Kapitel 14

Schneller als erwartet, kam der Winter. Eines Morgens sah der Berliner aus dem Fenster, und über dem Land, über Park und Schloß, über Hügel und Feldern lag eine Schneedecke. Es schneite in dicken

Flocken, träge und langsam.

«Wieder 'n Jahr um«, sagte er und ließ das Fenster offen.»Ick krie-je imma Traurigkeit ins Gemüt, wenn ick Schnee sehe.«

Unten vor der Hauptwache, an der Anfahrt zum Eingang, schaufelten zwei Negersoldaten den Schnee weg und streuten Salz auf die in der Nacht gefrorene Unterschicht. Ab und zu blieben sie stehen, schlugen die Arme gegen den Körper und stampften auf und ab.

«Onkel Toms Hütte friert«, stellte der Berliner fest.»Vom Baumwollfeld ins kalte Germany — Jungs, da könnte man wat draus machen. Ick jehe zu ihnen und sag': Boys, nix frieren, rin in de warme Wache. Ick und meine friends, wir schaufeln. Aba nur jejen Camel und ham and eggs. Is det 'n Jedanke?«

Die Stube 14 nickte geschlossen. Die 700 Kalorien pro Tag ließen die Mägen knurren. Zwar schaffte Dora Graff einiges heran — sie bekam es von den Soldaten, die sie seit Monaten bestechen wollten, mit ihnen nach Bernegg zu fahren und ein wenig Holliday zu machen — aber auch das versiegte, als man einsah, daß Dora nicht zu bewegen war, für Schokolade und blütenweißes Brot zu einem >Fräu-lein< zu werden. Auch Fritz Adam war sauer. Er sagte einmal:»Lieber laß uns verhungern, Dora, als das! Ich will nicht, daß du ständig von diesen Kerlen belästigt wirst!«

Der Berliner war gleich nach dem Waschen und dem Kaffeetrinken losgezogen und verhandelte bereits im Park mit einem Neger, der dort mit einem Schneeschieber keuchend den Weg freischob.

«Hello, sonny boy«, sagte Paul Zwerch und war verwundert, daß der Soldat die Augen rollte und den runden, schwarzen Kopf wie zum Angriff senkte.»Nix schipp-schipp, understand? Nix frieren. Ich — I schipp very well!«

Der Negersoldat stützte sich auf den Stiel des Schneebrettes und starrte den Berliner mit seinen weißen Augäpfeln wortlos an. Paul Zwerch seufzte.

«Bist'n Dussel, my boy! Paß mal auf. I — ich snow weg. Zehn Camel. «Er hob alle zehn Finger hoch.»And one Dose ham and eggs. Kapiert?«

«Yes. «Der Neger stieß den Stiel des Schneebretts dem Berliner hin.»Go on!«

«Nix. Camel und Dose. Ick bin doch nicht von 'n Affen jebissen! Komm, zahlen!«Er streckte die Hände offen hin und machte die Bewegung des Hineinlegens. Der Negersoldat nickte. Mit langen Schritten ging er durch den Schnee und verschwand in einer Tür des Wacht-gebäudes. Paul Zwerch sah nach oben. Im Fenster hingen die Insassen der Stube 14 und beobachteten den Erfolg der ersten Fühlungnahme.

«Det klappt, Jungs!«rief der Berliner hinauf.»Ick schaufle den Schnee nach links, dann kommste 'runter, Wastl, und schippst 'n von links nach rechts. Dann der Erich wieder nach links. Und so jeht det weiter. Damit sanieren wir uns!«

Der Neger kam zurück. Er hatte eine Schachtel Zigaretten in der Hand, eine Packung Keks und eine kleine Büchse mit Marmelade. Der Berliner nickte zustimmend.

«Ooch jut, Erdbeerkonfitüre. Mit janzen Früchten! Det wird Mamas Sohn als Abendserenade singen. My big Dankeschön, Blacky.«

Das letzte Wort war kaum ausgesprochen, als Paul Zwerch durch die Luft segelte und mit dem Bauch voran im Schnee landete. Der Negersoldat hatte ihn wortlos in den Hintern getreten, und es war ein solch gewaltiger Tritt, daß Zwerchs Steiß gefühllos war und wie abgestorben.

«Ich muß mir mehr um die englische Sprache kümmern«, sagte der Berliner, als er wieder auf Zimmer 14 war und stöhnend ins Bett kroch.»Irjendwat is da falsch jelaufen.«

Der Wastl unternahm den zweiten Anlauf. Er fing es klüger an. Er stellte sich neben den Neger in den Schnee und begann zu jodeln. Holodrijo, sang der Wastl und ließ die flachen Hände auf seine Oberschenkel krachen.

Der Neger hörte auf, Schnee zu schippen, und blickte kritisch zu dem jodelnden Mann mit den mächtigen Rollappen im Gesicht. Dann ließ er den Stiel des Schneebrettes wieder fallen und kam langsam auf den Wastl zu.

O jeh, dachte der Feininger, und der letzte Jodler verunglückte kläglich. Jetzt kriag' i a Watschen!

Aber der Neger blieb stehen, seine dicken Lippen verzogen sich, weiße Zähne blinkten, und dann lachte er und klopfte den Wastl auf die Schulter.

«Well, well!«sagte er.»Very good! Me too.«

«Wos is?«fragte der Wastl entgeistert.

«Me too.«

«An schlechte Englisch spricht der! Wos is!«

«Me too!«brüllte der Neger.

«Er will es auch!«rief Fritz Adam vom Fenster herunter.»Du sollst es ihm beibringen, Wastl!«

«Dös Jodeln?«

«Ja!«

«Als Ne — «

«Halt die Fresse!«brüllte der Berliner dazwischen. Wastl Feininger verschluckte das Wort. Er lächelte und hob beide Hände.

«Camel and eat.«

«Okay!«Der Neger griff in die Tasche seiner Uniform und holte die Zigaretten, die Kekse und die Büchse Marmelade wieder hervor.»Go on!«

«Mitkommen!«Der Wastl steckte die Herrlichkeiten ein und ging dem Neger voraus zu einer Ecke des Lagerschuppens, in dem noch immer, unter Stroh und Gerumpel, Fritz Adams Auto stand, die >Ge-heimwaffe Berneggs<. Dort hob er den Zeigefinger, zeigte auf seinen Hals und begann wieder. Holo-drijoh.

Nach einer Stunde — es war die schwerste Stunde in Wastls Leben — kamen sie wieder zurück zum Block B. Der Negersoldat lachte breit, ergriff wieder sein Schneebrett und schaufelte weiter. Dabei warf er den wolligen Schädel in den Nacken, rollte die Augen und brüllte in die kalte Luft.»Juchodriloh Ho-lodrij.«

Es klang, wie wenn ein Berg Porzellan zerspringt. Wastl Feininger klatschte in die Hände und klopfte dem Neger auf die Schulter.

«Very nice, friend«, sagte er.»Weitermachen.«

An diesem Abend schwelgte die Stube 14. Jeder bekam zwei Kekse mit Marmelade und drei Zigaretten. Die restlichen Camel behielt der Wastl einstimmig als Gratifikation für seine Leistung zugesprochen.

«Und was machen wir morgen?«fragte Erich Schwabe.»Du kannst mit dem doch nicht jeden Tag jodeln üben.«

«Es wird sich schon etwas finden. «Walter Hertz kaute lange an seinen Keksen, er ließ sie auf der Zunge zergehen und drehte die ganzen Erdbeeren der Konfitüre wie einen Bonbon im Mund. Man muß den herrlichen Genuß des Essens ausdehnen bis zum letzten Geschmacksempfinden.»Kann einer zaubern?«

Es konnte keiner, lediglich der Berliner beherrschte einige Kartentricks. Sie reichten zwar für Mogeln beim 17 und 4, aber für Zauberei war es zu wenig.

«Der Oster kann zaubern«, sagte Fritz Adam.

«Wer ist Oster?«

«Ein Kumpel, dem sie vor ein paar Wochen ein neues Kinn gemacht haben. Ganz große Sache von der Mainetti. Ich habe gesehen, wie er auf seiner Bude ein paar ganz nette Tricks vorgeführt hat. Er liegt auf Nr. 4.«

«Det is ja der Mist. «Paul Zwerch leckte die Marmeladendose aus. Er bekam diese Vergünstigung als Schmerzensgeld für seine fehlgeschlagenen Bemühungen.»Wat nützt uns der Oster auf Nr. 4?«

«Man sollte ihn zu uns herüberholen«, schlug Schwabe vor.

«Und wie?«

«Ick saje der Mainetti, det mir dat leere Bett vom Bloch stört. Leere Betten machen mir imma trübsinnig. Und Trübsinn is vaboten bei uns. Und dann schlag' ick den Oster vor.«

«Das geht schief«, sagte Schwabe.

«Vasuchen kann ick ja.«

«Und wenn die Stube 4 merkt, warum wir den Oster weggeholt haben — das gibt einen Lazarettkrieg!«

«Wia i gebaut bin«, schrie der Wastl und ließ die Muskeln springen.»An Ochsen hab' i umg'worfen.«»'ran an 'n Speck!«rief der Berliner.»Holn wir det Osterhäschen 'rüber.«

Es blieb ein Geheimnis, wie Paul Zwerch es erreichte. Am nächsten Mittag erschien Dora Graff und half dem Gefreiten Christian Oster seine Sachen herübertragen. Er war nicht in der besten Stimmung und hatte sich gegen die Verlegung in ein anderes Zimmer heftig gewehrt. In Stube 4 hatte er sich wohl gefühlt, dort lag er schon über ein Jahr, kannte jeden und fühlte sich wie zu Haus. Die plötzliche Verlegung kam ihm wie eine persönliche Schikane vor. Auch Dr. Mainetti konnte es nicht verhindern, und schließlich erfuhr die Stube 14, daß nicht Lisa, sondern Leutnant Potkins, Major Braddocks >Statthalter< auf Schloß Bernegg, die Verlegung angeordnet hatte. Was zwischen Potkins und Paul Zwerch geschehen war, blieb noch im Dunkeln.

«Willkommen, großer Kalanag«, sagte Walter Hertz. Christian Oster feuerte sein Gepäck in den leeren Spind und warf sich aufs Bett.

«Leckt mich am Arsch«, sagte er und drehte sich zur Wand.

«Dazu mußte aba erst die Hose ausziehn«, sagte der Berliner gemütlich. Die anderen brüllten, und Oster drehte sich langsam zu ihnen um.

«Was seid ihr für blöde Hunde?«

«Hast schon mal was von Titten-Theo gehört?«fragte Walter Hertz. Oster setzte sich. Sein Gesicht hellte sich auf.

«Natürlich.«

«Det war unsere Entdeckung, Mensch!«Der Berliner wedelte mit der Hand.»Nu bist du unsere Entdeckung!«

«Ich?«Oster griff sich an das neue Kinn. Es war gut eingeheilt und rauh und narbig. Die abgerundete Weichteildeckung war ein neuer Operationsakt.»Wollen die mir auch.?«

«Quatsch!«Fritz Adam setzte sich zu Oster aufs Bett.»Ich bin der Stubenälteste. Alle, die du hier siehst, sind Pfundskameraden. Mit uns kann man Pferde stehlen, das wirst du noch erleben. Und es wird dir bei uns gefallen, bestimmt.«

«Und warum hat man mich verlegt?«»Vielleicht, weil hier ein Bett frei ist. Vielleicht kommt auf Nr. 4 ein neuer Fall, aus einem anderen Lazarett. Wer weiß das?«Fritz Adam zeigte auf den Wastl, der gerade Karten mischte.»Der da hat gestern einem Neger das Jodeln beigebracht.«

«Das Jodeln? 'nem Neger?«Oster lachte.»Verrückt!«

«Na also«, sagte Erich Schwabe. Er reichte Oster einen Keks herüber. Schwabe hatte ihn am Abend weggelegt, um zwischen dem Mittagessen und dem Abendbrot etwas zum Kauen zu haben.»Wir sind eine verrückte Bande. Und wenn du mitmachst, kann noch allerhand passieren!«

Man sah Oster an, daß er begann, sich wohl zu fühlen. Er räumte seinen Spind ein und pickte mit einer Heftzwecke ein Foto an die Innentür. Eine pausbäckige, braunlockige, junge Frau, mit einem Grübchen in der linken Wange.

«Jeschmack hat der Junge«, sagte der Berliner, der zusah.

«Meine Frau«, sagte Oster stolz.

«Jratuliere! Bei der isses aba ooch schwer, nachts zu schlafen, wat?«

Oster lachte und schlug dem Berliner auf die Schulter.

«Ihr seid wirklich ein toller Verein«, rief er.»Jungs, tragt mir nicht nach, daß ich vorhin so.«

«Schon vergessen!«sagte Walter Hertz.

Am Abend zauberte Christian Oster. Er holte dem Wastl eine Mark aus der schiefen Nase und dem Berliner drei Hosenknöpfe aus den Ohren. Eine Herz-Zehn, die im Kartenspiel fehlte, hatte Erich Schwabe in den Socken, und Fritz Adam sah verblüfft, daß in seiner Brieftasche die Armbanduhr von Walter Hertz lag.

«Det is ne Wucht!«schrie der Berliner.»Damit hau'n wir den Amis die halbe Verpflegung aus 'n Rippen!«

Major Braddock erschien überraschend im Lazarett. Er hatte sich nicht, wie bisher, telefonisch angemeldet. Plötzlich fuhren vier Jeeps durch die Hauptwache in den Park und hielten vor dem Eingang von Block B. Zehn in dicke Mäntel mit Pelzkragen vermummte Männer stie-gen aus und klopften sich den Schnee ab, traten in die Halle und zogen sich die mit Lammfell gefütterten Wintermützen vom Kopf. Dr. Lisa Mainetti, die gerade operierte, wurde von Baumann benachrichtigt, der einen Frischoperierten auf sein Zimmer gerollt hatte.

«Ich operiere«, sagte Dr. Mainetti schroff.»Er soll sich anmelden.«

«Es sind zehn Mann, Frau Doktor. Alles Offiziere.«

«Und wenn es hundert Offiziere sind. Ich kann die Operation nicht unterbrechen. Sagen sie das dem Major!«

Famulus Baumann kam nicht mehr dazu, das auszurichten. Brad-dock öffnete die Tür des OP und steckte den Kopf in den Saal.»Miß Doktor!«rief er in die Stille hinein.

«Verdammt!«Lisa Mainetti drehte sich wütend herum.»Sie sehen doch, daß ich operiere! Gehen Sie 'raus, aber möglichst schnell. Sie sind nicht steril!«

«Das wäre meiner Frau auch nicht recht«, sagte Major Braddock gut gelaunt und schloß die Tür. Auf dem Flur hob er die Schultern und schüttelte den Kopf.»Meine Herren, es wird gerade ein Gesicht gemacht. Gehen wir so lange zu Potkins und warten dort. Dieses Weib geht mit dem Skalpell auf uns los, wenn wir sie jetzt herausholen!«

«Ich habe schon allerhand von ihr gehört. «Ein langer, schlaksiger Offizier im Range eines Oberstleutnants sah neugierig auf die geschlossene OP-Tür.

«Allerhand ist viel zu wenig. Na, Sie werden sie kennenlernen. Eine Löwin, die Junge säugt, ist ein Schoßhund dagegen.«

«Sie soll hübsch sein.«

«Eine klassische Römerin.«

«Und dann so ungebändigt?«

«Als sei sie aus dem Vulkan geschleudert worden. Kommen Sie, meine Herren, bei Potkins können wir uns aufwärmen. Der Junge hat immer was im Schrank stehen.«

Sie gingen schnell von Block B zu Block A, wo die Verwaltung des Schlosses untergebracht war und Leutnant Potkins an der Seite eines deutschen Oberzahlmeisters die bürokratischen Geschicke des

Lazarettes überwachte.

Nach einer Stunde war Lisa Mainetti endlich soweit, Major Braddock und die anderen Offiziere im Chefzimmer empfangen zu können. Der lange, schlaksige Oberstleutnant stand in sichtbarer Bewunderung herum. Es schien ihm ein großes Rätsel zu sein, daß eine Frau wie Lisa an einem Operationstisch stehen konnte und Knochenspäne aus Schienbeinen und Hüften meißelte oder Rippenknorpel abschälte.

«Sie haben ja einen wahren Aufmarsch veranstaltet, Major«, sagte Dr. Mainetti und sah die zehn Offiziere der Reihe nach kritisch an.»Mir scheint, es ist etwas sehr Offizielles.«

«Zwei Dinge sind es, die mich zu Ihnen führen. «Braddock reichte Zigaretten herum und ließ sein Feuerzeug kreisen.»Zunächst etwas Internes, was nur meinen Befehlsbereich angeht. Wissen Sie, daß meine Schloßwache und von ihr ausgehend auch meine MP ein neues Hobby hat? Alles zaubert!«

«Was tun sie?«fragte Lisa verblüfft.

«Zaubern. Simsalabim. Ganz verrückt sind die Kerle. Bei einem Training mit Eiern sind neununddreißig zerbrochen.«

«Sie sehen mich erschüttert, Major. «Lisas Stimme war voll Spott.»Ihre Leute trainieren Zauberkunststückchen mit Eiern. Und um sie herum hungern Frauen und Kinder. Man sollte nach einer anderen Richtung hin zaubern.«

Braddock wandte sich an die anderen Offiziere.»Hab' ich es nicht gesagt: eine Löwin!«Er ging hin und her und umkreiste Lisa wie ein Jagdhund, der eine Beute gestellt hat.»Doch davon später. Ich weiß, daß diese Zauberei von hier kommt. Aus dem Lazarett.«

«Wir haben keine Eier.«

Braddock blieb mit einem Ruck stehen.»Miß Doktor, Ihre Schlagfertigkeit ist entwaffnend. Irgend jemand bringt meinen Jungs diese Tricks bei und kassiert dafür ganze Berge von Lebensmitteln.«

«Ach so. «Lisa lachte laut. Eine Bande sind sie doch, meine Jungs, dachte sie mit mütterlichem Wohlwollen. Muß man sie nicht bewundern? Sie haben kein Gesicht mehr. Aber sie beginnen wieder, das Leben zu lieben. Man könnte sie alle umarmen und an sich drük-ken.»Bei 700 Kalorien pro Tag ist das eine Art Selbstschutz, Major.«

«Gut, gut. Wir reden noch darüber. Diese Herren«, Braddocks Hand machte eine Bewegung zu den Offizieren hin,»bilden eine Kommission. Das Hauptquartier in Heidelberg hat sie geschickt, und sie haben die Aufgabe, eine Lazarettbegehung durchzuführen.«

Dr. Mainetti nickte den Offizieren freundlich zu.»Warum nicht? Im Louvre werden die Gemälde besichtigt, in Hamburg die Dirnenstraßen. Hier sind es die Fratzen des Krieges. Darf ich den Museumsführer machen?«

Major Braddock schnaubte laut durch die Nase.»Miß Doktor, mir ist es ein Rätsel, warum ich mich überhaupt mit Ihnen unterhalte. Diese Herren sind eine Kommission, die eine Liste über die ersten Entlassungen anfertigen soll. Man will die Lazarette zuerst räumen, und zwar nach der Schwere der Verwundungen. Alle Amputierten, alle Verletzten, die arbeitsunfähig sind, werden zuerst entlassen.«

Dr. Mainetti sah die Offiziere halb erfreut und halb besorgt an.»Das mag für normale Verwundungen richtig sein, meine Herren«, sagte sie laut.»Ein Gesichtsverletzter erfüllt unter Umständen alle diese Bedingungen, aber man wird ihm mit einer Entlassung keinen Gefallen erweisen. Er muß immer wieder nachoperiert werden, es müssen Verpflanzungen gemacht werden. Narbenaustrennungen, Transplantationen. Wer soll das tun, wenn man diese Leute entläßt? Eine Entlassung aus dem Lazarett wäre in solchen Fällen nur eine neuerliche und vollkommen ungerechtfertigte Bestrafung.«

«Diese Frau ist mit nichts zufrieden!«rief Major Braddock.»Habe ich es nicht gesagt, meine Herren? Immer schwimmt bei ihr ein Haar in der Suppe. Nun wollen wir die POWs entlassen — und schon ist's wieder falsch.«

«Geben Sie den Soldaten den Status von Zivilpersonen, aber lassen Sie sie auf dem Schloß, Major.«

«Das muß das Hauptquartier entscheiden. Und wer soll die Kosten tragen?«»Es wird ja wohl irgendeine verantwortliche Stelle geben. Ich nehme an, Sie haben Übergangsgesetze erlassen. Ich habe mich nie darum gekümmert, ich habe nur operiert und neue Gesichter gemacht. Aber es ist doch unmöglich, daß man einen Mann wie etwa Schwabe — Sie kennen ihn ja, Major — nach Köln entläßt und sagt: So, du kannst wieder essen und kauen, schlucken und hören, sehen und fühlen — das genügt. Hau ab und sieh zu, wie du durchs Leben kommst.«

«Warum geht das nicht, Madam?«fragte der lange Oberstleutnant.

«Weil wir eine menschliche Verpflichtung haben, diesen grausam Verstümmelten gegenüber.«

«Wir, Madam? Hat Amerika den Krieg verloren?«

«Es hat den Krieg gewonnen, um uns die wahre Humanität zu bringen, oder irre ich mich da?«

«Was sage ich? Was sage ich?«rief Braddock fast entzückt.»Jetzt gehen Sie k.o., lieber Seymore.«

Oberstleutnant Seymore rieb mit Daumen und Zeigefinger seine Nase. Er war aus dem Konzept geraten.»Sollen wir das Kindermädchen Deutschlands werden?«fragte er dann.

«Nein, aber bis zum Erwachsensein eines neuen Volkes der Vormund.«

«1: 0!«sagte Braddock zufrieden.

«Bin ich Politikerin? Ich bin Arzt und sehe nur die Welt des grenzenlosen Leids. Dieses Leid muß gelindert werden. Das ist die Ur-pflicht eines Christen und Menschen. Wer dazu die Kosten trägt, welche rechtlichen Folgen sich daraus ergeben, das interessiert mich nicht. Ich verlange nur, daß das Leid und das Elend dieser Verstümmelten gelindert und behoben werden, soweit es möglich ist.«

«Das letzte Wort war das wichtigste, Madam. «Oberstleutnant Seymore nickte heftig.»Soweit es möglich ist. Die Möglichkeiten sind erschöpft.«

«Und das sagt das große, reiche Amerika!«

«2: 0!«stellte Braddock genüßlich fest.»Sie kommen nicht über die Runden, Seymore. Miß Doktor hat erbarmungslose Schläge auf

den Solarplexus.«

Seymore lachte gezwungen.»Das Hauptquartier wird zu entscheiden haben, nicht wir. Können wir das Lazarett besichtigen, Madam? Zunächst darf ich Ihnen einige der Herren vorstellen. Kollegen aus Rochester und Cincinnati, Chirurgen und Gesichtsplastiker.«

Er stellte vier Offiziere vor, Namen, die Lisa sofort wieder vergaß. Wichtig war nur, daß es Gesichtschirurgen waren, Fachleute, die ihre Arbeit beurteilen konnten und die wußten, was es für den unglücklichen Patienten bedeutet, ein halb angefangenes Gesicht aus der Hand zu geben und solche Menschen unbehandelt sich selbst zu überlassen.

«Also gehen wir«, sagte Lisa. Sie suchte unter den vielen Aktenstücken eine große Mappe, in der alle Krankenblätter abgeheftet waren. Famulus Baumann, Dr. Vohrer und Dr. Stenton kamen gerade vom OP zurück, aus dem der letzte Operierte hinausgerollt wurde.»Kommen Sie, Baumann, schleppen Sie mir mal die ganzen Krankengeschichten nach«, rief Dr. Mainetti ihm zu.»Die Herren wollen unsere Schäfchen auf die Privatweiden treiben.«

«Solarplexus«, sagte Braddock laut.»Man muß hart im Nehmen sein, meine Herren. Aber kann man es einer solchen Frau übelnehmen?«

Der Ausruf Lisas pflanzte sich in Sekundenschnelle fort. Er flog durch das Lazarett, von Stube zu Stube, und wo er hinkam, wirkte er wie ein Blitzschlag, der das Dach über dem Kopf wegreißt. Auch in die Stube 14 brüllte ein Mann aus dem Nebenraum:»Zehn Amis kommen für die Entlassung!«

Und auch die Stube 14 saß zunächst wie gelähmt da.

Es war eine lange Schlange, die sich nun durch die Zimmer wand: zehn Offiziere, drei Ärzte, Schwestern und Sanitäter. Von Bett zu Bett — und jedesmal las Lisa Mainetti die zusammengefaßte Diagnose und die bisherigen Maßnahmen vor. Die vier Chirurgen aus Amerika ließen sich Verbände abwickeln, tasteten rauhe vernarbte Gesichter ab, neue, im Werden begriffene Nasen, wulstige Lippen und einheilende neue Unterkiefer, dicke Rollappen und große Hautplatten.

Es war ein Aufmarsch des Grauens und ein Flehen um Hilfe. Major Braddock ging stumm neben Lisa her. Zum erstenmal sah er das Lazarett in seiner ganzen schrecklichen Wirklichkeit. Sechs Stunden wälzte sich die braun-weiße Schlange von Zimmer zu Zimmer. Namen wurden genannt, kurze Notizen gemacht, auf Fieberkurven rote oder grüne Winkel gezeichnet, von denen man nur wußte, daß einer davon den Vermerk für die Entlassung bedeutete. Ob es grün war oder rot, das wußten nur die vier untersuchenden amerikanischen Ärzte.

In Zimmer B/14 hielt sich Major Braddock länger auf.»Der berühmteste Raum des Schlosses, meine Herren«, sagte er zu den 10 Offizieren.»Wenn irgend etwas Ungewöhnliches geschieht, sicher geht es von diesem Zimmer aus! Ich vermute, daß auch die Zauberei von hier ausging.«

Christian Oster verhielt sich still. Er stand neben seinem Bett und verzog nicht um einen Millimeter sein Gesicht. Auch als Braddock willkürlich einen Schrank öffnete — es war der von Paul Zwerch —, standen die sechs wie die Säulen. In dem Spind lagen auf der Wäsche vier Dosen amerikanischer Herkunft, fünf Fruchtstangen, drei Flachpackungen Nescafe, zwei Packungen Chesterfield und drei Päckchen Keks.

«Aha«, sagte Major Braddock laut.

«Ick bin 'n sparsamer Mensch, Herr Major!«warf der Berliner ein.»Außerdem hab' ick 'n Durchfall.«

«Weil Sie zuviel fressen. «Braddock räumte den Spind aus und legte alles auf die Bettdecke.»Woher?«

«Abjehungert, Herr Major.«

«Können Sie zaubern?«

«Det war' schön!«

«Machen Sie mir mal den Eiertrick vor.«

«Eier?«Der Berliner sah sich zu den anderen um.»Jungs, wer weiß, wie 'n Ei aussieht? Ick hab's vajessen.«

Die Stube 14 stand stumm und stramm neben den Betten. Nur der Wastl konnte den Mund nicht halten und seufzte laut.

«Eier«, sagte er wie verzückt.

«Sie sind doch der Blöde, der mich mit Heil Hitler begrüßte, nicht wahr?«fuhr Braddock zu Feininger herum. Der Wastl nickte eifrig.

«Dös war a Gaudi, wos?«

«Den entlassen wir sofort«, sagte Braddock und zeigte auf Feininger.

Den Wastl überlief ein Zittern. Aber er beherrschte sich und sah nur flehend zu Lisa Mainetti hinüber. Diese blinzelte ihm zu, beruhigend, wie einem Kind, zu dem man sagt: Nun weine nicht, mein Kleines, es wird ja alles wieder gut.

Entlassen, dachte der Wastl und schluckte krampfhaft. Weihnachten zu Hause, bei der Resi, bei den Kindern, bei den Kühen und den Feldern, im verschneiten Garten, am warmen Kachelofen, in dem die Bratäpfel bruzzeln. Und die Resi kocht Leberknödel mit Kraut, und hinterher gibt's a Maß Bier. Kruzinoamoi, dann weiß man, daß man wieder in der Heimat ist, zu Haus, im Frieden.

Und mit dem Gesicht, das würde schon werden. Die Resi kannte es — und die Kühe kümmern sich nicht darum. Und die Kinder würden sich dran gewöhnen. Wieder in der Heimat.

Erst am späten Abend war die Kommission so weit, die Untersuchungen auszuwerten. Es zeigte sich, daß von 200 Gesichtsverletzten 160 entlassen werden konnten. Die gesamte Stube B/14 war darunter. Auch Erich Schwabe.

«Er ist zwar am schlimmsten dran«, sagte einer der Ärzte aus Cincinnati,»aber er kann in ambulanter Behandlung weiter betreut werden. Ein strenger Lazarettaufenthalt ist nicht nötig. «Er sah zu Dr. Mainetti hoch, die am Fenster stand, die Arme über der Brust gekreuzt. Sie hatte bisher noch nichts gesagt, sondern stumm die Arbeit der amerikanischen Kommission beobachtet.»Wie ist es denn nun in diesen Fällen eigentlich mit der psychischen Lage der Verletzten?«

«Nett, daß Sie auch daran denken«, sagte Lisa bitter.»Ich dachte, Sie denken nur an die Funktionsherstellung. Das habe ich nämlich schon einmal erlebt — vor tausend Jahren.«

«Es geht wieder los«, rief Braddock gespannt.»Die neuen Fighter in den Ring!«

«Wer hat von den zur Entlassung Vorgesehenen noch seelische Hemmungen?«fragte der amerikanische Arzt.

«Alle.«

«Wieso?«

«Ich mache Ihnen den Vorschlag, sich von einer Hobelmaschine das Gesicht weghobeln zu lassen. Dann sprechen wir erneut darüber, wieso das so ist.«

Der Arzt aus Cincinnati räusperte sich und blätterte in seinen Notizen.»Natürlich wird es zu häuslichen Schwierigkeiten kommen«, sagte er gedehnt.»Aber alle Verletzten sehen so aus, daß sie als erträglich bezeichnet werden können.«

«Für einen Arzt — ja. Wir messen mit anderen Maßstäben. Wenn wir sagen: Das Gesicht ist wieder in Ordnung, sehen wir es mit dem Blick des Mediziners. Für die Frau oder Mutter sieht der Verletzte aber noch immer wie ein Ungeheuer aus. Und auch er empfindet es so. Er weiß, wie er früher aussah.«

«Es war eben Krieg, Kollegin.«

«Zu dumm, daß wir das immer vergessen.«

«Hupp — Solarplexus!«sagte Braddock fröhlich.

«Sie glauben, daß es Schwierigkeiten geben wird, wenn wir sie entlassen?«

«Ich weiß es! Nicht bei allen. Nicht bei Schwabe etwa, oder bei Feininger oder bei Oster. Bei Adam schon gar nicht. Aber Walter Hertz ist ein kritischer Fall. - Und so wie ihn habe ich noch etwa vierzehn Fälle im Lazarett. In ihnen wurzelt noch immer die Angst, nicht mehr lebensfähig zu sein. Ein schiefer Blick, eine unvorsichtige Bemerkung, und schon kann es zur Katastrophe kommen. Ein Gesichtsverletzter hat auch eine verletzte Seele: Das sollte ein Lehrsatz werden.«

Die Kommission fuhr in der Nacht noch zurück nach Bernegg. In allen Zimmern des Blockes B brannten noch die Lichter, saßen die Verletzten in den Betten oder um die Tische. Die einen dumpf und nachdenklich, die anderen zitternd vor Freude und Erwartung. Sie alle konnten nicht schlafen.

Entlassung.

Das völlige, sichtbare Ende des Kriegs.

Nach Hause. Zu der Frau, der Mutter, der Braut.

Zurück ins Leben.

Und sie machten Pläne, diese gesichtslosen Wesen, und klammerten sich an diese Pläne, weil sie das einzige waren, was ihnen geblieben war.

Der Glaube an das Gute.

Am 10. Dezember war es soweit.

In Gruppen wurden die Verwundeten aufgerufen und mußten zur Schreibstube kommen. Dort saßen Leutnant Potkins, der Stabszahlmeister und vier Schreiber, auch Gesichtsverletzte, und stellten die Entlassungspapiere und die Fahrtausweise zu den Heimatorten aus. Es vollzog sich alles reibungslos, still, ohne fröhliche Bemerkungen, wie man sonst einen einschneidenden guten Abschnitt des Lebens begrüßt. Die Männer waren ernst, nahmen ihre Papiere und die Fahrscheine, unterschrieben lange Bögen mit Paragraphen, ohne sie zu lesen, und gingen wieder auf ihre Zimmer, setzten sich auf die Betten und lasen den Fahrschein und den Vermerk auf dem Schlußuntersuchungsbefund.

«Untauglich«, stand darauf. Wofür?

Untauglich auch für das Leben?

«Ob man 'n Telejramm schicken kann?«fragte der Berliner.»Ick muß doch Muttern mitteilen, det Paulchen kommt.«

«Vielleicht von Würzburg aus. «Erich Schwabe begann schon, seine wenigen Sachen zu packen.»Wir fahren doch alle zusammen nach Würzburg, nicht wahr?«

«Müssen wir ja. «Fritz Adam faltete die Hände über der Tischplatte.»Und wie der Bloch wollen wir uns versprechen: Wir bleiben zusammen. Jeder wird in Zukunft, solange er lebt, immer für den anderen dasein!«

«Ehrensache«, sagte Walter Hertz.

Sie schrieben ihre Adressen auf und ließen sie rundgehen. Jeder

schrieb sie sich in sein Notizbuch.

«Ob die Lisa hier bleibt?«fragte Hertz.

«Wenn nicht — es wird sich immer feststellen lassen, wohin sie gegangen ist. «Fritz Adam sah die anderen zustimmend an.»Ich schlage vor, daß wir sie im nächsten Jahr besuchen. Alle zusammen. Einen Tag können wir ja noch ausmachen.«

Sie nickten und dachten wieder an zu Haus. Nur Walter Hertz nicht. Er hatte kein Zuhause mehr. Er hatte bei der Entlassung einfach Frankfurt angegeben. Nach Frankfurt lautete nun sein Fahrschein. Was er dort sollte, wußte er nicht. Irgend etwas würde sich finden. Oder sollte er zu Petra fahren? Mit ihr in der amerikanischen Kantine arbeiten. Heiraten kann ich sie nie, dachte er. Auch jetzt nicht, wo sie so arm wie ich ist. Einmal wird sich das ändern, und ich weiß, daß ihre Eltern es nie erlauben würden. - Für sie bin ich kein Mensch mehr.

Zum letztenmal wurden die Gesichter verbunden und mit Leukoplaststreifen überklebt. Und jedesmal, wenn ein Gesicht fertig war, drückte Lisa Mainetti die Hand des Verletzten und sagte:»Mach's gut, Junge. Und beiß die Zähne zusammen!«

Und alle sagten, ohne Ausnahme:»Auf Wiedersehen, Frau Doktor. Und nochmals für alles Dank.«

Walter Hertz weinte, als er Lisa die Hand drückte. Sie nahm seinen Kopf und hielt ihn mit beiden Händen hoch.

«Du kannst jederzeit zu mir kommen«, sagte sie leise.»Ich werde etwas für dich finden. Wenn es dir da draußen zu viel wird — es gibt immer einen Platz auf der Welt, wo du leben kannst. Schäme dich dann nicht und komm nach hier zurück.«

Walter Hertz nickte stumm. Dann riß er sich aus ihren Händen los und rannte aus dem Verbandsraum.

Der Auszug der ersten Gruppe, zu der die Stube B/14 gehörte, war wie ein kleines Volksfest. Ärzte und Sanitäter, Famulus Baumann und die Ordensschwestern, die anderen Gesichtsverletzten, die am übernächsten Tage abmarschieren sollten, und sogar die amerikanischen Soldaten standen vor dem Schloß und winkten den Last-wagen nach, die die Entlassenen nach Bernegg brachten.

Dora Graff lief neben dem Wagen her, auf dem Fritz Adam stand, das Gesicht in einem Schal vermummt, mit hochgezogenem Mantelkragen, frierend und mit blau angeschwollenen Gesichtsnarben.

«Ich komme in 14 Tagen nach, Fritz!«rief sie in das Motorengeheul hinein.»Hörst du? Ich habe einen Anruf bekommen. In 14 Tagen. Nach Heidelberg. Die chirurgische Universitätsklinik arbeitet wieder. Ich kann ankommen. Hörst du, Fritz. In 14 Tagen. Heidelberg.«

Fritz Adam nickte und winkte durch die kalte Luft. Auch er rief etwas zurück. Man verstand es nicht mehr, nur die weiße Atemwolke vor seinem Mund war da, und es war, als erfrieren die Worte und stöben als winzige Kristalle davon.

Lisa Mainetti stand in der großen Eingangstür des Blockes B und sah den wegrollenden Wagen nach. Sie winkte mit beiden Händen, aber in ihrem Gesicht stand kein fröhliches Lachen, es war überschattet von tiefer Nachdenklichkeit.

Da fahren sie weg, meine Jungs, dachte sie. Was wird sie im Leben erwarten?

Und plötzlich hatte sie Angst.

In Würzburg standen Christian Oster, Erich Schwabe, der Wastl Fei-ninger, Fritz Adam und Paul Zwerch am provisorischen Postschalter und gaben ihre Telegramme auf. Walter Hertz war nicht mehr bei ihnen. Er war in Bernegg abgeholt worden. Von Petra Wolfach, die Major Braddock benachrichtigt hatte.»So sind wir«, hatte er zu Petra gesagt.»Auch wenn Sie uns den Aufenthalt Ihres Vaters nicht verraten.«

Walter Hertz hatte es die Sprache verschlagen, als er Petra im Schulgebäude sah. Seine Sorgen, alle jagenden Gedanken der letzten Wochen waren weggewischt. Die Liebe, die Petra ihm jetzt bewies, diese Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn abholte, als sei er ihr Mann oder Bruder, überwältigten ihn.

«Was soll denn jetzt werden?«fragte er nur, als Braddock die Fahrscheine umschreiben ließ.

«Komm erst einmal mit«, sagte Petra fest und faßte seine Hand.»Und denk nicht soviel, Walter. Ich habe auf diesen Augenblick fast ein Jahr lang gewartet.«

In Würzburg kam der große Abschied. Sie brachten den, der zuerst fuhr, immer gemeinsam zum Zug und versprachen noch einmal, sich nie aus den Augen zu verlieren. Und so ging einer nach dem anderen weg in das neue Leben, bis nur noch Erich Schwabe übrigblieb. Sein Zug nach Köln fuhr zuletzt. Er saß noch fast eine Stunde, von Reisenden heimlich angestarrt, aber es machte ihm nichts mehr aus. Er hielt seinen über und über mit Leukoplast verklebten Kopf gesenkt, hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und das Gesicht darin versteckt.

Was wird jetzt in Köln geschehen, dachte er. Sie haben das Telegramm vielleicht schon, und Mutter wird herumrennen, um etwas extra zu bekommen, und Ursula wird nicht wissen, was sie zuerst tun soll, und herumlaufen und allen im Weg sein. Im sechsten Monat war sie jetzt, man mußte es schon sehen. Sie spürte es bereits auch selber, wie sie zuletzt schrieb. Immer mußte sie morgens würgen und sich übergeben, und dann wurde sie öfters schwindlig und mußte sich schnell setzen, ganz gleich, wo sie gerade war, auf einen Mauerrest, auf die Fensterbank einer ausgebrannten Parterrewohnung. Die Beine wurden einfach weich und gehorchten ihr nicht mehr. Es wird Zeit, daß ich komme, dachte Schwabe und sah auf seine Uhr. Noch zwanzig Minuten, wenn der Zug pünktlich aus München eintraf. Abends gegen 9 Uhr würde er dann in Köln sein. Und Mutter und Uschi würden auf dem Bahnsteig stehen und dem Zug entgegenlaufen, wenn er in die zerstörte Halle einfuhr.»Erich!«würden sie rufen.»Erich! Erich!«

Es war schön, nach Haus zu kommen.

Eine Schwester des Roten Kreuzes weckte ihn aus seinen Gedanken. Sie tippte ihn auf die Schulter.»Wollen Sie eine Tasse heißen Kaffee? Kommen Sie mit in die Baracke.«

Schwabe schüttelte den Kopf.»Danke, Schwester, danke. Aber mein

Zug kommt ja gleich.«

«Die haben immer Verspätungen. Mindestens 20 Minuten. Sie sehen ganz erfroren aus. Kommen Sie mit und wärmen Sie sich auf.«

«Danke, Schwester.«

Erich Schwabe nahm sein Gepäck auf und ging der Rotkreuzschwester nach zu einer Baracke am Ende des Bahnsteigs. Deutsches Rotes Kreuz, stand auf einem Schild neben der Tür. Caritas. Evangelisches Hilfswerk.

Ein überheizter, großer, schmaler Raum. Bankreihen an den Holzwänden. Schwestern an rohen Tischen. Ein Herd mit einem Aluminiumkessel voller Malzkaffee. Blechbecher und Steinguttassen, auf denen noch stand >Deutsche Arbeitsfront — KdF<. Auf den Bänken andere Landser und frierende Zivilisten. Sie beachteten Schwabe nicht. - Sie schlürften ihren heißen Kaffee und waren dankbar für die Wärme, die sie langsam und wohltuend durchdrang.

Schwabe erhielt seinen Becher und trank ihn in kleinen Schlucken leer. Der Wechsel von harter Kälte zu überhöhter Wärme und auch der heiße Kaffee trieben ihm Schweiß aus den Poren. Er stand wieder von der Bank auf und lächelte der Schwester dankbar zu.

«Es tut mir leid, Schwester«, sagte Schwabe.»Ich muß wieder 'raus. Ich schwitze sonst die Verbände durch, und das ist nicht gut. Nachher gefriert das alles, und meine Haut ist noch so empfindlich. Sie verstehen.«

Dann stand er wieder draußen auf dem zugigen Bahnsteig in der Kälte und dem Wind, der den Schnee über die Wartenden trieb. Mit dem Rücken stemmte er sich gegen den Windzug und drückte das Gesicht wieder tief in den Mantel.

Endlich lief der Zug aus München ein. Erich Schwabe sah die Wagen entlang. Sie waren überfüllt. In den Gängen und Vorräumen standen die Menschen eingekeilt. Niemand stieg aus, als habe jeder Angst, seinen Platz zu verlieren. Schwabe lief die Wagen entlang, riß die Türen auf, versuchte einzusteigen. Die Menschen quollen ihm entgegen, eine feindliche Masse, die ihn zurückdrängte.

«Lassen Sie mich doch 'rein«, rief Schwabe.»Ein Mann wird doch noch 'reingehen.«

«Besetzt«, schrie man ihm entgegen und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Was ist schon ein entlassener Mensch ohne Gesicht.

Schwabe rannte den ganzen Zug entlang. Überall warf man ihm die Türen zu. In einigen Wagen hielt man sie von innen fest, wenn er sie aufreißen wollte, und grinste ihn durch das Fenster an.

«Saubande«, schrie Schwabe.»Ihr Schweine!«

Dann gab er es auf. Mit schlaffen Armen stand er im wirbelnden Schnee auf dem Bahnsteig und starrte hoffnungslos den Zug entlang. Es war der letzte, der nächste fuhr erst am nächsten Morgen um 7 Uhr, und er würde genauso überfüllt sein.

Die erste Begegnung mit dem Leben. In Schwabe stiegen Ekel und Verachtung hoch. Er wandte sich ab und wollte gehen.

Da ergriff ihn jemand von hinten am Ärmel.»Kommen Sie«, sagte die Rotkreuzschwester von vorhin.»Es gibt hier ein Abteil für Schwerverletzte. Kommen Sie, ich mache Ihnen schon noch einen Platz frei.«

Es war wie ein Wunder, daß Schwabe wirklich in dem reservierten, aber ebenfalls von nicht wankenden Menschen überfüllten Abteil einen Platz bekam. Fast mit Gewalt und nur mit der Drohung, die Polizei und die amerikanische MP zu holen, räumte die kleine, energische Schwester einen Platz.

«Gute Fahrt«, rief sie und sprang aus dem anfahrenden Zug.

Um Schwabe stand eine riesige Mauer schweigender, feindlicher Menschen. Sie starrte ihn hohlwangig an wie ein hungriges Untier.

«Das ist richtig«, sagte jemand aus der Mauer.»Erst immer durchhalten, bis alles im Eimer ist, und jetzt noch Sonderrechte beanspruchen.«

Schwabe schwieg. Er senkte nur den Kopf.

Das sind die Menschen, mit denen ich nun leben muß, dachte er. Das sind Deutsche, die einen Krieg verloren haben.

Und wieder stieg es bitter in seinem Hals auf. Enttäuschung, Verachtung, Ekel.

Es war spätabends, als der Zug im Kölner Hauptbahnhof einlief.

Erich Schwabe stand am Fenster und preßte das leukoplastverklebte Gesicht gegen die schmutzige, gefrorene Scheibe. Der Bahnsteig war leer. Nur einige Beamte liefen herum, trübe Birnen brannten in notdürftigen Lampen. Die Türme des Doms ragten in den dunklen, kalten Winterhimmel.

Köln, dachte Schwabe ergriffen. Mein Köln. Meine Heimat. Nun bin ich für immer zu Haus. Polen, Frankreich, Rußland, an allen Fronten habe ich gekämpft. Über sechs Jahre in Uniform. Sechsmal 365 Tage habe ich neben dem Tod geschlafen. Kameraden starben an meiner Seite oder in meinen Armen. Und nun ist alles vorbei, endgültig vorbei. Es ist Frieden.

Der Zug hielt mit einem Ruck. Schwabe blieb am Fenster stehen und starrte hinaus. Die Menschen hasteten aus den Wagen, über den Bahnsteig, wurden von den beiden Ausgängen verschluckt, als zöge es sie hinab in die Unterwelt. Schwabe wartete, bis alle das Abteil verlassen hatten, bis er allein im Wagen war. Erst dann stieg er langsam aus und blieb allein und einsam auf dem eisigen Bahnsteig stehen.

Ursula war nicht da. Und auch seine Mutter war nicht gekommen. Er sah auf seine alte Armbanduhr. Natürlich, über eine halbe Stunde Verspätung. Sie hatten sicherlich gefroren und waren in einen Wartesaal gegangen, sich aufzuwärmen. Nun mußten sie gleich eine der Treppen herauflaufen, winkend und vor Freude weinend. Und er würde die Arme ausbreiten, Mutter und Ursula an sich drücken, sie selig umarmen und voller Freude sagen:»Da bin ich.«

Erich Schwabe blieb auf dem Bahnsteig stehen und wartete. Der Zug hinter ihm fuhr wieder weg, zum Abstellgleis. Zwei Bahnarbeiter, mit Pfeifen zwischen den Lippen und langstieligen Hämmern in der Hand, kamen an ihm vorbei.

«Hier geht keiner mehr weg, Kumpel«, sagte einer im Vorbeigehen.»Der da«, er zeigte auf die Schlußlichter des ausfahrenden Zuges,»ist gerade angekommen und fährt erst morgen früh.«

Schwabe nickte.»Danke«, sagte er etwas bedrückt.

Und blieb stehen und wartete weiter.

Nach einer halben Stunde hob er sein Gepäck auf und warf es über die Schulter. Es war ihm unerklärlich, warum Ursula und Mutter nicht gekommen waren. Er suchte einen Grund und fand ihn nicht. Vielleicht war Mutter krank — dann konnte Uschi kommen. Oder Uschi ging es nicht gut wegen des Kindes — dann hätte Mutter kommen können. Oder war etwas geschehen? War etwas mit Ursula? Mit dem Kind? Vielleicht lag sie im Krankenhaus.

Erich Schwabe begann zu laufen. Er hetzte die Treppen hinunter, zeigte an der Sperre seinen Fahrtausweis, rannte weiter durch die zerstörte Bahnhofshalle, hinaus auf den weiten Domplatz, über den früher Hunderte von Tauben geflattert waren. Dort blieb er stehen, und Wehmut ergriff ihn, als er sich umsah. Die Hohe Straße eine Trümmerwüste, die Komödienstraße ein Wall von Ruinen, das Deichmannhaus ausgebrannt, der linke Turm des Domes über dem Fundament aufgerissen. Wohin man sah, nur ausgebrannte oder zerfetzte Häuser. Eine tote Stadt.

Dann ging er weiter, durch die von Schutt geräumten, einsamen Straßen, durch ein neues Pompeji, ein Gräberfeld mit den monumentalen Kreuzen stehengebliebener Hauswände und Kamine. Er stand am Ring, und seine Erinnerung umkreiste die Stätten seiner Kindheit: das Hohenstaufenbad, die Humboldtstraße, wo einst das Gymnasium stand, das er bis zur Quarta besuchte, um dann doch in die Glaserlehre einzutreten. Er ging langsam durch die Grünanlagen des ehemaligen Horst-Wessel-Platzes, jetzt Rathenauplatz, und sah die Stellen, wo er sich als Kind in den Büschen versteckt oder in einem Sandkasten gespielt hatte. Jetzt war es ein aufgerissener Platz mit Baumstümpfen, und die fensterlosen, ausgebrannten Riesenhöhlen der Synagoge glotzten ihn feindlich an.

Dann sah er sein Haus. Das Haus Nr. 4. Die Fassadenmauer stand noch, drei Meter hoch. Hinter ihr waren die Trümmer weggeschafft, und zwei neue Mauern strebten in den kalten Nachthimmel.

Da begann er wieder zu laufen, rannte durch die Straße, stolperte über Steine und Balken und erreichte keuchend und mit schmerzendem Gesicht den Eingang zum Keller.

Ursula, Mutter, dachte er stöhnend. Ich bin da. Ich bin da.

An der gefrorenen, nassen Wand Halt suchend, tastete er sich die dunkle Kellertreppe hinab.

Schon nach den ersten Stufen wehte ihm Wärme entgegen und der Geruch gebratenen Fleisches. Und Stimmen hörte er. Sie waren laut und lachten.

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