Nach drei Stunden holte die Putzfrau — sie hieß Frau Emmi Kartuscheck und kam aus Nikolai in Oberschlesien — die kleine Barbara wieder von Erich Schwabe ab.
Sie fand die beiden in dem Gewächshaus, das Schwabe aufzubauen begann. Drei Schlosser, die in der Klinik lagen, halfen ihm, das Gerüst aus Stahlrohr aufzurichten. Alles andere war für den gelernten Glaser eine Freude und ein Hineinarbeiten in eine verschüttete Vergangenheit. Schwabe maß und schnitt die Gläser zu, setzte sie ein, verkittete sie, strich sie mit weißer Farbe, konstruierte drehbare Entlüftungsklappen und eine Berieselungsanlage, indem er über die Treibhausbeete dünne Eisenrohre zog und diese mit winzigen Löchern anbohrte. Wenn er dann das Wasser andrehte, wurden die Beete nach allen Seiten gleichmäßig besprüht, so, als regne es in ganz feinen Strahlen.
Als Frau Kartuscheck in das Gewächshaus kam, saßen Schwabe und Barbara vor einem der Beete und betrachteten eine kleine, hellgrüne Pflanze.
«Das wird einmal ein schöner, großer, leuchtender Weihnachtsstern«, sagte Schwabe und schob mit dem Zeigefinger vorsichtig etwas Erde über einige Wurzeln. Barbara schüttelte den Kopf und lachte.
«Ein Stern ist doch am Himmel, Onkel.«
«Die Blume, die aus diesem jungen Pflänzchen wird, nennt man so.«
«Wer nennt sie so?«
«Der Volksmund.«
«Was ist Volksmund?«
Schwabe kratzte sich den Kopf.»Paß mal auf«, sagte er.»Es gibt einen Vogel, der heißt Sperling. Aber die Leute sagen zu ihm auch Spatz, Mösch und… na ja, und das ist Volksmund. Verstehst du?«
«Nein, Onkel.«
Frau Kartuscheck kam durch die engen Gänge des Treibhauses und lachte.»Die fragt Ihnen Löcher in den Bauch«, sagte sie und drückte Barbara an sich.»Und was für Fragen. Das kommt vielleicht davon, daß sie immer unter Erwachsenen war. Ihre Mutter weiß manchmal gar nicht mehr, was sie antworten soll. Und ich auch nicht.«
«Darf ich morgen wieder mit, Tante Emmi?«fragte Barbara, ehe Schwabe etwas sagen konnte.»Der Onkel kann so schön erzählen.
— Von Weihnachtssternen, die in der Erde wachsen, und vom Volks.
— wie hieß das, Onkel Erich?«
Frau Kartuscheck hob wie um Verzeihung bittend die Schultern.»Ich muß sie morgen wieder mitbringen. - Solange ihre Mutter krank ist, wissen wir gar nicht, wohin mit ihr«, sagte sie.»Wenn sie Ihnen nicht allzu lästig fällt mit den vielen Fragen — darf ich morgen wieder? Natürlich kann ich sie im Block B im Gemeinschaftszimmer spielen lassen, aber.«
Erich Schwabe sah auf das blonde Lockenköpfchen, in die großen blauen Augen und auf den lachenden, kleinen Mund. Es war ihm, als presse man sein Herz mit zwei glühenden Zangen zusammen. Seine Kehle wurde trocken, und er mußte mehrmals krampfhaft schlucken, um überhaupt sprechen zu können.
«Jederzeit«, sagte er mühsam.»Sie können Barbara jederzeit bringen. Ich bin ja immer hier. Auch wenn Sie Besorgungen machen wollen oder sonst irgend etwas vorhaben. Bringen Sie sie immer zu mir, ja? Ich… ich habe Kinder gern.«
«Warum haben Sie dann nie geheiratet?«fragte Frau Kartuscheck. Schwabe wandte sich ab und grub mechanisch mit beiden Händen in einem der Beete.
«Das Leben ist gemein«, sagte er leise.»Aber lassen Sie uns jetzt nicht darüber sprechen. Unsere kleine Barbara sieht uns schon ganz verwundert an. Ich erzähle Ihnen später einmal alles.«
Barbara gab Schwabe die kleine, vom Spielen schmutzige Hand. Durch ein geöffnetes Fenster des gläsernen Treibhauses fiel die Sonne voll auf die goldenen Locken. Wie Ursulas Haare, durchfuhr es Schwabe, und sein Herz zuckte wild und streute einen stechenden Schmerz durch den ganzen Körper.
«Auf Wiedersehen, Onkel.«
«Bis morgen, Barbara«, sagte Schwabe heiser.
«Zeigst du mir morgen das Reh?«
«Ja.«
«Und den großen Goldfisch?«
«Ja.«
«Der Onkel sagt, im Teich da lebt der König der Goldfische. Stimmt das?«
Frau Kartuscheck nickte ernst.»Wenn Onkel Erich das sagt, wird es stimmen, Babs. Der Onkel kennt viel von der Welt und den Tieren und den Menschen.«
«Von den letzteren wäre es mir lieber, weniger zu kennen«, sagte Schwabe bitter. Frau Kartuscheck drückte Barbara an sich.
«Auch Babs ist ein Mensch«, sagte sie leise.
«Ein junger. In diesem Stadium kann man ihn noch ertragen.«
Er wandte sich ab, ließ Frau Kartuscheck stehen und ging langsam durch das Gewächshaus hinaus in den Park. Barbara zupfte an Frau Kartuschecks Kleid. Sie hatte große, ängstliche Augen.
«Was hat der Onkel, Tante Emmi?«
«Er hat ein wehes Herz, Babs. «Frau Kartuscheck zog Barbara aus dem Gewächshaus und ging mit ihr zum Ausgang des Schlosses.»Weißt du, hier in der Brust. Leg mal das Händchen drauf — merkst du, wie es da klopft?«
«Ja«, sagte Barbara, blieb stehen und legte das Händchen auf das Herz. Mit schiefgeneigtem Kopf verfolgte sie die schnellen Herzschläge.
«Siehst du — und da hat der Onkel Erich Schmerzen. Da tut es ihm weh.«
«Dann ist er krank?«
«Ja.«
«Dann mußt du den Onkel Doktor holen.«
Frau Kartuscheck schüttelte langsam den Kopf.»Den brauchen wir hier nicht. «Sie drückte den Kopf des Kindes wieder an sich und sah hinüber zu dem gebückten Mann, der in den Dahlienbeeten harkte.»Dafür bist du da, Barbara.«
Am nächsten Morgen wartete Erich Schwabe vor dem Gewächshaus auf Barbara. Er hatte aus Dahlien und frühen Astern, aus kleinen Chrysanthemen und bunten Pantoffelblumen einen lustigen Haarkranz geflochten, den er Barbara auf die langen, blonden Locken drücken wollte.
Aber Frau Kartuscheck kam nicht.
Über eine Stunde ging Schwabe untätig hin und her, den bunten Kranz in der Hand. Er ging zum Eingang und unterhielt sich mit dem Pförtner über die unmöglichsten Dinge, nur um den Weg nach Bernegg überblicken zu können. Zweimal kam der Omnibus herauf, hielt an der Haltestelle vor dem Schloß — dann fuhr er weiter nach Waidenheim, dem nächsten Dorf hinter den Hügeln. Frau Kartuscheck stieg nicht aus.
Erich Schwabe ging zu seinem Gewächshaus zurück und legte den Blütenkranz in einen Eimer mit Wasser. Vielleicht hat sie heute Nachmittagsdienst, dachte er. Aber davon hat sie gestern nichts gesagt. Oder die Mutter der Kleinen ist wieder gesund. Vielleicht ist auch etwas passiert? Es kann ja sein, daß Barbara plötzlich krank geworden ist, daß sie hingefallen ist, daß sie sich ein Knie wundgeschlagen hat oder die Ellenbogen, oder. oder das Gesicht.
Schwabe riß seine schmutzige Gärtnerschürze herab und rannte zum Block B. Lisa hatte gerade die Morgenvisite beendet. Sie besprach mit Dr. Vohrer und Dr. Sulzbarth, dem neuen I. Assistenten, die festgestellten Mängel und den weiteren Arbeitsplan. Professor Rusch war wieder in Würzburg zu einer Vorlesung. Er demonstrierte sein berühmt gewordenes >Verlöten< der Knochen.
«Schwabe?«fragte Lisa über die Köpfe der anderen Ärzte hinweg.»Was gibt's? Haben Sie einen dicken Maulwurf in den Beeten? Sie sehen so zerwühlt aus.«
Schwabe lächelte über diesen Witz. Zu Baumann hätte er jetzt gesagt:»Halt die Fresse, du Idiot. «So aber stand er vier Schritte von
Lisa entfernt im Flur und sah sie flehend an wie ein verhungerter Bettler, der den Duft von Speisen aus einer Küche riecht. Er wußte nicht, daß Lisa auf diesen Augenblick bereits gewartet hatte.
«Sie wollen mich sprechen, Schwabe?«
«Ja, Frau Doktor — wenn es möglich ist.«
«Gleich.«
Lisa strich noch einige Namen auf der Liste an, die Vohrer und Sulzbarth in den Händen hielten. Es waren Patienten, die zu neuen, kleineren Operationen für den morgigen Tag vorbereitet werden sollten.
«Kommen Sie mit, Schwabe«, sagte die Ärztin dann, als die Visitenbesprechung zu Ende war.»Aber machen Sie es kurz, ich muß noch nach Würzburg.«
Erich Schwabe blieb im Chefzimmer an der Tür stehen und drehte die Finger ineinander, daß man die Gelenke knacken hörte.
«Nur eine Frage ist es, Frau Doktor«, begann er stockend.»Eigentlich ist es dumm von mir, Sie damit zu belästigen, aber ich weiß mir keinen Rat mehr.«
«Wegen der Wühlmäuse, Schwabe?«Lisa blätterte in einer Zeitschrift.»Es gibt da ein neues Mittel auf dem Markt, ein Pulver — das schüttet man in die Mäuselöcher und. «Sie blickte auf und sah die Ratlosigkeit in Schwabes Augen.»Keine Wühlmäuse, Schwabe? Was ist es denn?«
«Es ist wegen Barbara.«
«Barbara?«Lisa tat, als begriffe sie nicht sofort.»Wer ist Barbara? Schwabe — haben Sie sich etwa verliebt? Das ist doch unmöglich bei Ihrem Menschenhaß.«
«Barbara ist das Mädchen, das gestern mit der neuen Putzfrau kam«, sagte Schwabe leise.
«Putzfrau? Welche? Mensch, Schwabe, wie können Sie sich in ein so junges Mädchen verlieben? Wie alt ist es denn? 17 oder 18 Jahre, was? Überlegen Sie es sich genau, ob.«
«Barbara ist vielleicht drei Jahre alt«, stotterte Schwabe.
«Ach ja. Das süße, kleine Ding mit den blonden Locken. «Lisa lachte.»Ist es nicht ein süßer Balg?«»Eben, Frau Doktor, eben darum.«
«Was soll das heißen, Schwabe?«
«Wir haben Freundschaft geschlossen, Barbara und ich. Und heute wollte sie wiederkommen. Ich habe ihr aus vielen Blumen… aber das ist ja nicht so wichtig. Sie ist jedenfalls nicht gekommen. Und nun — nun weiß ich nicht. Ich habe mir gedacht, daß vielleicht Sie.«
«Frau Kartuscheck hat heute ihren freien Tag, das ist alles.«
Lisa sah, wie Schwabe aufatmete, wie eine Last von ihm abfiel und seine Augen einen anderen Glanz bekamen.
«Ihr freier Tag, natürlich. Und morgen kommt sie wieder?«
«Das nehme ich doch stark an.«
Den ganzen Tag über war Schwabe in bester Laune. Er sang, während er die Beete sprengte, bis aus einem Fenster jemand schrie:»Ruhe. Wir sind gestraft genug.«
Am Abend saß er an einem großen Tisch und rahmte eine Scheibe. Dann begann er, mit besonderen Ölfarben das Glas zu bemalen. Er malte einen alten Brunnen, auf dessen Rand eine schöne, goldlockige Prinzessin saß, in weißen und rosa Spitzengewändern. Vor ihr hockte ein dicker Frosch mit einer Krone auf dem Kopf. Es war eine Szene aus dem Märchen vom Froschkönig.
Schwabe stellte die bemalte Glasscheibe an das Fenster, damit die Farbe schneller trocknete. Am nächsten Morgen trug er das Gemälde in das Gewächshaus und hängte es gegen die sonnenbeschienene Glaswand. Da leuchteten die Farben auf, und es war, als lebten die zarte Prinzessin und der dicke, häßliche Froschkönig.
Mit dem Neun-Uhr-Omnibus kamen Frau Kartuscheck und Barbara an. Schwabe sah sie aus dem Wagen steigen. Er stand hinter der ehemaligen Hauptwache und hatte die Straße durch die Toreinfahrt beobachtet. Er rannte schnell zur Gärtnerei zurück und schnitt bereits wieder die verblühten Dahlien ab, als Frau Kartuscheck mit dem Kind über die Parkwege kam.
«Onkel«, rief Barbara schon von weitem, als sie Schwabe sah.»Onkel Erich. Huhu.«
Erich Schwabe spürte, wie ihn das Glück durchströmte. Er warf die
Gartenschere hin und winkte mit beiden Armen.
«Babs«, rief er.»Guten Morgen, Babs.«
Frau Kartuscheck winkte zurück. Sie gab dem Kind einen kleinen Schubs und ging dann zurück zum Block B. Mit fliegenden Haaren lief Barbara auf Schwabe zu. Kurz vor ihm breitete sie die Arme aus und warf den Kopf in den Nacken.
«Fang mich auf, Onkel«, rief sie.»Fang mich.«
Schwabes Herz zuckte wild. Auch er breitete die Arme aus, bückte sich etwas, und es war ihm, als müsse er schreien vor Freude, daß ihm ein Kind in die Arme entgegenlief.
Dann fing er den kleinen Körper auf, umschlang ihn und wirbelte ihn hoch durch die Luft, schwenkte ihn im Kreis und hatte Lust, einzustimmen in den Jubel dieses hellen, klaren Stimmchens.
«Wie stark du bist, Onkel«, sagte Barbara, als sie wieder auf der Erde stand und sich die wirren Locken aus dem geröteten Gesichtchen strich.»Mama kann das nicht so — auch nicht, als sie noch gesund war. «Sie sah Schwabe wieder mit schrägem Köpfchen an und zeigte plötzlich mit ausgestrecktem Arm auf sein Gesicht:»Ist das vom Krieg?«
Schwabe zuckte zusammen.»Was weißt du vom Krieg?«fragte er heiser.
«Mama hat mir erzählt, der Krieg hat uns den Papi weggenommen.«
Schwabe preßte die Lippen fest aufeinander.»Komm«, sagte er schwer atmend.»Ich zeige dir das Reh. «Er nahm Barbaras Hand und ging mit ihr schnell in den Park.
Am Fenster des Chefzimmers standen Lisa und Frau Kartuscheck. Sie sahen zu Schwabe und Barbara hinab und warteten, was geschah.
«Er ist ganz verrückt nach dem Kind«, sagte Frau Kartuscheck.»Ich hätte nicht gedacht, daß es so schnell geht.«
«Ich schon. «Lisa schloß das Fenster.»Schwabe ist ein ausgesprochen weicher, sensibler Mensch. Und weil er das von sich selbst weiß, umgibt er sich mit dem Panzer der Gefühllosigkeit. Unsere kleine Barbara wird ihm bestimmt bald zeigen, wie absurd das alles ist.«
«Ich habe Angst vor dem Augenblick, wo er es durchschaut«, meinte Frau Kartuscheck. Lisa schüttelte den Kopf.
«Ich nicht. Wenn es soweit ist, wird er sich ein Leben ohne das Kind nicht mehr denken können.«
«Und was dann?«
«Abwarten!«Lisa zündete sich eine Zigarette an, aber ihre Hand war durchaus nicht so ruhig, wie ihre Worte.»Es wird sich alles einspielen. Im Augenblick können wir nur zusehen.«
Im Park in der Nähe des Sees stand das zahme Reh und kaute Eicheln, die Schwabe gesammelt hatte. Es hob kurz den Kopf, als es die Witterung der Menschen aufnahm, äugte zu Barbara hin, die ihm fremd war, und fraß dann weiter. Barbara blieb stehen und klatschte vor Freude in die Hände.
«Wie schön«, rief sie.»Ist das Bambi?«
«Wieso Bambi?«fragte Schwabe verständnislos.
«Nicht Bambi? Wie heißt es denn?«
«Anette.«
«Warum Anette und nicht Bambi?«
«Warum soll es denn Bambi heißen?«
«Alle kleinen Rehe heißen Bambi, weißt du das nicht, Onkel Erich?«Barbara sah Schwabe fast strafend an. Ein ausgewachsener Onkel, der Bambi nicht kennt.»Du kennst Bambi wirklich nicht?«
«Nein, Babs.«
«Ich habe ein Bilderbuch, das bring' ich dir morgen mit, ja? Du wirst sehen, alle Rehe heißen Bambi. Mami sagt das auch.«
«Wenn die Mami das sagt, wird es sicherlich stimmen. «Erich Schwabe trat auf das zahme Reh zu und streichelte es. Es wandte den Kopf, stieß mit der Stirn gegen die Brust Barbaras und leckte ihr dann schnell über die Hand. Barbara quietschte vor Freude.
«Es hat mich gern«, rief sie. Schwabe atmete tief und schnell. Er hatte den Drang, das Mädchen an sich zu reißen, zu küssen, herumzutragen, in den Armen zu wiegen. Es könnte mein Kind sein, dachte er und hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen. So könn-te es auch aussehen, blond wie Ursula. Mein Gott — ich könnte mit dem Kopf gegen die Bäume rennen, ich könnte mir den Schädel einschlagen, so furchtbar ist das, so unerträglich.
«Wer sollte dich nicht gern haben, Babs«, sagte er mit rauher Stimme. Barbara blickte von dem Reh auf — sah ihn an.
«Bist du heiser, Onkel?«
«Ja.«
«Komm, ich hab' Pfefferminz. Mami sagt, dann bekommt man keinen rauhen Hals.«
«Du hast eine kluge Mami«, sagte Schwabe stockend.
Barbara kramte in ihrer Schürzentasche. Sie zog eine Wäscheklammer hervor, ein Stück Bindfaden, zwei zerknitterte Glanzbildchen und einen am Ende zerkauten, stumpfen Bleistiftstummel. Ganz zuletzt kamen die Pfefferminzbonbons zum Vorschein, eine klebrige, aufgerissene Rolle.
«Da, Onkel«, sagte Barbara strahlend und hielt Schwabe die Rolle hin.»Nimm dir zwei.«
Schwabe steckte die beiden Pfefferminztabletten in den Mund. Um seine Augen zuckte es. Mensch, heul nicht, sagte er sich. Er schrie sich innerlich an: Reiß dich zusammen. Du kannst doch hier nicht losweinen. Ein Onkel, der weint, verliert doch allen Respekt.
Aber der Drang in ihm war stärker. Er spürte, wie seine Augen zu schwimmen begannen. Da drehte er sich weg und wischte mit beiden Handrücken über sein zuckendes Gesicht.
«Was hast du, Onkel?«fragte Barbara. Sie streichelte das Reh und hob Eicheln auf, die sie ihm hinhielt.
«Mir ist eine Fliege ins Auge geflogen, Babs«, antwortete Schwabe gepreßt.»Ich hab' sie gleich ausgerieben.«
«Mami hat das auch mal zu mir gesagt«, sagte Barbara und kraulte dem Reh zwischen den Ohren das Fell.»Aber in Wirklichkeit hat sie richtig geweint, ich hab's gesehen, Onkel Erich.«
Mein Gott, mein Gott, dachte Schwabe. Dieses Kind zerreißt mich völlig, aber es ist ein herrlicher, ein einmaliger Schmerz.
Mit dem zahmen Reh gingen sie zur Gärtnerei zurück und zum
Gewächshaus, in dem das Glasbild vom Froschkönig hing.
«Wie schön«, schrie Babs wieder, als sie davor stand.»Der Froschkönig. Und eine richtige Prinzessin ist das. Viel schöner als bei mir im Bilderbuch. Woher hast du das?«
«Ich habe es selbst gemalt.«
«Du? Du kannst das, Onkel?«
«Ja.«
«Eine Prinzessin machen?«
«Ja.«
«Und kannst du auch einen König machen? Einen Zauberer? Eine Hexe? Schneewittchen? Und Zwerge? Und den Wolf mit dem Rotkäppchen?«
«Ich kann alles machen, was du willst, Babs.«
Barbara nickte.»Ich bringe dir morgen alle Bücher mit. Zeigst du mir, wie man das macht?«
Schwabe nickte stumm. Er streichelte die blonden Locken des Kindes und dachte an ein anderes Mädchen, das ungefähr so alt sein mußte und das irgendwo aufwuchs und dem man auf seine Fragen antwortete: Dein Papi ist aus dem Krieg nicht mehr heimgekommen. Und es hatte niemanden, der ihm eine Prinzessin malte oder die sieben Zwerge.
Gegen Mittag holte Frau Kartuscheck mit vielen Dankesworten Barbara wieder ab. Sie packten das Glasgemälde in Packpapier ein, und Barbara winkte aus dem Fenster des Omnibusses bis zur scharfen Kurve hinter dem Wald.
Und es war Schwabe, als sei der Tag mit dem Weggang Barbaras zu einer trägen Last geworden, die erst am nächsten Morgen von ihm genommen würde, wenn Barbaras helle Stimme wieder durch den Garten klang.
Zwei Wochen lang kam das Kind jeden Morgen auf das Schloß und fuhr mit dem Mittagsbus nach Bernegg zurück. Und jeden Tag hatte Erich Schwabe eine neue Überraschung für Barbara bereit, um den Jubel in ihrer Stimme immer wieder zu hören, ihre leuchtenden Augen zu sehen und ihre weichen Arme um seinen Hals zu fühlen.
In diesen Augenblicken war auch Erich Schwabe von Glück erfüllt.
Er hatte für Barbara eine kleine Harke hergestellt, und Seite an Seite standen sie in den Beeten oder im Gewächshaus und pflegten die Blumen, wendeten das geschnittene Gras oder begossen die Rabatten. Schwabe mit dem Schlauch, Barbara mit einer kleinen buntbemalten Gießkanne.
In den Pausen malte Schwabe immer neue Märchenbilder auf Glas. Er zeichnete nur die Konturen, und Barbara malte sie mit Farbe aus, gewissenhaft, mit den zarten Fingerchen sicher den kleinen Pinsel führend und mit viel Gefühl für die Zusammenstellung der Farben.
«Du, Mami hat das Bild aber gut gefallen«, sagte Barbara eines Tages.»Ich hab' es ihr gezeigt.«
«Welches denn?«
«Das von dem Froschkönig.«
Frau Kartuschecks freier Tag war für Erich Schwabe der trostloseste Tag der Woche. Es war, als mache er alle Welt dafür verantwortlich, daß er an diesem Tage Barbara nicht sehen konnte. Am meisten litt die Hecke darunter, er schnitt sie so radikal zurück, daß Lisa zu ihrem Mann sagte:»Jetzt hat er drei Jahre Wachstum weggeschnippelt.«
Und plötzlich kam Barbara überhaupt nicht mehr.
Es war mitten in der Woche, und Erich Schwabe sah verwundert auf die Uhr, als die Glocke in Bernegg neun Uhr schlug und Frau Kartuscheck nicht mit dem Bus gekommen war.
«Sie wird ihn mal verpaßt haben«, dachte er laut, während er die Parkwege harkte und das Laub zusammenkehrte.»Der nächste Bus kommt um zehn.«
Aber auch um zehn kam Barbara nicht. Der freie Tag war es auch nicht, wie Schwabe zur Sicherheit feststellte. Es mußte also etwas geschehen sein, was Barbara am Kommen hinderte.
Sofort wieder Lisa zu fragen, wagte er nicht, um nicht lächerlich zu erscheinen. Aber den ganzen Tag über war er unruhig, schnauzte mit ein paar Patienten herum, weil sie Papier im Park weggeworfen hatten, anstatt die an den Bäumen aufgehängten Papierkörbe zu benutzen, und als es Abend wurde, holte sich Schwabe aus der Klinikkantine einige Flaschen Bockbier und dämpfte mit Alkohol seine innere Erregung.
Am nächsten Morgen um neun Uhr stand Schwabe vor dem Eingang und wartete auf den Bernegger Bus. Er kam, hielt, einige Besucher der Klinik stiegen aus, fuhr weiter — aber Frau Kartuscheck und Barbara kamen nicht.
Erich Schwabe spürte, daß er die Ungewißheit nicht länger ertragen konnte. Er rannte zu Lisas Zimmer und klopfte an. Die Ärztin nickte ihm freundlich zu, als er sichtlich verwirrt bei ihr eintrat.
«Fragen Sie nicht, Schwabe«, sagte sie, ehe er etwas sagen konnte.»Barbara liegt zu Hause und ist krank. Und im übrigen ist ihre Mutter wieder so weit hergestellt, daß sie sich selbst um das Kind kümmern kann.«
«Krank?«stotterte Schwabe.
«Die Masern.«
«Ist. ist es ernst?«
Lisa lachte.»Aber Schwabe. Die Masern. Haben Sie auch als Kind gehabt. Die ersten Tage hat man hohes Fieber.«
«Hohes Fieber«, sagte Schwabe leise.
«In drei Wochen springt sie wieder herum.«
«In drei Wochen erst?«Schwabe wischte sich über das Gesicht.»Kann. kann man sie besuchen, Frau Doktor?«
«Warum nicht? Babs wird sich riesig freuen.«
«Wird man das auch nicht falsch auffassen? Ich meine, die Mutter oder Frau Kartuscheck und die Nachbarn?«
«Aber Schwabe. «Lisa schüttelte wie strafend den Kopf.»Seit wann haben Sie solche Hemmungen? Sie sind doch Barbaras Onkel Erich. Keiner wird denken, daß Sie wegen Frau Kartuscheck oder der Mutter der Kleinen.«
Schwabe nickte.»Dann werde ich morgen früh fahren, Frau Doktor. Wo wohnt diese. wie heißt sie eigentlich?«
«Barbara wohnt Wacholderweg 14. Sie finden das Haus sofort. Es ist ein weißes Fachwerkhaus mit schwarzen Balken, ganz frisch getüncht. Vor dem Eingang, im Vorgarten, steht eine knallrote Gartenbank. Die leuchtet Ihnen schon von weitem entgegen.«
Den Abend und die halbe Nacht hindurch malte und bastelte Schwabe. Er ging erst beim Morgengrauen ins Bett und schlief drei Stunden unruhig und sich hin und her wälzend. Mit dem Autobus um zehn Uhr morgens fuhr er dann hinunter nach Bernegg, unter dem Arm ein dickes Paket mit einem wunderschönen Märchenbild auf buntem Glas, drei dicken, schwarzblauen Weintrauben und einer Flasche selbstgepreßtem schwarzem Johannisbeersaft.
Vor der Post in Bernegg suchte er auf dem großen Stadtplan den Wacholderweg. Er war weit draußen in einem Neubauviertel, zwischen den Hügeln gelegen. Er war mit dem Omnibus, ohne es zu wissen, vorbeigefahren.
Schwabe kaufte sich in der Bahnhofswirtschaft ein Viertel Wein und trank es in langsamen, kleinen Zügen. Ein Problem, an das er bis zur Stunde nicht gedacht hatte, war wie ein Überfall über ihn gekommen: Was war, wenn er auf dem Wege zum Wacholderweg seiner Mutter oder Ursula begegnete? Es war möglich, daß sie noch in Bernegg wohnten. Er wußte es nicht und hatte seit einem Jahr nicht mehr danach gefragt. Es konnte sein, daß Karlheinz Petsch sie nach Köln zurückgeholt hatte. Er war ja jetzt der große Mann, der Millionär, der Besitzer eines im amerikanischen Stil aufgemachten Supermarktes. Vielleicht spielte er jetzt mit Erika in einem Garten, und Ursula sah von einer Schaukel aus zu.
Bei diesem Gedanken quoll Bitterkeit in Schwabe auf. Sein maßloses Elend kam ihm wieder zum Bewußtsein, seine Einsamkeit, seine Lebensferne und seine Sehnsucht nach einem Kind, dessen Verkörperung Barbara geworden war.
Wenn ich ihnen begegne, werde ich an ihnen vorbeigehen wie an Fremden, dachte er verbissen. Ja, das werde ich. Wenn sie noch hier sind — ich werde sie nicht sehen. Und wenn sie mich anrufen, werde ich taub sein.
Er bezahlte seinen Wein und machte sich auf den Weg zu Barbara.
Niemand Bekannter begegnete ihm. Nur einen Augenblick blieb er vor der Schule stehen. Aus den geöffneten Klassenfenstern hörte er die Fragen der Lehrer und die hellen Antworten der Kinder.
Erinnerungen tauchten auf. In Klasse I das Office von Major James Braddock. Das erste Wiedersehen mit Ursula in Klasse II. Die Fahrt hinauf zur Villa des geflohenen Fabrikanten Wolfach und die erste Nacht — eine junge, blonde, liebende Frau und ein menschliches Ungeheuer ohne Gesicht, eine Fratze ohne Nase und Mund, mit dicken Leukoplaststreifen kreuz und quer verklebt, um das Entsetzen etwas abzudämmen. Eine Frau, die ihn dennoch küßte und sagte:»Ich liebe dich«, und die ihn doch total betrogen hatte mit einem Mann, dessen Gesicht noch lachen konnte.
Wie lange war das her — und doch wie greifbar, gerade jetzt, da er vor der Schule stand und über den Schulhof starrte, auf dem einst die Jeeps der MP geparkt hatten.
In der Schule klingelte es. Pause. Schwabe hörte das Scharren vieler Füße und das Klappen von Pultdeckeln. Da ging er schnell weiter, mit gesenktem Kopf, auf den Staub blickend, den seine Füße aufwirbelten.
Vorbei, dachte er. Ich bin drüber weggekommen. Es tut nicht mehr weh, daran zu denken. Und er spürte dabei deutlich, wie er sich hoffnungslos belog.
Nach einer halben Stunde Weg sah er die Häuser zwischen den Hügeln. Er sah das neugetünchte weiße Haus mit den schwarzen Holzbalken, und wie Lisa gesagt hatte, leuchtete ihm schon von weitem die grellrote Gartenbank entgegen.
Da vergrößerte er seine Schritte und rannte fast dem Haus entgegen. An der weißen Vorgartentür blieb er stehen. Die Fenster des ersten Stockwerkes waren offen: es war ein schwüler, heißer Frühherbsttag, und ein Gewitter war fast körperlich spürbar.
Erich Schwabe starrte zu den Fenstern hinauf. Aus einem der Fenster hörte er eine Stimme.»Mami«, rief die Stimme.»Mami, ich habe
Durst, Mami.«
Barbara.
Warum kam die Mutter der Kleinen denn nicht? Warum antwortete sie nicht? Warum ließ sie das kranke Kind so lange rufen? War sie einkaufen gegangen, und niemand war bei dem Kind geblieben?
«Barbara«, rief Schwabe laut.»Babs, ich bin da. Onkel Erich. Ich komme sofort und bring' dir was zu trinken.«
Er riß die Vorgartentür auf, rannte ins Haus. Unten an der Treppe blieb er stehen und sah zur oberen Diele hinauf, von der eine Anzahl Türen abging.»Babs«, rief er wieder.»Wo bist du?«
«Hier, Onkel Erich, hier!«
Schwabe rannte die Treppe hinauf, der kleinen Stimme nach und riß die Tür auf, hinter der er sie hörte. Ein großes Kinderzimmer tat sich vor ihm auf. Ringsum an den Wänden hingen alle seine auf Glas gemalten Märchenbilder, und inmitten dieser leuchtenden Farben lag in einem weißen Bett Barbara, mit fieberrotem Gesichtchen und mit Flecken übersät.
«Hier bin ich, Babs«, sagte Schwabe und packte sein Paket aus. Er goß von dem schwarzen Johannisbeersaft das Glas voll, das neben Barbara auf dem Nachttisch stand, und stützte ihren Kopf, während sie durstig trank und ihn aus ihren blauen Augen dankbar und voll Freude ansah. Dann legte er sie wieder in die Kissen zurück und zog die Decke über den fieberheißen Körper.
«Wo ist denn nur deine Mami?«fragte er.»Ist sie weggegangen?«
«Eben war sie noch da, Onkel.«
«Vielleicht hinten im Garten?«
«Ich weiß nicht.«
Schwabe streichelte über das rotgefleckte, heiße Gesichtchen. Er fühlte eine unendliche Zärtlichkeit. Hier bleibe ich sitzen, bis sie gesund ist, dachte er. Die Blumen, die Vögel, der Rasen, alles, alles kann warten. Ich muß hier sitzen und aufpassen, es gibt nichts Wichtigeres mehr.
«Ich bleibe jetzt hier«, sagte Schwabe.»Du wirst nie mehr allein sein, wenn die Mami einmal weggehen muß. Eigentlich müßte sie jetzt wiederkommen…«
«Warum?«fragte eine Stimme hinter ihm.»Nun ist ja der Papi endlich da.«
Erich Schwabe duckte sich wie unter einem betäubenden Schlag. Dann schnellte er hoch, stieß den Stuhl um und wirbelte zur Tür herum. Im Zimmer stand Ursula, schmal, blond, mit großen, traurigen, blauen Augen — so, wie sie immer war, von einer zerbrechlichen, hilfesuchenden und aufreizenden Schönheit.
«Was… was soll das?«sagte Schwabe tonlos.»Was machst du? Wie kommst du hierher? Wo ist Barbaras Mutter?«
«Guten Tag, Erich«, sagte Ursula kaum hörbar.
«Das ist er«, rief Barbara aus ihrem Bettchen.»Das ist Onkel Erich, Mami.«
Schwabe stand steif neben dem Bett. Sein Kehlkopf zuckte wild.
«Du bist. «Seine Stimme erstarb. Vom Bett aus tastete eine kleine, heiße Hand zu ihm. Er nahm sie in seine Hand, hielt sie fest und spürte, wie er zitterte.»Aber… Barbara«, stotterte er.
«Sie heißt Erika Barbara Helga Schwabe. Wir rufen sie Barbara, weil… weil es deine Mutter so schön fand.«
«Mutter. «Schwabe drückte die kleine, heiße Hand an seine Hüfte und streichelte sie mit den Fingerspitzen.»Wo ist sie?«
«Unten. Sie wagt nicht, heraufzukommen. Sie hat Angst, du jagst sie weg.«
«Angst? Meine Mutter?«Schwabes Stimme erlosch.»Bin ich denn ein Untier?«
«Ja.«
Er senkte den Kopf und sank auf den Stuhl zurück. Das heiße Händchen entzog sich seinen Fingern. Dafür schlangen sich zwei dünne Ärmchen um seinen Hals, und ein schweißnasses Köpfchen mit zerwühltem Haar drückte sich an sein Gesicht.
«Warum bist du plötzlich so traurig, Onkel Erich?«
Durch Schwabe lief ein neues, heftiges Zittern. Er warf die Arme um den kleinen Körper und preßte ihn an sich.
«Sie nennt dich Onkel«, sagte Ursula.»Solch ein Untier bist du.«
«Ursula«, schrie Schwabe. Die Qual zerbrach alles in ihm, was er in drei Jahren aufgestaut hatte. Er umklammerte den Körper des Kindes so, wie ein Ertrinkender mit unmenschlicher Kraft sich an ein treibendes Holzstück krallt. Und dann küßte er das heiße, fiebrige Gesichtchen, immer und immer wieder, und plötzlich weinte er, und während er schluchzte, tastete er das Gesicht seines Kindes ab, so wie ein Blinder, der jede Erhebung, jede Rundung, jede Vertiefung mit den Fingerspitzen unlöschbar in sich aufnimmt.
«Mami, schau — ihm ist wieder etwas ins Auge geflogen«, rief Barbara und machte sich aus Schwabes Armen los.»Aber diesmal weint er richtig wie du. «Und Schwabe legte seine Stirn auf das weiße Gitterbett und schämte sich nicht mehr seiner Tränen.
Eine Stunde später hielt der Wagen Professor Ruschs vor dem Haus Wacholderweg 14. Lisa stieg aus und sah zu den offenen Fenstern des ersten Stockwerkes hinauf. Dann beugte sie sich vor und riß die Tür des Fahrersitzes auf.
«Es ist alles so still da oben«, sagte sie.»Zum erstenmal habe ich richtige Angst, Walter.«
«Na, dann gehen wir mal hinauf. «Rusch stieg aus dem Wagen und ließ die Tür zuknallen. Man mußte es oben in den Zimmern hören. Aber nichts regte sich an den Fenstern.
Rusch vermied es, Lisa anzusehen. Er dachte an den Fall Oster und all die Sinnlosigkeiten, zu denen ein Mensch in seiner Verzweiflung fähig war. Lisa Rusch hielt ihren Mann am Arm fest, als er durch die Vorgartentür, die weit offen stand, ins Haus gehen wollte.
«Wenn wir nun eine Dummheit gemacht haben, Walter? Ich hätte ewig ein Schuldgefühl. «Es klang kläglich. Rusch schüttelte den Kopf.
«Wir haben das Beste gewollt.«
Sie betraten das Haus und stiegen langsam die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf. Niemand kam ihnen entgegen. Vor der Kinderzimmertür zögerte Lisa wieder, die Klinke herunterzudrücken. >Was werden wir hinter dieser Tür finden<, dachte sie, und sie fror trotz der drückenden Schwüle.
Rusch legte seine Hand über die ihre und drückte die Tür entschlossen auf. Dann blieben sie auf der Schwelle stehen, überblickten das Zimmer, sahen sich befreit und lächelnd an.
Um das Kinderbett saßen Erich Schwabe, Ursula und Frau Hedwig Schwabe. Sie saßen in einem Halbkreis, und wie zu einem Reigen hatten sie sich an den Händen gefaßt: ein Wall um das Kind, das mit lächelndem Gesichtchen schlief. Ursula wandte den Kopf zur Tür. Ihr Lächeln war so voller Glück, daß es keiner Frage mehr bedurfte.
«Sie schläft«, sagte sie leise.»Vor zehn Minuten ist sie endlich eingeschlafen. Aber das Fieber ist noch da.«
Professor Rusch trat leise an das Bettchen heran.»Wir sind auch nur rasch vorbeigekommen, um nach Erika zu sehen. «Er sagte bewußt Erika und legte, als er sich über das Bett beugte, beide Hände auf die Schulter Schwabes.»Ich werde Ihnen noch einige Zäpfchen hierlassen, Herr Schwabe. Und bis zur völligen Gesundung Ihres Kindes sind Sie selbstverständlich beurlaubt.«
Schwabe tastete nach den Händen Ruschs und hielt sie auf seiner Schulter fest.
«Sie haben alles gewußt, Herr Professor.«
«Natürlich. Man hätte Sie ja erschlagen können, und Sie hätten sich geweigert, auch nur mit Ihrer Frau oder Ihrer Mutter zu sprechen. Aber das Kind«, Rusch drückte die Hände Schwabes.»Mein lieber Junge — ich möchte den Menschen sehen, der vor dem Lächeln eines Kindes und vor dem Blick dieser großen blauen Augen nicht alle Vorsätze vergißt und das Kindliche in sich selbst wiederentdeckt.«
«Und wer ist Frau Kartuscheck?«
«Eine gute Bekannte Ihrer Frau. Sie kam zuerst als Kundin in die Schneiderwerkstatt, dann haben sich die beiden Frauen angefreundet. Emmi Kartuscheck ist Fürsorgerin in Würzburg. Ihre Frau, Herr Schwabe, war zwei Wochen an einer heftigen Nervenentzündung der Arme erkrankt. - Tagaus, tagein nähen, das war eben zu viel für die kleine Frau, Sie verstehen. Und die Großmutter allein hätte die ganze Arbeit nicht geschafft. Da haben wir Frau Kartuscheck für die
Betreuung des Kindes geholt und dabei den Plan geboren, Erika zu Ihnen zu bringen. Das Kind wußte von nichts. Sie waren bis heute der gute Onkel Erich für es.«
Schwabe stand leise auf und trat vom Bett zurück. Man sah, daß er sich schämte und daß er nach Worten suchte, um etwas zu erklären oder zu danken. Er reichte Lisa die Hand hin, und es war eine so hilflose Geste, daß die Ärztin sie ergriff und mit der anderen Hand behutsam streichelte.
«Ich… ich bin ein dummer Kerl, Frau Doktor«, sagte Schwabe leise.»Ich verdiene dieses Glück gar nicht.«
«Fangen Sie schon wieder an, Sie Vollidiot?«sagte Lisa in altgewohnter grober Art.»Ihr Gesicht haben Sie wieder, so gut es eben geht. Eine Frau haben Sie und eine Mutter, die für Sie den Satan aus der Hölle zerrt. Und Sie haben das süßeste Kind, das sich ein Vater wünschen kann.«
«Ein so schönes Kind von einem so häßlichen Vater.«
«Schwabe — ich haue Ihnen eine 'runter, wenn Sie weiter solchen Unsinn reden«, sagte Lisa. Schwabe wußte, daß sie es tun würde, und hob mit einem Lächeln den Kopf. Er streckte ihr sein neues, von roten Narben durchzogenes Gesicht entgegen und legte die Hände auf den Rücken.
«Schlagen Sie zu, Frau Doktor«, sagte er heiser.»Bitte, schlagen Sie zu. Nehmen Sie die Faust dafür — ich habe es verdient.«
«Ich werde doch mein eigenes Kunstwerk nicht zerstören. «Lisa lachte und stieß Schwabe vor die Brust.»Das könnte Ihnen so passen: Nochmals drei Jahre hier herumlungern und das dritte Gesicht bekommen. Nein, mein Lieber — Schloß Bernegg ist jetzt für Sie vorbei. Ihre Frau, Ihr Kind brauchen Sie. Oder soll sich Ihre Frau weiterhin die Finger blutig nähen, wo sie doch ein Mannsbild hat, das Bäume ausreißen kann?«
«Wir haben es schon besprochen«, sagte Ursula. Sie deckte Erika zu, die sich im Schlaf bloßgestrampelt hatte.»Wir bleiben zunächst hier. In Köln haben wir alles verkauft. Und ich möchte auch nicht, daß. Nein, es soll wieder ganz von vorne beginnen. Wir sind ja noch jung.«
Frau Hedwig Schwabe verscheuchte eine Fliege vom Kopf des Kindes und dachte, wie immer, am nüchternsten.»Wie sollen wir der Kleinen beibringen, daß der Onkel Erich plötzlich ihr Vater ist?«
Lisa Rusch sah ihren Mann hilfeflehend an. Sie wußte es auch nicht.»Du hast doch auch Psychologie studiert, Walter«, sagte sie.»Es ist wirklich ein Problem.«
Professor Rusch sah an den Wänden entlang und auf die vielen Glasbilder, die Schwabe gemalt hatte.»Sie müssen ein neues Märchen malen«, sagte er langsam.»Die Geschichte von einem Vater, der auszog und dem der Krieg Gesicht und Namen genommen hat.«
«Das ist kein Märchen. Das ist die schrecklichste Wahrheit, die es geben kann.«
«Für das Kind muß es ein Märchen sein, es muß noch an Wunder glauben.«
Frau Schwabe sah ihren Sohn an, wie nur eine Mutter ihren Sohn ansehen kann.»War es nicht ein Wunder?«sagte sie leise.
«Nein«, sagte Professor Rusch plötzlich hart.»Wir haben vier Jahre lang um ein Gesicht gerungen, das in einer Sekunde zerstört worden war. Wir haben Hunderte dieser Gesichter unter den Händen gehabt, und überall wurden zerfetzte Leiber geflickt, wurden Arme und Beine amputiert, zwei Millionen Kriegsbeschädigte tragen die Andenken des Krieges unverlierbar mit sich herum. Und warum? Ist die Welt besser geworden? Hat man aus dem Leid gelernt? Hat man alle Waffen in den Meeren versenkt oder in den Vulkanen verbrannt? Im Gegenteil — jetzt spielt man mit Atomen, wie ein Jongleur mit seinen Bällen. Und der Jongleur aus dem Osten ist neidisch, wenn der aus dem Westen einen größeren Ball balanciert, und umgekehrt. Und einmal werden sie sich diese Bälle an den Kopf werfen wie kleine Jungs, die schreien: >Ich will aber den größten Ball haben.<«Rusch sah auf das kleine weiße Bett und auf das Kind, das sich in unruhigem Fieberschlaf hin und her wälzte.»Diese traurige Wahrheit erzählen Sie dem Kind, lieber Schwabe, wenn es denken gelernt hat. Jetzt müssen Sie noch ein Märchen malen, wie aus dem Onkel Erich der mit einem neuen Gesicht aus dem Krieg zurückgekommene Papi geworden ist. «Er faßte seine Frau an der Hand und zog sie mit sich zur Tür.»So — und nun müssen wir weiter. Und lassen Sie sich nicht einfallen, vor zwei Wochen wieder auf dem Schloß zu erscheinen. Und dann auch nur, um Ihre Entlassungspapiere abzuholen und die Schlußuntersuchung über sich ergehen zu lassen.«
«Herr Professor«, sagte Schwabe stockend».Die Blumen — und das Reh?«
«Verstanden?«schnauzte Lisa Rusch wie früher, als sie noch Lisa Mainetti hieß. Schwabe zuckte zusammen. Er legte die Hände an und warf den Kopf hoch.
«Jawoll, Frau Doktor«, brüllte er zurück.
Im Bettchen fuhr Erika hoch und sah mit halbwachen Augen um sich.»Das Kind«, rief Frau Hedwig Schwabe tadelnd.»Jetzt habt ihr es wach gemacht.«
«Sehen Sie, Schwabe«, sagte Lisa und nickte Schwabe lächelnd zu.»Wir zwei müssen noch allerhand lernen, um perfekt Vater oder — Mutter zu sein.«
Unten am Wagen hielt Rusch seine Frau zurück, als sie einsteigen wollte.»Was war das eben für eine Bemerkung?«fragte er.
Lisa ließ sich auf die Polster fallen und zog den Rock über die Knie. Mit der anderen Hand strich sie ihre schwarzen Haare aus der Stirn.
«Du bist eben ein Gesichtschirurg«, sagte sie lachend.»Unterhalb des Kinns hört für dich die Diagnose auf.«
Mit heulendem Motor raste Professor Rusch nach Würzburg, und in das Heulen hinein sang er mit weit aufgerissenem Mund, laut wie ein verliebter Jüngling.
Im Spätherbst kamen zwei Briefe in Bernegg an.
Der eine hatte einen weiten Weg hinter sich. Er war in New Orleans geschrieben und in New York in den Briefkasten gesteckt worden. Als Absender trug er die Anschrift: James Braddock, Präsident der IAFC.
Der andere Brief trug den Absender einer amtlichen deutschen Dienststelle und war an Erich Schwabe adressiert.
Seit zwei Wochen beherbergte das alte Zimmer B/14 einen neuen Gast, der innerhalb von drei Tagen die anderen Patienten so weit mit Beschlag belegt hatte, daß sie bei seinem Erscheinen schon aufjaulten: Paul Zwerch, der Berliner und Kabarettist, ließ sich nachoperieren.
«Aba nur 'n Stück, Frau Doktor«, sagte er bei der ersten Untersuchung zu Lisa.»Die linke Seite vom Unterkiefer springt mir imma aus' m Jelenk, wenn ick so mache. «Der Berliner machte eine Fratze, es knackte leise, und der Unterkiefer stand schief. Er wies mit beiden Zeigefingern auf seinen Mund.»Det is es«, kam es zischend über seine schrägen Lippen.
Die Ärztin renkte mit einem schnellen Griff den Unterkiefer wieder ein und betastete zunächst von außen die Gelenkpfanne.
«Det ham se mir zu kleen jemacht, Frau Doktor«, sagte der Berliner und bewegte den Unterkiefer vorsichtig auf und ab und hin und her.»Det hoppt imma wieda 'raus.«
«Wer hat denn auch gedacht, daß Sie eine so große Fresse haben, Zwerch«, lachte Lisa.»Ich hätte Ihnen sonst eine Kinnlade wie dem Wastl hingebaut. Na, mal sehen, was der Professor meint.«
Paul Zwerch also brachte die Post in Lisas Zimmer. Er hatte sich innerhalb von drei Tagen zum Kalfaktor der Klinik aufgeschwungen. Er wedelte mit dem Brief Braddocks in der Luft, ehe er ihn Lisa gab.
«Der gute, alte Major«, sagte der Berliner.»Wenn ick um die Briefmarken bitten dürfte, Frau Doktor. Ick sammle nämlich.«
Unten in Bernegg riß Schwabe seinen amtlichen Brief auf. Er las ihn, schüttelte den Kopf, las ihn dann noch einmal und gab ihn an Ursula weiter.
«Nein, so was«, sagte sie, als sie das Schreiben gelesen hatte. Es lautete:
«Nach Durchsicht Ihrer Krankenpapiere, die uns vom Versorgungsamt zugeschickt wurden, haben wir festgestellt, daß Sie 2 Jahre und 4 Monate ungerechtfertigt in klinischer, stationärer Behandlung waren.
Die Kau-, Schluck- und Sensibilitäts-Funktionen Ihres Gesichtes waren bereits längst wiederhergestellt. Trotzdem haben Sie sich in stationäre Behandlung des Versorgungskrankenhauses Schloß Bernegg begeben, um rein kosmetische Operationen an sich vornehmen zu lassen. Der Kostenträger des Versorgungskrankenhauses kommt nur für Funktionsherstellungen, nicht aber für kosmetische Operationen auf. Solche Operationen gehen zu Lasten des Patienten. Sie gelten als Privatbehandlung. Wir haben für Ihren Aufenthalt auf Schloß Bernegg für die Zeit von 28 Monaten, bei einem Tagessatz von DM 12.-, eine Summe von DM 10.080,- errechnet. Wir bitten Sie, die Schuldsumme in den nächsten Tagen auf eines unserer unten bezeichneten Konten zu überweisen. gez. v. Ritter Durchschrift an Herrn Prof. Dr. Rusch.«
Ursula legte den Brief vorsichtig, als sei er aus zerbrechlichem Glas, auf den Tisch zurück.»Was nun?«fragte sie unsicher.
Schwabe starrte vor sich auf den Boden.»Das Leben ist wieder normal geworden«, sagte er dumpf.»Nun kommt der Dank des Vaterlandes auf uns zu. «Er wischte sich über die Augen.»Es ist jetzt ein Verbrechen geworden, ein neues Gesicht zu haben.«
«Aber… aber das kann doch nicht sein, Erich.«
«Hier steht es: Nur Funktionsherstellung. Den Ausdruck kenne ich von früher. «Er zog den Brief an sich und faltete ihn zusammen.»Ich gehe zu Professor Rusch. Fangen wir also wieder von vorne an. Deutschland ist ein ordentliches Land, meine Liebe. Hier ändert sich nichts. Selbst nicht nach sechs Millionen Toten.«