Kapitel 2

Das Gesicht Schwabes lag frei vor Dr. Lisa Mainetti. Sie starrte auf das, was einmal ein Mensch gewesen war, und schluckte ein paarmal. Hinter ihr stand Professor Rusch, sie merkte es erst, als sie seinen Atem in ihrem Nacken spürte.

Sie wußte, daß er sie in diesem Augenblick ansah. Seit zwei Jahren behandelte sie in Bernegg die Gesichtsverletzten, seit zwei Jahren stand sie dreimal in der Woche im Operationssaal und flickte die zerstörten Gesichter zurecht, schuf neue Unterkiefer, neue Nasen, neue Wangen und Kinne, neue Lippen und Stirnpartien. Sie verpflanzte Rollappen und gestielte Lappen, sie setzte Knochenspäne ein und rang in millimetergroßen Stücken dem Körper neues Lippenrot ab, sie hatte Fettgewebe zur Polsterung von Kinn und Wangen transplantiert. Aber immer war es ein Schock für sie gewesen, wenn die >Neuen< kamen, und wenn sie blutige Höhlen sehen mußte, die einmal ein Gesicht waren, das lächeln konnte, das geliebt worden war, in dem sich die Seele spiegelte und Glück und Leid sich gleichermaßen eingezeichnet hatten.

So war es auch heute. Sie blickte in ein Gesicht, in dem nur noch die Augen standen, und etwas Dickes, violett Rotes schwamm in einer mit Blutklumpen angefüllten Höhle: die Zunge.

Lisa Mainetti biß die Zähne aufeinander. Dann hatte sie sich aber sofort wieder gefangen, sie legte beruhigend beide Hände auf die Brust Erich Schwabes.

«Sie bleiben auf meiner Station«, sagte sie, und eine merkwürdige mütterliche Zärtlichkeit war in ihrer Stimme.»Es ist alles halb so schlimm. Sie können mich sehen?«

Erich Schwabe nickte. Undeutlich, wie durch einen Schleiervorhang, nahm er das schmale Gesicht der Ärztin wahr und dahinter den blonden Kopf des Chefarztes. Er sah den Zipfel einer Schwesternhaube, und ganz in der Ferne einen weißen Schrank mit blitzenden Instrumenten.

Ich kann sehen, dachte er unendlich glücklich. Sie haben mich nicht belogen! Meine Augen leben! Nun ist wirklich alles nicht so schlimm… ein paar Narben im Gesicht, wen wird das stören? Ursula bestimmt nicht. Es gibt so viele Männer mit Narben… und bei den Akademikern heißt's sogar: Er ist interessant.

In seinem Kopf summte es. Die Schwerelosigkeit, die nach der Injektion seinen Körper wie auf einer Schaukel trug, flimmerte in seinen Augen und ließ die Konturen der Gestalten verschwimmen. Nicht ohnmächtig werden, dachte Schwabe. Nein, nicht weggehen aus diesem herrlichen Zustand, sehen zu können.

Dr. Mainetti nahm den Laufzettel, den der Sanitäter ihr hinreichte. Dann blickte sie wieder auf die blutverkrustete Fläche, in der einsam, als einziges Leben, die Augen standen, umgeben von dicken Säcken eines schon blaugelben Hämatoms.

«Sie sind verheiratet«, sagte Lisa Mainetti und gab den Zettel an den Sanitäter zurück.»Übermorgen, wenn wir uns hier eingelebt haben, werden wir Ihrer Frau schreiben, nicht wahr?«

Schwabe winkte mit der Hand ab.»Zuerst meiner Mutter, Frau Doktor«, sagte er.

Professor Rusch und Lisa sahen auf die dick geschwollene Zunge, die sich zuckend hin und her bewegte. Dort, wo einmal die Lippen gewesen waren, zuckte das zerfetzte Fleisch. Er spricht, dachte Lisa, und plötzlich schauderte es sie. Und seine nicht mehr vorhandenen Lippen formten die Worte, aber es war nur ein Röcheln und Zischen, das aus der Mundhöhle quoll, ein tierhaftes Lautgeben, zu dem die Zunge den Takt schlug.

Erich Schwabes Augen wurden weit. Jetzt, ohne Verband, hörte auch er die schrecklichen Töne. Er starrte den Chefarzt an, und plötzlich weinte er wieder hemmungslos wie ein Kind, bis ihn die Besinnung verließ.

Lisa Mainetti säuberte die Wunden und legte dann neue Lagen Mull auf das zerstörte Gesicht. Sie machte einen Verband, der die Augen freiließ. Es war nur ein kleiner Sehschlitz, denn auch die Stirnpartie war wegrasiert worden bis auf den blanken Knochen.

«Zimmer 3«, sagte sie, als man Schwabe zurück auf die Trage hob. Während er hinausgeschafft wurde, schob man einen neuen Verwundeten auf den OP-Tisch. Einen Kieferschußbruch mit zerfetztem Gaumen und halb abgerissener Zunge.

«Da hast du aber noch einmal Glück gehabt, mein Junge«, sagte Professor Rusch und kontrollierte die Zerstörung der Knochen.»In ein paar Monaten kannst du wieder Eisbeine kauen.«

In der Nacht noch wurden die wichtigsten Fälle geröntgt, die Platten entwickelt und zum Professor gebracht. Die Sanitäter wußten das. Bei Neuzugängen gab es keine Nachtruhe.»Sie haben für uns die Köpfe hingehalten!«schrie Rusch einmal, als sich die Schwestern beschwerten.»Ich kann erwarten, daß ihr dafür einmal eine Nacht opfert!«

Der einzige, der sich störrisch zeigte, war Dr. Urban. Mißmutig saß er vor den Röntgenplatten, trank einen Cognac und hörte nur halb zu, was Rusch nach dem Studium der Aufnahmen anordnete.

«Als ob die nicht einen Tag Zeit hätten«, brummte er und gähnte.»Nachher liegen sie doch jahrelang herum, bis ihre Visage gerichtet ist.«

«Bei manchen gelingt es nie«, sagte Lisa Mainetti.»Es gibt Menschen, die haben von Geburt an kein Gesicht.«

Wortlos erhob sich Dr. Urban und verließ das Chefzimmer. Professor Rusch wartete, bis er die sich schnell entfernenden Schritte auf dem Gang hörte.

«Du machst so lange, bis er dich der Gestapo meldet«, sagte er.

«Hast du Angst?«fragte Lisa zurück.

«Ja«, sagte er ehrlich.

«Aber wir haben den Krieg doch bald verloren.«

«Bald! Ja!«Rusch atmete schwer.»Aber bis dahin. Manchmal kann ich nicht mehr, Lisa. manchmal denke ich.«

Er verstummte, legte den Kopf zurück an die Sessellehne und bedeckte die Augen mit beiden Händen.

Ganz still war es im Raum, so still, daß man deutlich das saugende Geräusch hörte, als Lisa Mainetti an ihrer Zigarette zog.

Durch seine Sehschlitze erkannte Erich Schwabe, daß es Morgen war. Er lag in einem kleinen Zimmer, das Fenster war offen, und die Gardinen blähten sich im Luftzug, der in den Raum drang. Drei Blumentöpfe standen auf der hölzernen, weiß lackierten Fensterbank. Zwei Alpenveilchen und eine große Kaktee, die kleine Knospen angesetzt hatte.

Schwabe bewegte vorsichtig den Kopf zur Seite und richtete sich auf. Er war allein im Zimmer. Ganz dicht hob er den linken Arm an die Sehschlitze des Verbandes und sah auf seine Armbanduhr. Sie tickte noch und zeigte die neunte Morgenstunde.

Langsam hob er die Beine aus dem Bett, setzte sich auf. Sein Herz klopfte wie wahnsinnig. Als er glücklich stand, nach über einer Woche zum erstenmal wieder stand, zitterten ihm die Knie und knickten ein. Er mußte sich auf den Nachttisch stützen. Die ersten Schritte waren wie ein Taumeln, er ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, und tastete sich dann an der Wand entlang.

Eine ungeheure Energie trieb ihn, ein Wille, der so übermächtig war, daß er die Schmerzen kaum merkte, die in seinem schwachen, pendelnden Kopf wieder aufstachen.

Ich will wissen, wie ich aussehe! Dieser eine Gedanke beherrschte Schwabe. Irgendwo mußte hier doch ein Spiegel sein oder etwas anderes Blankes, in dem ich mich spiegeln kann.

Als er an keiner der Wände einen Spiegel gefunden hatte, selbst nicht über dem Waschbecken, schwankte er zum Fenster. In einer Scheibe mußte er sich erkennen können.

Aber auch das Fenster spiegelte nicht. Die Scheiben waren aus Milchglas.»Sie denken an alles«, sagte Schwabe und beugte sich aus dem Fenster. Auf den Wegen gingen einige Verwundete spazieren, ein Arbeitskommando kehrte mit Reisigbesen das Herbstlaub von den Wiesen und fuhr es mit Handwagen ab. Die Gesichter waren mit Leukoplaststreifen überklebt, sie sahen eher clownhaft als ekelerregend aus, eher wie eine Erinnerung an eine fröhliche Kirchweih.

Sie haben recht, es ist nicht so schlimm, dachte Schwabe und wandte sich ins Zimmer zurück. Eine freudige Hoffnung war in ihm. Er legte sich wieder ins Bett und nahm im Liegen Haltung an, als Dr. Lisa Mainetti zur Morgenvisite kam.

«Das lassen Sie mal sein«, sagte sie und deutete auf die angelegten Arme Schwabes.»Für Sie ist der Krieg aus. Sie haben genug gegeben für Führer und Vaterland.«

Sie setzte sich an sein Bett, kontrollierte den Verband und sah Schwabe nachdenklich und fragend an. Dann nahm sie einen Block und Bleistift und schob beides Schwabe hin.

«Sie sind aufgestanden, nicht wahr?«

«Frau Doktor, ich… ich wollte nur.«, kritzelte Schwabe auf das Papier. Seine Hand zitterte.

«Sie wollten nur einen Spiegel suchen oder in die Fensterscheibe sehen.«

«Ja«, schrieb er.

«Aber warum denn? Haben Sie noch nie einen verbundenen Kopf gesehen?«

«Und was ist unter dem Verband, Frau Doktor?«

«Ihr Gesicht.«

«Aber nicht mehr ganz, nicht wahr?«

«Natürlich nicht. Sonst trügen Sie ja keinen Verband.«

«Und was. was fehlt, Frau Doktor?«

«Fehlt? Wer spricht hier von fehlen! Ein bißchen ramponiert ist alles. Haben Sie schon einmal einen Boxer gesehen, der 15 Runden lang Dresche bekommen hat?«

«Ja, aber.«

«Na also. Was heißt hier aber?«

«Eine Mine unter einem Schlitten ist kein Boxkampf, Frau Doktor.«

«In sechs Wochen werden Sie in ein anderes Zimmer kommen, zusammen mit sechs Kameraden. Sie müssen nur Vertrauen haben und fest daran glauben, daß wir alles tun, um Sie für das spätere Leben wieder zurechtzuflicken. Alle anderen Gedanken sind Mist.«

Schwabes Augen lächelten.»Sie reden wie ein Landser. Sicherlich können Sie auch fluchen.«

«Und wie!«sagte Lisa Mainetti.»Daß die Wände wackeln, mein Lieber! Und nun setzen Sie sich hin und schreiben Ihrer Frau ein paar Zeilen, da es mit dem Schreiben so gut geht. Oder möchten Sie erst Ihrer Mutter schreiben?«

Schwabe schrieb.

«Aber niemand soll kommen!«

«Auch Ihre Mutter nicht?«

Erich Schwabe wehrte mit der Hand ab. Erst muß ich wissen, wie ich aussehe, dachte er. Sie sollen nicht erschrecken, wenn sie mich sehen. In zwei oder drei Monaten werden es vielleicht nur noch ein paar Narben sein, und Ursula wird mit den Fingerspitzen darüberstreicheln und sagen: Mein armer, armer Erich… hat es weh getan.? Und er würde lächeln und sagen: Nicht der Rede wert. Macht doch ein Gesicht interessant, was, die Narben?

Als er allein war, schrieb er an seine Mutter.

«Mein liebes Muttchen!

Ich bin wieder einmal verwundet. Nun ist's das achtemal. Aber Du siehst: Unkraut vergeht nicht. Ich bin in einem deutschen Lazarett, es geht mir gut, ich esse kräftig.«

Hier stockte er und dachte an die intravenösen Traubenzuckerinjektionen und Nährklistiere, die er täglich bekam.

«.und in zwei Monaten werde ich so weit hergestellt sein, daß ich zu Euch auf Urlaub komme oder Ihr zu mir kommen könnt. Macht Euch gar keine Sorgen um mich. An Ursel schreibe ich extra. Ich küsse Dich, Muttchen, Dein Erich.«

Als er den Brief geschrieben hatte, legte er sich zurück und starrte an die Decke. Ein Zwiespalt war in ihm. Wenn es nicht so schlimm war, warum haben sie dann alle Spiegel weggenommen, dachte er. Warum haben sie Milchglasscheiben? Wir haben im Krieg schon anderes gesehen als ein verschrammtes Gesicht. Irgend etwas stimmt doch hier nicht.

Sechs Zimmer weiter saß Dr. Lisa Mainetti mit ihrem ersten Untersuchungsprotokoll dem Chefarzt gegenüber. Professor Rusch hörte zu, wie sie mit knappen Worten berichtete.

«Wie lange, denkst du, wird es dauern, bis wir den Schwabe wieder menschlich machen?«fragte er, als sie schwieg.

«Das wird kaum möglich sein.«, sagte sie leise.

«Ich meine, bis er so aussieht, daß kein Hund mehr vor ihm erschrickt.«

«Mit allen Deckungen und Plastiken, die nötig sind, mit allen Korrekturen und Ausscheidungen — mindestens vier Jahre. «Sie nahm das Protokoll und legte es zurück in ihre Stationsmappe.»Und auch dann wird er noch immer aussehen wie eine Alraunwurzel.«

«Du hast mit ihm gesprochen?«

«Ja. Aber er weiß es nicht. ich konnte es ihm nicht sagen. Nicht jetzt schon.«

«Und seine Angehörigen? Willst du mit seiner Mutter reden? Mit seiner Frau?«

«Ich werde es einmal müssen. Vor allem mit ihm natürlich. Nur nicht sofort. Er ist einer von den Menschen, die in ihr Unglück hineinwachsen müssen, um es ertragen zu können. Ich weiß noch nicht, wie ich ihm die Wahrheit beibringen soll.«

Professor Rusch ergriff beide Hände Lisas und zog sie näher zu sich heran.

«Wir kennen uns so gut«, sagte er stockend.»Und im Grunde kennen wir uns so wenig. Bitte, beantworte mir ehrlich eine Frage: Könntest du noch einen Mann lieben, der. der so aussieht wie Schwabe.?«

«Warum willst du darauf eine Antwort?«

«Sie ist wichtig, Lisa.«

«Gut. - Ja, ich könnte einen solchen Mann lieben. wenn du es wärst.«

«Danke. «Professor Rusch erhob sich abrupt. Es war, als sei eine unruhige, treibende Kraft über ihn gekommen.»Setzen wir morgen schon Schwabe auf den OP-Plan! Es war gut, was du gesagt hast… ich war einen Augenblick im Zweifel, ob man dem Mann noch helfen könnte. Jetzt weiß ich, daß alles sinnvoll ist, wenn eine Frau wirklich lieben kann.«

In der Stube B/14 hatte man endlich eine Sensation.

Der Gefreite Theodor Baum entwickelte sich unter den Augen seiner fünf Stubenkameraden zu einem medizinischen Phänomen.

Es hatte zunächst ganz harmlos angefangen. Theodor Baum kam auf Schloß Bernegg mit einem zerstörten Kinn. Ein Granatsplitter hatte ihm einen Teil glatt wegrasiert. Vor der Knochenspantransplantation überpflanzte Dr. Lisa Mainetti ihm zur Deckung des Knochens einige Weichteile. Sie nahm dazu einen schönen, kräftigen Brustlappen Baums.

Der eingepflanzte Lappen wuchs sehr gut an, aber dann zeigte sich etwas, was sowohl Lisa wie der Chefarzt mit Verwunderung beobachteten: Das transplantierte Stück schwoll dermaßen an, daß Theodor Baum nach sechs Wochen mit einem mächtigen fleischigen Kinn herumlief, das aussah wie eine verpflanzte Frauenbrust. Die Stube B/14 verfolgte die Verwandlung mit Staunen und Entzücken.

«Dös is a Ding!«sagte der Unteroffizier Wastl Feininger aus Berchtesgaden.»Dös könnt' mei Resi direkt neidisch machen.«

Paul Zwerch aus Berlin stellte mit wissenschaftlichem Ernst Beobachtungen über das Wesen eines Zwitters an.

«Halt's Maul!«schrie Theodor Baum. Er wickelte einen Schal um seinen Kopf, aber die rapide Vergrößerung des Kinns ließ sich nicht eindämmen.

In der siebten Woche schlug die Stube B/14 aus diesem Phänomen reiches Kapital. Man hatte dafür gesorgt, daß die Verwandlung des Gefreiten Baum im ganzen Lazarett bekannt wurde. Von Block A und

C kamen die Gehfähigen herüber und durften gegen einen Eintritt von zwei Zigaretten pro Mann einen Blick auf >Titten-Theo< werfen.

Waren genug Zuschauer in der Stube, löste Theodor Baum seinen Schal und ließ sein Kinn frei in der Luft baumeln. Für fünf Zigaretten durfte man es anfassen und sich an zu Haus erinnern.

«Mensch, det is ne Wolke!«rief einer, der auch durfte.

Die Stube B/14 schwamm in Zigaretten.

Da wurde Theo erneut von Dr. Lisa Mainetti in den OP befohlen.

«Nun werden wir das radikal angehen, lieber Baum!«sagte die Ärztin vergnügt.»Ich nehme an, Sie haben jetzt mindestens für ein halbes Jahr zu rauchen.«

Bei dieser Operation wurden die wuchernden Fettzellen des Brustlappens gestutzt. Das Kinn wurde aufgeschnitten, das ödematöse Fettgewebe zum Teil mit der überschüssigen Epidermis entfernt. Dann wurde das Kinn wieder geformt und vernäht. Wie ein normaler Mensch kam Theodor Baum zurück in die Stube B/14.

«Ich hab' immer so schön g'träumt, wenn ich den Theo kurz vorm Einschlafen g'sehn hab'«, sagte der Unteroffizier Feininger.»Nix gönnen s' einem im Lazarett.«

Aber der Brustlappen Theos trotzte dem chirurgischen Messer. Das Fettgewebe schwoll erneut an, und in der vierten Woche hatte Theo Baum wieder sein hängendes, brustähnliches Kinn, ein wenig kleiner und straffer, aber deshalb für die interessierten Betrachter um so attraktiver.

Der Berliner Paul Zwerch befühlte es und nickte zufrieden.

«Jugendfrisch und kräftig!«stellte er fest.»Wir müssen den Eintritt erhöhen, Kameraden!«

Diesmal kam ihnen Lisa Mainetti zuvor. Sie holte sich Theo wieder und operierte ein drittes Mal, so radikal, daß Professor Rusch kopfschüttelnd daneben stand und bemerkte:»Jetzt hat er überhaupt kein Kinn mehr!«

Aber es gelang. Der eingewachsene Brustlappen verhielt sich fort-an neutral. Das Kinn Theo Baums wurde schön und rund. Als er zur ambulanten Behandlung nach Hause entlassen wurde, kam sich die Stube B/14 verwaist vor.

«Immer reißt et uns de Besten von da Seite«, sagte Paul Zwerch melancholisch.»Wer wird uns unseren Theo ersetzen.? Jetzt fehlt uns eener, dem se ne Hinterbacke als Wange verpflanzt haben. Kinder, der war' 'n Geschäft. Einmal tätscheln — fünf lange Kippen!«

Sie wurden enttäuscht. Erich Schwabe kam auf die Stube.

Sechs Wochen hatte Schwabe auf den Augenblick gewartet, in dem er außer den Schwestern, Ärzten und Sanitätern anderen Menschen begegnen würde. An ihren Mienen würde er erkennen, wie er aussah, und sie würden ihm auch sagen, wenn er sie darum anbettelte: Das fehlt in deinem Gesicht, und da siehst du noch verbogen aus. Und er konnte sie fragen: Sagt, Kameraden — würdet ihr an meiner Stelle, so wie ich jetzt aussehe, jetzt schon meine Frau kommen lassen?

Nun war es endlich soweit. Nach fünf Operationen, in denen Professor Rusch und Dr. Lisa Mainetti ihm Weichteillappen in das Gesicht transplantiert hatten und Oberarzt Dr. Urban die Bemerkung fallenließ:»Rassisch gesehen, ist Ihre Physiognomie eine Novität in Günthers Rassenalbum.«, was Schwabe nicht verstand, wurde er von der neuen Stationsschwester Dora Graff, einer blonden 23jährigen Rote-Kreuz-Schwester, aus seinem Einzelzimmer abgeholt und durch einen langen Flur in die Stube B/14 geführt.

Wie bei den anderen Gesichtsverletzten, die er schon vom Fenster aus hatte im Garten arbeiten sehen und deren Anblick ihn beruhigt hatte, war auch sein Gesicht jetzt mit Leukoplaststreifen überklebt. Nur über das linke Ohr hatte man noch Binden gewickelt, weil die Stelle, wo die Ohrmuschel abgerissen war, näßte.

Erich Schwabe stand in der Tür der Stube B/14 und sah zu seinen neuen Kameraden hinüber. Sie saßen an einem langen Tisch am Milchglasfenster, spielten Schach oder lasen und hoben nun die Köpfe, als die Tür aufging.

Wie sehen sie mich an, forschte Schwabe in den narbigen, beklebten Gesichtern. Sind sie entsetzt? Haben sie Mitleid? Empfinden sie Ekel? Dort, der Junge, dem von der Schläfe bis zum Kinn eine runde Fleischwurst über das ganze Gesicht hängt, sieht er schrecklicher aus als ich? Soviel weiß ich schon. ein Rollappen ist das. Wenn er angewachsen ist, wird er nachoperiert und geformt. Und dort, der Mann, der gerade die Skatkarten mischt. statt einer Nase klebt ihm ein dicker Fleischkloß im Gesicht. Rundstiellappen nennen sie das. Aus dem Halsbereich wird er genommen und dann weiter auf die Nase verpflanzt. Dr. Lisa Mainetti hatte ihm das alles erklärt, aber er hatte nur die Hälfte begriffen.

«Wie Sie's machen, Frau Doktor, ist gleich. nur wieder vernünftig aussehen will ich.«

«Komm 'rein!«sagte der Junge mit dem großen Rollappen.»Ich heiße Walter Hertz.«

Unteroffizier Feininger musterte den Neuen und grinste Schwester Dora breit an. Seine rechte Stirnseite war eingedrückt und zertrümmert gewesen. Durch Knochenüberpflanzungen und Weichteildeckungen hatte man ihn so weit wiederhergestellt, daß er als einziger der Stube B/14 samstags nach Bernegg ins Kino gehen konnte, mit einem Kopfverband wie ein Turban. >Pascha Wastl< wurde daraufhin sein offizieller Name im Lazarett, zumal Feininger überall erzählte, die Mädchen seien verrückt auf ihn.»Wenn ich denen sage, daß ich türkische Liebe studiert hab', fall'n s' reihenweise um.«, berichtete er. Seinen Verband hatte er allerdings nie vor den Mädchen abgenommen.»von wegen der Ästhetik, ihr Hammel!«

«Kriegt der auch 'n neues Kinn?«fragte Feininger.»Sag's der Frau Doktor. nur aus der Brust.«

Erich Schwabe versuchte zu lächeln. Es ging nicht, denn er hatte einen Mundspanner im Gaumen, um ein Zusammenziehen der Weichteillappen, die man überpflanzt hatte, zu verhindern. Nach wie vor wurde er durch Sonden ernährt, aber es ging schon wesentlich besser, nachdem die inneren Wunden in der Mundhöhle verheilt waren. Sogar durchgedrehtes Fleisch, mit Bouillon verdünnt, konnte er essen. Und sich etwas verständlich machen.

Sie sind nicht entsetzt, dachte er zufrieden. Ich sehe also nicht so schrecklich aus. Er wußte nicht, daß Dr. Lisa Mainetti kurz vorher in der Stube B/14 gewesen war und gesagt hatte:»Gleich kommt ein neuer Patient. Reißt euch zusammen und zeigt ihm nicht, wie er aussieht. Tut so, als sei alles normal. Wer euch früher gesehen hat, hätte auch weglaufen können! Also, versaut mir den Mann nicht!«

«Wie'n Feldwebel aus Ostpreußen!«hatte der Berliner gesagt, als die Ärztin fort war.»Und aussehen tut se, als käme se von der Ufa! 'n Mordsweib, det steht fest!«

Ein anderer Stubengenosse mit einer rechten Gesichtshälfte, die wie ein zusammengeschrumpfter Bratapfel aussah — in einem brennenden Panzer hatte er mit der rechten Seite in kochendem Öl gelegen —, nahm Schwabe die wenigen Dinge ab, die er in einem Wehrmachtssack bei sich trug. Er ging zu einem Bett in der Ecke und legte den Sack darauf.

«Wir freuen uns, daß du da bist. Ich heiße Fritz Adam und bin der Stubenälteste.«

«Erich Schwabe.«, sagte Schwabe leise und folgte Adam zu seinem Bett. Dort setzte er sich und packte seine Sachen aus… ein zerknittertes Bild von Ursula, das er gegen einen Steingutbecher stellte, einen Schreibblock, zwei Bleistifte und einen Kalender. Adam half ihm beim Einräumen des Spinds.

«Na denn«, sagte der Berliner, als sich der erste, gut beherrschte Schock über den Anblick Erich Schwabes gelegt hatte.»Weiter geht's! Ick hab' 'ne tolle Flöte in der Hand. Damit reiß' ick euch de Knöpfe von der Unterhose.«

Wie schön ist es hier, dachte Schwabe. Skat kann man spielen, Schach, Mensch ärgere dich nicht. Witze werden sie machen und vom Thema 1 erzählen.

Er hatte kaum eingeräumt, als die Tür aufgerissen wurde. Der Stubenälteste schrie:»Achtung!«Vom Tisch spritzten die Männer hoch und legten die Hände an.

«Heil Hitler!«sagte eine helle, kalte Stimme von der Tür her.

«Heil Hitler!«brüllten die fünf zurück.

Dr. Fred Urban starrte auf Erich Schwabe, der sich auf sein Bett gesetzt hatte und das Bild Ursulas ansah. Er schien nicht wahrgenommen zu haben, daß jemand in die Stube gekommen war. Erst als Walter Hertz, der ihm am nächsten stand, zischte:»Mensch, erheb dich!«sah er auf und in die kalten Augen des Oberarztes.

«Was ist denn das?«brüllte Dr. Urban.»Ihnen fehlt ja allerlei in der Fresse, aber Ohren haben Sie noch! Und aus den Kniekehlen haben wir Ihnen auch keine Knorpel verpflanzt! Also?«

Erich Schwabe erhob sich. Seine Augen waren dunkel. Er legte die Hände an die Seite und starrte Dr. Urban aus seinem zerstörten Gesicht an.

«Heil Hitler!«schrie der Oberarzt.»Los… üben Sie… das ist die beste Gymnastik für neue Lippenteile! Bei Heil brauchen Sie nur die Zunge, und das Hitler kommt ganz von selbst! Wozu der Name unseres Führers alles gut ist, was? Los, Mensch, rufen Sie. Vom Stielaugenmachen hat noch keiner eine schöne Visage bekommen!«

Erich Schwabes Blick irrte zu den stramm stehenden Stubengenossen. Er sah, wie Feininger ihm zublinzelte und der Berliner ihm ein Zeichen mit dem Finger gab.

«Heil Hitler!«schrie er da, so grell aus seiner mit einer Klammer offengehaltenen Mundhöhle, daß sich die Stahlbügel der Klammer in das neue Fleisch bohrten und Dr. Urban einen Schritt zurücktrat. Eine Spur von Blässe zog über sein nordisches Gesicht.

«Aufhören«, schrie er außer sich, als er bei Schwabe das Blut aus der Mundhöhle rinnen sah.»Ein Saustall ist das hier! Ein Geist herrscht hier, der schon Wehrkraftzersetzung ist! Aber ich weiß schon, woher ihr den Mut bekommt. Lange dauert's nicht mehr, darauf könnt ihr euch verlassen! Ihr seid Nationalsozialisten auch ohne Fresse.«

«Und dabei war det bisher imma die Hauptsache.«, sagte der Berliner. Die anderen standen wie Pfähle, nur ihre Augen lachten.

Dr. Urban ging auf den Berliner zu.»Bei der nächsten Entlassung, mein Freund.«, sagte er.»Um einen Panzer zu fahren, braucht man keine Nase!«Dann wandte er sich ab, donnernd krachte die Tür hinter ihm zu.

Die Männer setzten sich.

«Det kann lustig werden«, sagte der Berliner und mischte die Skatkarten.»Wat haste dem denn jetan, Erich, det der uff eenmal so wütend is?«

Erich Schwabe sank auf das Bett und starrte auf Ursula. Vor drei Tagen hatte sie geschrieben.»Nun sind über acht Wochen herum, wo du in der Heimat bist. Ich habe solche Sehnsucht nach dir… warum kann ich denn nicht zu dir kommen? Andere Frauen besuchen ihre Männer in den Lazaretten. Nebenan, die Frau Schmid-ke, war viermal schon in Burgsteinfurt bei ihrem Mann. Warum kann denn ich nicht kommen? Du… laß mich doch kommen., bitte, Erich.«

«Seid ihr verheiratet?«fragte Schwabe. Die sechs gaben sich alle Mühe, ihn zu verstehen. Fritz Adam war der einzige, der ihn voll verstand. Er wiederholte für die anderen immer die Fragen und Antworten.

«Ob wir verheiratet sind? Nein! Doch. Der Wastl-Pascha.«

«Und wie!«Feininger lachte.

«Soll ich meine Frau kommen lassen?«

Die Frage, die große, schicksalsschwere Frage. Schwabe musterte seine Kameraden. Der Berliner mischte die Karten, zwei spielten Schach, Feininger hatte plötzlich etwas an seinen Hosenträgern auszusetzen und fluchte, Walter Hertz zählte die Skatkasse. Nur Fritz Adam, der Stubenälteste, ging auf Schwabe zu und setzte sich neben ihn.

«Ich würde noch 'was warten, Erich. Noch ein paar Wochen. Nicht, daß du furchterregend aussiehst, aber du kennst doch die Frauen. Jede Schramme nehmen sie schlimm! Und wenn einer im Gesicht 'was hat, ist's besonders schlimm. Die Weiber gucken doch so auf Schönheit! In ein paar Wochen ist's auch bei dir anders, und deine — wie heißt sie denn?«

«Ursula«, sagte Schwabe dumpf.

«— deine Ursula wird nie wissen, wie du vorher ausgesehen hast, wie jetzt zum Beispiel. Braucht sie ja auch gar nicht zu wissen, was? Ist reine Männersache!«

Erich Schwabe nickte.

«Laß deine Mutter kommen. «Fritz Adam legte den Arm um Schwa-bes Schulter.»Wir alle haben das so gemacht. Mütter sind da anders, Erich, weißt du. Die sehen nur, daß du noch lebst, ob ganz oder halb, das ist egal. Ihr Kind lebt, sie können es anfassen, streicheln, liebkosen, sprechen, sehen, hören… da gibt es nichts anderes auf der Welt, was schöner wäre. Daß wir etwas anders aussehen… mein Gott, das ist ein Jammer, gewiß… aber wir leben… ihr Kind lebt. Mehr wollen die Mütter nicht vom Krieg.«

«Glaubst du?«fragte Schwabe leise.

«Bestimmt. Wir haben es doch alle erlebt. Sogar der Feininger hat seine Mutter kommen lassen und nicht seine Resi. Und was hat die alte Feiningerin gesagt: Der halbe Kopf ist weg? Ist nicht schade drum… war doch nie viel drin!«

Erich Schwabe lächelte. Man sah es nur an den blanken Augen und dem Flattern der Lider.

«Ich danke dir, Adam«, sagte er.»Bist ein prima Kerl.«

Am Abend schrieb er an seine Mutter. Sie solle kommen, aber ohne Ursula. Zuerst allein.»Ich bin am Gesicht verletzt«, schrieb er.»Nicht schlimm, Muttchen, aber erst sollst Du es sehen und mir sagen, ob ich Ursel so empfangen kann. Ich möchte sie nicht erschrecken.«

Bei der Visite sah Dr. Lisa Mainetti erstaunt in den Mund Schwa-bes. Neben der Klammer war ein Riß in dem Transplantat, aus dem frisches Blut gesickert war und sich an den Gaumenwänden verkrustet hatte.

«Was ist hier passiert?«rief sie und sah die anderen, die an ihren Betten standen, streng an.»Was ist mit Schwabe geschehen!«

«Die Folge eines Besuches von Herrn Oberarzt Dr. Urban, Frau Doktor. «Fritz Adam meldete es mit dienstlich knapper Sprache.

«Danke!«Lisa Mainetti lächelte Schwabe zu. Es war ein mühsames, verkrampftes Lächeln.

Zwanzig Minuten später rannte Professor Rusch über den Gang zum Zimmer Dr. Mainettis. Durch die Tür hörte er ihre Stimme. Sie schrie, daß man jedes Wort auf dem Flur verstand.

«Tragen Sie die Verantwortung für meine Patienten? Sie, der Sie nicht einmal einen Blinddarm herausnehmen können! Wenn Sie sich noch einmal um meine Station kümmern, werde ich den Herrn Generalarzt darüber aufklären, welch ein Stümper Sie sind und daß sich Ihre ärztliche Tätigkeit darin erschöpft, den jungen Schwestern in die Blusenausschnitte zu greifen!«

Bevor der Professor die Tür aufreißen konnte, wurde sie von innen aufgestoßen. Dr. Urban rannte mit verzerrtem Gesicht aus dem Zimmer.

Dr. Lisa Mainetti stand bebend und hochrot neben dem kargen Feldbett, das außer Schrank, Tisch, zwei Stühlen, einem rohen Bücherregal und einem Schaukelstuhl — welch ein Luxus! — zur primitiven Einrichtung des Arztzimmers gehörte.

«Bist du verrückt geworden?«fragte Professor Rusch laut, während er eintrat.

«Er hat dich und mich Saboteure des Endsieges genannt. Da konnte ich einfach nicht mehr! So ein Schwein, so ein erbärmliches Schwein.«

«Und wenn er uns tatsächlich hinhängt? Was haben wir davon? Lisa, denk an unsere Verwundeten. Sie brauchen uns als Ärzte, nicht als Gegner einer zusammenbrechenden Ideologie!«

«Er wird uns nicht melden«, sagte Lisa Mainetti schwach.

«Bist du dessen so sicher?«

«Ganz sicher.«

«Wieso denn?«

«Er ist Morphinist.«, sagte Lisa.»Er stiehlt es im OP. Ich habe ihn dabei überrascht.«

Frau Hedwig Schwabe wohnte im Keller des Hauses Horst-WesselStraße 4. Es war einmal ein schönes, stattliches Haus gewesen, mit einer verzierten Sandsteinfassade, hohen Fenstern und einem ausgebauten Schieferdach. Der Glasermeister Schwabe hatte es 1928 gebaut, zwei Stockwerke vermietet und selbst die untere Etage bewohnt. Ein gutbürgerliches, gepflegtes, solides Haus mit guten Kellern, die man damals baute, ohne zu ahnen, daß sie einmal das Leben retten könnten.

Im Sommer 1944 gab es dann von diesem Haus Horst-WesselStraße 4 nur noch eine halbe Fassade, hinter der ein riesiger Trümmerberg lag, der zwei Wochen lang noch brannte und schwelte. Die massiven Keller hatten standgehalten, und hier wohnte nun die Witwe Hedwig Schwabe in zwei wohnlich hergerichteten Räumen, bahnte sich jeden Morgen durch die Trümmer ihren Weg zu den Ausgabestellen für Brot, Milch und Margarine und besuchte ihre Schwiegertochter Ursula, die zwei Häuserblocks weiter ebenfalls in einem Kellerraum hauste und die wenigen Habseligkeiten Erich Schwabes bewachte, die man hatte retten können. Eine Briefmarkensammlung war darunter, ein Erbstück vom alten Glasermeister. Niemand wußte, was die bunten Papierchen wert waren.»Wenn's kracht, mußt du die Sammlung als erstes retten!«hatte Erich Schwabe gesagt, bevor er wieder nach Rußland fuhr.»Kann sein, daß wir sie noch einmal brauchen.«

An diesem Vormittag war Frau Hedwig Schwabe in einen großen Zwiespalt geraten. Erich hatte geschrieben! Endlich wußte man genau, wie er verwundet war. Im Gesicht, schrieb er. Nur ein paar Schrammen. Frau Schwabe las diese Zeilen immer wieder durch, und sie war glücklich und fast atemlos vor Freude, daß es nur ein paar Schrammen waren. Die verheilen schnell, dachte sie, als sie den Brief wieder in den Umschlag steckte. Wie oft ist der Erich als Junge hingefallen, einmal — er war, sie dachte angestrengt nach, ja, er war neun Jahre alt — war er mit dem Roller gestürzt und hatte sich die Stirn und die Nase aufgeschabt. Schlimm sah es erst aus. Aber nach ein paar Wochen waren nur ein paar helle Hautflecken übriggeblieben, und auch diese verschwanden völlig mit den Monaten.

«Die Hauptsache, Erich lebt!«sagte Frau Schwabe zu ihrer Nachbarin im Nebenkeller. Man besuchte sich tagsüber durch die Kellerdurchbrüche und trank zusammen eine Tasse Muckefuck, wie der Ersatzkaffee genannt wurde, und aß dazu ein glitschiges Gebäck, das aus Griesmehl, Ersatzmarmelade und Butterschmalz bestand. Immerhin war es ein Kaffeekränzchen, und Frau Schwabe las den Brief vor und freute sich, wie sich nur eine Mutter freuen kann, deren Sohn lebend zurückgekommen ist.

Nur eines bereitete Hedwig Schwabe Sorge: Warum sollte sie Ursula nichts sagen? Warum sollte sie allein nach Schloß Bernegg kommen? War etwas zwischen Erich und Ursula, was sie nicht wußte? Gewiß, Ursel war hübsch, und die Männer drehten sich nach ihr um, aber sie war dem Erich treu geblieben in all den einsamen Jahren. Frau Schwabe mußte es anerkennen, denn wer achtet mehr auf die Moral als die Mutter eines verheirateten Sohnes bei der Schwiegertochter?

Es war ein großer Konflikt in Frau Schwabe, als sie gegen Mittag zu Ursula ging, um nach ihr zu sehen.

Ursula Schwabe saß in ihrem Kellerraum und schälte Kartoffeln. Es hatte eine Sonderzuteilung gegeben, schrumpelige, fleckige Kartoffeln, aber sie schmeckten noch immer besser als die getrockneten Kartoffelscheiben, die man im Wasser aufquellen lassen mußte und die in der Suppe rochen wie gekochter Moder. Sie war ein nettes Mädchen mit langen blonden Haaren, einer Stupsnase, wasserblauen Augen, einem vollen Mund und der glatten, mit blondem Flaum überzogenen, rosigen Haut ihrer 24 Jahre. Als sie Erich Schwabe heiratete, war er ihr erster Mann. Das war etwas, was Erich unbändig stolz machte und was er bei seinen Kameraden auch erzählte.»Auf die Ursel kann ich mich verlassen!«sagte er immer.»Die sieht keinen anderen Mann! Ich war der erste, und ich bin der letzte!«Davon hielten ihn auch die Flachsereien seiner Kameraden nicht ab, die Ursula eine >verklemmte Natur< nannten. Schwabe lächelte nur und schnitt allen die Rede ab:»Ich weiß, was ich habe! Ihr könnt mich alle kreuzweise.«

«Guten Tag, Mutter!«sagte Ursula und rückte auf dem Luftschutzbett zur Seite.»Hast du Kartoffeln bekommen?«»Nein. Wo gab's die denn?«Hedwig Schwabe setzte sich neben ihre Schwiegertochter.

«Ich koche eine Kartoffelsuppe. Ein paar Möhren hab' ich noch und eine Tüte getrockneten Weißkohl. Willst du hierbleiben, Mutter?«Ursula lachte und warf mit einer schnellen Kopfbewegung ein paar blonde Haare aus der Stirn.»Ich komme mir's wieder holen, wenn du eine Sonderzuteilung hast.«

Soll ich's ihr sagen? dachte Frau Schwabe. Sie ist ein so nettes Mädel, und es ist unverständlich von dem Jungen, daß er sie so behandelt! Man müßte es ihm einmal ganz deutlich sagen: Man muß die Ursel bewundern, daß sie nicht so ist wie viele andere junge Frauen, die ihren Mann monatelang nicht gesehen haben… und.

«Ist etwas, Mutter?«

Frau Schwabe schreckte aus ihren Gedanken hoch. Sie sah den Blick Ursulas forschend auf sich ruhen.

«Hat Erich geschrieben?«fragte sie mit dem untrüglichen Gefühl einer wartenden Frau.

Frau Schwabe ordnete einige Strähnen des weißen Haares, obwohl es wie immer glatt um den Kopf lag. Soll ich es sagen, dachte sie unschlüssig. Sie ist Erichs Frau, und warum soll sie nicht wissen, daß er am Gesicht verletzt ist? Er lebt, und das ist doch die Hauptsache. Der Junge macht sich bestimmt zuviel Sorgen um Ursula.

«Ja.«, sagte Frau Schwabe tapfer.»Erich hat geschrieben.«

«Nur an dich?«Ursula legte die Schüssel mit den Kartoffeln und das Küchenmesser weg. Ihre kleinen, wasserhellen Augen waren nun wirklich wie in Wasser getaucht.

«.was schreibt er denn.«

«Ein dummer Junge ist er!«sagte Frau Schwabe laut.»Wenn er nicht 26 Jahre alt wäre, würde ich hinfahren und ihn übers Knie legen! So ein Blödsinn, wegen ein paar Kratzern im Gesicht. «Sie holte den Brief aus der Handtasche.»Hier, lies ihn, Ursel. Es ist alles Dummheit, was er schreibt!«

Langsam las Ursula die wenigen Zeilen Erichs. Als sie an die Sätze kam, daß Muttchen ihn allein besuchen solle, tropften ihr die

Tränen auf das Papier. Frau Schwabe nickte mehrmals und räusperte sich, nahm dann die Schüssel und schälte die Kartoffeln zu Ende.

«Du… du fährst natürlich hin, Mutter, nicht wahr?«fragte Ursula. Ihre Stimme klang kläglich, wie wenn ein bestraftes Kind versichert, es wolle wieder brav sein.

«Natürlich fahre ich hin! Nächste Woche noch! Und du kommst mit!«

«Aber er will es doch nicht.«

«Ein dummer Junge ist er!«Frau Schwabe stellte die Kartoffelschüssel hart auf die Bettkante. Es war die Bekräftigung eines Entschlusses.»Du bist einfach da! Vielleicht denkt er, daß du ihn nicht mehr magst, weil er ein paar Schrammen im Gesicht hat. «Plötzlich lachte sie und legte die Hände in den Schoß, als sei eine schwere Arbeit endlich getan.»Er lebt, Ursel, unser Erich lebt. und wenn auch wir leben bleiben, sind wir alle wieder zusammen. Was wollen wir denn mehr vom Herrgott, was?«

Ursula nickte stumm. Sie las wieder den Brief und blickte dann in die Ecke des Kellers. Auf einem Nachttischchen stand in einem hellen Holzrahmen ein Bild. Ein junger Feldwebel in Ausgehuniform. Er lachte, sein Jungengesicht war eine einzige Freude. Es war ein ebenmäßiges, glattes, ansprechendes Gesicht, fast frech in seiner Offenheit.

«Ich fahre mit«, sagte sie und faltete den Brief zusammen.»Mir ist ganz gleich, wie er jetzt aussieht.«

Nach dem Mittagessen schickte Frau Schwabe ein Telegramm nach Schloß Bernegg. Der Postbeamte in dem zurechtgeflickten Schalterraum zählte die Worte auf dem Formular, indem er jedes Wort mit dem Bleistift unterstrich.

«Komme Dienstag. Gruß und Kuß, Mutter.«, las er.

«Meine Mutter kommt!«sagte Erich Schwabe. Er saß auf seinem Bett und hielt das Telegramm in den Händen.

Am Tisch spielten sie wieder Skat. Mit Ausnahme des Berliners, der sich anderweitig beschäftigte.

Der Berliner hatte durch den Truppenbetreuungsoffizier einen Zeichenblock und ein Paket Farbstifte erhalten. Nun zeichnete er verlockende Frauen und verkaufte sie im Block C an die >normal Ver-wundeten<, die täglich von den Frontlazaretten nach Bernegg verlegt wurden und fast immer noch eiserne Rationen oder andere Freß-dosen bei sich hatten.

«Ick wollte nie Dekorateur werden, nur meen Oller wollte det! Hat'n richtigen Riecher jehabt… jetzt merkt man's!«sagte der Berliner. Er hatte für einige Wochen Vorbestellung auf seine Bilder, viele mit Sonderwünschen, die zusätzlich Zigaretten einbrachten.

Fritz Adam bastelte an einem Schiffsmodell. In wenigen Wochen war Weihnachten. Das Schiff sollte ein Geschenk für eines der vielen Waisenkinder werden, die den Vater in Rußland und die Mutter im Flammenmeer der Städte verloren hatten.

«Was habe ick dir gesagt?«Der Berliner nickte Schwabe zu.»Und du sollst sehen. et is alles halb so schlimm.«

«Ich habe Angst«, sagte Schwabe leise.

«Wovor Angst?«

«Daß mich Mutter nicht erkennt.«

«Quatsch! Sie wird ins Besuchszimmer geführt, und man sagt ihr: Gleich kommt Ihr Sohn. Daß man keinen Falschen bringt, ist doch klar. «Er merkte, daß er zuviel gesagt hatte, und verbesserte sich schnell und verlegen grinsend:»Im übrigen — wieso, du Flasche? Nicht erkennt! Du tust ja so, als ob du nur noch den Hinterkopf behalten hättest! So schlimm ist's nun auch wieder nicht.«

Im Chefzimmer hatte Professor Rusch eine Aussprache mit Dr. Lisa Mainetti. Sie hatten das Telegramm gelesen, und es hatte sich eingebürgert, jeden Besuch im >Haus der verlorenen Gesichter< gründlich durchzusprechen, bevor die Angehörigen vorgelassen wurden.

«Die Mutter kommt. «Professor Rusch faltete die Hände.»Und wenn die Frau mitkommt?«

Lisa Mainetti zündete sich eine Zigarette an. Sie hatte den Arztkittel ausgezogen und die schwarzen Locken lose über den Schultern liegen. In ihrem engen, einfarbig blauen Kleid sah sie zerbrechlich und aufregend weiblich aus. Ich liebe sie, dachte Rusch. Es ist eine wahnsinnige, nur im Kriege mögliche Liebe, ein Zusammensein auf Zeit mit dem Wissen, daß alles einmal vorbei sein wird, unwiderruflich vorbei.

«Und wenn die junge Frau mitkommt, so werde ich sie nicht vorlassen, wenn es Schwabe nicht will. «Lisa Mainetti streifte die Asche von ihrer Zigarette.»Ich glaube nicht, daß die kleine Frau stark genug sein wird, diesen Anblick zu ertragen. Und wir werden eine Hilfe in der Mutter haben, wenn sie ihren Sohn zunächst allein gesehen hat.«

«Was weiß Schwabe inzwischen selbst von seinem Zustand?«fragte Rusch.

«Wenig. Er weiß, daß wir einige Plastiken machen müssen, und er sieht es ja bei seinen Stubengenossen, aber es ist immer vermieden worden, daß er einen Spiegel in die Finger bekommt oder sonstwie die Möglichkeit hat, sich zu spiegeln. Er glaubt so sehr an ein paar Narben, die zurückbleiben.«

«Mein Gott! Das war ein Fehler, Lisa!«Der Professor starrte die Ärztin entgeistert an.»Wie willst du ihm jemals beibringen, daß er. Er wird doch nie wieder wie ein Mensch aussehen!«

«Willst du ihm das sagen, Walter?«

«Ich? Nein! Aber ich dachte, daß du… wie immer.«

«Ich kann nur hoffen, daß es uns vielleicht hilft, wenn die Mutter da war und er gesehen hat, daß die Menschen sich nicht abwenden von ihm. Wenn er sieht, daß er trotz seines verlorenen Gesichtes ein Mensch geblieben ist. Dann kann man ihn in einer guten Stunde beiseite nehmen und sagen: Mein lieber Schwabe, nun wollen wir einmal ganz ehrlich miteinander reden. Es wird lange dauern.«

«Lange dauern!«Professor Rusch stand auf und ging mit gesenktem Kopf hin und her.»Sein ganzes weiteres Leben wird es dauern.«

«Ich werde es ihm sagen… später… später. «Lisa Mainetti sah auf ihre Armbanduhr.»Gleich wird er erst einmal von Schwester Dora im Park spazieren geführt. Und morgen werde ich den eingeheilten Rollappen an der linken Wange formen, damit er nächste Woche nicht ganz so wild aussieht.«

«Und wann willst du den linken Nasenflügel formen?«

«Frühestens in drei Wochen. Ich brauche ja einen Hautlappen aus der linken Wange. Ich bin froh, wenn ich bis dahin genug Wangenfleisch habe.«

Professor Rusch war ans Fenster getreten und blickte hinaus in den Schloßpark. Über die geharkten Wege zwischen den kahlen Bäumen gingen eine Schwester und ein Mann mit einem zerschlissenen Uniformmantel langsam spazieren.

«Sind sie das?«fragte Rusch. Lisa Mainetti kam an das Fenster.

«Ja. Schwester Dora und Erich Schwabe.«

«Er ist doch ein kräftiger Kerl.«

«Ich habe schon Riesen umfallen sehen.«

Sie sahen aus dem Fenster und beobachteten die beiden einsamen Spaziergänger. Plötzlich umklammerte der Professor das Fensterbrett.

«Was macht er denn da?«schrie er.»Ist der total verrückt geworden? Lisa, sieh dir das an!«Er riß das Fenster auf und brüllte hinunter in den Park.»Bleiben Sie stehen, Sie Idiot! Stehenbleiben! Halten Sie ihn doch fest, Schwester.«

«Zu spät!«Lisa Mainetti lehnte den Kopf an den Fensterrahmen. Ihr schmales Gesicht war bleich.»Jetzt weiß er es.«

Unter den hohen Bäumen gingen sie spazieren und blieben ab und zu stehen, um die Vögel zu füttern. Dora Graff, die junge Stationsschwester, hatte altes Brot zerbröckelt und Erich Schwabe in einer Tüte gegeben, ehe sie hinausgingen in den Park.

Schweigend hatten sie kurz auf einer Bank gesessen, bis Schwabe sah, wie Dora Graff die Schultern einzog und zitterte. Da waren sie weitergewandert, und Schwabe hatte, so gut es ging, die kalte Dezemberluft in sich aufgesogen. Noch hatte es nicht geschneit, nicht einmal starker Frost war in den Nächten über das Land gefallen. In Rußland, dachte Schwabe, während er die Buchfinken fütterte, weht jetzt der Schneesturm über die Steppe. Dreimal habe ich es mitgemacht. Vierzig Grad Kälte, daß die Hände an den Gewehrläufen kleben bleiben. Wie haben wir über diese Winter geflucht… und später fehlten sie uns, später haben wir sie sehnsüchtig herbeigewünscht, wenn wir im Schlamm steckengeblieben waren oder in der glühenden Sonne brieten wie geplatzte Blutwürste.

Sie waren etwa eine halbe Stunde draußen, als Erich Schwabe zwischen den Bäumen etwas schimmern und blinken sah. Ein Teich, durchfuhr es ihn. Ein richtiger, kleiner Schloßteich.

Er blieb stehen, streute wieder Brotkrumen und schielte zu dem Wasserspiegel hinüber.

Wasserspiegel, dachte er. Spiegel. Spiegel. Natürlich, Spiegel. Eine ruhige Wasserfläche spiegelt.

Der Drang in ihm wurde übermächtig. Sieben Wochen haben sie mir keinen Spiegel gegeben. sieben Wochen lang hat mir keiner gesagt, wie mein Gesicht aussieht. Nur gefühlt habe ich einiges. Pflaster, Verbände, große Narben, Fleischrollen, Hautlappen, Grüfte in meinem Gesicht und Höhlen und Hügel.

Und nun ist ein Spiegel da… ein silberner, riesengroßer Spiegel… ein blanker Teller, auf dem ihm die Wahrheit serviert werden wird.

Er schielte wieder zu Schwester Dora. Sie stand etwas abgewandt und sah zurück zum Schloß. Da warf er die Tüte mit den letzten Brotkrumen hin und rannte dem Teich entgegen.

Er hörte Rufen, einen hellen Schrei, Befehle, schnelle Füße, die ihm nachliefen. da warf er sich nach vorn und rannte mit ausgestreckten Armen wie um sein Leben. Seine Brust stach, in seinen Schläfen hämmerten hundert Hämmer gegen die Hirnwindungen. er spürte, wie die Kraft aus seinen Beinen wich und sein Körper taumelnd schwankte.

Der Spiegel… noch fünf Schritte, noch drei… noch einen.

Dann stand er keuchend am Wasser, beugte sich weit vornüber und starrte auf das Bild, das die blanke Fläche ihm zurückwarf.

Der Kopf eines Ungeheuers. Das Gesicht eines unmenschlichen Wesens. Keine Nase, kein Mund, kein linkes Ohr… einige Fleischrollen auf einem verwitterten, alten Pergament, ein zerklüftetes Etwas mit einem Schlund.

«Nein!«schrie er grell. Etwas Heißes durchraste seinen Körper, vom Hirn bis zu den Zehen, es durchglühte ihn und tauchte ihn gleich danach in das Eiswasser eines unerträglichen Entsetzens.

«Nein! Nein!«brüllte er. Im Wasser sah er, wie die Höhle, die einmal ein Mund gewesen war, in seinem Schreien an beiden Seiten einriß, Blut floß über Kinn und Hals, und der Spiegel des Teichs warf alles zurück in seine Augen. dieses entsetzliche Bild eines schreienden, heulenden, blutenden Ungeheuers.

«Nein!«brüllte Schwabe noch einmal.

Dann breitete er die Arme weit aus und ließ sich ins Wasser fallen.

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