Kapitel 5

In ihren Zimmern saßen die Verwundeten und warteten mit der gleichen schmerzhaften Ungeduld wie die Mütter und Frauen im Erdgeschoß des Blocks B. Eine ameisenemsige Tätigkeit war diesen Minuten der stummen Gespanntheit vorausgegangen. Es begann schon am frühen Morgen mit einer Dusche und mit der >Herrichtung< der Gesichter. Es wurde neu verbunden, neue Leukoplaststreifen wur-den über die schlimmsten Narben und Entstellungen geklebt. Einige rasierten sich sogar. Millimeterweise schabten sie die wenigen Barthaare ab, die wieder hervorsprossen oder die auf den übriggebliebenen Hautpartien zwischen den Narben wucherten. Dr. Urbans Spezialität war es, gerade diesen Männern das Leben sauer zu machen, die sich noch rasieren mußten.»Ein bißchen näher ans Messer 'ran!«schrie er, wenn er einen Verwundeten mit einigen übersehenen Stoppeln antraf.»Hat der Kerl das Glück, noch Haut auf dem Gesicht zu haben, und vernachlässigt sie! Kehrt marsch — und nochmals rasiert!«

Die Uniformen wurden geputzt und aufgebügelt. Die Hosen hatten einen scharfen Kniff. In alter Landsermanier waren sie am Abend vorher am Bruch naß gemacht und unter die Matratze gelegt worden. Das gab eine bessere Falte als das schwerste Bügeleisen eines Schneiders.

Auch Wastl Feininger hatte die Nachricht bekommen, daß seine Frau aus Berchtesgaden herüberkäme. Das hatte ihn in Not gebracht.»Dös Luada kimmt!«schimpfte er und hieb mit seinem Schiffchen auf den Tisch.»Jetzt kann i dös Madl drunten abbestell'n! Is dös no a Festtag, wenn mei Alte kimmt?«

Fritz Adam saß nachdenklich und still auf seinem Bett. Auch seine Frau hatte sich angesagt. Zum erstenmal kam sie nach Bernegg. Er hatte ihr geschrieben, daß er eine Verletzung im Gesicht habe und daß er — wenn die Operation gelänge — vielleicht etwas verändert aussehen würde. Irene Adam, das kapriziöse Frauchen, hatte darauf geantwortet:»Es wird sich alles finden. So schlimm wird's nicht sein. «Nun saß Fritz Adam ängstlich und mit wildem Herzklopfen auf seinem Bett. Unten, ein Stockwerk tiefer, wartete Irene. Er wußte es. Schwester Dora Graff hatte allen mitgeteilt, wer gekommen war. Er hatte sich sorgfältig rasiert und gekämmt, und der Sanitätsunteroffizier — ein Famulus, der Dr. Mainetti auf der Station half — hatte neue, breite Leukoplaststreifen über seine verbrannte und zerstörte Gesichtshälfte geklebt. Als er sich später im Spiegel anschaute, war es ein erträglicher Anblick.»Wie nach einer schweren Säbelpartie, Kom-militone!«sagte der Famulus zu dem Medizinstudenten Fritz Adam.»Deine Frau wird sich wundern, warum du überhaupt hier im Lazarett bist.«

In einer Ecke des Zimmers standen die Weihnachtsgeschenke, die die Verwundeten in den langen Wochen zuvor gebastelt hatten. Am Nachmittag sollte die Bescherung von Waisenkindern stattfinden. Die Parteileitung hatte es sich als einen großen Propagandaeffekt ausgedacht: Die vom Krieg Gezeichneten beschenken die durch den Krieg Verwaisten — eine Front der Herzen, die unbesiegbar war!

Die Verwundeten wußten es nicht. Sie hatten die Spielsachen in echter Freude gebaut, sie hatten gesägt und geklebt, gehämmert und gebohrt, weil es ihnen Spaß machte. Kleine Kunstwerke waren dabei entstanden, automatische Mühlen, Drehkräne und Feuerwehren. Schiffe, die qualmten, und Autos, deren Motor richtig brummte. Nur militärisches Spielzeug war nicht darunter. Kein Säbel und kein Panzer, keine Kanone und kein Schützengraben. Und kein Flugzeug. Es war, als würden die gestaltenden Finger steif, wenn man nur an die Möglichkeit eines solchen Spielzeugs dachte. Eine Planzeichnung zum Modellbau eines Bunkers mit Kanonen und Flaktürmen, die die Parteileitung vor einigen Wochen ins Lazarett gebracht hatte, fand sich zerrissen auf dem Lokus wieder. Dr. Urban stellte zwar strenge Untersuchungen an, aber sie liefen sich tot. Es gab 200 Verwundete im Block B, jeder konnte es gewesen sein. Daß es der Chefarzt, Professor Dr. Rusch, selbst getan hatte, daran dachte niemand.

Auch Erich Schwabe hatte etwas gebastelt. Er war gelernter Glaser; er hatte sich Glasscherben geben lassen und sie mit Ölfarbe in vielen Farben angestrichen. Aus diesen bunten Scherben hatte er ein Mosaik gefertigt: die Silhouetten zweier Menschen, die Hand in Hand der Sonne entgegengingen. Darunter hatte er geschrieben: Nur mit dir gibt es ein Morgen. Es war Erichs Geschenk für Ursula, Frau Schwabe sollte es mitnehmen nach Köln. Ursula selbst konnte — wie die Mutter geschrieben hatte — nicht mit nach Bernegg kommen, weil sie sehr erkältet sei und über 40 Grad Fieber habe.»Aber Ostern wird sie bestimmt mitkommen«, hatte Frau Schwabe noch geschrieben.

«Täglich sind jetzt Luftangriffe, und es wird so viel geplündert, trotz der Todesstrafe. Da können wir den Keller nicht allein lassen. Nur einer von uns kann zu Dir kommen, mein Junge. Und Ostern wird es Uschi sein — «

Erich Schwabe sah es ein. Ostern werde ich wieder besser aussehen, dachte er. Mit jeder Woche geht es bergauf. Vielleicht ist es gut, daß Uschi mich jetzt nicht sieht, sondern erst zu Ostern, wenn ich wieder halbwegs hergestellt bin.

So hatte er sein Mosaik für seine Frau angefertigt, diesen rührenden Schrei nach Liebe. In Packpapier verpackt, lag es auf seinen Knien. Auch er wartete, bis er aufgerufen wurde. Obwohl er wußte, daß seine Mutter kam und sie ihn schon gesehen hatte, füllte ihn die Erregung bis obenhin aus. Sein Atem ging pfeifend durch die Mundhöhle.

Die Tür öffnete sich. Ein Sanitäter sah kurz herein und winkte den Aufspringenden zu.

«In zehn Minuten ist's soweit, Kameraden. Der Chef spricht noch. Zeit genug, nochmal pinkeln zu gehen.«

«Erzviech, saudummes!«schrie Wastl Feininger.

Fritz Adam legte sich zurück aufs Bett. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloß die Augen.

«Dieses Warten«, sagte er leise.»Dieses verdammte Warten. Ich wollte, es wäre schon Abend.«

Keiner antwortete ihm. Sie saßen auf den Betträndern und starrten vor sich auf den Boden.

Was wird sie sagen, dachte jeder, wird alles gut gehen? Oder wird sie mir nur ein Theater vorspielen und sich im Inneren ekeln? Vielleicht hat sie schon einen anderen Mann, einen schönen, gesunden Mann mit einem glatten, ebenmäßigen Gesicht? War es ihr zuzumuten, mit einer solchen Fratze zusammenzuleben? War es nicht besser, Schluß zu machen — jetzt, jetzt gleich?

Weihnachten — das Fest der Liebe.

«Auf mir wartet keener!«sagte der Berliner in die Stille des Zimmers hinein,»Kinder, wie ick mir darauf freue, alleene zu sein.«

Und alle um ihn herum beneideten ihn in diesem Augenblick.

Die Frauen und Mütter sahen auf, als sich die Tür des Saals öffnete und Professor Dr. Rusch in Begleitung von Dr. Lisa Mainetti und Dr. Urban hereinkam. Sie hatten ihre weißen Kittel an. Dr. Urban allein trug unter dem Arztmantel seine Offiziersuniform und hohe, blankgeputzte Stiefel. Mit hocherhobenem, germanisch-schmalem Kopf überschaute er die Schar der Besucherinnen, und sein Blick blieb an einer jungen Frau haften, die in einem Pelzmantel nahe der Tür saß. Sie hatte zierliche, hochhackige Schuhe an, Seidenstrümpfe, und unter dem offenen Pelz ein Kostüm, dessen enger Rock jetzt hochgerutscht war und die schlanken, langen Beine freigab. Ihr weiß-blondes Haar war aufgesteckt, das Gesichtchen war geschminkt, die vollen Lippen glänzten unter der Zyklamenfarbe eines französischen Lippenstifts. Die dunklen, flinken Augen erfaßten alles, was um sie herum vorging, und erwiderten teils erstaunt, teils herausfordernd den Blick Dr. Urbans.

>Sieh an, welch kleines Aas<, dachte er, und im gleichen Augenblick bemerkte er den Trauring an ihrer Hand. >Also die Frau eines unserer Gesichtskrüppel<, dachte er brutal weiter. Undenkbar, daß dieses Weibchen mit einem Menschen ohne Gesicht leben kann. Man möchte fast sagen: Sie ist zu schade dazu.

Dr. Urban rückte seinen weißen Arztkittel gerade und knöpfte den obersten Knopf auf, damit man die silbernen Offiziersspiegel seiner Uniform sehen konnte. Dann sah er die kleine, kapriziöse Frau wieder an. Sie wich seinem Blick aus, aber es entging ihm nicht, wie sie ihn aus den Augenwinkeln musterte und taxierte.

Chefarzt Professor Dr. Rusch ging zu einem Stuhl, der vor einem großen, geschmückten Tannenbaum stand. Zwei Schwestern waren noch dabei, mit auf Stöcken gesteckten Kerzen die Lichter anzuzünden. Der Duft angesengten Tannengrüns durchzog den Raum. Weihnachtliche Andacht senkte sich über die dicht gedrängt sitzenden Frauen und die wenigen Männer, die dazwischen saßen. Weißhaarige Väter, die auf ihren verstümmelten Sohn warteten.

Professor Dr. Rusch umfaßte die Lehne des leeren Stuhles und sah über die ihm zugewandten Gesichter hinweg. Jetzt muß ich etwas sagen, dachte er. Und ich möchte ihnen allen zurufen: Kommt, ihr Mütter und Väter. Nehmt euer Kind mit, stellt es auf die Straße, zeigt es jedem, fahrt mit ihm von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus und schreit: Seht — das ist der Krieg! Das ist seine unauslöschbare Fratze! Das ist von einem jungen, gesunden, schönen Menschen übriggeblieben, einem Menschen, der einmal an Glück und Liebe glaubte und den ich in die Welt gesetzt habe, damit er sich am Leben freuen kann! Und das hier ist aus ihm geworden! Wofür, so frage ich euch alle? Könnt ihr mir sagen, wie es möglich ist, daß eine Handvoll Menschen einen Krieg entfesselt, wo doch Millionen Menschen in Frieden leben möchten? Wo steckt die Wurzel dieses Wahnsinns? Seht euch mein Kind an — das ist der Krieg! Soll euer Kind morgen oder übermorgen genauso aussehen?

Dr. Lisa Mainetti trat hinter Professor Rusch und beugte sich leicht vor.»Soll ich reden?«fragte sie leise.»Wenn du jetzt sagst, was du denkst, redest du dich um Kopf und Kragen.«

Professor Rusch sah kurz zu seinem Oberarzt hinüber. Dr. Urban stand neben der kapriziösen jungen Frau und scharrte wie ein verliebter Hund mit den Füßen.

«Liebe Mütter und Frauen«, sagte Professor Rusch. Seine Stimme war klar, sie weckte Vertrauen durch ihre menschliche Wärme.»Wenn gleich alle Lichter an dem großen Weihnachtsbaum brennen und sich die Türen des Lazaretts öffnen, dann ist das etwas anderes als das Sichöffnen irgendeines Weihnachtszimmers, hinter dessen Tür ein Baum brennt und gutgemeinte Geschenke warten. Auf Sie wartet wirklich ein Geschenk, ein wiedererstandener Mensch, der vielleicht anders aussehen mag als der Mensch, den Sie in Erinnerung haben — aber er ist da, und er ist es wirklich! Mit allen Fasern seines Herzens glaubt er wieder an die Zukunft! Er hat sich zu einem neuen Leben durchgerungen, von dem er lange dachte, daß es das für ihn nicht mehr geben würde. Nun ist er Ihnen zurückgegeben, und das einzige, was dieser Mensch von Ihnen erbittet, nein, ich möchte sagen, was er verlangt, was er fordern kann, ist nichts weiter als Liebe. Nur Liebe! Das ist das größte und das einzige Geschenk, das Sie ihm bringen können. Alles, was Sie sonst in Ihren Taschen mitgebracht haben, können Sie wegwerfen. Es ist nicht wichtig — aber Ihre Liebe ist für ihn das neue Leben, ist seine Stärke, seine Zukunft, sie ist einfach alles für ihn. Ein großer Teil von Ihnen sieht den Sohn oder den Ehemann zum erstenmal seit seiner Verwundung. Frau Dr. Mainetti hat mit jedem einzelnen von Ihnen gesprochen. Ich möchte Sie bitten, keinen Augenblick zu vergessen, was sie Ihnen gesagt hat: Seien Sie stark! Geben Sie alle Liebe her, auch wenn es Sie all Ihre Kraft kostet. Es ist Ihr Sohn, es ist Ihr Mann, der Ihnen gleich gegenüberstehen wird — und er ist hilfsbedürftiger als jedes Kind. «Professor Dr. Rusch senkte den Kopf. Seine Stimme wurde leise, aber bis in die letzten Reihen verstand man ihn.»Ich lege das Schicksal meiner Kameraden in Ihre mütterlichen Hände. Ich weiß, sie heilen mehr als mein chirurgisches Messer.«

Fast brüsk wandte er sich ab und verließ mit gesenktem Kopf das Zimmer.

Ein Sanitätsfeldwebel erschien in der Tür. Er hielt eine lange Liste in der Hand und baute sich im Zimmer auf. Dr. Urban sah auf die kleine Frau neben sich. Die Ansprache des Chefarztes hatte sie nicht sonderlich ergriffen. Sie weinte nicht, wie viele Frauen und Mütter um sie herum es taten. Mit schneller Zunge leckte sie nur ein paarmal über die geschminkten Lippen. Eine süße Schlange, dachte Dr. Urban. Zu wem mag diese Puppe wohl gehören?

Die Stimme des Feldwebels riß ihn aus seiner Betrachtung. Sie rief die Namen auf, und nacheinander entfernten sich die aufgerufenen Frauen.

«Berger — Zimmer 10 Wüllner — Zimmer 15 Eisenbarth — Zimmer 4 Gerhardt — Zimmer 20 Pollisch — Zimmer 1

Feininger — Zimmer 14

Schwabe — Zimmer 14

Adam — Zimmer 14.«

Die kleine, kapriziöse, weißblonde Frau zupfte den Rock über ihre Knie und erhob sich. Sie raffte den Pelzmantel zusammen und sah Dr. Urban mit großen Kinderaugen an.

«Adam — das bin ich!«sagte sie mit heller Stimme.

Das ist eine Beleidigung der Natur! Dr. Urban verbeugte sich galant.»Sie sind Eva, gnädige Frau. Darf ich Sie zu Zimmer 14 bringen?«

«Gern, Herr Stabsarzt.«

Sie trippelte vor ihm her über den Flur bis zur Treppe. Adam, dachte Dr. Urban und musterte die schlanken Beine der Frau. Fritz Adam. Der Mann mit der zerstörten rechten Gesichtshälfte. Medizinstudent im 4. vorklinischen Semester. Ein netter Bursche an sich — aber was will eine so entzückende Frau mit einem Mann, der nur ein halbes Gesicht hat?

«Die Treppe hinauf!«sagte Dr. Urban und schaute den Beinen zu, die vor ihm die Stufen hinauftänzelten. Unter seiner Schädeldecke wurde ihm heiß, und er mußte schlucken, weil sich eine fatale Trok-kenheit in seinem Mund ausbreitete.

«Sie haben Ihren Mann schon gesehen?«fragte er und schob sich mit einem langen Schritt an ihre Seite.

«Nein. Es ist das erstemal. «Irene Adam blieb stehen. Ihre Kinderaugen waren kullerrund und dunkel vor Angst.»Sieht er. sieht er schlimm aus?«

«Wie man's nimmt. «Dr. Urban steckte die Hände in die Taschen seines weißen Arztmantels.

«Ich tue alles, was in meiner Kraft steht, um Ihren Mann wiederherzustellen. Vor allem jetzt, wo ich Sie kenne.«

«Sie operieren ihn?«Irene Adam sah bewundernd zu Dr. Urban auf. In ihren Augen flimmerte es.»Sie haben einen wunderbaren Beruf, Herr Stabsarzt.«

Dr. Urban schwieg. Er schluckte das Lob der kleinen Frau wie sonst sein Pervitin. Daß er nicht eine einzige Naht am Gesicht Fritz Adams gelegt hatte, spielte keine Rolle. Man sollte ihr sagen, daß ihr Mann nie wieder wie früher aussehen wird, dachte er einen Augenblick. Aber dann erschrak er vor seinen eigenen Gedanken und ging Frau Adam voraus zum Zimmer 14. Er öffnete die Tür und ließ sie allein eintreten. Er sah noch, wie Fritz Adam aufsprang und die kleine Frau wie erstarrt stehenblieb. Da schloß er schnell die Tür, trat an das Flurfenster und blickte hinaus auf den verschneiten Schloßpark.

Er fühlte in sich den unheimlichen Wunsch, daß Irene Adam sich nicht an die Verstümmelung ihres Mannes gewöhnen möge.

Er schämte sich nicht einmal, das zu denken.

Ich bin groß, gesund und stark, dachte er. So etwas braucht sie. Und er spürte, wie die Leidenschaft in ihm aufglühte und wie er sich ärgerte, daß die Tür des Zimmers 14 nicht aufsprang und Irene Adam nicht herausgerannt kam und rief: Ich kann ihn nicht sehen… ich kann nicht.!

Mit nervösen Fingern zündete sich Dr. Urban eine Zigarette an und wartete im Flur. Über eine Stunde lang ging er hin und her, bis ein Zittern durch seinen Körper flog. Da rannte er hinunter in sein Zimmer, riß aus dem Nachtschränkchen einen kleinen Kasten mit einer in Mull liegenden Spritze, zog aus einer Ampulle eine glasklare Flüssigkeit auf und stach die Nadel tief in den linken Unterarm. Schwer atmend lehnte er sich dann zurück und wartete, bis das Morphium wirkte.

Er wurde ruhiger, sein Atem ging normal, und nur an den glänzenden Augen sah der Wissende, woher Dr. Urban seine Kraft genommen hatte.

Mit schnellen Schritten lief er zurück zum ersten Stockwerk und bezog wieder Posten vor Zimmer 14.

Kurz vor dem Mittagessen klopfte es an die Tür Dr. Lisa Mainettis.

Lisa hatte es sich bequem gemacht, nachdem sie von den einzelnen Stationsschwestern erfahren hatte, daß es in den Zimmern zu keinerlei Komplikationen gekommen war. Zwar hatte es Tränen gegeben, und die mühsame Überwindung des Entsetzens war oft deutlich spürbar gewesen, aber dann hatte die Liebe der Frauen und Mütter gesiegt, und das zerstörte Gesicht war in ihren Augen glatt und heil geworden. Dr. Rusch war nach Bernegg gefahren. Er mußte den Kreisleiter abholen, der am Nachmittag die Bescherung der Kriegswaisen vornehmen wollte. Der Gemeinschaftssaal wurde zu diesem Zweck umdekoriert. Vor dem Weihnachtsbaum wurde ein Podium aufgebaut, umhüllt mit der Hakenkreuzfahne. Zwischen Podium und Weihnachtsbaum stand auf einem hohen Sockel eine Büste Adolf Hitlers. Professor Rusch konnte sich gegen diese Ausgestaltung seines Freizeitraums nicht wehren. Er nahm sie hin mit dem gleichen passiven Widerstand, den er auch in seinem Lazarett zeigte und dessen unüberhörbarer Ausdruck die Begrüßung seiner Soldaten bei der Visite mit >Guten Morgen< oder >Guten Tag< war, während Dr. Urban jedesmal mit lauter Stimme >Heil Hitler< rief.

Dr. Lisa Mainetti setzte sich, als sie das Klopfen an ihrer Tür hörte, strich sich die Haare glatt und sagte» Herein!«Verwundert betrachtete sie die weißblonde, puppenhafte Frau, die in das Zimmer tänzelte. Auf dem Flur bemerkte sie, während die Tür zuklappte, noch das schnelle Vorbeiwehen eines weißen Kittels und darunter zwei schwarzglänzende, wegeilende hohe Offiziersstiefel.

«Mainetti!«stellte sich Lisa vor.»Sie möchten mich sprechen?«

«Ich bin Frau Adam. «Irene Adam sah die Ärztin mit großen, unschuldigen Augen an. Wenn man sie auf den Rücken legt, müßten die Augendeckel zuklappen, wie bei einer Schlafpuppe, dachte Lisa.»Herr Stabsarzt Dr. Urban verwies mich an Sie als die Stationsärztin meines Mannes.«

Also war es doch Urban, der eben vorbeigehuscht war, dachte Lisa Mainetti. Warum schickt er diese Frau ohne Anmeldung zu mir?

«Es stimmt, ich bin die Stationsärztin Ihres Mannes. Fritz Adam, nicht wahr?«Dr. Mainetti sprach langsam und vorsichtig. Ein merkwürdiges Gefühl hatte sie vom ersten Augenblick an ergriffen, als Irene Adam ins Zimmer trat. Verstärkt wurde es durch den weghuschenden, weißen Mantel auf dem Flur.»Wie finden Sie Ihren Mann? Sieht er nicht wieder prächtig aus? Und er hat einen so starken Willen, daß er auf andere Kameraden tröstend wirkt.«

Irene Adam wölbte die Unterlippe vor. Sie setzte sich und stellte ihre große Lacktasche neben sich auf den Boden.

«Wir sind verheiratet«, sagte sie wie ein schmollendes Kind.»Gewiß. Aber wir kannten uns nur ein paar Wochen, und gleich nach der Hochzeit mußte Fritz wieder an die Front. Eigentlich bin ich gar nicht verheiratet, nicht wahr? Oder kann man ein paar Tage Zusammenleben als Ehe bezeichnen? Wenn man es genau betrachtet.«

«Was wollen Sie von mir«, unterbrach sie Lisa Mainetti grob. Ein Widerwille, klebrig wie Ekel, stieg in ihr auf.

Irene Adam sah sie erschrocken an.»Ich wollte mich mit Ihnen über Fritz unterhalten.«

«Das tun Sie ja bereits in einer reichlich merkwürdigen Weise.«

«Ich bin gekommen, um Sie um etwas zu bitten, Frau Doktor. «Irene Adam holte aus der großen Lacktasche ein mit Spitzen umsäumtes Taschentuch und betupfte sich damit theatralisch die Augen.»Ich habe Fritz gesehen. Ich wußte, daß er im Gesicht verletzt war. Aber so… die ganze Seite… einfach alles weg… so habe ich mir das nicht gedacht.«

«Auch Ihr Mann hat sich sein weiteres Leben anders gedacht. Aber es gibt schlimmere Verletzungen als seine. In zwei Jahren wird er wieder menschlich aussehen.«

«In zwei Jahren!«Irene Adam bekam große, fast unbewegliche Augen wie ein Stofftier.»Aber er wird nie wieder so aussehen wie vorher?«

«Nein.«

«Er wird nie mehr schön sein?«

«Nein.«

«Aber ich habe damals einen schönen Mann geheiratet. Nur darum habe ich ihn vor all den anderen genommen, weil er ein so schönes Gesicht hatte. Alle anderen Frauen sahen ihm nach, und ich — ich habe ihn heiraten können! Und nun ist alles das weg — und ich bin doch noch jung, Frau Doktor, ich bin erst 23 Jahre alt. Soll ich mein ganzes Leben neben einem solchen Gesicht leben? Neben einem Mann, von dem alle wegsehen? Das kann doch niemand von mir verlangen, nicht wahr?«

«Man sollte Ihnen jetzt eine kräftige Ohrfeige geben«, sagte Lisa Mainetti mit unheimlicher Ruhe. Irene Adam zuckte zusammen, als sei sie wirklich geschlagen worden, und sprang auf.

«Sie sind doch eine Frau wie ich!«sagte sie weinerlich.»Sie waren doch auch einmal jung. Und eigentlich bin ich doch gar nicht verheiratet… nur ein paar Tage waren wir zusammen. Man kann mich doch jetzt für diese paar Tage nicht ein ganzes Leben lang bestrafen!«

Lisa Mainetti unterdrückte die Regung, wirklich aufzuspringen und in dieses geschminkte Puppengesicht hineinzuschlagen. Ein bitterer Geschmack lag in ihrem Mund, und ihr Gesicht spiegelte die Verachtung wider, die sie empfand.

«Haben Sie das alles Ihrem Mann gesagt?«fragte sie mit mühsamer Beherrschung.

Irene Adam schüttelte den weißblonden Kopf.»Natürlich nicht. Er hat sich so gefreut, daß ich gekommen bin. Darum bin ich auch zu Ihnen geschickt worden, Frau Doktor. Bitte, sprechen Sie mit Fritz darüber. Er muß mich verstehen. Bringen Sie ihm das alles bei. Er kann nicht wollen, daß ich mein ganzes Leben lang. Ich will nach der Mittagspause auch nicht wiederkommen. Ich fahre gleich wieder zurück zu meinen Eltern. Sie müssen mit ihm sprechen, Frau Doktor!«

«Müssen?«Dr. Mainetti senkte den Kopf. Warum ist man so gut erzogen, dachte sie bitter. Warum kann man nicht aufspringen und dieses Miststück von einem Weib durch das Zimmer prügeln, durch den Flur hinaus aus dem Lazarett, über die Straße, damit es alle sehen? Warum muß man jetzt noch höflich sein?

«Haben Sie nie daran gedacht, was Sie bei der Trauung versprochen haben?«sagte sie mit vor Erregung heiserer Stimme.»Bis daß der

Tod euch scheidet, hieß es. Und eine Ehe ist nicht nur in guten Tagen gültig, sondern auch in bösen. Erst da zeigt es sich, wie groß eine Liebe ist. Die Ehe ist eine Verbindung auf Gedeih und Verderb und kein gemeinsamer Ausflug in angenehme Zerstreuungen. Jetzt, in diesem Augenblick, können Sie beweisen, daß es Ihnen ernst war mit dem Schwur, ein ganzes Leben gemeinsam zu gehen.«

Irene Adam saß vor Lisa Mainetti, mit schief geneigtem Köpfchen und einem Schmollmund, mit ratlosen Kinderaugen und einer unwillig zusammengezogenen Stirn.

«Das ist ja alles ganz gut und schön«, sagte sie, als Lisa schwieg.»Damals war es auch anders. Damals hatte ich wirklich den Willen, immer mit Fritz. «Sie schluckte und nestelte an ihrem Spitzentaschentuch herum.»Aber jetzt ist doch alles anders, Frau Doktor. Fritz ist ein anderer Mensch geworden. Nicht nur äußerlich. Er ist auch anders zu mir… wie soll ich sagen… er ist eben völlig umgedreht. Er ist nicht mehr der Fritz, den ich damals heiratete. Er ist mir völlig fremd. «Sie putzte sich das Näschen und tupfte wieder über die bemalten Augen.»Und im übrigen«, sagte sie plötzlich wie ein trotziges Kind,»will ich nicht mehr! Ich bin jung und hübsch und ich habe Aussichten, noch einen Mann zu bekommen, der mein Typ ist.«

«Monatelang hat sich Ihr Mann auf diese Stunde des Wiedersehens gefreut!«rief Dr. Mainetti. Ihr Gesicht wurde rot und hart.»Geduldig hat er sich den Operationen unterzogen, in der letzten Zeit nur mit örtlicher Betäubung, weil die vielen Vollnarkosen bei ihm Kreislaufstörungen verursachten. Immer hat er von seiner Irene gesprochen und war glücklich, wenn wieder ein Hautstückchen angewachsen und ein weiterer Schritt zu einem neuen Gesicht getan war. Und nun kommen Sie her und verlangen.«

Irene Adam erhob sich brüsk, sie riß ihre Tasche an sich und sah auf Lisa mit einer unheimlichen Kaltschnäuzigkeit herab.

«Das ist Schicksal!«sagte sie hochnäsig.»Da kann ich auch nichts dagegen machen.«

In Lisa Mainetti brach die letzte Hemmung. Sie sprang auf, riß die

Tür ihres Zimmers auf und faßte den Arm der weißblonden Puppe. Mit einem heftigen Ruck stieß sie die Gestalt zur Tür hinaus auf den Flur.

«'raus!«schrie Dr. Mainetti.»Sofort 'raus! Ihr Mann kann Gott danken, wenn er von Ihnen befreit ist!«

Sie warf die Tür wieder hinter sich zu und preßte beide Hände gegen das wild hämmernde Herz. Was habe ich getan, dachte sie. Ich habe die Gewalt über mich verloren. Ich habe mich als Ärztin unmöglich benommen. Aber ich konnte nicht anders. Bei Gott — ich wäre zerplatzt, wenn ich sie nicht hinausgeworfen hätte.

Am Ende des Flurs wartete Dr. Urban. Als er Irene Adam mit gesenktem Kopf herankommen sah, eilte er ihr entgegen. An ihrem Gesicht sah er, was geschehen war. Er hatte es nicht anders erwartet, ja, er hatte es sich sogar so gewünscht, als er Irene Adam zu Lisa Mainetti schickte.

«Kann ich etwas für Sie tun?«fragte er mit galant flötender Stimme.»Sie wohnen in Bernegg?«

«Nein. In Oberhalden. In Bernegg war alles schon besetzt. Oberhalden, Hotel >Goldener Engel<. «Sie sah Dr. Urban hilfeflehend aus ihren unschuldigen Kinderaugen an.»Sie hat mich hinausgeworfen.«

«Ich weiß. Sie ist eine böse Frau. «Dr. Urban zog seinen Arztkittel aus und warf ihn auf einen Stuhl, der an der Wand des Flurs stand. Die Offiziersuniform kleidete ihn vorzüglich. Irene Adam stellte es sachkundig fest.»Wäre es Ihnen unangenehm, wenn ich Sie mit dem Wagen nach Oberhalden bringe, gnädige Frau?«

«Unangenehm? Wie können Sie so etwas fragen? Gerade jetzt brauche ich männlichen Schutz. Ich bin doch so allein.«

«Na, dann wollen wir!«Dr. Urban ging ihr voraus und öffnete vor ihr die Tür des Seitenausgangs, der zu einem der Parkwege führte und von dort zur Hauptwache.»Wann fahren Sie zurück nach Hause, gnädige Frau?«

«Vielleicht in zwei Tagen«, sagte Irene Adam und ordnete ihre weißblonden Locken.»Vielleicht — es vermißt mich ja niemand.«

Während sie hinunter zur Hauptwache gingen, stieß Dr. Mainetti die Fenster ihres Zimmers auf. Es war ihr unmöglich, den Geruch,von Irene Adams Parfüm länger zu ertragen.

Nach dem Mittagessen wurde die Post verteilt. Sie war heute etwas später gekommen; zudem hatte die Verwaltung, die die Briefe auf die einzelnen Blocks verteilte, an diesem Weihnachtstag ein ruhigeres Tempo als sonst vorgelegt, was sich bei dem großen Weihnachtsposteingang in beträchtlichem Zeitverlust auswirkte.

Dr. Urban hatte es übernommen, die Post noch einmal durchzusehen, bevor sie an die Stationen weitergegeben wurde. Zwei Männer halfen ihm dabei — ein Sanitätsgefreiter aus Urbans Station und der taube Kaspar Bloch.

«Sieh an«, sagte Dr. Urban plötzlich und drehte einen Brief in seinen Fingern. Kaspar Bloch schielte hinüber — er sah nur ein amtliches Kuvert mit einem großen Dienststempel.»Ein Brief für unseren tauben Kaspar Bloch. «Dr. Urban steckte den kleinen Finger in den Schlitz der Briefklappe und riß das Kuvert auf. Gemeiner Hund, dachte Bloch. Aber da er nicht hören durfte, was Urban sagte, zeigte er nach außen hin keinerlei Bewegung und sortierte ruhig die anderen Briefe nach den Zimmernummern weiter.

Dr. Urban beobachtete Kaspar Bloch. Langsam faltete er den Briefbogen auseinander und las aufmerksam. Dann winkte er dem Sanitätsgefreiten und nickte zu Kaspar Bloch hinüber.

«Eine Sauerei ist das«, sagte Dr. Urban laut.»Gerade zu Weihnachten muß das kommen. Wie bringt man das dem armen Bloch bloß bei? Es wird am besten sein, wenn wir ihm dieses Schreiben erst nach den Feiertagen aushändigen.«

«Jawoll, Herr Oberarzt. «Der Gefreite sah verblüfft zu Dr. Urban hinauf.»Um was handelt es sich denn?«

«Ein Brief der Kreisleitung. Beim letzten Luftangriff ist Blochs Mutter ums Leben gekommen.«

Kaspar Bloch durchfuhr es wie ein feuriger Strahl, der sein Inneres im Bruchteil einer Sekunde verbrannte. Er schloß die Augen und riß den Mund auf. Aber im gleichen Augenblick hämmerte es durch sein Gehirn: Er sieht dich an. Er beobachtet dich jetzt. Du hast nichts gehört. du hast nichts gehört. du bist ja taub. taub. taub. Mutter ist tot, dachte er. Das ist keine Falle mehr. Er hat das Schreiben ja in der Hand, ich habe das amtliche Kuvert gesehen, den Dienststempel, er hat es vor meinen Augen aufgerissen. Mutter ist tot. Mutter.

Dr. Urban faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in die Uniformtasche. Er tat so, als sei es eine unwichtige Sache. Nachdenklich und fragend sah er auf den Rücken Kaspar Blochs, der scheinbar ruhig wie immer die Post sortierte. Kleine Häufchen, nach Zimmern geordnet.

Entweder ist er wirklich taub, dachte Urban unsicher, oder der Kerl hat eine Beherrschung, die einmalig ist. Das >Experiment<, wie er seine unüberbietbare Gemeinheit nannte, war mißlungen. Mit schnellen Schritten verließ er das Zimmer. Auf dem Gang nahm er den Brief aus der Tasche, zerriß ihn in ganz kleine Fetzen und warf sie in einen Papierkorb. Es war wirklich ein unwichtiges Schreiben: ein alter Brief der Kreisleitung mit einer Einladung zur Feier des 9. November.

Kaspar Bloch wartete, bis einige Minuten verstrichen waren. Sein verzerrtes Gesicht war gelblichblaß und eingefallen. Mit zitternden Händen sortierte er die Briefe, aber er achtete gar nicht mehr darauf, wohin er die einzelnen Kuverts legte. Er starrte hinaus in den verschneiten Park und kämpfte mit dem Stöhnen, das ihm in der Kehle saß und nach außen drängte, wie eine Faust, die von innen gegen seinen Mund stieß.

Dann ging es einfach nicht mehr. Er ließ den Stapel Post, den er gerade genommen hatte, zurück auf den Tisch fallen und rannte aus dem Zimmer. Der Sanitätsgefreite beachtete ihn nicht. Er verschnürte gerade wieder ein beschädigt angekommenes Paket, aus dem selbstgebackene Plätzchen und ein Pullover hervorquollen. Kaspar Bloch blieb im großen Treppenhaus stehen und lehnte sich mit der Stirn an eine der kalten Säulen. Wohin, dachte er. Mein Gott, wohin soll ich gehen? Wem kann ich sagen, daß ich hören kann? Wen kann ich fragen, ob es wirklich wahr ist, daß Mutter.

Es blieb ihm keine andere Wahl, als sich zu verraten. Mit großen Sprüngen raste er die Treppe hinunter zum Zimmer Lisa Mainet-tis und riß die Tür auf, ohne anzuklopfen.

Dr. Mainetti las einen langen Brief, der mit der Weihnachtspost gekommen war. Erschrocken sah sie hoch, als Kaspar Bloch in das Zimmer stürzte und die Tür hinter sich zuschlug.

«Frau Doktor.«, stammelte er.»Bitte, bitte, Frau Doktor, verraten Sie mich nicht.«

Dr. Lisa Mainetti legte den Brief zur Seite und zeigte auf einen Stuhl. Sie war weder erstaunt noch verärgert.

«Setzen Sie sich, Bloch«, sagte sie ruhig.»Ich wußte, daß Sie hören können. An Ihren Augen habe ich es gesehen.«

Bloch nickte. Er sank auf den Stuhl und schlug beide Hände vor die Augen. Auf einmal weinte er, leise, wimmernd wie ein gefallenes Kind. Dr. Mainetti ging zur Tür und schloß sie ab.

«So. Jetzt sind wir ungestört. Und nun packen Sie aus. Sie haben geahnt, daß ich Ihr Geheimnis kenne?«

Kaspar Bloch nickte.»Ich kann nicht mehr«, stammelte er.»Es ist zuviel. Ich halte es nicht mehr durch. Bitte, helfen Sie mir, Frau Doktor. bitte, bitte.«

Eine Ahnung stieg in Lisa Mainetti auf. Sie schloß auch das Fenster zum Park und lehnte sich gegen die Fensterbank.

«Was hat Dr. Urban Ihnen gesagt, Bloch?«

«Nichts! Gar nichts!«Kaspar Bloch sah mit flackernden, fast irren Augen zu der Ärztin hinüber.»Er hat einen Brief bekommen. Von der Kreisleitung. Meine Mutter. beim letzten Angriff.. Er will ihn mir erst nach den Feiertagen geben. Bitte, bitte, Frau Doktor. «Sein Kopf sank auf den Tisch, und er weinte haltlos.

In Lisa Mainetti breitete sich wieder die explosive Hitze aus, die sie beim Anblick Irene Adams gespürt hatte. Es kann möglich sein, dachte sie schnell. Jeden Tag werden jetzt die deutschen Städte vom Bombenflugzeug zerfetzt, täglich sterben Hunderte unter brennenden und berstenden Trümmern. Aber es kann auch eine Falle sein, eine der gemeinsten Fallen, die ein Mensch sich ausdenken kann.

«Wann ist der Brief gekommen, Bloch?«

«Vorhin mit der Post. Ich half bei der Sortierung.«

«Warten Sie. Ich hole Ihnen den Brief.«

Dr. Mainetti schloß die Tür auf, steckte den Schlüssel um und schloß ihr Zimmer von draußen wieder ab. Mit schnellen Schritten ging sie zum Geschäftszimmer und klopfte vor dem eine Zahlenreihe addierenden Zahlmeister auf den Tisch.

«Ich möchte die Post meiner Station«, sagte sie laut.

Der Zahlmeister sah verblüfft und etwas ratlos in das gerötete Gesicht der Ärztin.

Ein Soldat, der respektvoll neben dem Schreibtisch stand, kam ihm zu Hilfe.»Die hat Herr Dr. Urban schon abgeholt. Vor zwei Stunden.«

«Was hat Dr. Urban mit meiner Post zu schaffen? Er hat seine eigene Station! Ich wünsche in Zukunft nicht, daß meine Post anderen ausgehändigt wird.«

Ehe der Zahlmeister etwas antworten konnte, war sie schon hinaus und rannte zu dem Zimmer, in dem der Gefreite noch immer die beschädigten Pakete zusammenschnürte.

«Die Post von Station II!«rief Lisa Mainetti.

«Bitte!«In strammer Haltung zeigte der Gefreite auf die einzelnen Stapel.»Es ist alles schon sortiert, Frau Doktor.«

«Das sehe ich! Wer hat das veranlaßt?«

«Herr Oberarzt Dr. Urban.«

Lisa Mainetti blätterte den Stapel von Zimmer 14 durch. Ein dicker Weihnachtsbrief war für Kaspar Bloch darunter. Absender: Prof. Dr. Th. Bloch. Aber kein amtliches Schreiben.

«Ist das alles?«fragte Dr. Mainetti.

«Ja, Frau Doktor.«

«Mensch — denken Sie nach! Ist das alle Post für meine Station?«

Der Gefreite drehte die Augen zur Decke. Es war offenkundig, daß er sich zu erinnern versuchte. Dann hellte sich seine Miene auf. Er

stand stramm und hob dabei wie um Verzeihung bittend die Schultern.

«Der Herr Oberarzt hat einen Brief selbst eingesteckt. Für den Bloch war er. Seine Mutter ist bei einem Luftangriff umgekommen. Der Herr Oberarzt will aber.«

«Danke!«Lisa raffte die Stapel zusammen und verließ das Zimmer. Mit ein paar Schritten war sie an der Tür Dr. Urbans. Als sie eintrat, stand Dr. Urban gerade in Hose und Unterhemd vor einem Spiegel und rasierte sich. Er hatte für den Nachmittag eine Verabredung mit Frau Adam getroffen. Eine kleine Fahrt in die verschneiten Hügel. Für dieses Vergnügen wollte er sogar freiwillig die rührende Bescherung der Waisenkinder durch den Kreisleiter versäumen.

«Nanu, liebe Kollegin!«sagte er und stellte den Rasierpinsel auf die Glasablage.»So forsch in eine männliche Behausung? Sie haben doch wohl keine erotische Ader in sich entdeckt?«

Lisa Mainetti warf die Briefstapel auf den Tisch und trat nach hinten die Tür zu. Dr. Urban sah auf die Briefe und atmete tief auf.

«Hier fehlt ein Brief!«sagte Lisa kalt.»Der Gefreite sagte mir, daß Sie ihn eingesteckt haben. Ich möchte ihn sehen.«

«Dieser Idiot sieht Gespenster!«Dr. Urban kam mit seinem eingeseiften Gesicht näher. Er versuchte sogar zu lächeln.»Sie wollen mir doch wohl nicht unterstellen, Frau Kollega, daß ich Briefe unserer Patienten.«

«Es war ein Brief an Kaspar Bloch. Angeblich teilte die Kreisleitung mit, daß seine Mutter.«

«Ach das!«Dr. Urban lachte laut. Er wandte sich ab und ging zurück zum Spiegel, nahm seinen Rasierpinsel und seifte sich weiter das Gesicht ein.»Das war ein kleiner Trick von mir. Leider vergeblich. Ich glaube jetzt fast selbst, daß der Kerl das Gehör verloren hat. Bei so einer massiven.«

Dr. Mainetti ließ ihn nicht aussprechen. Mit ein paar Schritten war sie bei Dr. Urban. Ganz dicht stand sie vor ihm. Seine kalten Augen sahen sie höhnisch und siegessicher an.

«Wenn ich keine Frau wäre«, sagte sie leise,»befänden Sie sich jetzt in akuter Lebensgefahr. So aber kann ich Ihnen nur sagen, daß ich Sie zutiefst verachte.«

«Es wird mir nicht weh tun. «Dr. Urban wandte sich ab und schraubte seinen Rasierapparat zu.»Der Zweck heiligt die Mittel, das sagte schon Machiavelli. Oder wollen Sie einen Simulanten decken, Kollega? Nun, mir scheint, er ist wirklich gehörlos. Was macht da schon der kleine Trick aus, er hat's doch nicht gehört.«

Wortlos drehte sich Lisa Mainetti um und ging zurück auf ihr Zimmer. Kaspar Bloch sprang auf, als sie eintrat, sein Körper schüttelte sich wie in einem wilden Fieber.

«Ist es wahr?«stammelte er.»Ist es wirklich wahr?«

Lisa schüttelte den Kopf.»Nein!«sagte sie fest.»Er wollte Sie nur überführen.«

Ohnmächtig fiel Kaspar Bloch ihr vor die Füße.

Weihnachten.

Im Keller der Horst-Wessel-Straße in Köln saß Ursula Schwabe vor einem geschmückten, dicken Tannenzweig, den sie sich heimlich aus dem Kölner Grüngürtel geholt hatte. Mit in Streifen geschnittenem Silberpapier und Pappsternen hatte sie den Zweig festlich geputzt und Erich Schwabes Foto daruntergestellt. Es zeigte einen lachenden Feldwebel, ein offenes, fröhliches, lebenslustiges Gesicht.

Ein Gesicht, das es seit dem 4. Oktober 1944 nicht mehr gab.

Drei Kerzen hatte Ursula angezündet. Aus dem Volksempfänger tönten leise die alten deutschen Weihnachtslieder, der Gesang von der stillen, heiligen Nacht und der seligen, fröhlichen Weihnachtszeit. Mit gefalteten Händen saß Ursula vor den drei flackernden Kerzen, dem kärglichen Tannenzweig und dem Bild aus der Vergangenheit. Hinter ihr bullerte der Eisenofen und durchdrang die Muffigkeit des feuchten Kellers mit einer Illusion von Wärme.

Jetzt sitzen sie in Bernegg auch vor einem Weihnachtsbaum, dachte sie. Und Erich wird an mich denken, wie ich an ihn denke. Es war falsch, daß ich nicht mitgefahren bin. Warum soll ich nicht stark ge-nug sein, ihn anzusehen, so wie er jetzt ist? Ich bin kein Kind mehr, ich bin doch seine Frau, und ich weiß, wie er ausgesehen hat, dort steht ja sein Bild. Und einmal wird er wieder aussehen wie die anderen Menschen auch.

Sie lauschte nach oben. Die Sirenen gellten. Es hatte nichts Erschreckendes mehr. Im Gegenteil, wenn sie einen Tag nicht heulten, war man verwundert. Oft überflogen die Geschwader die Stadt auch nur oder kamen von anderen Zielen zurück und warfen nur noch vereinzelt Bomben ab. Ballast, den sie nicht wieder mit nach England zurücknehmen wollten. Übriggebliebene Bomben, die die Trümmer noch einmal umpflügten wie ein Feld, auf dem der erste Pflug nicht alles Unkraut beseitigt hatte.

Von den Stadträndern her hörte sie das Aufbellen der Flak. Die Erde zitterte leicht. Das ist weit weg, dachte Ursula. Aber sie drehte das Radio ab, um besser hören zu können.»Vom Himmel hoch, da komm' ich her.«, sang gerade wie zum Hohn irgendein Chor.

Der Lärm der Flak kam näher. Helles Motorengebrumm mischte sich dazwischen. In diesem Augenblick hörte Ursula klappernde Schritte die Kellertreppe hinabkommen, die Tür wurde aufgestoßen und ein Mann in der Uniform eines Fliegerfeldwebels stolperte in den Kellerraum.

«Sie sind direkt über uns!«keuchte er und drückte die Tür hinter sich zu. Dann blickte er sich um und nahm die Mütze ab, wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und lächelte etwas verlegen zu Ursula hinüber.

«Sie sind allein hier, Fräulein?«Er horchte nach oben und nickte mehrmals.»Die ziehen vorbei. Gott sei Dank! Nicht mal Weihnachten hat man Ruhe. Ein Mistkrieg ist das!«Er kam schüchtern näher und sah den Tannenzweig, die drei Kerzen und das Bild Erich Schwa-bes.»Ihr Bräutigam, Fräulein?«

«Mein Mann.«

«Oh, Verzeihung. So ohne weiteres kann man das ja nicht sehen.«

Der Fliegerfeldwebel setzte sich auf eine Kiste neben Ursula und starrte auf Schwabes Bild.

«An der Front?«fragte er, als Ursula nichts sagte.

«Nein. Im Lazarett.«

«Verwundet? In Rußland?«

«In Bernegg. Er hat eine Gesichtsverletzung. Seine Mutter ist jetzt bei ihm. Ich darf noch nicht zu ihm.«

Der Feldwebel pfiff durch die Zähne. Er hatte ein sympathisches, ebenmäßiges Gesicht und schwarze Locken wie ein Südländer. Er war groß und breit und gesund wie ein Baum in gutem Boden.

«Tja, das ist schlimm«, sagte er unbekümmert.»Wir hatten auch zwei bei uns. Aus einem brennenden Stuka haben wir die gezogen. Sie sahen aus wie Bratäpfel. Gott sei Dank sind sie beide gestorben.«

Ursula überlief ein eiskalter Schauer. Sie senkte den Kopf und schielte zu dem Bild Erichs hinüber. Du lebst, dachte sie. Und wer weiß, wie du aussiehst. Mein Gott, mein Gott, laß ihn wieder zu einem Menschen werden.

«Und nun feiern Sie hier allein Weihnachten?«fragte der Fliegerfeldwebel.»Übrigens, ich heiße Karlheinz Petsch. Kein schöner Name, aber ich bin nicht schuld daran. «Er lachte, kramte in seinen Taschen herum und holte eine angebrochene Blechschachtel mit Scho-ka-Cola hervor. Er hielt sie Ursula hin und nickte ihr zu.»Mein Beitrag zu Ihrem Weihnachtsfest. Das ist alles, was ich habe. Ja, und Urlaub habe ich. Sechs Tage noch. «Er sah sich um und lehnte sich zurück gegen die Kellerwand. Eigentlich schön, daß ich gerade hier untergekrochen bin. Ich bin nämlich genauso einsam wie Sie. Meine Braut ist weg, keiner weiß, wohin. Und meine Eltern sind evakuiert. Ich hab's erst hier erfahren.

«Was halten Sie davon, wenn wir zwei Vergessenen gemeinsam Weihnachten und Neujahr feiern?«

Ursula Schwabe schüttelte den Kopf.»Ich möchte allein sein«, sagte sie leise.

«Aber warum denn? Jeder Tag ist wichtig. Heute oder morgen können wir eins aufs Dach bekommen, und dann ist's aus für immer! Ich werde uns zwei Flaschen organisieren, und dann sieht die Welt ganz anders aus!«»Bitte, nein«, sagte Ursula. Sie beugte sich vor und richtete eine Kerze gerade, damit sie nicht so sehr tropfte und nicht zu schnell abbrannte.

Karlheinz Petsch sprang von der Kiste auf und klopfte Ursula auf den schmalen Rücken.

«Der Rummel ist vorbei! Ich komme heute abend wieder. Und im übrigen hat es wenig Sinn, immer das Bild anzusehen. So sieht er nicht mehr aus! Sie sollten sich lieber ein Bild kommen lassen, wie er jetzt aussieht. «Er klopfte Ursula wieder auf die Schulter und drehte eine blonde Locke um seinen Zeigefinger.»Und nun laß den Kopf nicht hängen, Mädchen. Es ist doch alles Mist um uns herum. Wir ändern nichts mehr. Also bis heute abend!«

Er rannte die Treppen hinauf und ließ die Kellertüre offen. Ursula preßte beide Hände auf die Brust. Sie starrte das Bild Erichs an, und vor ihren Augen verschwamm sein lächelndes Gesicht, und eine Fratze schrie ihr entgegen.

Da sprang sie auf, rannte zur Treppe und schrie hinauf:

«Ich will Sie nicht mehr sehen! Kommen Sie nicht! Bitte, kommen Sie nicht! Ich will es nicht!«

Sie warf die Kellertür zu, verriegelte sie und rückte die Kiste davor, auf der er gesessen hatte.

Aber noch während sie es tat, wußte sie, daß es sinnlos war. Er würde kommen — und sie würde ihn hereinlassen.

Auf dem Wege zu Fritz Adam — wie Blei war es in den Beinen Dr. Lisa Mainettis, als sie die Treppe hinaufstieg — hörte sie in ihrem Zimmer die Alarmglocke läuten. Sie machte kehrt und ging zurück zur Aufnahme, wo bereits der Assistenzarzt in seinen weißen Kittel schlüpfte.

«Ein Frontzugang!«rief der Unteroffizier vom Telefon.»Ist auf dem Wege zu uns und kommt gleich an. Wurde zu uns eingeflogen. Muß ein harter Brocken sein.«

«Und das zu Weihnachten!«sagte der Assistenzarzt.»Wo das gan-ze Haus voll von Besuchern ist.«

In aller Eile wurde der Eingang abgesperrt. Die Besucher wurden durch einen Seiteneingang geleitet, der Zugang zum OP wurde abgeriegelt.

Im Operationssaal bereiteten die Schwestern schon das Nötigste vor. Man kannte die Sofortmaßnahmen von Hunderten von Einlieferungen her. Meist wurde nur eine erste Wundversorgung vorgenommen.

Dr. Mainetti war noch beim Händewaschen, als der Sanka vorbeifuhr und zwei Sanitäter eine zugedeckte Trage in den Block B trugen. Der Assistenzarzt dirigierte sie sofort zum OP, wo sie die Trage abstellten. Ein langgestreckter Körper lag unter den Decken, unbeweglich, wie erstarrt.

Der Assistenzarzt hielt Dr. Lisa Mainetti den Laufzettel vor die Augen, während sie sich weiter wusch.

«Fischer, Rudolf. Leutnant, geb. am 24.4.1916 in Breslau. Verwundet am 23.12.1944. Eingeliefert in HVP 0 Uhr 10. Ausgeflogen 14 Uhr 17. Dreitausend Einheiten Tetanusserum vom Hammel. Puls 60, Temperatur 36,0, in der Achselhöhle gemessen. Verletzung durch Granatsplitter von Schädel und Gesicht.«

Dr. Mainetti sah hinüber zu der zugedeckten Bahre.

«Decken Sie ihn auf«, sagte sie zu dem jungen Arzt.»Wir sind so etwas ja gewöhnt.«

Die Sanitäter zogen die Decke vom Kopf Rudolf Fischers. Einen Augenblick hielt selbst Dr. Mainetti mit dem Waschen inne. Es war kein Kopf mehr, kein Gesicht, keine menschliche Form. Es war ein Wunder, daß dieser Mensch lebte, daß er atmete, daß sein Herz weiter in der Brust zuckte.

Ein einziges Auge war ihm geblieben. Es lag inmitten eines Gewühls von zersplitterten Knochen und zerfetztem Fleisch. Die Kiefer waren abgerissen und die Schädeldecke zertrümmert. In der Luftröhre hatte der Verwundete einen Schnitt, in den man eine Kanüle gesteckt hatte. Nur durch diese Tracheotomie war es möglich gewesen, ihn vor dem Ersticken zu bewahren.

Lisa Mainetti starrte auf das eine, das übriggebliebene linke Auge. Es lag in einem schweren Bluterguß, das Weiße im Auge war dunkelrot verfärbt, aber es war voll Leben. Es sah sie an mit erschreckender Deutlichkeit: ein kleiner Fleck Leben inmitten einer völlig zerstörten, verwüsteten Landschaft aus Blut und Knochen.

«Auf den Tisch — vorsichtig!«sagte Dr. Mainetti gepreßt. Sie trat zur Seite und ließ die Hände abtropfen, und der Blick des einen Auges folgte ihr.

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