Langsam ging Dr. Lisa Mainetti mit der jungen Frau Fischer durch den tief verschneiten Schloßpark, um die kleine Kapelle herum, in Richtung des Teichs, in dessen Wasserspiegel Erich Schwabe zum erstenmal sein zerstörtes Gesicht gesehen hatte. Zwischen Kapelle und Teich lag, von hohen Buchen und einer Nußhecke umschlossen, der kleine Friedhof des Lazaretts Bernegg.
Eine Reihe von Birkenkreuzen stand im Schnee, auf schwarzen Blechtafeln waren von einem Graveur die Namen der Toten eingeritzt und mit gelber Farbe grundiert worden. Von Weihnachten her lagen noch einfache Tannenkränze und Gebinde vor den Kreuzen. Dahinter lag ein großer Felsstein im Schnee. Später einmal, nach dem Krieg, würde auf ihm ein Spruch eingehauen. Eine Mahnung an die Lebenden, von denen die meisten dann doch achtlos daran vorbeigehen und wie ihre Vorväter nichts gelernt haben würden.
Lisa Mainetti hatte Frau Fischer untergefaßt und schleppte sie halb durch den Schnee. Sie ist ja noch selbst ein Kind, dachte sie. Mit zwanzig Jahren Witwe — ob sie überhaupt begreift, wie gemein das alles ist? Das verlogene Geschwätz vom >süßen Heldentods von der >stolzen Trauer<, vom >Opfer für das Vaterland Und wenn sie gleich, wie alle Mütter und Frauen, die vor ihr hier gestanden haben, hilflos fragen wird:»Warum?«, dann wird man wie immer antworten müssen:»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist der Krieg ein unheilvolles Fieber, das immer wieder in die Menschen fährt!«
Dann standen sie am Grabe des Leutnants Rudolf Fischer. Ein frisches Birkenkreuz, noch ohne Schild. Das wurde gerade graviert. Ein Tannenkranz. Ein frischer Erdhügel, fleckig durchsetzt mit verharschtem Neuschnee.
«Hier ist es«, sagte Lisa Mainetti leise und trat hinter die junge Frau.
Frau Fischer senkte den Kopf, und wieder legten sich ihre Hände mit gefalteten Fingern auf den runden Leib. Sie spürte, wie das Kind sich rührte — ein neues Leben, ein Teil des Toten unter dem Bir-
kenkreuz.
«Rudolf«, sagte Frau Fischer leise.»Rudi — mein Rudi.«
Sie senkte den Kopf und weinte still, lautlos. Mit der rechten Hand tastete sie nach hinten und zur Seite, suchte Lisa Mainetti, und als sie deren Hand ergriffen hatte, klammerten sich ihre Finger darum, Halt und Hilfe suchend.
So stand sie lange und weinte lautlos, eine tapfere, im Schmerz gewachsene Frau. Auch Lisa Mainetti schwieg. Wie zwei Schwestern, Hand in Hand, standen sie im Schnee und spürten weder die Kälte noch das Vergehen der Zeit.
«Was hat er gehabt, Frau Doktor?«fragte Frau Fischer nach langen Minuten.»Bitte, sagen Sie mir alles. Bitte.«
Lisa Mainetti dachte an das völlig zertrümmerte Gesicht, an das wache, allein übriggebliebene Auge, das jeden ihrer Schritte verfolgte, an die gelbweißen Finger, die mit zittrigen, eckigen Buchstaben schrieben:»Bitte, meine Frau nicht rufen. «Und an den glücklichen Tod, der auch das eine Auge wegsinken ließ ins Nichts.
«Er hatte einen Kopfschuß«, sagte Lisa Mainetti.»Er brauchte nicht lange zu leiden.«
Frau Fischer beugte sich vor und streichelte das rauhe Birkenkreuz. Soviel Liebe lag darin, soviel Hingabe und Verbundenheit, daß Lisa spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte vor wilder Ergriffenheit.
«Er hat sich so auf das Kind gefreut«, sagte Frau Fischer.»Sein letzter Brief kam vor zehn Tagen. Er sollte über Neujahr Urlaub bekommen. Nur zwei Tage. Wissen Sie, wie wunderbar zwei Tage sein können, Frau Doktor?«Sie sah wieder auf das Birkenkreuz.»Kann ich ihn überführen lassen?«
«Ich werde es für Sie beantragen.«
Dann standen sie wieder stumm vor dem Grab und nahmen Abschied. Frau Fischer weinte nicht mehr. Eine merkwürdige Starrheit war über sie gekommen. Sie lehnte sich gegen den Schmerz auf. Sie spürte die Regungen des Kindes und ihre große Aufgabe, für dieses Kommende stark zu sein.
Später saßen sie wieder bei Lisa Mainetti im Zimmer. Die Ober-schwester hatte aus dem eisernen Vorrat eine kleine Kanne Bohnenkaffee gekocht. Ein Stück Kuchen, das daneben lag, rührte Frau Fischer nicht an. Das Bewußtsein, ihren Mann nie wiederzusehen, wurde von Stunde zu Stunde stärker und würgte ihr fast das Herz ab.
«Ich bringe Sie zu Bekannten nach Bernegg«, sagte Lisa Mainetti.»Dort können Sie sich ausschlafen. Wollen Sie morgen zurück nach München?«
«Ja. «Plötzlich sah die junge Frau auf, und es war eine so merkwürdige Frage, die sie stellte, daß Dr. Mainetti einige Sekunden brauchte, um ihre Verblüffung zu überwinden:»Gewinnen wir den Krieg, Frau Doktor?«
«Nein!«sagte Lisa.
«Dann war ja alles umsonst.«
«Es ist immer vieles umsonst gewesen, was wir Deutschen tun. Nur merken wir es immer erst zu spät.«
Der Famulus Baumann brachte Frau Fischer mit einem, Kübelwagen des Lazaretts hinunter in den Ort Bernegg. Lisa Mainetti sah ihnen nach, wie sie langsam und vorsichtig mit dem Fahrzeug über den glatten, festgefahrenen Schnee die Straße hinunter in das Städtchen glitten.
Das Leben auf der Station ging weiter. Dr. Urban kam stiefelknarrend in den Raum.
«Wieder Unterricht in Defätismus gegeben?«fragte er hämisch. Der Vorfall im OP war für ihn vergessen. Nach seiner Ansicht hatte sich der Chefarzt durch Unterdrückung einer Meldung nur noch mehr in seine Hand gegeben.
«Es sterben immer die Falschen!«antwortete Lisa grob.»Wollten Sie sich ein Lehrbuch der kleinen Chirurgie bei mir ausleihen?«
«Nicht so hochnäsig, Kollega! Ich wollte Ihnen nur berichten, daß soeben eine Sondermeldung durchgekommen ist: Die deutschen Truppen sind in breiter Front zur Offensive nördlich Straßburg angetreten und haben die amerikanischen Linien aufgerollt! Es geht wieder vorwärts!«
Lisa Mainetti griff in ihr Bücherregal und holte ein dickes Buch heraus. Sie warf es Urban auf den Tisch.»Es ist doch besser, Sie studieren noch einmal die Grundzüge der Medizin! Es gibt ein Phänomen, daß bei einem Sterbenden der Puls noch einmal heftig schlägt.«
«Man sollte Sie einfach umbringen!«sagte Dr. Urban dumpf und verließ das Zimmer.
Während die Rote Armee die deutsche Ostfront aufriß und über die Warthe hinaus nach Frankfurt/Oder und Küstrin vorstieß, während die letzte deutsche Offensive unter dem heulenden Beschuß amerikanischer Jabos im Elsaß steckenblieb, während ständig neue Verwundete nach Würzburg eingeflogen und auf dem schnellsten Wege nach Bernegg gebracht wurden und das Schloß mehr und mehr zu einem Frontlazarett wurde, begann die erste große Operation am zerstörten Gesicht Erich Schwabes. Lisa Mainetti hielt ihr Versprechen.
Von Anfang Februar an gab es keine Zeiteinteilung mehr, Tag und Nacht rollten die Transporte heran, und nur an dem Zittern der Beine und dem Zufallen der Augenlider merkte man, daß eine Nacht vorüber war und der Körper nach Ruhe schrie. Dann nahmen die Ärzte eine Tablette Pervitin, tranken starken Kaffee, wuschen sich in eiskaltem Wasser Gesicht und Puls und eilten zurück in den OP, zu den Bahren mit röchelnden, blutenden, zuckenden Leibern. Zu den Männern ohne Gesicht, in deren gräßlichen Wunden jetzt auch noch die Erdklumpen klebten, die Splitter und die zerfetzten Knochenstücke steckten, denn sie kamen jetzt ohne Vorversorgung in den Verbandsplätzen nach Bernegg.
In den Stuben des Blocks B zog eine gewisse Ratlosigkeit ein. Die verhältnismäßig geruhsame Zeit, in der man die Funktionen eines Gesichts durch große und viele kleine Operationen wiederherstell-te, Autoplastiken vornahm, knöcherne Nasengerüste baute, transplantierte Fettgewebe als Unterlagerung benutzte, aus Rippenbögen entnommene Knorpelstücke verpflanzte und Augenwimpern durch einen Millimeter breiten Kopfhautlappen ersetzte, diese geduldige Arbeit an der Neuformung eines Gesichts war vorbei.
Bei der großen Zahl der täglichen Neuzugänge mußten die >alten Knaben<, wie sie Dr. Urban nannte, warten. Es galt jetzt, Leben zu retten, das bloße Weiteratmen zu ermöglichen, die Schmerzen zu dämpfen und das zerfetzte Gesicht zu den notwendigsten Funktionen zu bringen.
«Als Titelbilder kommt ihr sowieso nicht mehr in Frage«, sagte Dr. Urban zu den bedrückt wartenden alten Patienten des Lazaretts.»Und wenn man die Rente bedenkt, die ihr bekommen werdet! Eigentlich ein gutes Geschäft, was? Die anderen arbeiten sich krumm, und ihr streckt die Händchen aus, und schon klimpert's!«
Es waren wieder jene Reden Urbans, die wie Messer durch die Herzen der Gesichtsverletzten schnitten.»In warmer Eulenscheiße sollt1 man ihn ersticken!«schrie der Wastl Feininger nach einer solchen Tirade Urbans.
«Wie willste 'n det machen?«Der Berliner hob die Schultern.»Ick hab' hier bloß Käuzchen jesehen, und die kacken uff jeden Fall zu wenig.«
Niemand lachte. Es war ein grimmiger Humor, der die Galle ins Blut trieb.
Auch Walter Hertz hatte seine Sorgen, die weniger sein Gesicht als sein Herz betrafen. Er hatte Petra Wolfach nicht mehr gesehen seit jenem Abend in der Villa der Eltern, er hatte sich abgeschlossen und saß allein in der Stube mit Erich Schwabe, wenn die anderen zum Kinobesuch ausrückten oder — an der Spitze der Wastl Fei-ninger — in die Schenke >Zum Bären< zogen, um dort das Dünnbier, von dem Berliner >Urinol< genannt, literweise zu trinken.
Einmal hatte Petra geschrieben. Nur ein paar kurze Zeilen, so, als habe sie das Papier gegen eine Mauer gedrückt und schnell die Worte hingekritzelt.»Warum kommst Du nicht mehr? Ich kann doch nichts dafür, daß Papa so ist. Du weißt doch, daß ich Dich liebe. Bitte, gib mir Nachricht, wann wir uns sehen können. Schreib mir postlagernd — Deine Petra.«
«Du solltest nicht so stur sein«, sagte Fritz Adam auf einmal.»Du weißt gar nicht, was eine Liebe wert ist.«
Aber Walter Hertz schüttelte nur den Kopf und blieb stumm.
Man hat kein Recht auf Liebe mehr mit einem solchen Gesicht, dachte er. Und man muß sich daran gewöhnen.
Der einzige Glückliche war Erich Schwabe. Er wurde operiert.
Ein Knorpel sollte als Nasenwurzel eingepflanzt werden, ein biegsamer Pfropfen, um den man später einen Fernlappen aus der Armhaut transplantieren wollte. Eine neue Nase — die einzige vorspringende Stelle in diesem abgehobelten, wie wegrasierten Gesicht!
Dr. Mainetti hatte mit Professor Rusch die Operation gründlich vorbereitet. Eine Wehrmachtspressestelle in Würzburg hatte die von Frau Schwabe mitgebrachte Fotografie auf Lebensgröße gebracht. Das genaue Kopfmaß war dabei eingehalten worden. Peinlich genau wurden nun Maße und Form der alten Nase berechnet und damit der Umfang des zu verpflanzenden Knorpelstückes. Man konnte ja nicht wissen, ob der überpflanzte Lappen schrumpfte oder wucherte, und danach richteten sich die weiteren Operationen, die noch notwendig waren. Lisa Mainetti zeichnete im Detail die neue Nase, und nach mehrmaligen Röntgenkontrollen wurde Erich Schwabe zur Operation vorbereitet.
Famulus Baumann und Assistenzarzt Dr. Vohrer machten die Intubationsnarkose. Es war ein langwieriges, noch primitives Verfahren, eine Quälerei für den Patienten, der sich vorkommen mußte wie in einer modernen Folterkammer.
Erich Schwabe lernte es in vollem Ausmaß kennen. Baumann deutete auf einen Stuhl, als Schwabe in den OP kam.
«Setz dich, Kumpel!«sagte er.»Und nun reiß mal das Maul auf, so weit du kannst, und streck die Zunge heraus. Denk an Urban, dann gelingt's prima!«
Schwabe setzte sich und öffnete den Mund, diese Höhle ohne Lip-pen und Formen. Die Zunge hing heraus wie bei einem hechelnden Hund. Baumann nickte zufrieden.
«Prima! Paß mal auf, was wir jetzt Schönes machen.«
Er hielt die Zunge mit einem Stück Zellstoff fest. Dr. Vohrer beugte sich vor und pinselte den Rachen Schwabes mit Kokain ein. Schwabe schluckte krampfhaft, als müsse er sich übergeben.
«Laß man«, sagte Baumann.»Kotzen is nich. Hast ja nischt im Magen, und schwanger biste ooch nicht.«
Im Hintergrund wuschen sich Dr. Mainetti und Professor Rusch. Die Oberschwester sortierte das Instrumentarium. Dr. Urban war außer Haus. Er war einem neuen Transport entgegengefahren, um zwei angekündigte schwerste Fälle schon im Zug zu versorgen. In vier Stunden würden die Sankas mit ihrer wimmernden Last auf dem Schloß eintreffen. Bis dahin würde Schwabe um eine Nasenwurzel reicher sein, man hatte Kaffee getrunken, sich ein wenig erholt, vielleicht sogar eine Stunde schlafen können. Es würde wieder keine Nacht geben, keine Minute zum Ausruhen, nur ein Fließband mit zerstörten Gesichtern, und immer wieder der schon läppische, aber immer noch geglaubte Trost: Keine Angst, mein Junge, es ist alles halb so schlimm!
Dr. Vohrer führte den Kehlkopfspiegel ein und sondierte in die Tiefe; Baumann schob ihm den Intubationsschlauch in die Hand. Vorsichtig ließ Dr. Vohrer den Schlauch in die Luftröhre gleiten, bis er die Teilung der Bronchien spürte.
«Das hätten wir, Erich!«sagte Baumann zufrieden und klopfte Schwabe auf die Schulter.»Das Ding sitzt! Nun hüpf mal schön auf den Tisch. Und wennste wieder aufwachst, kannste mit Willy Fritsch konkurrieren!«
Schwabe erhob sich vorsichtig. Mit dem Schlauch in der Luftröhre, mit heraushängender, auf einem Mullappen festgehakter Zunge ging er langsam zum OP-Tisch und ließ sich hinaufheben.
Keine Angst, Erich, dachte er dabei. Mensch, bloß nicht schlappmachen. Du bekommst eine neue Nase, und Stück für Stück wird alles wieder so, wie's früher war. Ursula wird nicht mehr erschrecken
müssen. Ich werde ja wieder ein Mensch. O Gott — ein Mensch!
«Hinlegen!«sagte Baumann.
Die Operationslampe schien Schwabe grell in die Augen. Er schloß die Lider geblendet und hörte jetzt nur noch, was um ihn herum geschah.
«So, mein Lieber«, hörte er Baumanns Stimme,»nu jib mal dein Ärmchen her — so — strecken — noch mehr strecken, den Ellbogen durchbiegen — «
Jemand schlang Schwabe einen Gummischlauch um den Oberarm.»Fest anziehn, und nun machste en hübsches Schleifchen dran, det die Schose ooch hält«, kommandierte Baumann.»So, und nu pump mal, Erich. Immer feste die Faust auf- und zumachen. So is det rich-tich, man könnte denken, du hättest det auswendich jelernt. Tupfer und Äther!«brüllte er den Sani an, dann reinigte er die Haut in der Ellenbeuge und klopfte auf den Unterarm Schwabes.»SEE-Spritze!«Dr. Mainetti hatte auf das Stichwort gewartet. Sie tastete den Venenplexus ab und stach eine Ader an. Blut floß in die Spritze.»Loslassen!«Der Sani entfernte vorsichtig den Gummischlauch vom Oberarm, und Lisa injizierte das Narkotikum, langsam und mit ruhiger, sicherer Hand.
«Det is det Nirwana«, sagte Baumann fröhlich.»In wenigen Sekunden träumste süß un selig, Erich.«
Schwabe spürte, wie an seinem Mund gearbeitet wurde. Dr. Vohrer schloß den Intubationsschlauch an. Das war ein denkbar primitives Verfahren: Auf das äußere Ende des Schlauches wurde ein Trichter gesetzt, in den ein dicker Wattebausch kam, auf den man später den Äther für die Narkose träufelte. Die Mundhöhle Schwabes wurde mit Mullbinden ausgestopft, wie das Fell eines Teddybären mit Sägespänen. Immer wieder kontrollierten Baumann und Dr. Vohrer und stopften noch mehr Mullbinden in den Mund, bis Schwabe keine Seitenluft mehr bekam. Er atmete nun nur noch durch den Intubationsschlauch, kurz, stoßartig und schnell. Baumann beugte sich über ihn. Schwabe schlug die Augen auf, aus seinem Blick schrie höchste Qual.
«Keine Angst, Erich«, sagte Baumann Begütigend.»Es kann dir gar nichts passieren. Nur schöner wirste.«
Dr. Vohrer setzte sich neben den OP-Tisch. Er hatte während der Operation die Aufgabe, auf Puls und Atmung zu achten, die Narkose durch Ätherträufeln zu steuern und vor allem das zu sein, was der Narkotisierende bei dieser Art von Anästhesie immer sein sollte: auf keinen Fall im Weg der operierenden Chirurgen.
«Alles fertig!«rief Dr. Vohrer zu den Waschbecken hinüber. Dr. Mainetti kam an den Tisch und blickte auf Schwabe. Sie blinzelte ihm zu, und dieses kleine Augenzwinkern war mehr als alle Worte Baumanns. Schwabe wurde ruhig und gefaßt. Das unbegrenzte Vertrauen zu Lisa Mainetti verscheuchte alle Angst.
Die SEE-Injektion begann zu wirken, Vohrer träufelte Äther in den Trichter, kontrollierte den Bauchdeckenreflex, Puls und Atemfrequenz. Das Operationsfeld war eingejodet. Ein gestielter Lappen aus der Stirnhaut sollte zunächst den äußeren Defekt decken und, sobald er reaktionslos eingeheilt war, in freier Transplantation ein knöchernes Stützgerüst erhalten. Erst dann konnte man daran denken, etwa noch fehlende Weichteile aus der Wange heranzuziehen und die Nasenlöcher zu formen. Wenn alles gut ging und keine Komplikationen eintraten, waren noch wenigstens vier Operationen notwendig. Dr. Mainetti legte den Verband an.
«Narkose beginnen«, sagte Professor Rusch. Er stand Dr. Mainetti auf der anderen Seite des Tisches gegenüber.»Tief atmen, Junge!«sagte er zu Schwabe.
Die nackte Brust hob und senkte sich ein paarmal, dann wurde die Atmung schwächer, die Lider schlossen sich zuckend zu einem kleinen Spalt, die Augäpfel verdrehten sich nach oben. Dr. Vohrer zählte Puls und Atmung.
«In Ordnung«, meldete er.
Zwei Hände streckten sich nach hinten, die Oberschwester und Famulus Baumann reichten Professor Rusch und Dr. Mainetti die ersten Instrumente. An zwei Körperstellen gleichzeitig begann die Operation: Im Gesicht, an der zerstörten Nase, bereitete Lisa Mainetti ein Wundbett für die Einpflanzung des Knorpelzapfens vor. Professor Rusch legte derweil den Rippenbogen frei und begann, ein genügend großes Knorpelstück auszuschälen.
Es wurde kaum gesprochen. Die Handgriffe waren Hunderte Male geübt, einexerziert wie eine artistische Nummer. Die Ergebnisse der Messungen Dr. Vohrers von Puls, Atmung und Herztätigkeit waren normal, die Narkose war richtig gesteuert, so gut es eben bei dieser Methode ging.
Professor Rusch hatte das Knorpelstückchen ausgeschält und setzte es jetzt in das von Lisa Mainetti vorbereitete Bett ein. Sie hatte eine peinlich genaue Blutstillung vorgenommen, und auch das Umlegen des Knorpelpfropfens mit dem Gewebe geschah wie die Arbeit an einem Filigran. Dann wurde das Operationsgebiet sorgfältig verbunden. Professor Rusch verband selbst, um ein Verrutschen des Knorpels zu vermeiden, während Dr. Mainetti den Schnitt über dem Rippenbogen mit schnellen Handgriffen vernähte.
«Weckspritze!«sagte Rusch, nachdem er noch einmal den Sitz des Verbands kontrolliert hatte. Baumann machte die Injektion. Aber noch bevor sie wirkte, hob man Schwabe vom Tisch herunter auf ein fahrbares Bett und rollte ihn aus dem OP zurück zum Zimmer B/14.
Professor Rusch ließ sich das Mundtuch abbinden und die Kappe abnehmen. Er sah auf die Uhr an der Stirnwand des OP.
«Noch drei Stunden bis zum Massenflicken!«sagte er.»Leg dich hin, Lisa, und schlaf etwas auf Vorrat.«
Sie nickte stumm. Bleierne Müdigkeit kroch in ihr hoch. Die Operation, eine von Hunderten, hatte sie nicht angestrengt, aber der Gedanke an die kommende neue schlaflose Nacht warf sie um. Der Körper revoltierte.
Manchmal beneide ich Urban um sein Morphium, dachte sie und erschrak zugleich über diesen Gedanken.
«Laß Dora Graff in der Nähe sein, wenn Schwabe wieder klar wird«, sagte sie. Dann ging sie auf ihr Zimmer, warf sich aufs Bett und schlief sofort ein.
Erich Schwabe brauchte nur kurze Zeit, um wieder wach zu wer-den. Die Schmerzen an seiner neuen Nasenwurzel waren durch das SEE gedämpft, aber nicht völlig ausgeschaltet. Ein dumpfer, bohrender Schmerz war es, der durch die Hirnwindungen weiterkroch und an den Haaren nach außen zu gleiten schien.
Fritz Adam und der Berliner saßen an seinem Bett, als er aufwachte. Dora Graff war abgerufen worden: Im Nebenzimmer hatte ein Neuzugang von vorgestern plötzlich begonnen, schrill und durchdringend zu schreien und um sich zu schlagen. Vier Mann seiner Stube mußten den Tobenden festhalten, bis Dora Graff ihm die Beruhigungsinjektion gab. Was Professor Rusch bei der ersten Untersuchung befürchtet hatte, war Gewißheit geworden: Die Kopfverletzung hatte den Verwundeten irrsinnig gemacht.
«Guten Tag, Erich!«sagte auf der Stube B/14 Fritz Adam. Er drückte Schwabe an den Schultern aufs Bett zurück, als dieser sich aufrichten wollte.»Ruhig liegenbleiben! Vor allem den Kopf still halten, 'ne schiefe Gurke willste doch nicht haben.«
Schwabe lag ruhig und tief atmend auf dem Bett. Sein zerrissener, in dicken Narben verheilter Mund ohne Lippen zuckte, seine Augen blickten fragend von einem zum anderen.
«Nun frag schon, Erich!«sagte der Berliner.»Ick hab' det hinter mir.«
«Ist… ist es gelungen, Kameraden?«stotterte Schwabe.
«Das wird sich bald zeigen. Pack mal ganz vorsichtig deine Nase an, ganz sachte!«
Schwabes Hand glitt zitternd nach oben, über das vernarbte Gesicht, über den dicken, gewölbten Verband.»Na, fühlst du was?«fragte Fritz Adam.
«Es. es fühlt sich an, als ob was Festes da ist.«
«Det is se!«lachte der Berliner.»Die neue Neese, Erich! Und nu heul mal los! Ick hab' nach meinem ersten Rollappen wie 'ne jeschwängerte Jungfrau jeflennt.«
Sie ließen Erich Schwabe allein, und es war gut so. Er lag flach auf dem Rücken, starrte gegen die Decke, und die Tränen rannen ihm aus den Augen und wurden von dem neuen Verband aufgesaugt.
Ich habe eine neue Nase, dachte er. Mutter… Ursula… ich habe wieder eine Nase. Und plötzlich dachte er an dumme, lächerliche Dinge: Ich kann wieder eine Sonnenbrille tragen. Ich kann wieder auf der Treppe riechen, ob Mutter Reibekuchen gebacken hat. Ich kann — ich kann — mein Gott, was man mit einer Nase alles kann. Man weiß es erst, wenn man keine mehr gehabt hat.
Später schrieb er einen Brief nach Köln. Er war so aufgeregt und glücklich, daß er kaum den Bleistift halten konnte, und die Buchstaben waren wirr und liefen ineinander wie die ersten Schreibversuche eines dreijährigen Kindes.
«Mutter! Ursula! Liebe, kleine Uschi! Ich bin operiert worden. Ich werde eine neue, schöne Nase bekommen.
Eine Nase!
Wenn Ihr Ostern kommt, werdet Ihr mich nicht erkennen, oder besser: Ihr werdet mich wiedererkennen.
Meine liebe, kleine Frau — ich bin ja so glücklich. Es wird bald nicht mehr schwer sein, mich wieder so zu lieben wie früher.«
Erich Schwabe war der fröhlichste Mensch im Block B. Er spielte Skat und lachte, wenn Feininger die Karten hinwarf und schrie:»A Glück hat der! D' Hosen zieht er mir vom Arsch!«
In der Nacht zum vierten Tag nach der Operation wachte Schwabe von einem wahnsinnigen Schmerz auf. Sein Kopf brannte, als läge er in einem Schmiedefeuer. Durch den ganzen Körper jagten die Stiche, es war unerträglich, es zerriß ihn, es drückte die Därme aus dem Leib.
Schwabe schnellte im Bett hoch. Mit beiden Händen umklammerte er seinen zerspringenden Kopf, und dann schrie er, grell, unmenschlich, mit den Beinen auf das Bett schlagend, weil mit jedem Schrei ein Teil seines Hirns wegzufliegen schien.
Dora Graff kam in das Zimmer gerannt. Fritz Adam, Feininger und der Berliner hielten Schwabe fest. Er wollte sich den Verband von der Nase reißen und mit dem Kopf gegen die Wand rennen.
«Ich verbrenne!«schrie er immer wieder.»Ich verbrenne doch! Hilfe! Hilfe! Mein Kopf verbrennt!«
Lisa Mainetti kam hereingestürzt. Über den Schlafanzug trug sie den weißen Arztkittel, das lange schwarze Haar fiel losgelöst bis zu den Hüften. Der Wastl Feininger riß die Augen auf und sagte tonlos:»Direkt a Schönheit! Ja, Sakrament!«
Dr. Mainetti sah die verquollenen Augen Schwabes und die Rötung, die unter dem Verband hervorkroch bis über die Stirn. Das durfte nicht kommen, dachte sie. Wundrose. Streptokokkeninfektion. Damit haben wir nicht gerechnet. Hundertmal ging es gut, und hier geht es schief. Ausgerechnet bei Schwabe. Wir sind zu sicher geworden. Sie sah sich nach Dora Graff um.
«Eukodal, Höchstdosis!«Dora Graff brachte die Spritze, und Lisa injizierte.
«Sofort in den OP!«rief sie. Aus Dora Graffs Händen nahm sie die Spritze und injizierte das schmerzstillende Skopolamin. Dann warf sie die Spritze aufs Bett zurück und rannte hinaus zu Professor Ruschs Zimmer.
Im OP legte man den apathisch gewordenen Schwabe wieder auf den Tisch. Rusch stand im Schlafanzug daneben und begann mit dem Abwickeln des Verbandes, noch während Baumann um Arme und Beine die Lederriemen schnallte.
«So eine Sauerei!«sagte Professor Rusch, als der Verband auf dem Boden lag.
Der Mutterboden, in den man das Knorpelstück gesetzt hatte, war dick geschwollen und hellrot. Der Pfropfen selbst hatte sich entzündet und war dabei, sich abzustoßen. Bis zu den Augen zogen sich die entzündlichen Schwellungen hin. Ohne es auszusprechen, wußten Dr. Mainetti und Professor Rusch, daß Erich Schwabe knapp an einer Erblindung vorbeigekommen war.
«So eine Sauerei!«wiederholte Rusch. Er winkte Baumann.»Pron-tosilstoß! Vierzig ccm!«Baumann holte Spritze und Ampullen. Dr. Mainetti zog sie auf und injizierte das Sulfonamid in den Gesäßmuskel.
«Das wird fürs erste genügen«, sagte Rusch.»Ein Glück, daß es Sulfonamide gibt. «Das Wort Wundrose fiel nicht. Auch nicht das Fachwort: Erysipel. Es war das Schreckgespenst der Lazarette. War die Wundrose einmal ausgebrochen, verbreitete sie sich mit Windeseile. Jede noch so kleine, unsichtbare Wunde war dem Erysipel ausgeliefert. Erst durch das Sulfonamid Prontosil war man ihrer Herr geworden.
Schwabe wurde nach Anlegen eines Salbenverbandes in sein Zimmer zurückgebracht. Baumann blieb bei ihm. Schweigend saß er an seinem Bett. Auch Fritz Adam sagte kein Wort. Nur der Feininger Wastl konnte den Mund nicht halten.»Siacht aus wie d' Ros'n, d' Gsichtsros'n moan i. Mei Großmuatta hots a scho amoi g'habt.«
«Halt die Schnauze«, sagte Baumann ebenso leise wie eindringlich.»Und mach, daß du in dein Bett kommst, du verdammte Unke.«
Der Wastl schlich zu seinem Bett und drehte der Gruppe um Schwabe beleidigt den Rücken zu.
Rusch brachte Lisa auf ihr Zimmer. Sie setzte sich aufs Bett und unterdrückte mühsam ein Schluchzen.»Ich bin schuld«, sagte sie.»Ich habe das Wundbett gemacht. Ich habe die Infektion gelegt.«
«Blödsinn«, sagte Rusch, der sich zu ihr herabbeugte.»So was kann immer passieren, Streptokokken sind überall — Hauptsache, wir beherrschen den Ausbruch, und das tun wir. Du brauchst dir keinen Vorwurf zu machen, Lisa, du nicht. In ein paar Tagen ist die Infektion behoben, und dann wollen wir sehen, was von unserer Arbeit übriggeblieben ist.«
Lisa gab keine Antwort mehr. Sie war im Sitzen eingeschlafen. Die Überanstrengung war zu groß gewesen.
Rusch nahm sie wie ein Kind auf die Arme, legte sie auf das karge Feldbett und deckte sie zu. Sie erwachte nicht einmal dabei. Auf den Zehenspitzen verließ er ihr Zimmer.
Nach drei Tagen war Schwabe fieberfrei, und es erwies sich, daß der Schaden geringer war, als man erwartet hatte. Aber Rusch war vorsichtig und ließ den Patienten nicht aus den Augen. Schwabe durfte das Bett nicht verlassen, obwohl kein neuer infektiöser Schub aufgetreten war.
Fritz Adam hatte von seiner Frau Irene Nachricht erhalten. Mit keinem Wort erwähnte sie sein Geständnis des Ehebruchs, noch fand sie ein Wort des Danks dafür, daß er bereit war, die Schuld auf sich zu nehmen. Sie teilte nur in nüchternen Worten mit, daß die Gerichte eine Annahme des Scheidungsantrages bis zu einer normaleren Zeit verweigert hätten.
«Betrachten wir uns deshalb als geschieden«, schrieb sie.»Die gerichtliche Bestätigung wird ja nur eine Formsache sein. «Und dann folgte ein Satz, der in Fritz Adam eisige Kälte erzeugte und das letzte Gefühl für die zierliche puppenhafte Irene abtötete:»Auf Unterhalt und so weiter verzichte ich. Du weißt, ich habe von zu Haus aus Geld genug, um für mich zu sorgen. Und außerdem wird es bei deinem Gesicht ja auch recht lange dauern, bis du wieder Geld verdienen kannst.«
Fritz Adam gab den Brief ohne Erklärungen der Schwester Dora Graff. Sie las ihn, und dann zerriß sie den Bogen und warf die Schnipsel in den Ofen.
«Wir wollen nichts mehr von ihr sehen und hören«, sagte sie fest.»Es hat sie einfach gar nicht gegeben, Fritz.«
«Ihr Schatten ist immer da! Wir können nicht heiraten.«
«Es werden auch mal normale Zeiten kommen. Dann geht es schnell.«
«Aber wann wird das sein, Dora? Ich bin an Irene gefesselt, es kann noch Jahre dauern.«
«Was ändert das an unserer Liebe? Wir sind noch jung, wir haben Zeit. Wenn wir den Krieg überleben, liegt doch noch alles vor uns.«
Fritz Adam schüttelte den Kopf. Er hatte in den vergangenen wenigen Wochen viel über sich und Dora Graff nachgedacht. Ihre Liebe war so plötzlich gekommen, daß er zuerst nur an aufopferndes Mitleid glaubte. Erst in der Silversternacht hatte er erkannt, daß in den Monaten, die er auf Schloß Bernegg gelegen hatte, immer schon ein unsichtbares Band zwischen ihnen gewesen war — vom ersten Tag an, an dem Dora Graff auf die Station Dr. Mainettis gekommen war. Aber sie hatten nie darüber gesprochen, und sie sahen weg, wenn ihre Blicke sich trafen, weil jeder von ihnen fürchtete, der andere könne etwas bemerken. Und dann war auf einmal die große Befreiung da, die Erlösung der heimlichen, so lange gefesselten Wünsche. Doch die Probleme wuchsen damit, und Irene Adam war noch das geringste davon.
«Was bin ich denn?«sagte Fritz Adam.»Ein Medizinstudent, der gerade gelernt hat, wieviel Öffnungen der menschliche Körper hat. Ein Nichts ohne Gesicht. Gewiß, meine Eltern haben Geld — aber weißt du, ob es noch einen Pfennig wert ist, wenn wir den Krieg verlieren? Dann stehen wir da wie die Bettler.«
«Es wird sich alles finden, Fritz. «Dora Graff küßte ihn auf die Augen.»Ich habe doch auch noch zwei gesunde Arme. Das müßte doch reichen.«
So langsam die Zeit bisher weggetropft war, unendlich gedehnt durch das ständige Warten auf eine neue Operation, auf ein neues kleines Stückchen menschlichen Gesichts, so stürmisch jagten jetzt die Tage und Wochen dahin. Die Fronten in Ost und West waren in Bewegung geraten. Nur ging es nicht vorwärts, sondern hinein nach Deutschland. Britische Truppen hatten Kleve besetzt und den Rhein nördlich Kalkar erreicht. Amerikanische Divisionen hatten Prüm gestürmt und setzten an der Rur zum Großangriff an. Venlo, Neuß und Mönchen-Gladbach fielen. Aus verschiedenen Richtungen zogen die Panzerspitzen auf Köln zu. Die >Operation Lumberjack< hatte begonnen. Im Osten hatten die Divisionen der Roten Armee Tilsit, Allenstein und Memel überrannt, drangen durch das Weichseltal vor und schnitten Ostpreußen ab. Die gesamte deutsche 4. Armee saß wie eine Maus in der Falle, ihr Durchbruch zum Westen, mit Tausenden von Frauen, Kindern und Greisen im Gefolge, zerbrach im Feuer russischer Panzer und Geschütze. Dresden wurde bis zur Unkenntlichkeit bombardiert, Posen und Graudenz gingen verloren. Und immer weiter spülte die Rote Welle nach Deutschland hinein, über Niederschlesien, wo Breslau zu einer einsamen Insel wurde, über Ober- und Mittelschlesien, über Danzig und Pommern. Die Apokalypse schien Wirklichkeit zu werden:»Es ward ein
Hagel und Feuer mit Blut gemengt und fiel auf die Erde, und der dritte Teil der Bäume verbrannte, und alles grüne Gras verbrannte. Und der dritte Teil des Meeres ward Blut… weh, weh, weh denen, die auf Erden wohnen.«
Jeden Abend saßen in Bernegg die Verwundeten um die Rundfunkgeräte und hörten die Nachrichten. Erst den deutschen Wehrmachtsbericht. Dann, etwas leiser, Luxemburg und einen amerikanischen Soldatensender in deutscher Sprache. Die Todesstrafe stand darauf, aber sogar Dr. Urban saß vor seinem Volksempfänger und verglich auf einer Karte die Truppenbewegungen, die Radio Luxemburg durchgab, mit denen des deutschen Wehrmachtsberichts.
«Scheiße!«sagte der Wastl Feininger, als die Meldung durchkam, die Amerikaner rückten auf Köln zu.»Mist is dös mit dem Besuch von deiner Ursula, Erich!«
Erich Schwabe hatte sich einen alten Schulatlas aus der Lazarettbücherei geholt. Er hatte Glück, denn kurz danach kamen vierundzwanzig Mann, die eine Landkarte verlangten. Es war ein beliebtes Spiel auf den Zimmern geworden, Wetten über die nächsten Eroberungen der Amerikaner und Russen abzuschließen.
Auch der Berliner war still geworden. Er sah auf der Karte den dicken Stoßkeil der Roten Armee auf Berlin, durch Pommern, durch die Mark, über die Oder. Seine Mutter war noch in Berlin.
Sie arbeitete im Kriegseinsatz bei Borsig. Oder ob sie schon geflüchtet war, zu Tante Anna, ihrer Schwester in Husum?
Erich Schwabe lauschte auf die Worte der breiten, gequetschten Stimme, die jetzt deutsche Nachrichten sprach. Der amerikanische Soldatensender.
«Uir sehen schon die Türme des Kölner Doms. Unsere Panzer stehen bereit. Uir grüßen die deutsche Bevölkerung. Uir kommen als Freunde.«
Schwabe sah auf den Kalender, der über seinem Bett an der Wand hing.
5. März 1945.
Jetzt hocken sie im Keller und zittern vor Angst, dachte er. Die Ame-
rikaner schießen nach Köln hinein, die Rheinbrücken sind gesprengt. Es gibt keinen Weg mehr nach Bernegg. Jetzt kann es Monate dauern, bis ich sie wiedersehe.
Ob ich sie überhaupt jemals wiedersehe?
Der Berliner drehte das Radio ab.»Da sitzt man 'rum und kann nich mal helfen!«sagte er aufgewühlt.
«Mit deiner Fresse?«Der Wastl Feininger suchte seinen Heimatort Berchtesgaden auf der Karte. Nicht mehr lange, und seine kropferte Resi würde Neger und Indianer und Cowboys aus Texas bedienen, so dachte der Feininger.»Willst sie erschrecken, was? Buh-buh. Das Kriegsgespenst.«
«'rausholen will ick meine Mutta!«schrie der Berliner.»Jloobste, det die Iwans se schonen? Ob Kind oder Jreisin — det is denen doch schnuppe!«
«Bedank dich beim Führer!«Der Wastl Feininger stützte den Kopf mit dem mächtigen wulstartigen Rollappen in beide Hände.»Sakra, wos mach' i, wenn 's Reserl an Negerbuam kriagt?«
Dr. Urban verfolgte die Truppenbewegungen mit exakten roten und blauen Linien, die er auf seiner Karte einzeichnete. Als die Amerikaner vor Köln aufmarschierten und die Rote Armee gegen Danzig vorstieß, packte er einen kleinen Koffer mit dem Nötigsten und stellte ihn zurück in den Schrank. Man braucht nicht viel für eine Übergangszeit. Ein paar Hemden, Seife, Rasierzeug, einen strapazierfähigen Zivilanzug, gutes Schuhwerk, einen warmen Mantel. Geld in genügender Menge — und Morphium. Damit konnte man den ersten Sturm überleben. Die Erschütterung des Zusammenbruchs würde manches vergessen lassen.
Am 7. März standen die amerikanischen Panzer am Rheinufer Kölns und schossen hinüber nach Mühlheim und Deutz. Zweihunderttausend Menschen, der zurück- und übriggebliebene Rest einer Dreiviertelmillion, hockten in den Kellern, ohne Strom, ohne Wasser, ohne Essen.
Am 7. März zogen die ersten Erkundungstrupps verwundert und vorsichtig, an eine Falle glaubend, über die unversehrt vor ihnen
auftauchende Rheinbrücke bei Remagen. Eines der unverständlichen Wunder aller Kriege war geschehen. Das Tor in das Herz Deutschlands war aufgestoßen worden. Der Rhein, das große Hindernis, an dem die Armeen Englands und der USA zerbrechen sollten, wurde überquert wie bei einem Frühlingsspaziergang.
Erich Schwabe kreiste auf seiner Landkarte den Ort Remagen rot ein, als er die Nachricht im Radio hörte und die Meldung, daß der Kommandeur der für die Sprengung der Brücke verantwortlichen Truppen zum Tode verurteilt worden war.
«Der Krieg ist verloren!«sagte er.»Ob wir entlassen oder auch Kriegsgefangene werden?«
«Wieso Kriegsjefangene, wenn's keenen Krieg mehr jibt?«Der Berliner mischte die Skatkarten. Es war das einzige, was ihn etwas ablenkte von seiner Angst um Berlin und seine Mutter.»Wat solln die mit unsera Fresse anfangen?«
«Vielleicht können wir hierbleiben«, sagte Schwabe.»Vielleicht bleibt alles so, wie es ist.«
«Ick spiel' doch nich Landser, wenn Frieden ist! So tief hab' ick die Macke nich im Jehirn!«
«Was sollen wir denn da draußen?«Schwabe sprach jetzt aus, was er in den vergangenen Tagen und Wochen reiflich überlegt hatte.»Wer wird uns operieren? Wollt ihr so 'rumlaufen, wie wir jetzt aussehen? Wer hilft uns denn da draußen? In den Hintern wird man uns überall treten. Nein, Kumpels«, er schüttelte den Kopf.»Hier ist unsere Heimat, hier bei Lisa und dem Chef im Lazarett. Die helfen uns, die machen uns wieder zu Menschen.«
«Und mit am Neger is mei Resi aa bedient!«sagte der Wastl.
Je mehr Deutschland zusammenschrumpfte, um so größer wurde das Rätselraten über ihr weiteres Schicksal, und hundert Vermutungen lösten hundert andere ab.
In den OPs arbeiteten die Ärzte jetzt in zwei Schichten, Tag und Nacht. Schloß Bernegg verlor den Charakter eines Speziallazarettes für Gesichtsverletzte. Von der immer näher rückenden Front spien die Züge und Sankas die zerrissenen Leiber aus. Strohsäcke wurden gefüllt, Decken — die letzten — in Würzburg geholt, jedes normale Bett mußte eine Decke abgeben, in allen Blocks lagen die Gänge und Flure voll Verwundeter auf Strohsäcken, in den Bunkern lagen sie Mann neben Mann, wie Sardinen in einer riesigen Betonbüchse, sogar in der Schloßkapelle brachte man die letzten Transporte unter, einfach auf Strohschütten, weil es keine Säcke zum Stopfen mehr gab.
Ende März fuhr Dora Graff im Auftrag Lisa Mainettis nach Würzburg. In der Heeresapotheke waren neue MO-Ampullen abzuholen.»Ich kann Ihnen keinen Wagen 'rüberschicken!«hatte der Oberapotheker am Telefon gesagt.»Vorgestern hat man alle Fahrzeuge beschlagnahmt und weggeschafft. Muß gewaltig stinken. Wenn Sie jemanden schicken können?«
Dora Graff nahm Fritz Adam mit nach Würzburg. Er fuhr einen alten, in allen Fugen klappernden belgischen Beutesanka der im ehemaligen Pferdestall des Schlosses verrostete. Zum Verwundetentransport war er wegen seiner durchgeschlagenen Federn unbrauchbar geworden. Gerade bei den Kopfverletzten konnten dabei große Schäden angerichtet werden. Da niemand das alte Fahrzeug übernehmen wollte, hatte man es in den Stall geschoben.
Jetzt erinnerte man sich an den Karren. Fritz Adam reinigte die Kerzen, füllte Öl in Motor und Getriebe, Wasser mit Frostschutzmittel in den Kühler und Benzin in den Tank. Er ließ ihn im Pferdestall probelaufen und ratterte auch dreimal auf der Straße vor der Hauptwache hin und her.
>Berneggs Geheimwaffe<, wie er schnell im Lazarett hieß, erwies sich noch als tauglich, nach Würzburg zu fahren und Morphium zu holen. An einem sonnigen Februartag fuhren Dora Graff und Fritz Adam ab, in Decken gehüllt, Wollschals um den Kopf gebunden, denn >Berneggs Geheimwaffe< hatte keine Frontscheibe mehr. Der Wastl Feininger hatte sie vor Weihnachten heimlich herausgenommen und zerschlagen und die Scherben auf die Stube B/14 gebracht. Aus ihnen hatte Erich Schwabe sein Glasmosaik für Ursula gemacht.
Die Stube B/14 hing aus den beiden Fenstern und winkte Fritz Adam nach.»Det is unser ureigenster Wagen«, sagte der Berliner nachdenklich.»Kinda, ick hab' 'ne Idee! Det wird unsere Stubenkutsche für 'n Sonntagsbummel!«
«Pfeifen werden die uns was!«
«Uff'n Schrott lag det Biest. Fritze hat se wieder flott jemacht. Det is unsere Droschke. Ick werd' det der Mainetti schon beibiejen!«
Erich Schwabe beteiligte sich nicht an dem Abschied. Mehr als ein Monat seit der ersten Nasenoperation war vergangen, bis sich Professor Rusch entschloß, den Patienten wieder unters Messer zu nehmen. In einer mehr als zweistündigen Operation hatte er ihm ein knöchernes Nasengerüst aus Stücken des Schienbeins gebaut. Mit einer Präzision, die Lisa Mainetti stumm bewunderte, hatte er das Knochentransplantat so vorsichtig entnommen, daß das Periost nach allen Seiten hin geschont wurde, um den Osteoblasten ihre Regenerationsfähigkeit zu erhalten. Rusch atmete auf, als die Operation zu Ende war.
«Ich glaube, diesmal hat es geklappt«, sagte er zu Lisa.»Man darf es sich eben nicht zu einfach machen.«
Nun hatte Schwabe acht Tage strengste Bettruhe, lag auf dem Rük-ken und las Kriminalromane und historische Erzählungen aus der Lazarettbücherei. Nach Köln hatte er nichts geschrieben von der mißglückten ersten Operation und von der Gefahr der Blindheit, der er gerade noch einmal entronnen war. Dr. Mainetti hatte ihm alles ohne Beschönigung erzählt, und er war stark genug gewesen, mit einem verzerrten Lächeln zu sagen:»Na, dann eben noch mal, Frau Doktor. Die Nase muß auf jeden Fall wieder dran!«
«Jetzt sind se weg!«sagte der Berliner auf der Stube B/14. Man schloß die Fenster und setzte sich wieder an den Tisch zum Skatspiel.»Kinder, mit der Droschke fahr'n wa üba Land und orjanisieren Zusatzfressen! Ick möchte den seh'n, der beim Ankieken von fünf Köp-pen ohne Jesichter nich in die Hosen macht.«
«Bist a Erzviech!«sagte der Wastl anerkennend.»Schad, daß d' a
Preiß bist.«
Mit der >Bernegger Geheimwaffe< dauerte es zwei Stunden länger als gewöhnlich, ehe Fritz Adam und Dora Graff über die alte Mainbrücke fuhren. In der Altstadt schwelten an verschiedenen Stellen noch immer Brände von dem großen Luftangriff, der kurz zuvor über Würzburg niedergegangen war, ein träger Geruch von Rauch, verbranntem Holz und Lumpen und kaltem Pulverschmauch lag fettig und ätzend über der schönen Bischofsstadt am Main.
«Urban ist heute auch in Würzburg«, sagte Dora Graff, als sie kurz auf der Brücke hielten, den Main hinunterblickten und hinüber zu den verwahrlosten, früher so herrlichen Weinbergen von Randersacker. Ein Posten auf der Brücke winkte ihnen zu.
«Weiterfahren!«brüllte er.
«Verhüte der Himmel, daß wir den treffen! Der kriegt es fertig und macht mit uns mitten auf der Straße Wagenputzen und Fahrexerzieren.«
Über zwanzig verschiedene Posten und Polizeiwachen fragten sie sich durch zur Heeresapotheke. Eine Schlange von Sanitätswagen wartete vor dem Gebäude. Sie holten Verbandszeug, Medikamente, Schienen, Tragen. Als Adam mit seinem keuchenden Wagen an die Schlange heranfuhr, empfingen sie Flüche, Kommandos und saftige Landserausdrücke.
«Das kann lange dauern«, sagte Dora Graff.»Fahr den Wagen an die Seite, Fritz. Ich gehe zum Stabsapotheker und versuche, uns dazwischenzuschmuggeln.«
Sie stieg aus, band den Schal ab, ordnete die Haare unter der Schwesternhaube und ging durch die wartenden Reihen zu dem von drängenden Menschen völlig verstopften Eingang.
«Platz da für das Karbolmäuschen!«riefen einige.
Lachen quoll auf. Jemand grölte:»Der Nachtisch für den Stabsapotheker.«
Die Landser brüllten begeistert. Dora Graff reagierte nicht auf die wilden Späße. Sie drängelte sich zum Eingang vor und wurde nach ein paar weiteren Bemerkungen durchgelassen.
Fritz Adam ging unterdessen spazieren. In den Trümmern der zerbombten Häuser gruben die Bewohner nach brauchbaren Überbleibseln. Eine Matratze, ein zerbeulter Topf, ein Mantel, ein Stuhl mit drei Beinen, es gab Kleinholz genug, um das vierte zu ersetzen, ein Fotoalbum mit Bildern aus glücklichen, so weit zurückliegenden Tagen, ein paar Bücher.
Adam blieb stehen. Niemand beachtete ihn und sein zerstörtes Gesicht. Wer die Nachbarn wie brennende Fackeln über die Straße rennen gesehen und die auf Kindsgröße verkohlten Leichen am Bordstein gestapelt hatte, hatte den Blick für die Grauen des Krieges verloren. Für diese in den Trümmern wühlenden Menschen sah Adam fast normal aus. Er lebte, und das war das wichtigste.
Und dann sah er sie.
Sie bog um die Ecke, zwei Straßen weiter, trug einen grauen Persianermantel und eine runde Pelzkappe, hatte den Arm in den des Mannes eingehängt und trippelte in Stiefeln mit hohen Absätzen an seiner Seite, plappernd, verliebt, sich an ihn drückend, ungeniert, ein schnurrendes, süßes Kätzchen.
Fritz Adam sprang einen Schritt zurück in den Eingang eines ausgebrannten Hauses. Die beiden blieben stehen, sie sprach auf ihn ein, lachend und sich in den Hüften wiegend, sie hob sich auf die Zehenspitzen und gab dem Mann einen Kuß auf die Wange. Er sah sich verlegen um und schien zu sagen, daß sich das nicht gehöre. Einen Offizier auf der Straße küssen — liebes Kind, das knackst die Achtung an, wenn Untergebene das sehen!
Fritz Adam wartete, bis sie weitergingen und kurz vor dem Hauseingang waren, in dem er stand. Dann trat er mit einem großen Schritt vor und versperrte ihnen die Straße.
«Guten Tag, Herr Oberarzt!«sagte er völlig ruhig und hob dazu die Hand zum Deutschen Gruß.»Guten Tag, du Hure!«
Dr. Urban senkte den Kopf, er wurde blaß. Mit einem leisen Quietschlaut, wie eine gejagte Maus, war Irene Adam zwei Schritte zurückgeprallt und lehnte nun mit schreckensweiten Augen an der rußigen Hauswand.
«Adam!«sagte Dr. Urban heiser.»Machen Sie hier keinen Skandal, verstanden? Im übrigen heißt der Gruß Heil Hitler!«
«Heil Hitler, du Hure!«rief Adam.
Urbans Gesicht überzog sich mit einer hellen Röte. Es war eine fatale Situation, das erkannte er völlig illusionslos. Es war möglich, daß Adam auf ihn einschlug. Er würde dann zwar bestraft werden, aber auch Dr. Urban würde sofort versetzt werden, an die Front, die ohnehin nicht mehr weit war. Ein Offizier, der dem verwundeten Kameraden die Frau wegnimmt und sich auf offener Straße mit ihm herumschlägt, ist für die Armee untragbar.
«Ich warne Sie, Adam«, sagte Dr. Urban mit gefährlich leiser Stimme.»Es kommt nichts dabei heraus, wenn Sie hier Rummel machen. Seien Sie vernünftig!«
«Ich wollte Ihnen nur gratulieren, Herr Oberarzt. «Fritz Adam blickte aus den Augenwinkeln zu Irene, die bleich vor Angst an die rußige Hauswand gedrückt stand. Sein im heißen Öl eines brennenden Panzers verschmurgeltes Gesicht zuckte wild.»Wenn Sie so idiotisch sein sollten, dieses Miststück zu heiraten.«
«Er ist verrückt, Fred!«schrie Irene Adam.»Er ist verrückt! Hilfe! Hilfe!«
Dr. Urban sprang zurück und legte ihr die Hand auf den Mund.»Dusseliges Frauenzimmer! Soll denn alles zusammenlaufen?«Er drehte den Kopf zu Adam.»Ich werde mit dem Kameraden Adam alles in Ruhe regeln, von Mann zu Mann. Männer können immer zusammen sprechen, nicht wahr, Adam?«
Es war regelrechter Ekel, vermischt mit grenzenloser Verachtung, was in Fritz Adam aufstieg. Welch ein erbärmliches Schauspiel, dachte er. Wie widerlich war das alles. Man sollte kotzen vor Ekel.
«Verschieben wir es bis auf heute abend, nicht wahr? Wir fahren zusammen hinunter nach Bernegg, und ich lade Sie zu einer Flasche Wein ein. «Dr. Urban versuchte ein freundliches Lächeln.»Und nun geben Sie den Weg frei, Adam, machen Sie keine Schwierigkeiten. Sehen Sie sich Irene an — sie ist so höflich, Ihnen nichts wegen Ihrer Beziehung zu der kleinen Dora Graff vorzuhalten.«
Das war der Augenblick, in dem in Fritz Adam die Mauer der Duldsamkeit zusammenstürzte. Es war keine Explosion, kein wilder verzweifelter Ausbruch. Ganz ruhig und fast langsam geschah es. Er trat auf Dr. Urban zu, sah ihn stumm an und schlug dann mit der flachen Hand mitten in das lange, erwartungsvolle Gesicht. Die Offiziersmütze flog in einem Bogen vom Kopf und rollte in die rußigen Trümmer des ausgebrannten Hauses. Irene quietschte wieder auf, aber sie rief nicht mehr um Hilfe, auf dem Gesicht Urbans begannen sich schnell, mit einer leichten Schwellung, die fünf Finger Adams abzuzeichnen.
«Heil Hitler, Herr Oberarzt!«sagte Adam ruhig.»Es steht Ihnen frei, etwas gegen mich zu unternehmen!«
Fritz Adam drehte sich um und ging wieder die Straße hinunter. Die Wagenschlange vor der Heeresapotheke hatte sich beträchtlich verlängert. Dora Graff stand an >Berneggs Geheimwaffe< und sah unruhig nach allen Seiten. Als sie Adam von weitem kommen sah, rannte sie ihm entgegen.
«Fritz!«rief sie.»Fritz! Wo bleibst du denn? Ich habe die Kartons. Wir sollen von hinten heranfahren und aufladen. Wo hast du denn gesteckt?«
Fritz Adam wischte sich über das verbrannte Gesicht, über Narben, Runzeln und eingeheilte Hautlappen.
«Ich habe mir Würzburg etwas angesehen«, sagte er, und nichts war in seiner Stimme von Erregung oder Enttäuschung.»Eine interessante Gegend. Komm, wir laden auf.«
Er legte den Arm um Dora Graffs Schulter und ging mit ihr zu dem alten, klapprigen, verrosteten Auto zurück.
Am 1. April war Ostern.
Mannheim, Wiesbaden und Frankfurt/Main waren gefallen, in langen Heersäulen zogen die Amerikaner den Main hinauf, auf Würzburg zu. In den Kellern und zwischen den Trümmern verbrannten die Parteifunktionäre ihre gelben und braunen Uniformen, der Kreisleiter tauchte noch einmal kurz in Bernegg auf, holte von einem Bauernhof drei große, verschlossene Koffer ab und fuhr mit seinem Dienstwagen nach Norden. Unterwegs, in einem Waldstück, hielt er an, zog seine Uniform aus, warf sie ins Dickicht, stieg in einen dezenten blauen Zivilanzug und fuhr dann weiter, um schnell den Thüringer Wald und an ihm vorbei den Harz zu erreichen.
Erich Schwabe hatte Ursulas Bild auf dem Nachttisch mit frischen Frühlingsblumen geschmückt, die er um den Teich herum gepflückt hatte. Nun ist sie Ostern doch bei mir, dachte er. Und wie sie mich anlächelt, wie lustig ihre blauen Augen sind. Wie mag es ihr jetzt in Köln gehen? Und die Osterfreude versank in Angst.
>Berneggs Geheimwaffe<, das alte belgische Auto, stand in einer Ecke des Parks. Um einer Beschlagnahme zuvorzukommen, hatte Fritz Adam den Vergaser ausgebaut und versteckt.»Dieser Wagen ist später Gold wert!«sagte er zu Dora Graff.Er gab ihr den Vergaser, sie legte ihn in ihrem Kleiderschrank unter die Unterwäsche. Es war ein sicherer Platz.
Am 9. April knirschten die ersten amerikanischen Panzer über die Straße von Wertheim nach Würzburg. Aus den Fenstern der kleinen Orte und Maindörfer wehten weiße Fahnen, Bettücher, Handtücher, große Taschentücher. Irgendwo läuteten sogar vom Krieg verschonte Glocken.
Am Morgen des 10. April, bei der Tagesschicht im OP, fehlte Oberarzt Dr. Urban. Professor Rusch winkte dem Famulus Baumann. Nun mußte auch Baumann trotz seiner geringen medizinischen Kenntnis operieren. Er band ab, er versorgte Wunden und Splitterverletzung, er operierte Steckschüsse heraus und half bei Notamputationen. Die wenigen Ärzte wankten an den Tischen vor Übermüdung.
«Holen Sie Urban!«sagte Rusch grob. Unrasiert stand er vor einem gelb-weißen Leib, in dem die Splitter steckten wie die Stacheln eines Igels.»Der Kerl hat wieder zuviel Morphium genommen.«
Baumann kam sofort zurück. Schon an der Tür hob er die Schultern.
«Nicht da, Herr Oberstabsarzt.«
«Was heißt, nicht da?«bellte Rusch.
«Dr. Urban ist weg! Das Zimmer ist leer, das Bett unberührt und.«
«Das ist doch wohl nicht möglich!«rief Rusch. Er warf die Pinzette hin, mit der er die Splitter aus dem Leib gezogen hatte.»Dr. Voh-rer — sehen Sie mal gründlich nach!«
Auch Assistenzarzt Dr. Vohrer kam nach fünf Minuten zurück. Sein Gesicht war verkniffen.
«Der Herr Oberarzt ist getürmt!«sagte er so laut, daß alle es hörten. Im OP war plötzliche Stille, die Instrumente ruhten, die Köpfe waren hochgeflogen.»Ich habe nachgesehen. Er hat alles dagelassen, nur einen kleinen Koffer hat er anscheinend mitgenommen. Ich habe die Wache angerufen. Es stimmt. Dr. Urban hat gestern gegen 23 Uhr ohne nähere Angaben das Haus verlassen. Zu Fuß.«
Professor Rusch winkte nach hinten. Eine neue Pinzette wurde gereicht.»Machen wir weiter, Jungs!«sagte er schwer atmend.»Was
— was geht uns das an!«
Dr. Lisa Mainetti zögerte. Dann trat sie vom Operationstisch zurück, zog ihre Gummihandschuhe ab und warf sie in einen Eimer. Von einem Verdacht getrieben, rannte sie aus dem OP.
In der Lazarettapotheke sah sie ihren Verdacht bestätigt. Die Türen des Giftschranks waren mit einem Stemmeisen aufgebrochen, Kartons lagen zerrissen und leer darin.
Langsam ging Lisa Mainetti zum OP zurück. Ihr Gesicht war fahl geworden. Sie wusch sich erneut, ließ sich die Gummihandschuhe überziehen und trat an den Tisch zurück. Rusch sah kurz auf.
«Was ist?«
«Nichts weiter. «Lisa klammerte eine Arterie ab, um eine Blutung zu stillen.»Wir haben nur kein Morphium mehr. Er hat alles mitgenommen.«
Am 11. April rückten die Amerikaner in Bernegg ein, ein paar Tage nach der Besetzung Würzburgs. Vier Jeeps und zwei leichte Panzer rasselten die Straße zum Schloß hinauf. Vor der Hauptwache gingen die Panzer in Stellung. Dr. Vohrer und Famulus Baumann traten aus dem Tor, in weißen Arztkitteln, waffenlos. Die Wache trat auf der Straße an, in Stahlhelm, Koppel und mit allen Ehrenzeichen. Aber ohne Waffen. Die lagen gestapelt in der Wachstube, daneben die Munition.
Aus dem ersten Jeep stieg eine kleine, drahtige Gestalt mit einem runden Stahlhelm und einer grünlichen Kampfuniform. Das Gesicht war verschwitzt und mit Staub verschmiert. Dr. Vohrer ging dem Amerikaner entgegen und grüßte mit einem Kopfnicken.
«Hier ist das Speziallazarett für Gesichtsverletzte Schloß Bernegg«, sagte er in fließendem Englisch.»Der Chefarzt Professor Dr. Rusch erwartet Sie, Sir.«
Der kleine Mann grüßte zurück.»Ich weiß«, sagte er in ebenso fehlerfreiem Deutsch.»Ich freue mich, Ihren Professor begrüßen zu können. Ich bin Major James Braddock.«
In der Halle kamen ihnen Rusch und Dr. Mainetti entgegen. Braddock riß die kleinen Augen auf, als er Lisa sah.»Eine Lady hier?«fragte er Vohrer verblüfft. Dann blieb er stehen, grüßte straff und machte eine höfliche Verbeugung.»Major Braddock. Ich habe den Befehl, das Lazarett zu besetzen und zu übernehmen. Bis zur weiteren Regelung setzen Sie Ihre ärztliche Tätigkeit fort.«
Lisa Mainetti streckte Braddock die Hand hin.»Major!«sagte sie.»Nun sind Sie der Chef. Ich brauche sofort 100 Ampullen Morphium!«