Kapitel 20

Walter Hertz war allein im Zimmer B/14. Er saß am Fenster und putzte seine Schuhe, sah dabei in den Park und auf den Spielrasen, wo eine Gruppe Gesichtsverletzter Faustball spielte. Es waren zum größten Teil ambulante Patienten, die zu Nachoperationen und Korrekturen nach Bernegg gekommen waren. Viele Bekannte aus früheren Tagen waren darunter, aber auch eine Anzahl Fremder, die in anderen Lazaretten behandelt worden waren, zum größten Teil in allgemein-chirurgischen Stationen, und die nun in Bernegg zum erstenmal mit dem in Berührung kamen, was man Gesichtsplastik und Wiederherstellung nannte.

Erich Schwabe ging mit Dora und Fritz Adam in dem weiten Park spazieren. Sie pflückten Blumen für die Gräber hinter der kleinen Schloßkapelle. Auch der Leutnant Fischer lag noch da, der Mann, an dem nur noch das eine übriggebliebene Auge gelebt hatte, als er eingeliefert worden war. Dr. Mainetti hatte von der kleinen Frau, die so unendlich traurig am Grab gesessen hatte, nichts mehr gehört. Vielleicht war auch sie ein Opfer der letzten Kriegstage geworden, zerrissen von Bomben — sie und das Kind, das sie in sich trug und das ihr einziger Trost gewesen war.

Walter Hertz sah nicht auf, als hinter ihm die Tür klappte und jemand ins Zimmer kam.»Eine Drecksschuhkrem ist das«, sagte er bloß.»Da ist ja an Spucke mehr dran.«

Dr. Mainetti schob die zitternde Petra Wolfach vor sich her ins Zimmer, legte den Finger auf den Mund und ging schnell wieder hinaus. Sie zog die Tür so leise hinter sich zu, daß es Walter Hertz nicht vernahm.

Schmal, mit verkrampften Händen, stand Petra hinter Walter Hertz und betrachtete ihn. Er hatte eine alte Bürste in der Hand, spuckte auf die Schuhspitzen und begann dann, mit weiten Schlägen das Leder blank zu wienern.

«Sie sehen wie neu aus«, sagte Petra leise.

Sein Arm blieb in der Luft hängen. Dann fiel die Bürste aus den Fingern, der Schuh folgte ihr, er stieß den Stuhl unter sich weg und schnellte hoch.

«Petra«, sagte er atemlos.»Wo — wo kommst du her? Wie bist du hereingekommen? Petra!«

Impulsiv, aus seiner plötzlich aufglühenden Freude heraus, streckte er beide Arme aus, um Petra zu umarmen. Aber dann setzte der überrumpelte Verstand wieder ein, Walter ließ die Arme zurückfallen und trat einen Schritt zurück, als wolle er einen Abstand schaffen, der so gut wie eine Schranke war.

«Was willst du hier?«fragte er hart. Es machte ihm Mühe, man sah es seinem zuckenden Gesicht an, aber er zwang sich dazu. Denk an Heidelberg, dachte er. Denk an alles, was hinter dir liegt. Es gibt kein Zurück mehr. Es ist wie ein Märchen, das man so oft gelesen hat, daß man es auswendig kann und nicht mehr daran glaubt.

«Was willst du hier?«fragte er noch einmal, als Petra ihn nur stumm´mit großen bittenden Augen ansah.

«Ich will dich holen, Walter«, antwortete sie leise.

«So wie man einen Koffer von der Gepäckaufbewahrung abholt, was? Hier bin ich, hier ist der Hinterlegungsschein — nun 'raus mit dem Ding.«

«Walter!«

«Ich habe genug von den Wolfachs. Verschwinde!«

«Ich bin nicht mehr zu Haus, Walter. «Petra stützte sich gegen den Tisch. Sie spürte, wie ihre Beine schwach wurden und der Körper schwer, wie mit Blei gefüllt.»Ich lebe allein, als Sekretärin. Ich verdiene genug, um uns. «Sie schwieg, schluckte mehrmals und preßte dann die Lippen fest aufeinander, um nicht zu weinen.

Walter Hertz sah sich hilflos um. Niemand war im Zimmer, der ihm einen Rat geben konnte, zu dem er sagen konnte: Sieh dir das an — sie kommt, mich zu holen. Daß ich nicht lache. Komm, Kumpel, laß sie uns auslachen, das dumme Weib. Als ob der Walter Hertz jemals wieder unter die Menschen ginge! Nicht einmal die Liebe eines Mädchens kann ihn dazu bringen — was, Kamerad? Wir sind die gesichtslosen Wesen, und wir werden geschlechtslos. Nur als Mahnung leben wir noch, als herumwandelndes Menetekel: Seht, das ist der Krieg. Seht, das ist der Krieg. Immer und immer wieder. Hundertmal. Tausendmal. In alle Winde. Seht, das ist der Krieg. Nur dazu leben wir noch. Was ist Liebe? Was ist die Wärme eines weichen Frauenkörpers? Was ist das Streicheln einer Hand? Was sind Hingabe und Erfüllung? Das alles ist eine andere Welt, in die wir nicht mehr gehören. Das alles hat man uns weggeschossen, und nun sitzen wir da wie die Ungeheuer, wie Figuren aus einem Gruselkabinett und schreien aus unseren zerfetzten Mäulern: Das ist der Krieg. Und dieses Mädchen kommt einfach daher und sagt: Ich will dich holen. Laßt uns alle miteinander lachen, Kameraden!

Aber es war niemand da, zu dem Walter Hertz das sagen konnte. Allein und hilflos stand er Petra gegenüber, starrte sie aus seinem hängenden Auge an, strich sich über die eingedrückte Gesichtshälfte und suchte Mut in dem Gefühl, die Narben unter seinen Fingerspitzen zu spüren.

«Du — du bist also allein?«Das war alles, was aus ihm herausquoll.

«Ja. Und wir können heiraten.«

«Heiraten?«

«Ich bin jetzt 21 Jahre. Ich brauche niemanden mehr zu fragen.«

«Du brauchst niemanden mehr zu fragen? So, so.«

Walter Hertz hob seinen Schuh und seine Schuhbürste auf. Sie will mich heiraten, dachte er dabei. Aber was soll ich bei ihr? Sie wird das Geld verdienen, und ich putze das Zimmer, koche und spüle das Geschirr. Und abends, wenn es dunkel ist, werden wir Spazierengehen, immer im Schatten, damit niemand sieht, wie dieser Walter Hertz ausschaut, und damit die Nachbarn nicht, wie bei Christian Oster, sagen können: Die arme, kleine Frau Petra. Wie kann sie nur mit einem solchen Verstümmelten zusammenleben? Die hätte doch auch noch einen anderen Mann bekommen können.

«Nein«, sagte Walter Hertz laut.

«Was heißt nein, Walter?«

«Ich bleibe hier.«

«Ich habe geglaubt, du hättest mich geliebt«, sagte Petra leise. Es war wie ein Schlag, der Walter Hertz durchfuhr. Er warf den Schuh und die Bürste gegen die Wand und reckte den Kopf weit vor.

«Sieh dir das an«, brüllte er.»Sieh dir das genau an. Das eingedrückte Gesicht, die Nase, das Auge, die Narben und Flecken, diese abgrundtiefe Häßlichkeit!«

«Ich kenne es, Walter. «Petra hob die Hand zu ihm hin.»Habe ich es nicht oft gestreichelt? Habe ich es nicht geküßt, manche Nacht?«

«Man kann ein solches Gesicht nicht lieben«, schrie Walter Hertz. Die Qual zerriß ihn fast, er preßte die Fäuste auf sein Herz und rang nach Luft.

«Wie willst du das wissen?«sagte Petra schlicht.»Hast du meine Gedanken, meine Gefühle, mein Herz?«

«Aber — aber es ist doch unmöglich«, stammelte er.

«Warum?«

«Ich bin ein Scheusal.«»Du bist mein Mann.«

«Man wird dir keine Ruhe lassen. Alle Leute werden zu dir sagen: Sie müssen wahnsinnig sein, mit einer solchen Fratze zusammenzuleben.«

«Und ich werde antworten: Ich sehe sein Gesicht gar nicht, ich sehe nur ihn. Was ist ein Gesicht? Eine lebende Maske. Soll ich eine Maske heiraten? Wird eine Symphonie von Beethoven häßlicher, wenn man sie in einer Scheune statt in einem prunkvollen Konzertsaal spielt? Ist ein Leonardo da Vinci in einem zerbrochenen Holzrahmen weniger schön als in einer goldenen Barockverzierung? Ich liebe dich, weil du einfach du bist — so einfach ist das doch, nicht wahr?«

«Aber dein Vater. Und deine Mutter. >Sie haben keine Zukunft, junger Mann<, hat dein Vater gesagt. >Und ein Mann ohne Zukunft ist doch wohl kein Mann für meine einzige Tochter.< Und deine Mutter sagte hinterher: >Sie müssen verstehen, ich bin Pianistin, ich bin Ästhetin, es wäre mir unerträglich, immer jemanden um mich zu haben — Sie verstehen mich.<«Walter Hertz atmete tief.»Und ich habe verstanden«, schrie er wieder.»Es ist kein Platz auf der Welt für einen Gesichtskrüppel. Man verletzt die Ästhetik.«

Petra schüttelte stumm den Kopf. Sie kam auf Walter Hertz zu, ergriff seine schlaffe Hand und zog ihn zu sich her.

«Komm«, sagte sie, so nüchtern und selbstverständlich, daß Hertz wie ein folgsamer Junge ein paar Schritte bis zur Tür mitging. Aber dann blieb er plötzlich stehen.

«Nein«, sagte er laut.»Wohin denn?«

«Zu mir.«

«Das ist doch alles Unsinn! Was soll denn aus mir werden?«

«Wieder ein Mensch, Walter.«

«Sie werden mich alle wegstoßen.«

«Keiner wird das tun.«

«Sie haben es ja getan.«

«Nur meine Eltern. Das ist ein Teil unseres Lebens, den wir vergessen müssen, du und ich. Was gehen uns die anderen an? Es ist genug, wenn die Welt nur aus uns besteht. Was um uns herum ist — sehen wir es als Kulisse an. Wie einfach ist dann das Leben.«

Eine halbe Stunde später stand Walter Hertz im Zimmer Dr. Lisa Mainettis. Er hatte seine wenigen Sachen gepackt. Famulus Baumann hatte ihm dafür einen Karton gegeben, einen amerikanischen Verpflegungskarton, auf dem groß >Eggs< stand.

«Schreiben Sie uns oft«, sagte Dr. Mainetti und drückte Walter Hertz die Hände.»Professor Rusch läßt Ihnen alles Gute wünschen. Er operiert gerade.«

Hertz nickte. Seine Mundwinkel zuckten.»Frau Doktor«, stotterte er.»Frau Doktor — nun ist es schon der zweite Abschied. Ich werde Sie nie, nie vergessen.«

«Und zurückkommen wird er auch nicht wieder, das verspreche ich«, sagte Petra und legte den Arm um seine Schulter.»Nur als Patient oder Freund — aber nicht mehr wie bisher.«

Als Adam und Erich Schwabe aus dem Park zurückkamen auf Zimmer B/14, war das Bett von Walter Hertz abgedeckt, und eine Schwester stellte die Matratze hoch ans Fenster zum Lüften.

«Was soll denn das?«fragte Schwabe und stieß Adam in die Seite.»Ist der Walter Bettnässer geworden?«

«Herr Hertz ist entlassen«, sagte die Schwester. Sie kannte die Zusammenhänge nicht. Erich Schwabe blieb starr stehen.

«Entlassen? Was heißt denn das? Man kann doch den Hertz nicht entlassen. Da ist doch etwas faul.«

«Er ist abgeholt worden«, sagte die Schwester, nahm die Bettwäsche zusammen und verließ das Zimmer.

Erich Schwabe sah zu Fritz Adam hinüber, der ebenso verblüfft war wie er.

«Abgeholt?«sagte Schwabe leise.»Mein Gott, Fritz, den Fachausdruck kenne ich. Der wird doch wohl keinen Quatsch gemacht haben, der Walter? In letzter Zeit hat er immer so dusselig geredet, Himmel noch mal.«

Schwabe drehte sich um und rannte aus dem Zimmer.

«Wohin denn?«schrie Adam über den Flur.

«Zu Dr. Mainetti.«

«Ich komme mit.«

Zu zweit rannten sie die Treppe hinunter und stürzten, ohne anzuklopfen, in Lisas Zimmer. Dr. Mainetti saß am Schreibtisch und füllte einen Krankenbogen aus. Sie war nicht erstaunt, die beiden erhitzten, fragenden Gesichter zu sehen. Freundlich nickte sie ihnen zu.

«Walter Hertz?«sagte sie, ehe Adam oder Schwabe etwas fragen konnten.»Den hat eben seine Braut abgeholt und mitgenommen. Sie werden nächsten Monat heiraten.«

Erich Schwabe war es, als sei er mit Eiswasser überschüttet worden. Er schüttelte sich sogar, als müsse er die Tropfen von sich abschleudern. Dann senkte er den Kopf, drehte sich herum und sagte im Hinausgehen:

«Sie haben alle keinen Charakter, alle nicht. Alle nicht!«

Die Monate gingen dahin, das Leben normalisierte sich, es bildeten sich wieder Klassen: die einen, die nach wie vor anstanden, um eine Sonderzuteilung von irgend etwas zu erhaschen, die anderen, die sich plötzlich Häuser bauten und sich die Butter fingerdick aufs Brot schmierten. Der Beamtenapparat, das Knochengerüst jeglicher deutschen Gesundung, wurde wieder merkbar kerniger und härter. Parteien wurden gegründet und versprachen Dinge, die von jeher in Deutschland kaum möglich waren, wie etwa eine richtige Demokratie oder eine Ächtung aller Waffen und jeglichen Wehrgedankens. Ja sogar die Siegermächte wurden freundlich und betrachteten Old Germany nicht mehr als einen fauligen Termitenhaufen, sondern dachten: Es ist gut, wenn wir allesamt einmal scharf nach Osten blik-ken. Von dort scheint ein rauhes Lüfterl heranzuwehen, in dem die schöne Waffenbrüderschaft verrostet.

Aber noch immer zahlte man für eine Camel 6 Mark und ein Pfund Kaffee war auf 600 Mark geklettert. Die erste Vollversammlung der Vereinten Nationen war längst in London abgehalten worden, und das erste Njet des sowjetischen Delegierten hatte eine neue Ära der

Politik in der Welt eröffnet. Und noch vieles geschah in diesen Monaten, was nicht die Gemüter erregte, sondern nur in einer ganz kleinen Welt zwischen hohen Mauern Bedeutung hatte: Im September heirateten Professor Dr. Rusch und Dr. Lisa Mainetti auf dem Standesamt in Bernegg, und Erich Schwabe als Schloßgärtner schmückte den Gemeinschaftssaal mit Blumen aus, in glühenden Farben und wunderbar gebundenen Arrangements. Famulus Baumann sprach das aus, was die Insassen der Klinik alle dachten:»Es ist schwer, sich jetzt umzugewöhnen. Für uns bleiben Sie immer die Lisa Mainet-ti.«

Fritz Adam machte in Heidelberg sein Physikum. Kaspar Bloch schrieb aus England, er studierte in Oxford. Walter Hertz berichtete knapp:»Petra bekommt ein Kind. «Und der Wastl schrieb mit ungelenken Buchstaben:»Ich habe eine Fremdenpension. Alle von Stube 14 können frei bei mir wohnen.«

Der einzige, der aus der Reihe brach, war der Berliner. Er hatte sich als Conferencier einem Kabarett angeschlossen.»Kinder«, schrieb er in einem langen Brief,»das ist 'ne Wolke. Wenn ich mit meiner schiefen Fresse Witze mache — das Publikum bepinkelt sich vor Lachen.«

Lisa zeigte den Brief ihrem Mann, und Professor Rusch hob resignierend die Schultern.»Auch das muß es geben«, sagte er.»Ein zerstörtes Gesicht als Maske eines Clowns. Und die Leute lachen sogar darüber. Das ist das Schrecklichste an der Sache. Sind wir schon wieder so weit, Lisa, daß wir den Krieg als lustige Erinnerung empfinden?«

In Bernegg hatten Frau Schwabe und Ursula eine größere Wohnung bekommen. Die Nähkünste Ursulas öffneten ihnen alle Wege und Umwege, und gegen Herausgabe von zwei großen Steintöpfen eingeschmolzenen Fetts, fünf Einmachgläsern mit Rindfleisch und 5.000 Mark konnte die Familie Schwabe in eine schöne Vier-ZimmerWohnung ziehen, am Stadtrand von Bernegg, mit einem schönen, weiten Garten und einem Blick auf das Schloß. Das Haus gehörte einer Witwe, deren Bruder beim Wohnungsamt es bisher erreicht hatte, eine Beschlagnahme zu verhindern mit der Begründung, zwei Söhne seien vermißt und könnten jederzeit wiederkommen. Das Angebot Frau Hedwig Schwabes aber erschütterte alle Schutzwälle, um so mehr, als bei dem regen Publikumsverkehr im Schneideratelier auch wichtige Verbindungen geknüpft werden konnten. Wer in diesen Monaten ohne Beziehungen weiterleben konnte, mußte ein Zauber- oder Hungerkünstler sein.

Dreimal hatte Erich Schwabe noch versucht, eine Scheidung zu erreichen. Ursula ließ wissen, daß sie nicht daran dächte. Da resignierte Schwabe und sagte zu Lisa:

«Dann geht es eben so weiter. Es ist ja doch nur eine Formsache.«

Seine Tochter Erika hatte Schwabe nicht wiedergesehen. Sein erster Besuch in Würzburg war Begrüßung und Abschied zugleich gewesen. Er sprach auch niemals mit einem anderen über sein Kind, auch nicht mit Rusch oder Lisa. Nur abends saß er manchmal still und blaß unter der Lampe und betrachtete Bilder kleiner, lockiger Mädchen, die in den Zeitungen und Illustrierten abgebildet waren.

Von Monat zu Monat veränderte sich auch das Gesicht Erich Schwabes. Die dritte Nase saß endlich richtig und wuchs ohne Komplikationen ein. Die linke Ohrmuschel wurde geformt. Rusch und Lisa nahmen dazu Rippenknorpel Schwabes und ein neues Plastikmaterial, das man in Amerika bei Gesichtsplastiken verwendete und das Fritz Adam von der Universität Heidelberg zu Versuchen herüberschicken ließ. Professor Rusch machte den Versuch mit Schwabes rechtem Ohr und transplantierte das körperfreundliche Weichplastikmaterial. Es heilte ohne Zwischenfälle ein. Am Tage der Währungsreform 1948 operierte Rusch die letzte Korrektur der Nase. Das Gesicht Schwabes hatte jetzt das Fratzenhafte verloren, es war wieder ansehbar, es war ein menschliches Gesicht, ein bißchen fremd, wenn man die Fotos des früheren Erich Schwabe mit dem neuen Antlitz verglich, aber immerhin doch ähnlich, erkennbar und vor allem nicht abstoßend. Ein paar große Narben störten zwar noch, aber sie sahen aus, als habe Schwabe als Student auf dem Paukboden ein paar kräftige Durchzieher erhalten.

«Na, wie stehen wir da?«fragte Lisa, als Schwabe nach dem letzten Verbandswechsel in den Spiegel sah.»Fast vier Jahre sind vergangen, und der Kerl sieht jünger aus als vorher.«

Der Spiegel in Schwabes Fingern zitterte. Er mußte ihn mit beiden Händen festhalten. Ich bin es, dachte er ergriffen. Ich bin es wirklich. Ich bin kein Ungeheuer mehr, von dem die Menschen sich abwenden. Ich habe ein narbiges Gesicht. Aber ich habe ein Gesicht. Ich bin wieder der Glaser Erich Schwabe aus Köln.

Wenn das Mutter sehen könnte. Und Ursula.

Er ließ den Spiegel sinken und starrte in Lisas Augen.

«Ich — ich bin wieder da«, sagte er mit einer kläglichen Stimme.»Sie haben mich wieder zu einem Menschen gemacht.«

Und plötzlich umarmte er die Ärztin, drückte das Gesicht an ihre Brust und weinte haltlos. Er klammerte sich an ihr fest, als sie ihn sanft von sich wegdrücken wollte.

«Ich bin wieder ein Mensch«, schluchzte er.»Ich erkenne mich wieder, ich erkenne mich wieder.«

Der ewige Famulus Baumann wischte sich schnell über die Augen. Er tippte Schwabe auf die zuckende Schulter und zog ihn von Lisa weg.

«Mensch, komm vom Tisch 'runter«, sagte er grob.»Nach vier Jahren kannste mal Platz machen für die anderen. Und reiß dich zusammen, Kerl. Wennste dir die Augen ausheulst — die können wir dir nicht ersetzen.«

«Du Rindvieh, du erbärmliches«, weinte Schwabe. Er umarmte Baumann, küßte ihn auf die Backe und drückte ihn an sich.»Du hast es nicht geglaubt, nicht wahr. Du hast es nicht geglaubt?«

«Ich kenne doch unseren Professor, Mensch. Natürlich war das klar. Aber du hast nie daran geglaubt, du Pflaume.«

Schwabe nickte.»Ich habe es nie für möglich gehalten. Und nun so etwas, so etwas.«

Er rannte aus dem OP wie ein Junge, der einem davonschwebenden

Luftballon nachjagt.

Professor Rusch sah vom Vorbereitungsraum aus herein. Er hatte durch die offene Tür alles mit angehört, während er sich für die nächste Operation wusch.

«Jetzt sollte man seine Frau kommen lassen«, sagte er.

Lisa schüttelte den Kopf.»Ich weiß etwas Besseres, Walter. Ich habe nur auf diesen Augenblick gewartet.«

Das deutsche Volk stand einen Augenblick fassungslos vor den über Nacht prall gefüllten Geschäften. Es hatte pro Kopf 40 neue Deutsche Mark in der Hand und eine unbezwingbare Kauflust im Herzen. Nach der Auszahlung des nächsten Gehaltes und Lohnes in der harten Währung begann dann auch ein Sturm auf die Geschäfte, der in die Geschichte des Wiederaufbaus als >Freßwelle< einging.

Aber mit einer äußeren Gesundung allein war es nicht getan Ein Hausputz erfaßt nicht nur den Fußboden, wo man ihn sieht, sondern er fegt auch die Ecken leer. Er kehrt die Spinnweben weg und die Überreste vergangener Tage.

Professor Dr. Walter Rusch erhielt ein Schreiben. Es war dienstlich, knapp und enthielt eine Vorladung zur Entnazifizierung. Der Termin für eine öffentliche Verhandlung in Würzburg war bereits angesetzt.

«Entnazifizierung?«sagte Rusch und legte die Vorladung auf seinen Tisch zu den Röntgenplatten.»Das ist doch wohl wieder ein Irrtum wie in Darmstadt. Sie müssen doch die Akten haben.«

Er schrieb nach Würzburg, schilderte seinen Fall und erhielt postwendend eine Antwort.

«Die Entscheidungen des amerikanischen Gerichtes im Internierungslager Darmstadt sind für uns nicht bindend. Sie haben sich zum angegebenen Termin.«

«Und es erhebt sich wieder das stolze deutsche Haupt.«, sagte Lisa Rusch, geborene Mainetti, als sie den Brief abheftete.»Wir haben wieder Brot und Butter, Beamte und Bürokratie. Es wird nicht mehr lange dauern, und die Kanonen kommen auch wieder.«

«Um Himmels willen, Lisa. Wenn das möglich wäre. Ich würde sofort einen Ruf nach Amerika annehmen.«

«Dann wäre es gut, schon jetzt die Koffer zu packen. «Lisa zeigte auf die erste Seite einer Zeitung.»Man riecht zwischen den Zeilen schon den Schwefel.«

Eine Woche später fuhren sie nach Würzburg zur Verhandlung vor der Entnazifizierungskammer. Professor Rusch hatte einen schwarzen Anzug angezogen, als gehe er zu einem Fest oder zu einer Beerdigung. Baumann fuhr den neuen Wagen, den sich Rusch gekauft hatte. Auf dem vierten Sitz saß Erich Schwabe. Lisa hatte darauf bestanden, ihn mitzunehmen, dazu eine Fülle von Fotos und Röntgenbildern.

«Wir wollen ihnen zeigen, was du getan hast, während die anderen marschiert sind und gesungen haben >Es zittern die morschen Knochen<. Diese Anklage hat ein Idiot erhoben.«

Die Verhandlung fand in einem mittelgroßen Zimmer statt, das kahl war bis auf einen Tisch und einige Stühle. Hinter dem Tisch saßen wichtig dreinblickende Herren, die Professor Dr. Rusch wie ein Wundertier bestaunten und mit einer Handbewegung — gleich drei machten sie mit deutlich sichtbarer Jovialität — aufforderten, Platz auf einem Stuhl am Tisch zu nehmen.

«Zu gütig«, sagte Rusch und blieb stehen, stützte sich auf die Lehne des angebotenen Stuhles und sah auf seine Richter hinab. Das machte einen fatalen Eindruck. Nichts beleidigt einen zu Höherem berufenen Deutschen mehr als der Stolz des Gegners.

Die einstündige Verhandlung verlief nicht sehr zufriedenstellend. Man verlas die Anklage, und Professor Rusch erwiderte darauf:»Al-les Blödsinn.«

«Erlauben Sie mal«, rief der Vorsitzende.»Wir haben hier Dokumente.«

«Sie haben Aussagen. «Professor Rusch nickte zu dem Tisch hin, auf dem ein dickes Aktenstück lag, mit einem Etikett, auf dem sein Name stand.»Sie lesen mir da vor: Bei einer Aktion >Heldenklau< soll ich selbst eine Reihe Gesichtsverletzter zur Entlassung vorgeschlagen haben. Ja, auf meinen Antrag hin soll diese Aktion überhaupt erst angelaufen sein, obwohl die Speziallazarette ausgenommen waren. Und von wem stammt diese Aussage? Von einem Oberst a.D. Paul Mayrat. Protokolliert bei dessen Antrag auf Pension. Als Zeuge gegengezeichnet von einem Dr. Fred Urban. «Professor Rusch beugte sich etwas vor.»Meine Herren, wenn ich den schweinischen Charakter dieser >Herren< hätte, könnte ich Ihnen jetzt etwas erzählen. Aber wozu? Nur eine Frage: Wo ist dieser Dr. Urban jetzt?«

«Fragen stellen wir, Herr Professor«, antwortete der Vorsitzende der Entnazifizierungskammer steif.»Im übrigen tut dies nichts zur Sache. «Er blätterte in dem Aktenstück.»Sie bestreiten diese Ihnen zur Last gelegte Handlung?«

«Bestreiten? Ich lache darüber.«

«Das ist wohl nicht der richtige Weg der Wahrheitsfindung. «Der Vorsitzende sah Rusch ernst an.»Sie waren PG?«

«Nein.«

«Warum nicht?«

«Aus dem gleichen Grunde, aus dem auch Sie nicht PG gewesen sind.«

«Das ist keine Antwort.«

«Aber eine Feststellung.«

Der Vorsitzende blätterte wieder in den Akten.»Wie wir wissen, standen Sie sogar unter dem Verdacht, maßgeblich am Euthanasieprogramm beteiligt gewesen zu sein.«

«Aber meine Herren, das ist doch längst geklärt«, rief Rusch.»Nicht ich — ein mir bekannter Namensvetter. Die Amerikaner haben das bereits vor einem Jahr.«

Der Vorsitzende hob die Hand.»Ja, wir wissen das. Sonst stünden Sie ja auch nicht hier, sondern vor dem Strafrichter. Aber.«

«Es ist lächerlich, dieses ganze Affentheater«, unterbrach ihn Rusch grob.»Entscheiden Sie, wie Sie wollen. Ich werde mir meine künftigen Schritte vorbehalten. Für mich können über 500 Gesichtsverletzte aussagen.«

«Sicherlich«, sagte einer der Beisitzer. Er war dick und gut genährt und trug zur Feier des Tages einen silbergrauen Schlips.»Aber sagen Sie mal, sind diese Gesichtsverletzten nicht einzuordnen in die Gruppe der Kopfverletzten? Und sind nicht die meisten Kopfverletzten ein bißchen plemplem?«

Rusch starrte den Sprecher an, als habe dieser ihn in hohem Bogen angespuckt. Dann wandte er den Blick zu dem Vorsitzenden und sah, daß dieser durchaus nicht empört war, sondern offensichtlich eine Antwort erwartete.

«Guten Tag, meine Herren«, sagte Rusch steif.»Ich kann meine Zeit, die meinen Verletzten gehört, nicht für dummdreiste Hirne opfern.«

Der Vorsitzende sprang auf, als Rusch sich umdrehte und aus dem Zimmer gehen wollte.

«Sie können doch nicht einfach die Spruchkammer verlassen«, rief er.

«Sie sehen, ich kann es. Und ich weigere mich sogar, vor diesem Gremium auch nur noch eine einzige Aussage zu machen.«

«Unerhört«, rief der Vorsitzende. Er wartete, bis Rusch hinter sich die Tür zugeworfen hatte, und sah dann hinüber zu Lisa Rusch, Baumann, Schwabe und den Zuhörern.»Die Kammer wird unter diesen Umständen in Abwesenheit des Geladenen beschließen müssen«, sagte er laut.

Der Mann mit dem Silberschlips schüttelte den Kopf.»Die sind alle gleich, die hohen Tiere. Der Rusch ist wie der Sauerbruch. Der soll in Berlin auch einfach die Spruchkammer verlassen und noch was ganz anderes gesagt haben. Die haben alle 'n großen Tick.«

Eine halbe Stunde lang verhandelte Dr. Lisa Rusch dann für ihren Mann.

«Ihr Gatte hatte bei seiner überragenden Intelligenz wie kein anderer die Möglichkeit zu übersehen, welchem verbrecherischen Regime er diente«, sagte der Vorsitzende.»Und er diente ihm trotz dieser Erkenntnis.«

«Er half den Gesichtsverletzten. Er schuf ihnen neue Gesichter, er holte sie zum Leben zurück. Er war nur Arzt — ist es eine Schuld,

Hunderten zu helfen?«

«Wir erkennen das ja auch an, was wollen Sie denn?«Der Vorsitzende klappte das Aktenstück zu.»Wäre dem nicht so, käme Ihr Mann nicht so leicht davon.«

«Weil er operierte?«fragte Lisa starr vor dem Unfaßlichen.

«Weil er dem Regime diente mit seinem Können.«

«Er hat den Ärmsten der Armen, den grausamsten Opfern des Krieges, neue Gesichter geschenkt.«

«Das ist die eine Seite. Gut, aber die andere: Zunächst war er ja wohl mit seinem berühmten Namen ein Aushängeschild für Verbrecher.«

«Dann hätte er also sagen sollen: Nein, ich operiere nicht. Ich lasse diese grausam Verstümmelten so herumlaufen, wie sie sind. Ich kümmere mich einen Dreck um die Menschlichkeit, um meinen ärztlichen Eid, um meine Pflicht. Ich bekämpfe dieses Hitler-Regime, indem ich die Verstümmelten verstümmelt lasse. Ich sabotiere den Staat mit den Fratzen der Gesichtslosen. Wäre es so richtig gewesen?«schrie Lisa.

Der Vorsitzende der Spruchkammer sah sie nur starr und sprachlos an.

Aber dann trat Lisa erst richtig in Aktion. Sie zeigte die Reihenfotos der Operationen an den zerstörten Gesichtern, sie zeigte Briefe, sie erklärte Krankenberichte, sie beschwor die Wahrheit über die >General-von-Unruh-Aktion< auf Bernegg und bewies die Rettung von über hundert Verwundeten. Nur an die >Ehre< des ehemaligen Obersten Mayrat und des Oberarztes Dr. Urban konnte sie nicht tasten. Oberst a.D. Mayrat hatte einen Schwager, den man zum Landgerichtspräsidenten ernannt hatte, und Dr. Urban wiederum war ein Freund Mayrats.

«Es genügt auch so«, sagte der Vorsitzende zugeknöpft.»Der Spruchkammerentscheid wird Ihnen zugestellt. «Er klemmte das Aktenstück unter den Arm.

Dann schob er seinen Stuhl zurück und ging steif an Lisa vorbei aus dem Zimmer.

Baumann umklammerte wütend die Stuhllehne vor sich.»Der Deutsche ist wieder satt, man merkt es«, sagte er heiser.»Und ein satter Deutscher ist seine eigene größte Gefahr.«

Professor Dr. Rusch wurde in die Gruppe V der Entlasteten eingestuft. Er las den Entscheid gar nicht, sondern legte ihn zu alten Röntgenbildern, die für das Archiv ausgesucht worden waren.

Auch Famulus Baumann verließ nun das Schloß Bernegg. Er wollte in Bonn zu Ende studieren.»Meine klinische Zeit aber mache ich bei Ihnen, Herr Professor«, sagte er zum Abschied.»Und wenn ich eine nicht zu große Flasche bin, wäre es schön, wenn Sie mich später als Assistent anforderten.«

«Machen wir, Baumann. «Rusch gab ihm eine Empfehlung an den Ordinarius in Bonn mit. Seit einem Monat war auch Rusch wieder als a. o. Professor in die medizinische Fakultät der Würzburger Universität aufgenommen worden. Im Wintersemester sollte er mit Vorlesungen über Wiederherstellungschirurgie beginnen.»Ich hoffe, Sie eines Tages als Oberarzt zu sehen.«

«Denken Sie daran, daß auch Fritz Adam mit im Rennen liegt. Er hat sein Staatsexamen hinter sich.«

«Es ist merkwürdig«, sagte Rusch mit spürbarer Ergriffenheit.»Ihr kommt alle zu mir zurück.«

Baumann senkte den Kopf.»Weil Sie im wahrsten Sinne des Wortes unser Vater sind, Herr Professor, unser aller Vater.«

So wurde Erich Schwabe allmählich sehr einsam im Lazarett, das jetzt offiziell >Versorgungskrankenhaus Schloß Bernegg< hieß. Die Verwaltung hatte ihn als Gärtner und Hausmeister übernommen, er bekam ein kleines Gehalt bei freier Wohnung und freier Kost und galt als Angestellter des Landes Bayern.

Er hatte sogar einen eigenen Wagen: die >Geheimwaffe Berneggs<, den uralten belgischen Beutewagen, den Fritz Adam im Schuppen abgestellt hatte. Bei seinem letzten Besuch hatte er den Vergaser wieder zurückgebracht, den er damals der Krankenschwester Dora Graff zur Aufbewahrung gegeben hatte. Schwabe montierte ihn wieder ein, wusch den Motor mit Dieselöl, kratzte den Rost ab, ließ die Zylinder in einer Werkstatt nachschleifen und fuhr dann unter dem Gejohle der Patienten seine erste Runde um das Schloß.

In Bernegg traf er, wenn er einmal etwas einkaufte, nie mit seiner Mutter oder Ursula zusammen. Er hörte nur, daß seine Frau eine gutgehende Schneiderei mit vier Gehilfinnen habe und daß seine Mutter das Hausgrundstück in Köln verkauft habe, um mit dem Erlös aus dem teuer bezahlten Ruinenplatz Bauland in Bernegg zu erstehen. Der Käufer in Köln war Karlheinz Petsch. Er wollte den ganzen Häuserblock wiederaufbauen, mit großen Läden und luxuriösen Appartementwohnungen. Er konnte sich diesen Plan leisten. Petsch war Millionär geworden. Er besaß ein Bauunternehmen mit 167 Arbeitern, mit modernen Kränen und Betonmischern, Schalgerüsten und Aufzügen.

Erich Schwabe kniff die Lippen zusammen. Aha, dachte er. Noch immer der Petsch. Ein reicher Mann also. Natürlich, so etwas imponiert den Frauen.

Er fuhr zum Schloß zurück und kümmerte sich weiter um seine Blumen, um die Vögel und das zahme Reh, das er großgezogen hatte. Im Winter 1947/48 hatte er es halb erfroren hinter der Schloßmauer im Graben gefunden. Jetzt lief es frei im Park herum und folgte Schwabe bei seinen Arbeiten wie ein Hund.

Eines Tages holte ihn eine Ordensschwester aus dem Gemüsegarten.»Ein Herr möchte Sie sprechen, Herr Schwabe«, sagte sie.

«Ein Herr? Mich?«Schwabe tauchte die schmutzigen Hände in die Gießkanne und wischte sich die feuchten Finger an der grünen Gärtnerschürze ab.»Wer ist es denn?«

«Er hat seinen Namen nicht genannt.«

«Ein Ehemaliger von uns?«Schwabe dachte an Adam oder Hertz, Baumann oder den Berliner. Der Wastl war es nicht, der hätte gar nicht gefragt.

Die Schwester schüttelte den Kopf.»Nein. So sieht er nicht aus. Er hat ein narbenloses Gesicht.«

An der Hecke des kleinen Schloßfriedhofs sah Schwabe mit dem Rücken zu sich den wartenden Mann stehen. Er trug einen hellbeigen, eleganten Sommeranzug und hatte einen weißen Panamahut auf dem

Kopf. Die Querfalten in seinem Rock zeigten, daß er mit dem Auto gekommen war. Sogar weiße Schuhe hatte er an. Während er an der Friedhofsecke stand und über die Gräber blickte, schlug er mit den zusammengefalteten, hellen Schweinslederhandschuhen ungeduldig gegen seinen rechten Schenkel.

«Das ist er?«fragte Schwabe. Die Schwester nickte.»Es ist gut. Danke schön, Schwester.«

Schwabe wartete, bis die wehende weiße Haube zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann kam er langsam näher und stellte sich hinter den wartenden Mann.

«Was willst du hier?«fragte er laut.

Der elegante Besucher fuhr herum. Er starrte Schwabe an, dann wurde sein Gesicht ungläubig und geradezu entgeistert.

«Mensch, Erich — du siehst ja aus wie früher«, sagte Karlheinz Petsch mit bebender Stimme.»Nur noch 'n paar Kratzer in der Haut. Mensch — das ist ja nicht zu fassen!«

«Was willst du hier?«wiederholte Schwabe grob.»Bist du gekommen, damit ich dir die Visage einhaue, du Schwein?«

Petsch trat zwei Schritte zurück. Seine Backenmuskeln drückten sich hart durch die braune Haut. Man sah, daß er sich bezwang, nicht als erster zuzuschlagen.

«Nun blas die Luft ab, Erich«, sagte er stockend.»Zugegeben, es war nicht alles so, wie's sein sollte. Aber wer hat denn schon daran gedacht, daß du jemals wieder. Also, Schwamm darüber. Und außerdem war Krieg, Junge, und wir saßen bis zum Hals in der dicksten Scheiße. Und deine Frau hatte Angst und war einsam und war verzweifelt. Mein Gott, da dreht man durch und macht Dinge, die man hinterher nicht mehr versteht. Und sie hat mich ganz schön zur Minna gemacht, deine Uschi. Erinnerst du dich an die aufgerissene Backe? Da hat mir das kleine Luder.«

«Hau ab«, sagte Schwabe angeekelt.

«Ich habe mit ihr nichts mehr zu tun. Glaub es mir. Ich habe ihr damals nur gesagt: Wenn der Erich kein vernünftiges Gesicht mehr bekommt und du drehst durch, Mädchen — dann komm zu mir. Ich nehme dich immer. Auch mit dem Kind. Das habe ich gesagt, und das kannst du mir nicht übelnehmen, Erich. Wer hat denn daran gedacht, daß du. «Petsch schluckte vor Erregung.»Und nun siehste wieder aus wie früher. Nun ist ja alles hundertprozentig klar, ich bin auch nur gekommen, um dir zu sagen, daß ich dein Haus.«

«Es gehört meiner Mutter.«

«Ich wollte dir einen Vorschlag machen, Erich. «Petsch holte aus der Tasche einen Bauplan und faltete ihn auseinander. Es zeigte eine moderne, vielfenstrige Häuserreihe im amerikanischen Stil. Er hielt Schwabe die Zeichnung hin.»Sieh dir das an. Das gibt ein neues Einkaufszentrum in Köln. Läden und Wohnungen, ein Selbstbedienungsladen, wie bei den Amis, der erste in Köln. Junge, wir müssen die Zukunft vorausspüren und ein Jahr früher dasein als die anderen. Und nun hör zu. Der ganze Klimbim steht auch mit auf deinem Grundstück. Du kommst nach Köln zurück, nimmst die Ursula unter den Arm, ziehst in eine der neuen Wohnungen, wenn sie fertig sind, im Augenblick nimmste dir 'ne alte Villa in Lindenthal, die ich dir besorgen kann. Und du nimmst die ganzen Verglasungen in die Hand, die Mosaikarbeiten, die Böden, den ganzen Innenausbau des Blocks. Meine Firma macht die Hochbauten, die Betonsachen, den Putz. Und in zwei Jahren stehen wir da wie Wool-worth. Was hällste davon?«

«Hau ab«, sagte Schwabe heiser.»Oder soll ich meine Hacke holen?«

«Erich, du Vollidiot«, schrie Petsch und faltete den Plan zusammen.»Du kannst doch nicht wegen einer einzigen Dummheit das ganze Leben deiner Frau und deines Kindes versauen. Mensch, man sollte dir das Gesicht wieder zu Brei schlagen!«

Erich Schwabe wandte sich ab und ließ Petsch stehen. Er ging in seinen Gemüsegarten zurück, bückte sich, drückte die neuen Salatpflanzen in die Pflanzlöcher und begoß sie dann, damit sie gut anwuchsen. Er sah sich nicht mehr um, auch nicht, als er Schritte hinter sich hörte, die am Zaun des Gartens innehielten, wartend, und dann weiterknirschten, dem Ausgang zu, über die von Schwa-be säuberlich geharkten Kieswege.

Bis zur Dunkelheit blieb er im Garten stehen und ließ sein Essen, das ihm von der Krankenhausküche auf sein Zimmer gebracht wurde, kalt werden. Als der Mond durch die Bäume brach, ging er am Teich spazieren, immer rund herum wie ein Esel in einer Oase, der aus dem Wüstenbrunnen Wasser ziehen muß.

Rusch, Lisa und Karlheinz Petsch beobachteten ihn vom Fenster des Chefzimmers aus. Petsch war erregt und nagte an der Unterlippe.

«Sie müssen ihn zur Vernunft bringen, Frau Doktor«, sagte er flehend.»Wie lange soll das noch so weitergehen? Ich möchte sagen, es ist fast ein Verbrechen an Ursula. Und das Kind? >Alle haben einen Papi, warum ich nicht?< hat es gestern zu mir gesagt. >Kannst du nicht mein Papi sein?< — Frau Doktor, das Herz dreht sich einem 'rum.«

«Er reagiert auf Argumente nicht mehr. «Professor Rusch wandte sich vom Fenster weg und trank in kleinen schnellen Schlucken sein Glas Cognac leer.»Man kann ihm mit seelischen Regungen nicht beikommen, es ist, als habe er überhaupt kein Gefühl mehr für menschliche Belange. Er ist irgendwie ausgebrannt, so dumm das klingt. Er ist seelisch tot. Er hat seine Blumen, seine Pflanzen, seine Tiere, sein zahmes Reh — es ist wie eine mittelalterliche Geschichte: Der Einsiedler auf dem Berg. Ich glaube nicht, daß man ihn locken kann mit großen Plänen oder mit Hinweisen auf die seelische Marterung seiner Frau und seiner Mutter. Dann schaltet er einfach ab.«

«Aber so kann es doch nicht weitergehen«, rief Petsch.»Langsam aber sicher geht Ursula zugrunde. Und es wird von Tag zu Tag schlimmer, je mehr das Kind denken lernt und Fragen stellt.«

Lisa schwieg. Ein paarmal sah Rusch zu seiner Frau hinüber, und auch Karlheinz Petsch suchte stumm ihren Rat. Aber sie sagte nichts. Sie sah aus dem Fenster hinaus auf den im Mondschein herumgehenden einsamen Mann, sah, wie seine dunkle Silhouette sich im Wasser des Teiches flimmernd spiegelte und wie das Mondlicht silbern über die Schultern floß und über die blonden Haare, die jetzt weiß leuchteten wie Silberfäden.

«Weißt du etwas?«sprach Rusch seine Frau direkt an.

Lisa zuckte zurück, wie aus weitentfernten Gedanken gerissen.

«Ich? Nein. Wieso ich? Wir bekommen ab Montag eine neue Putzfrau.«

Petsch starrte Rusch verzweifelt an.»Wir denken an ein unlösbares Problem, und jetzt heißt es, es kommt eine neue Putzfrau. Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben, Frau Doktor?«

«Eine gute Putzfrau ist sehr wichtig.«

«Zum Teufel mit Ihrer Putzfrau«, schrie Petsch. Nachdem er es ge-schrien hatte, sah er Rusch an.»Die Nerven«, sagte er stockend.»Verdammt, ich habe auch nur Nerven. Und das hier haut mich um. Sie müssen verzeihen, es war nicht so gemeint. Es ist nur — weil ich ja irgendwie mitschuldig bin. Und ich kann nun nicht helfen. Das ist scheußlich, Frau Doktor.«

Lisa nickte und schloß das Fenster. Mit einem festen Ruck zog sie die Gardinen vor, als wolle sie den Vorhang endgültig über die Szene ziehen.

«Warten wir die Putzfrau ab«, sagte sie.

Rusch sah Lisa nachdenklich an. Er wußte nicht, welchen Sinn die Worte seiner Frau hatten, aber er wußte, daß sie nicht aus Interesselosigkeit gesprochen worden waren.

«Wann kommt sie?«fragte er sogar.

«Ab Montag.«

«Die Putzfrau?«brüllte Petsch.

«Ja. Und es könnte sich vieles ändern.«

«Vielleicht bin ich ein Idiot«, sagte Petsch,»aber jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr.«

«Trösten Sie sich. «Professor Rusch lachte gequält.»Ich auch nicht.«

Am Montag, morgens um 8 Uhr, erschien die Putzfrau auf Schloß Bernegg. Es war ein herrlicher Sommertag mit einem wolkenlosen Himmel und einer goldenen Sonne. Ein Tag, der heiß zu werden versprach.

Erich Schwabe arbeitete bereits in den Blumenbeeten. Er sprengte sie, bevor die Hitze zu groß wurde.

«Guten Tag«, sagte die neue Putzfrau zu Erich Schwabe. Sie war eine Frau Mitte Dreißig, drall und klein, mit langen braunen Haaren und einem rosigen, runden Gesicht. Sie gab Schwabe die Hand und drückte sie kräftig.

«Guten Tag«, sagte Schwabe. Dann blickte er zur Seite.

Neben der Putzfrau stand ein Kind. Ein kleines, blondlockiges Mädchen. Die großen blauen Augen sahen den Gärtner kritisch an und musterten ihn, ob er ein guter Onkel sei. Das Mädchen trug ein hellblaues kurzes Popelinkleidchen. Es sah aus wie eine zum Leben erwachte Puppe.

«Es ist das Kind einer Bekannten«, sagte die Putzfrau.»Ich muß es mitnehmen, weil die Mutter im Krankenhaus liegt. Und der Vater. Na ja, ich erzähle Ihnen das ein andermal. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, könnte die Kleine hier bei Ihnen im Garten spielen, solange ich arbeite. Sie heißt Barbara.«

«Barbara«, sagte Schwabe leise.»Aber nein, es macht mir nichts aus. Im Gegenteil. Sie kann ruhig hierbleiben, und ich zeige ihr die Blumen und die Käfer und die Vögel und was es hier alles gibt im Garten. Nicht wahr, Barbara?«

«Ja, Onkel«, sagte die Kleine und streckte Schwabe die Hand hin.

«Sie hat schon Freundschaft mit Ihnen geschlossen, sieh einmal an«, rief die neue Putzfrau.»Ihr werdet euch gut vertragen, was?«

«Sicherlich. «Schwabe legte den Schlauch hin und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Dann gab er dem Mädchen die Hand.

«Ich bin der Onkel Erich«, sagte er, merkwürdig stockend.

Die kleine Barbara nickte.»Komm, lauf mit mir zum Wasser«, rief sie und lief schon weg zum Teich.»Komm, Onkel Erich, komm.«

Und Erich Schwabe schob den Hut in den Nacken und lief ihr nach. Zufrieden ging die Putzfrau zum Block B zurück.

Die junge Sonne brach gleißend durch die Baumwipfel. Es wurde wirklich ein schöner Sommertag.

Загрузка...