sah noch einmal hinüber zu Ursula. Einen Augenblick dachte er daran, zu sagen, daß er Uschi liebe, daß es sinnlos sei, ein junges, hübsches Mädchen an einen Mann zu fesseln, der kein Gesicht mehr hatte, daß es ein Recht auf Leben und Glück gebe, das Recht der Überlebenden und Gesunden. Und daß auch Erich Schwabe eben ein Opfer des Krieges sei — der eine tot, der andere ein gesichtsloser Krüppel. Er wollte sagen, daß er Ursula heiraten würde, wenn sie sich nach dem Kriege scheiden ließe. Jawohl, er war ein Ehrenmann, und einem Kameraden weggenommen hätte er auch nichts, denn keiner könne verlangen.

Aber er sagte nichts. Er sah nur die starren Augen der alten Frau und wußte, daß es hier keine Entschuldigungen gab.

«Mögen Sie beide den Krieg überleben«, sagte er.

Er drehte sich um und ging langsam die Kellertreppe hinauf. Frau Schwabe blickte ihm nach, die Erstarrung löste sich, als sie seinen Rücken sah.

«Ihre Kartoffeln!«schrie sie, mit sich fast überschlagender Stimme.»Wir brauchen Ihre Kartoffeln nicht!«

Karlheinz Petsch drehte sich noch einmal um.»Was soll ich mit denen im Flugzeug? Eßt sie. sie reichen bis zum Frieden.«

Dann verlor sich sein Schritt oben auf der Treppe und in den Trümmerhalden des zerbombten Hauses.

Frau Schwabe ging mit steifen Beinen zur Tür, schloß sie, schob den Riegel vor, ging zurück zum Bett, nahm das Glasmosaik von Ursulas Rücken und stellte es wieder hinter die blakende Kerze. Dann griff sie nach den Seidenstrümpfen, und fast mechanisch zerriß sie erst den einen Strumpf und dann den anderen, öffnete mit der Schuhspitze die Klappe des runden Eisenofens und warf die zerfetzten Strümpfe ins Feuer. Mit beiden Händen faßte sie die verschnürte Öffnung des Kartoffelsacks, schleppte keuchend die Zentnerlast in die hintere Kellerecke und drückte dann die Kartoffeln etwas höher, damit sie nicht soviel Platz wegnahmen.

Dabei sprach sie kein Wort, und auch als sie sich hinsetzte und verbissen ihre Reisetasche auspackte, war es, als sei sie ganz allein im Raum.

«Mutter.«, sagte Ursula leise. Es war wie der winselnde Laut eines getretenen Hundes.

«Ja.«

«Mutter.«

«Ich werde gleich einkaufen gehen. Was ist auf den Karten aufgerufen?«

Ursula hatte sich aufgerichtet. Sie zog sich an dem Bettpfosten hoch und legte die Hände flach gegen ihre Schläfen.

«Ich packe sofort. Und ich gehe auch gleich. Ich. ich will mich nicht verteidigen. Ich kann es nicht. In zehn Minuten bin ich weg.«

Frau Schwabe hob den Kopf. Sie hielt die Lebensmittelkarten in der Hand und hatte im Mitteilungsblatt nachgesehen, welche Abschnitte aufgerufen waren.

«Auf B 6 gibt es für Neujahr 50 Gramm Butter Sonderzuteilung. Wenn ich deine Raucherkarte dazunehme, kann ich ein ganzes halbes Pfund eintauschen.«

«Ich habe es allein nicht ausgehalten!«schrie Ursula.»Ich habe nichts gesehen als aufgerissene Köpfe. Ich. ich bin doch keine Hure, Mutter!«

Frau Schwabe streckte die Hand aus. Sie ergriff Ursula an der Schürze, ihre Finger krallten sich wie Eisenklammern in den Stoff und zogen die junge Frau zu sich heran. Willenlos folgte Ursula dem harten Zug. Jetzt wird sie mich schlagen, dachte sie. Ins Gesicht schlagen, und anspucken wird sie mich. Sie hat ja recht. Ich habe Erich verraten, ich habe ihn betrogen. Und er schenkt mir ein gläsernes Bild. Nur mit dir gibt es ein Morgen.

«Ich habe nichts gesehen und gehört«, sagte die alte Frau Schwabe streng. Ihre Finger rissen an dem Schürzenstoff.»Ich bin nach Hause gekommen, und du hast gerade das Zimmer geputzt, und die Kartoffeln standen dort in der Ecke, gegen deine goldene Armbanduhr hast du sie eingetauscht, nicht wahr.«

«Mutter.«, stammelte Ursula.

«.und über Erichs Bild hast du dich sehr gefreut. Kaum erwarten konntest du es. Viel zu lange dauerte das Auspacken. Und dann hast du es auf deinen Nachttisch gestellt und gesagt: Ja, Erich, ich werde auf dich warten, ganz gleich, was kommen wird. Ich werde dich lieben wie bisher und dir treu bleiben, und wenn es Jahre dauert. Das wirst du ihm nachher schreiben, nicht wahr?«

In Ursula brach alle Kraft zusammen. Sie fiel auf die Knie und vergrub ihren Kopf in den Schoß der alten Frau.

«Ich habe es nicht gewollt, Mutter«, wimmerte sie. Frau Schwabe nickte mehrmals. In ihren grauen Augen stand jetzt bittere Selbstanklage.

«Ich war zu egoistisch«, sagte sie stockend.»Ja, vielleicht war ich das. Ich hätte dich mitnehmen sollen, trotz allem. «Und plötzlich umfaßte sie Ursulas Körper und drückte ihn fest an sich.»Ich wollte ihn allein haben. Ich wollte zu Weihnachten meinen armen Jungen allein haben. Es war gemein von mir, Uschi, ich weiß es. Ich weiß es. Aber ich bin doch seine Mutter. Wir müssen uns gegenseitig verzeihen, Uschi. Wir haben beide schuld.«

Sie legte ihren Kopf auf die blonden Haare Ursulas, und so hockten sie eine ganze Weile stumm beieinander, sich umklammert haltend und eins geworden in der Erkenntnis, ihr ferneres Schicksal mit einer Lüge begonnen zu haben.

«Aber Erich.«, sagte Ursula und hob den Kopf.

«Er soll es nie erfahren.«

«Und wenn dieser. dieser andere wiederkommt?«

«Er wird nie wiederkommen.«

«Und. und bist du dessen ganz sicher, kannst du es wirklich vergessen, Mutter?«

Frau Schwabe nickte.»Wir müssen uns angewöhnen, uns nicht so wichtig zu nehmen. Was sind wir denn gegen Erich? Er allein hat ein Recht auf uns, für ihn müssen wir leben, an nichts anderes dürfen wir denken. Er ist dein Mann, er ist mein Sohn — alles andere ist unwichtig. Er hat doch nichts mehr auf der Welt als uns.«

Frau Schwabe erhob sich. Sie wischte mit dem Handrücken die Tränen von Ursulas Gesicht und zeigte auf den Sack in der Ecke.

«Schäl einen Topf voll, Uschi. Ich gehe die Butter und das Fleisch holen.«

«Von diesen Kartoffeln?«

«Du hast sie eingetauscht. Nun müssen wir sie essen.«

Drei Tage nach Weihnachten rief Professor Dr. Rusch gegen Mittag Dr. Lisa Mainetti zu sich in das Chefzimmer. Er hielt einen Zettel von seinem Telefonblock mit einer Notiz in der Hand.

«Ein neuer Transport?«fragte sie.

«Generalarzt Professor Dr. Gilgen hat angerufen. Morgen kommt eine Kommission des Generals v. Unruh zu uns. Alle Reserven sollen jetzt mobilisiert werden. Man will alle Lazarette nach kampffähigen Männern durchkämmen unter Anlegung strengster Maßstäbe.«

«Das ist bei uns in Bernegg doch Unsinn!«sagte Lisa und lehnte sich an die Schreibtischplatte.»Was will dieser General v. Unruh bei uns denn herausholen?«

«Alle, die noch schießen können. «Professor Rusch setzte sich und blätterte in einer langen Liste. Name stand hinter Name, versehen mit einem Datum und einigen knappen Bemerkungen.»Der gute Urban hat so etwas schon geahnt, vermutlich ist er gar nicht schuldlos daran. Er hat eine Zusammenstellung unserer Verwundeten nach dem Grad der Verwendungsmöglichkeit angefertigt. Eine regelrechte Fleißarbeit. Nach Urbans Liste sind in unserem Block B allein 67 Mann fähig, wieder an der Front eingesetzt zu werden, als Kraftfahrer, als Nachschub, als Troß. Sie brauchen nicht mal zu schießen, sondern nur kampffähige Männer abzulösen.«

«Um dann zusammengeschossen zu werden!«

«Das wird ihr Schicksal sein«, sagte Rusch leise.

«Genügt es nicht mehr, daß sie keine Gesichter mehr haben? Hätten sie sich lieber die Arme und Beine abschießen lassen sollen?«Lisa Mainetti riß die Liste Urbans aus der Hand des Professors und blätterte sie durch.»So ein Schwein!«sagte sie und spürte die Erregung in sich aufsteigen.»Feininger steht hier, und Fritz Adam und Wal-ter Hertz… und Christian Oster. «Sie warf den Schnellhefter auf den Tisch zurück.»Drei Jahre lang haben wir diesen Oster operiert. Stück für Stück haben wir sein Gesicht neu geformt, allein 34 große Operationen waren nötig, die vielen kleinen Eingriffe zähle ich gar nicht. Haben wir das alles nur getan, damit er sich jetzt fünf Minuten vor zwölf wie ein lahmer Hase abknallen lassen soll?«

Professor Rusch zerriß den Zettel mit der Telefonnotiz. Er tat es so langsam, als schmerze es ihn körperlich, ja, als vernichte er damit alle Vernunft und die Möglichkeit, noch helfen zu können.

«Wir können einen Teil wieder im Bunker verstecken«, sagte er.

«Das tue ich sowieso«, rief Lisa.

«Und die Liste Urbans darf nicht in die Hände der Kommission kommen. Diese hier wird sie nicht sehen, aber wenn Urban eine Abschrift hat, und das ist anzunehmen.«

«Ich werde mit Urban sprechen, Walter.«

«Aber es ist unmöglich, fast 70 Mann verschwinden zu lassen! Wir haben volle Belegung gemeldet, und plötzlich sind 70 Betten leer!«

«Im Block A liegen sie auf den Fluren herum, weil sie keinen Platz haben.«

«Block A ist die interne Abteilung.«

«Warum kann man Magenkranken nicht den Kopf verbinden? Und wer eine Gallenkolik hat, stöhnt genauso wie einer, dem die Nase fehlt!«

«Unmöglich!«Rusch erhob sich abrupt.»Wenn das bekannt wird, Lisa.«

«Wer soll es verraten?«Lisa Mainetti griff nach dem Telefon.»Sind 70 Menschenleben nicht ein Risiko wert?«Sie wählte einen Hausanschluß und wartete, bis sich eine Stimme meldete. Ohne zu antworten, legte sie schnell wieder auf.»Er ist in seinem Zimmer.«

«Wer?«

«Urban. Ich gehe zu ihm. Wann kommt die Kommission?«

«Morgen gegen 10 Uhr vormittags.«

«Noch knappe 20 Stunden. Es wird genügen.«

«Es kann uns den Kopf kosten!«rief Rusch. Er wußte, daß es sinnlos war, Lisa Mainetti zurückzuhalten. Aber ebenso sinnlos war es, das Opfer des eigenen Lebens auf sich zu nehmen, Lisas Leben wegzuwerfen — jetzt, da sich eine neue Zukunft erkennen ließ, eine Zukunft, die mit jedem Tag näher kam, während die Gegenwart immer morscher wurde.

«Es wird uns wesentlich weniger kosten«, sagte Lisa Mainetti und ging zur Tür.»Gut gerechnet vielleicht nur vierzig Mark! Das sind pro Kopf, den wir retten, nicht einmal sechzig Pfennig. Geht es noch billiger?«

Professor Rusch hielt das Streichholz, mit dem er sich eine Zigarette anstecken wollte, von sich weg. Er merkte kaum, daß er sich die Fingerspitzen verbrannte.

«Was hast du vor, Lisa?«fragte er voll Angst um sie.

«Ich tausche wieder. Weiter nichts! Und ich werde Baumann sagen, daß er die Bunker belegen soll.«

Sie zog die Tür zu, ehe Rusch weitere Fragen stellen konnte, ging schnell über den langen Gang zum OP, machte einen Umweg zur OP-Apotheke und schloß einen weißen Stahlschrank auf. Ihm entnahm sie zwei längliche, verschlossene Pakete, steckte sie in die Taschen ihres Kittels, verschloß den Schrank wieder sorgfältig und ging dann mit weit ausgreifenden Schritten zum Zimmer Dr. Urbans. Nach kurzem, energischem Klopfen trat sie ein, ehe Urban von drinnen eine Antwort geben konnte.

Dr. Urban lag auf seinem Bett und las die neueste Nummer des >Reichs<. Dr. Goebbels hatte einen schönen Silvesterartikel geschrieben.

«Kollega!«sagte Urban verwundert.»Schon wieder bei mir? Sie werden doch nicht meinen nordischen Typ entdeckt haben?«

Lisa Mainetti sah sich im Zimmer um. Es war nüchtern wie alle Arztzimmer in Bernegg. Nur das Führerbild unterschied es von ihrem eigenen Zimmer. Und ein süßlicher Duft war in ihm, ein Geruch von Weiblichkeit, der nicht zu Urban paßte.

«Sie hatten Besuch?«fragte Lisa. Urban erhob sich von seinem Bett. Er sah ein wenig übernächtig und verfallen aus. Seine Haut war grau und faltig.

«Wieso?«fragte er zurück.

«Es riecht nach einer Frau.«

«Immerhin sind Sie im Zimmer, Kollega.«

«Reden Sie keinen Blödsinn! Ich habe dieses Parfüm schon einmal gerochen, und ich habe mich damals schon vor ihm geekelt. Noch mehr vor der Person, die sich damit einhüllte, anscheinend, um ihre dreckige Seele damit zu verdecken. Bei Ihnen riecht es penetrant nach Irene Adam.«

Dr. Urban schob die Unterlippe vor. Er strich sich die Haare glatt und zog den heruntergeschobenen Schlips hoch.

«Sie sind sicherlich nicht gekommen, um Parfümanalysen bei mir vorzunehmen«, sagte er ironisch.»Oder haben Sie das Bedürfnis, sich bei mir über Moral auszusprechen? Ich könnte dann antworten, daß ein Gespräch vor dem Spiegel nützlicher wäre.«

Dr. Urban grinste breit. Sie hat's verstanden, dachte er. Was einem Chefarzt recht ist, sollte man bei einem Oberarzt nicht für verwerflich halten.

«Es ist etwas anderes«, sagte Lisa Mainetti. Sie schluckte die Frechheit Urbans, ohne mit der von ihm erwarteten Schärfe zu reagieren. Das wunderte ihn, und er zog die Augenbrauen hoch.

«Sie machen es spannend, Kollega.«

Lisa legte die beiden verschlossenen Pakete auf den Tisch. Sie waren in neutralem Papier verpackt. Sie selbst hatte es getan und die Pakete versiegelt, ehe sie sie in den Apothekerschrank gelegt hatte.

«Wissen Sie, was das ist?«fragte sie.

«Nein! Woher? Es sieht aus wie Konfektschachteln.«

«Es sind 20 Ampullen Morphin.«

Dr. Urban sah Lisa entgeistert an, dann glitt sein Blick zurück zu den beiden Päckchen.

«Was soll das?«fragte er. Seine Stimme hatte plötzlich einen heiseren Klang. Er stieß die Worte mühsam heraus, als sei er drei steile Treppen hinauf gelaufen.

«Wir haben einmal getauscht: Ihr Schweigen gegen Morphium. Ich biete Ihnen einen neuen Tausch an.«

«Sieh an!«Urban trat rückwärts an sein Bett und setzte sich.»Ist

eine neue Schweinerei im Gange?«

«Ich biete Ihnen zehn Ampullen MO für die Herausgabe aller Durchschläge Ihrer Tauglichkeitsliste der Verwundeten«, sagte Lisa unbeirrt,»und weitere zehn Ampullen MO, wenn Sie ab heute abend bis übermorgen früh Urlaub nehmen und wegfahren. Nach Würzburg, nach Bamberg. es ist gleich, wohin. Nur weg aus Bernegg!«

Dr. Urbans Gesicht war eine einzige, große Genugtuung. Er schlug die Beine übereinander und trommelte mit den Fingern auf seinem Knie.

«Der liebe Unruh kommt, nicht wahr? Lag ja in der Luft. Alles frei machen zum siegreichen Endkampf! Und nun wollen Sie und der Chef ein bißchen Blindekuh spielen, was? Für zehn Ampullen MO! Haltet ihr mich für verrückt?«

«Ich weiß, daß Sie nur noch einen Vorrat für zwei Tage haben, Urban.«

«Genau! Aber dann ist die Kommission wieder weg, und ich bekomme ohne diesen Betrug an Führer und Reich meine Ampullen von Ihnen — bei unserem gegenseitigen Vertrauensverhältnis.«

Lisa Mainetti schwieg. Sie erkannte, daß Urban in diesem Augenblick die Trümpfe in der Hand hielt. Solange er sein Morphium besaß und Vorrat hatte, war es unmöglich, ihn zu zwingen.

«Es ist schade«, sagte sie nach einer kurzen Spanne des Nachdenkens.»Sie haben mich überzeugt. «Sie steckte die Päckchen wieder in ihre Tasche und wandte sich ab. Langsam ging sie zum Fenster, vorbei an Urban, der noch immer fröhlich auf sein Knie trommelte.

Vor dem Fenster blieb sie stehen und sah hinaus auf die Straße. Vom Zimmer Urbans konnte man über die Mauer hinwegblicken zur Hauptwache und zur Einfahrt in den Block B.

«Was ist denn das?«sagte Lisa plötzlich und drehte sich herum.»Verlieren Sie jetzt auch noch das letzte Schamgefühl, Dr. Urban? Da unten steht Irene Adam auf der Straße und versucht, Zeichen zu diesem Fenster hinauf zu machen.«

«Unmöglich!«Dr. Urban sprang auf.»Das ist völlig unmöglich.«

Er rannte ans Fenster und riß die Gardine zur Seite. Die Straße unten war leer. Nur ein Posten pendelte durch den Schnee vor der Einfahrt hin und her.

«Wo ist sie denn?«fragte er, öffnete das Fenster und beugte sich hinaus.»Ich sehe nichts.«

Lisa Mainetti hatte die wenigen Sekunden genutzt. Während sich Dr. Urban aus dem Fenster beugte, war sie rasch an seinen Nachttisch getreten und hatte die Schublade aufgezogen. Hilf Gott, daß er es hier verwahrt, dachte Lisa. Es ist meine letzte Chance, 70 Menschen zu retten.

Unter einem Buch und einigen Taschentüchern fand sie mit schnellem Griff, was sie suchte. Einen kleinen, länglichen, verchromten Kasten. Ein Spritzenetui mit einer Spritze, drei Nadeln und drei Ampullen MO. Sie riß den Kasten aus der Schublade und stieß sie mit dem Knie wieder zu, in dem Augenblick, als sich Urban umdrehte.

Sein Blick wurde starr, als er erkannte, was geschehen war. Er streckte die Hände vor, spreizte die Finger und drückte das Kinn gegen den Hals.

Lisa wich zur Tür zurück. Sie legte die Hand auf die Klinke und drückte sie hinunter. Aber sie öffnete die Tür noch nicht.

«Wenn Sie mich anfassen, schreie ich«, sagte sie laut.»Und ich kann schreien, das wissen Sie!«

«Sie verdammtes, raffiniertes Aas«, sagte Dr. Urban heiser.»Es war ein nie wiedergutzumachender Fehler, Sie nicht ins KZ zu bringen!«

«Geben Sie mir die Liste, und Sie bekommen zehn Ampullen und Ihre Spritze zurück!«

«Und wenn ich mich weigere?«

«Dann werden Sie spätestens heute abend halb wahnsinnig herumlaufen. Sehen Sie sich doch in Ihrem Spiegel an. Sie halten es ohne MO nicht aus bis heute abend.«

Dr. Urban schloß mit zitternden Händen das Fenster. Ohne ein weiteres Wort ging er zu seinem Schrank, holte zwei Schnellhefter heraus und warf sie auf den zwischen ihm und Lisa stehenden Tisch.

«Sind das alle Durchschläge?«fragte sie.

«Ja. Halten Sie mich für einen Lumpen?«

«Genau das!«Sie trat an den Schrank heran, und Urban hinderte sie nicht, als sie die Wäsche durchwühlte. Unter seinen Hemden fand sie einen dritten Schnellhefter und warf ihn auf den Tisch zu den beiden anderen.

«Also doch ein Lump!«sagte sie dabei. Sie legte eines der versiegelten Päckchen auf den Nachttisch sowie den abgegriffenen, verchromten Kasten mit der Spritze.»Die anderen zehn Ampullen bekommen Sie, wenn Sie morgen früh das Haus verlassen!«

«Und wenn ich wiederkomme? Wenn ich den Mund nicht halte und alles der Kommission erzähle?«schrie Dr. Urban.

Lisa Mainetti nahm die drei Schnellhefter vom Tisch und klemmte sie sich unter den Arm. Dabei schüttelte sie den Kopf.

«Mut haben die Hungrigen«, sagte sie.»Sie aber sind satt wie ein Mastferkel, wenn Sie Ihr Morphium gespritzt haben!«

In den nächsten Stunden sah es auf Schloß Bernegg aus, als wolle man das Lazarett verlegen.

In den Verbandszimmern marschierten die Kranken aus dem Block A auf, begleitet vom Chef der Inneren Abteilung und einem älteren Stabsarzt. Professor Rusch hatte alles in die Wege geleitet, ein Assistenzarzt und der Famulus Baumann, assistiert von drei Ordensschwestern, saßen neben Bergen von Verbandsmaterial bereit. In Gruppen zu fünfen wurden die Kranken hereingeführt und an die Tische verteilt.

«So, nun kriegste einen Turban!«sagte Baumann zu dem ersten, der eintrat.»Was haste denn?«

«'n Magengeschwür, Kumpel.«

«Ab heute haste keine Nase und keine linke Wange mehr, verstanden?«

«Seh ick so doof aus? Wenn ick vorm Heldenklau weglaufen soll, könnt ihr mir auch die Arschbacken wegrasieren.«

«Nee, danke — dein Gesicht reicht mir!«sagte Baumann. Er begann, dicke Mullagen auf das gesunde Gesicht zu legen und sie mit breiten Leukoplaststreifen zu verkleben. Dann wickelte er einen Verband um die Stirn und ließ nur die Augen frei.»Stell dir vor, was du für Glück hast«, sagte Baumann dabei.»Wenn ich nun gesagt hätte Kieferbruch, stell dir das vor!«

«Wieso?«fragte der Verbundene.

«Dann bekämste nichts zu fressen, sondern zweimal täglich ein dickes Nährklistier.«

«Sogar det mach' ick für den Heldenklau!«

In einer Ecke des OPs standen Professor Rusch und der Chef der Inneren Abteilung zusammen. Lisa Mainetti war hereingekommen und hatte Rusch stumm die drei Schnellhefter gegeben. Sie sah, wie sein Blick sie fragte, und sie nickte zustimmend. Es war, als atme Rusch erleichtert auf.

«Sie haben die Kollegen von der Inneren eingeweiht?«fragte er den Chef von Block A. Der Oberstabsarzt, ein dicker, schwerer Mann, nickte mehrmals.

«Ich kann mich auf meine Herren verlassen, Herr Kollege. Ich habe Ihnen die Männer 'rübergeschickt, deren Entlassung besonders naheliegend ist. Ich habe nur ein Bedenken: Fällt es nicht auf, wenn Sie so viel >schwere Fälle< haben? Lauter Dreivierteltote? Ob man Ihnen das abnimmt?«

«Man wird es tun. Ich werde ihnen nur einen einzigen Fall zeigen, ein einziges völlig zerstörtes Gesicht, und man wird darauf verzichten, daß wir die Verbände der anderen abnehmen!«

«Und warum pflastern Sie nicht Ihre eigenen Leute so zu wie meine Gesunden?«

«Jeder von ihnen ist noch vor kurzem operiert worden. Wenn ich ihnen jetzt unnütze Verbände und Leukoplaststreifen anlege, die ich später abreißen muß, kann ich die frisch eingewachsenen Gewebe zerstören, neue Blutungen können entstehen, Heilvorgänge werden unterbrochen.«

«Aber das ist doch auch der Fall, wenn man sie wieder im Truppendienst verwendet!«

«Darum verstecke ich sie ja, Kollege.«

Unterdessen wurden in den Bunkern die Betten bezogen und die Räume kräftig durchgelüftet. Noch während in den OPs die Verbände angelegt wurden, ließ Dr. Lisa Mainetti die von Dr. Urban in die Liste aufgenommenen Anwärter des Heldentodes in den großen Gemeinschaftssaal kommen. Sie hatte die Verwundeten in zwei Gruppen aufgeteilt. Der größte Teil zog in die Bunker um; ein kleines Häuflein, mit bereits wieder menschlich aussehenden Gesichtern wartete abseits. Noch wußten sie nicht, was mit ihnen geschehen sollte. Man rätselte daran herum, und der Wastl Feininger, der unter ihnen war, verkündete:»Dös war a Gaudi, wenn's uns auf die Schwesternzimmer verteilen täten.«

Es stellte sich heraus, daß die kleine Gruppe einen Urlaubsschein bekam. Der Schreibstubenunteroffizier kam mit einem Stapel unterschriebener Formulare und begann, sie mit den Namen auszufüllen.

«Nachturlaub bis morgen 24 Uhr!«sagte der Berliner.»Meine Fresse — wat mach' ick bloß damit? So schnell kriegste doch keene Puppe!«

Die Hände von Walter Hertz zitterten, als er den Urlaubsschein in Empfang nahm. Er fiel ihm aus den Fingern und flatterte unter den Tisch.

«Wat is denn?«schnauzte der Schreibstubenunteroffizier.»Wülste nich?«

«Aber ja! Ja!«Walter Hertz bückte sich, kroch unter den Tisch und holte den Urlaubsschein zurück.»Das ist wie ein Geschenk, Herr Unteroffizier. Heute wollen wir doch ins Kino, Petra und ich, und nun.«

«Nun haste 'ne ganze Nacht dazu! Junge, dreh mir bloß keenen Film ab!«Der Unteroffizier lachte.»Ick mach' nachher sowieso 'ne Kontrolle, ob det Marschgepäck stimmt!«

Sie alle bekamen ihren Nachturlaubsschein bis zum nächsten Tag 24 Uhr, der Wastl und der Kaspar Bloch, der Berliner und auch Fritz Adam, dessen Frau noch immer heimlich in der Nähe von Bernegg wohnte.

«Als erstes kipp' ick 'ne Molle!«sagte der Berliner, als er mit den anderen draußen im Gang stand.»Und der Baumann muß mir meine Fresse so verkleben, det ick ausseh' wie'n Student, der von der Mensur kommt. Und dann fahr' ick nach Würzburg. Leute. Da fällste weniger uff, und Auswahl haste och mehr! Taktik, Freunde! Wer fährt mit?«

Es waren neun Mann, die sich dem Berliner anschlossen. Der Wastl Feininger war unter ihnen. Mit seinem mächtigen Rollappen allein auszugehen, schien ihm ein sinnloses Unternehmen. Auch wenn man ihn wie in einen Turban einwickelte. Zu neunen war es jedenfalls sicherer, daß man was erlebte.

Still ging Fritz Adam zurück auf sein Zimmer. Der Schock des Weihnachtstages saß noch in ihm. Er hatte, als Schwester Dora Graff zu ihm ins Zimmer kam, alles vernichtet, was ihn an seine Frau erinnerte. Ihre Briefe lagen zerfetzt auf dem Boden, die Bilder waren zerrissen. Ein großes Bild hielt er noch in der Hand, die Fotografie von Irenes blondem Puppenkopf, und es war, als erwürge er sie mit seinen zitternden Fingern, als er das Bild weinend zerknüllte.

Dora Graff war auch jetzt im Zimmer, als Fritz Adam mit dem Urlaubsschein zurückkam. Sie putzte die Nachtschränke und ordnete Vasen und verstreut herumliegende Zeitungen.

Fritz Adam setzte sich auf sein Bett und legte den Urlaubsschein neben sich auf die glattgezogene Decke.

«Ich habe Urlaub, Schwester«, sagte er bitter.»Zum erstenmal Urlaub.«

«Ich weiß. «Dora Graff füllte Wasser in eine der Vasen. Zwei Alpenveilchen standen darin, letzte Erinnerung an einen weihnachtlichen Besuch.

«Was soll ich jetzt mit einem Urlaubsschein? Er ist doch sinnlos. Wo soll ich denn hin?«

«Sie müssen sich freuen, Fritz, daß Sie wieder hinaus dürfen.«

«Freuen auf die Einsamkeit?«

«Sie sind nicht einsam. Ich gehe mit Ihnen.«»Sie, Schwester?«

«Man hat mir auch Urlaub gegeben. Wenn Sie wollen — wir können den Urlaub gemeinsam verleben.«

Fritz Adam sah Dora Graff zu, wie sie zwei leere Tassen auf ein Tablett stellte und in einen kleinen Eimer die Aschenbecher auskippte. Dann nahm er den Urlaubsschein, faltete ihn sorgfältig und steckte ihn in die Rocktasche.

«Heute abend? Nach dem Essen?«

«Ja«, sagte Dora Graff.Sie drehte sich nicht um dabei.

«Es… ist schön, daß Sie so viel Mitleid aufbringen, Schwester«, sagte Adam.

Dora Graff stellte einen Aschenbecher mit einem Knall auf den Tisch zurück. Eine Ecke sprang aus dem Porzellan und kollerte unter den Tisch.

«Wenn Sie nochmal von Mitleid reden, komme ich nicht!«rief sie wütend. Aber es schwang etwas in ihrer Stimme, was mehr war als Entrüstung.

Fritz Adam stand von seinem Bett auf, bückte sich und legte das abgesprungene Porzellanstück auf den Tisch zurück.

«Nun ist er kaputt«, sagte er.

«Man wird ihn wieder kleben. Keiner wird es sehen.«

«Wie ein Gesicht, nicht wahr?«

Langsam drehte sich Dora Graff herum. Fritz Adam stand vor ihr, und sie sah seine schönen, blauen Augen und die braunen, lockigen Haare, sah sein zerstörtes Gesicht, verbrannt in der Glut eines in Flammen aufgehenden Panzers, ein Gesicht, aus Narben, rotem Fleisch und weißer, papierdünner Haut.

«Genau wie ein Gesicht«, sagte sie leise.

Und sie beugte sich vor und küßte ihn auf die harten, verschrumpelten Lippen.

«Warum… warum tust du das?«fragte Adam mit erstickter Stimme.

«Muß man alles erklären?«

«Mich kann eine Frau doch nicht mehr lieben!«schrie er plötzlich.

«Das ist doch Lüge! Das ist doch alles Lüge!«

«Heute abend nach dem Essen«, sagte Dora Graff und nahm das Tablett.»Wir haben so viel Zeit, darüber nachzudenken.«

Im Zimmer B 1 lag der Leutnant Rudolf Fischer, der Mann, dessen Gesicht nur aus einem Auge bestand. Er lebte noch immer, und niemand begriff es, auch Lisa Mainetti nicht.

Er lag da, eingebettet in Polsterverbände, steif und stumm, und das Auge starrte ins Leere, der Blick irrte umher — von der Tür zum Fenster, vom Tisch zur Decke, vom Boden zurück zur Tür, als begriffe er nicht, was geschehen war. Nur seine Hände lebten. Sie lagen auf der Bettdecke, die Finger spreizten sich, zogen sich zusammen zur Faust, hoben sich einzeln und rieben sich aneinander. Mehrmals am Tage kam Dr. Mainetti zu ihm und gab ihm eine Infusion aus Kochsalzlösung und Traubenzucker. An den Zuckungen der Hände sah sie, wenn die Schmerzen unerträglich wurden. Dann injizierte sie wieder 0,02 Morphium und legte ihre Hände auf seine trommelnden Finger, bis sie spürte, wie die Ruhe wiederkam und der stumme Schmerz in seinem Auge einem unnatürlichen Glanz wich.

Die Personalpapiere waren angekommen. Er war verheiratet, von Beruf Musiker, Saxophonist einer bekannten Kapelle. Seine Frau lebte in München bei ihren Eltern. Sie wußte nichts von der Verwundung ihres Mannes. Ein Brief von ihr war mit den Papieren nachgeschickt worden. Lisa Mainetti hatte den Brief geöffnet und ihn gelesen. Er war eine Liebeserklärung, ein Hymnus der Sehnsucht und des Glaubens an das Wiedersehen. Und noch etwas stand darin, ein rührend hilfloser Satz.»Gestern hat es sich zum erstenmal bewegt… ich bin so glücklich, Rolf.«

«Ich kann ihr die Wahrheit nicht schreiben«, sagte Dr. Mainetti, als sie den Brief gelesen hatte, zu Professor Rusch.»Ich bringe es einfach nicht fertig.«

Es war, als habe der Leutnant Rudolf Fischer es gefühlt. Als Lisa Mainetti nach der Ausgabe der Urlaubsscheine in das Zimmer 1 kam, um eine neue Infusion anzulegen, starrte ihr das Auge mit einem flehenden Zittern entgegen. Die blassen Hände bewegten sich auf der Bettdecke unruhig hin und her — sie hoben sich und machten die Bewegung des Schreibens.

Lisa Mainetti drehte die Pappscheibe, auf die man die Fiebertabelle steckte, herum, hielt sie vor das Auge und drückte in die fahlen Finger einen Bleistift. Mühsam preßte Rudolf Fischer den Stift gegen die Unterlage und schrieb in großen, eckigen, abrutschenden Buchstaben. Dann fiel ihm der Bleistift aus den Fingern, und das Auge suchte Dr. Mainetti.

Lisa nahm die Fiebertafel und drehte sie herum.

«Bitte Frau nicht rufen. 5. Monat.«

Das nicht war dreimal unterstrichen. Es war wie ein stummer Schrei, der in diesen Strichen Gestalt annahm.

Lisa Mainetti schüttelte den Kopf. Das Flackern in dem Auge erlosch. Es schloß sich sogar, als wolle es jetzt schlafen, befreit von aller Not. Wie in eine tiefe, selige Ruhe glitt es hinweg unter die geschwollenen, blutigen Lider.

Fast eine Stunde saß Lisa Mainetti an dem Bett und hielt die Hände Rudolf Fischers fest. In ihrer Erschlaffung spürte sie, daß er eingeschlafen war.

Warum wacht er wieder auf, dachte sie, und sie schämte sich nicht, so zu denken. Kann es wirklich Gottes Wille sein, nichts weiterleben zu lassen als ein einzelnes Auge? Ein Auge und zwei Hände — ist das genug, ein Mensch zu sein?

Während sie saß und seine Finger hielt, spürte sie, wie die Hände kalt und feucht wurden. Sie zog ihre Finger weg, schob die Bettdecke herunter und setzte das Stethoskop auf die nackte Brust. Kein Herzschlag war mehr zu hören.

Die mißhandelte Hülle der Seele war leer und stumm.

Die Ärztin schob die Bettdecke wieder hoch und blickte auf das eine Auge. Es war noch geschlossen, nur schien es unter den Lidern weggesunken zu sein, als habe es nun seine letzte Aufgabe erfüllt.

Vorsichtig, als könne er wieder erwachen durch die Berührung, zog

Lisa das weiße Laken über den unförmigen Berg von Mull, Zellstoff und Leukoplast, der einmal ein Kopf gewesen war, den zwei weiche Frauenhände gestreichelt hatten.

Die Tür öffnete sich leise. Professor Rusch trat ein. Er wartete, bis Lisa das Laken glattgestrichen hatte, ehe er etwas sagte.

«Nun mußt du seiner Frau doch schreiben.«

Lisa nickte. Sie nahm die Fiebertabelle und drehte den Karton um. Noch einmal las sie die großen, eckigen Buchstaben.

«Jetzt wird es leichter sein. Ich werde sie kommen lassen, hierher. München ist ja nicht weit. Ich habe es in seinem letzten Blick gesehen, daß er es von mir erwartet. «Sie atmete tief auf und lehnte plötzlich den Kopf an Ruschs Schulter, als komme eine große Schwäche über sie.»Sie ist erst zwanzig Jahre alt, und sie freut sich so auf ihr erstes Kind. Auf sein Kind.«

Stumm legte Rusch seinen Arm um Lisas Schulter und schob sie aus dem Zimmer. Und es kümmerte ihn gar nicht, daß auf dem Gang die Verwundeten standen, die Schwestern und die Ärzte. Er führte Lisa Mainetti, fest an sich gedrückt, langsam zu seinem Zimmer.

Pünktlich um 10 Uhr vormittags fuhr die Kommission aus dem Stabe des Generals v. Unruh bei der Hauptwache des Schlosses Bernegg vor. Der Wachunteroffizier brüllte die Wache heraus und meldete durch das Telefon zur Zentrale:

«Hier Hauptwache! Der Heldenklau ist da!«

Dr. Mainetti und Professor Rusch sahen aus dem Fenster hinunter zur Straße. Zum erstenmal seit langer Zeit trug Rusch wieder seine Offiziersuniform und darüber den weißen Chirurgenkittel. Irgendwie sah er fremd aus in den hohen, glänzenden, schwarzen Reitstiefeln, den hellgrauen Reithosen mit dem grauen Chromlederbesatz und dem hochgeschlossenen Uniformkragen mit den silbernen Spiegeln. Es war, als gehöre er nicht in diese Montur, als habe man ihn wie in einer Operette ausstaffiert, damit er die Kulisse ausfülle mit einem farbigen Klecks. Auch Lisa empfand das und kleidete es in die

Bemerkung:»Muß ich heute zu Ihnen >Herr Oberstabsarzt< sagen?«

Vor der Hauptwache meldete der Wachhabende einem Offizier mit roten Streifen an den Hosen und rot unterlegten, goldenen Eichenlaubspiegeln. Er stieg aus einem riesigen Horchwagen und legte zwei Finger an seine Mütze. Weiße Haare quollen unter dem Mützenrand hervor und ringelten sich ganz unmilitärisch bis zum Kragen.

«Generalarzt Professor Gilgen«, sagte Rusch und schloß das Fenster.»Er war mein Doktorvater in Heidelberg. Und neben ihm, der forsche, kleine Oberst, das ist Paul Mayrat vom Stabe des Generals v. Unruh. «Er knöpfte den Chirurgenkittel zu und zog die Manschetten seines Hemdes gerade.»Gehen wir, Lisa. Es ist doch alles klar?«

«Alles, Walter.«

Das Lazarett Schloß Bernegg war bestens vorbereitet. In den Bunkern lagen die versteckten Gesichtsverletzten, auf den Stationen im Block B streckten sich die dick verbundenen >Neueingänge< aus, die Männer mit dem Urlaubsschein waren schon am vergangenen Abend abmarschiert, an der Spitze der Wastl Feininger, dem der Famulus Baumann für den dicken Rollappen so etwas wie ein Futteral aus Mull und Leukoplast konstruiert hatte. Und auch Dr. Urban war weggefahren, am frühen Morgen schon, nachdem er von Lisa das zweite versiegelte Päckchen erhalten hatte. Er hatte nichts mehr gesagt, das Morphium eingesteckt und war mit heulendem Motor hinunter nach Bernegg gerast. Der einzige von Stube B 14, der zurückgeblieben war, hatte es nicht nötig, sich zu verstecken. Es war Erich Schwabe. Ihm hatte man im Gegenteil die Verbände abgenommen, soweit es möglich war. Er saß auf seinem Bett und las, angestarrt von den anderen >Gesichtsverletzten<, die jetzt in den Betten lagen und >gesichtsversehrt< spielten.

«Heil Hitler, Herr Kollege!«sagte unten am Eingang Professor Gilgen zu Professor Rusch und schüttelte ihm die Hand.»Und da ist ja auch unsere tapfere Lisa Mainetti!«Er wandte sich an Oberst Mayrat, der Lisa mit den kullernden Augen eines sehr interessierten Mannes musterte.»Dr. Mainetti ist die einzige Frau, die in einem Wehr-machts-Gesichtsverletztenlazarett als Chirurgin arbeitet! Sollte man ihr gar nicht zutrauen, was, wenn man sie so sieht?«

Oberst Mayrat fand dies auch. Er gab Lisa Mainetti die Hand, zögerte etwas, als überwinde er eine innere Scheu, beugte sich dann tiefer und küßte ihr schnell den Handrücken. Generalarzt Gilgen lachte auf.

«Und das, ohne Österreicher zu sein!«rief er.»Liebe Lisa, Sie haben Oberst Mayrats Weltanschauung angekratzt!«

Professor Rusch stimmte in das Lachen nicht ein. Er kniff die Lippen zusammen und steckte die Hände in die Taschen des weißen Kittels. Welch ein makabres Spiel, dachte er angewidert. Da kommt ein Oberst, spielt den galanten Kavalier, und zehn Minuten später geht er durch die Stationen und sucht die Männer zum Sterben aus. Gewiß, er kann nicht anders, er hat seinen Befehl erhalten. Aber wie kann man lachen, wenn man weiß, daß jeder rote Haken auf der Liste so gut wie ein Todesurteil ist?

«So ernst, lieber Rusch?«fragte Professor Gilgen und klopfte ihm auf den Arm.

«Ich halte diese Durchkämmaktion in meinem Lazarett für ausgemachten Blödsinn!«sagte Rusch grob.

Oberst Paul Mayrat hob die Schultern.»Was soll man machen, lieber Oberstabsarzt? Auch General v. Unruh führt nur einen Befehl aus. Außerdem braucht die Front Ersatz. Wenn Sie sehen könnten, wie gut genährt und blendend ausgerüstet die Amerikaner sind. Die Gefangenen, die wir machen, könnten wir direkt ins Museum stellen: Seht, so sieht ein satter Soldat aus!«

«Und das gibt Ihnen nicht zu denken?«

«Wir alle denken mehr oder weniger. «Oberst Mayrat sah hinüber zu der gläsernen Tür, die den OP-Trakt vom Flur abteilte. Ein Bett wurde herausgerollt. Auch während des Besuchs der Kommission ging der normale Betrieb weiter. In beiden OP-Räumen versorgten die Assistenzärzte die Verwundeten, zogen Fäden, durchtrennten Rundstiellappen und klappten sie zu den Defekten um, um sie dort wieder anzunähen. Gerade rollte man einen Mann durch die Tür, dessen Nase und linke Gesichtshälfte mit breiten transplantierten Hautlappen bedeckt war.

Oberst Mayrat drückte das Kinn an den Uniformkragen.

«Sehen die alle so aus?«fragte er, etwas weniger forsch.

«Das ist einer der Gesündesten!«sagte Lisa Mainetti.»Sie werden noch andere Gesichter sehen, Herr Oberst, den Feldwebel Schwabe zum Beispiel. Er sieht wie abgehobelt aus.«

«Wirklich tragisch!«Oberst Mayrat fuhr sich mit dem Zeigefinger zwischen Kragen und Hals.»Wie stellen sich die Verwandten dazu? Die Mütter, die Frauen?«

«Sie verfluchen den Krieg!«sagte Professor Rusch laut.»Und sie geben ihre ganze Liebe diesen armen Menschen.«

Oberst Mayrat nickte heftig.»Die deutsche Frau!«sagte er fast enthusiastisch.»Sie hat sich fabelhaft benommen! Wäre es nicht eine Schande, meine Herren, wenn wir da den Krieg verlieren würden?«

Die Besichtigung begann. Ein freundlich lächelnder Tod ging durch die Zimmer und drückte die Hände seiner Opfer.

Im dunklen Kinosaal saßen Walter Hertz und Petra Wolfach. Sie hielten sich an der Hand wie zwei verirrte Kinder, und die Lieder, die Zarah Leander von der Leinwand mit voluminösem Baß sang, tönten an ihren Ohren und ihrem Verständnis vorbei. Sie spürten nur sich, den Druck ihrer Hände, die Nähe des anderen, die Berührung der Knie und das Pulsen des Blutes unter der Haut.

Eine Viertelstunde lang hatte Walter Hertz die Qual einer kleinen Hölle gespürt. Er war zu früh gekommen und hatte außerhalb der Kinohalle gewartet, in einen Hausflur gedrückt, wie ein verletztes Tier den Schatten suchend. Lisa Mainetti hatte ihm einen herrlichen Verband gemacht, aber noch immer sah man sein völlig schiefes Gesicht und das abgerutschte Auge, das erst in einigen Monaten wieder durch Lidplastiken und die Verpflanzung eines Temporalishautlappens gerichtet werden konnte. Der erste Versuch, kurz nach seiner Einlie-ferung in Bernegg, den großen Defekt durch eine freie Verpflanzung von Epidermis zu decken, war mißlungen. Das Transplantat war geschrumpft und hatte sich abgestoßen.

«Wo wirst du schlafen?«fragte Petra und drückte Walters Hand. Er hob die Schultern.

«Ich weiß nicht. Das ist das Blöde bei so einem Nachturlaub. Wenn man niemanden hat… man muß schon die Nacht durchsaufen.«

«Was machen denn die anderen?«

«Die?«Walter Hertz zögerte. Er schämte sich, darüber zu sprechen.»Die haben ein Mädchen oder so«, sagte er stockend.»Die suchen sich was. Die wollen doch nur was erleben. Viele haben fast ein Jahr lang nicht. «Er schwieg und wußte nicht, wie er es ausdrücken sollte.

Petra Wolf ach sah ihn kurz an. Er sah nach vorn, aber sie merkte, daß er gar nicht den Film betrachtete, sondern auf einen Punkt an der Wand starrte.

«Du gehst nachher mit, ja?«fragte sie leise.

Seine Hand zuckte in der ihren.

«Wohin?«

«Zu meinen Eltern. Wir haben vier Fremdenzimmer in unserem Haus. Da ist Platz genug.«

«Hast du deinen Eltern gesagt.?«

«Sie wissen, daß ich mich mit dir treffe. Ich habe ihnen erzählt, daß ich einen verwundeten Soldaten.«

«Hast du gesagt, wie ich verwundet bin?«

«N-ein. Aber das ist doch.«

Walter Hertz schüttelte den Kopf.»Das ist durchaus nicht egal«, sagte er leise.»Ein Bein weg oder ein Arm — daran kann man sich gewöhnen. Aber kein Gesicht mehr.«

«Vater war selbst Soldat im Ersten Weltkrieg. Du wirst sehen — wie zu Hause wirst du dich fühlen.«

«Ich habe Angst«, sagte Walter Hertz kläglich.

«Aber ich bin doch bei dir!«

«Das ist es ja. «Er umklammerte ihre Hand, als wolle man sie ihm entreißen.»Ich habe Angst, dich zu verlieren… wenn… wenn sie mich sehen.«

Nachher ging er doch mit.

Auf einem Hügel etwas außerhalb Berneggs lag das Haus. Eine stattliche Villa im Jugendstil mit einem klassizistischen Säuleneingang. Sie sah merkwürdig aus, aber sie repräsentierte jenen Reichtum, bei dem Geschmacklosigkeit zum neuen Stil wird.

«Da ist es!«sagte Petra und zeigte den Hügel hinauf.»Großvater hat es gebaut, und jede Generation hat etwas dazugebaut. Ich würde es abreißen lassen.«

Sie liefen den gewundenen Weg hinauf, stolperten durch den Schnee und kamen atemlos vor dem Säuleneingang an. Die verglaste, schmiedeeiserne Flügeltür war offen, als habe man sie kommen sehen. Von irgendwoher aus dem Innern der Villa, gedämpft durch einige Türen, erklang Klavierspiel.

«Das ist Mama«, sagte Petra und zog Walter Hertz in die große Halle.»Jeden Abend spielt sie eine halbe Stunde Chopin oder Liszt, und Papa muß zuhören.«

«Ich kann auch Klavier spielen«, sagte Walter Hertz, und dabei überfiel ihn wieder die schmerzende Angst, nicht mehr zu den Menschen zu gehören.

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