Kapitel 11

Erich Schwabe ließ die Hände sinken.»Sie werden Uschi nicht zu _mir lassen«, wiederholte er leis.»Natürlich, wir sind ja jetzt Gefangene.«

«Det is ja der Mist!«Der Berliner hieb mit der Faust auf den Tisch.»Doppelt bestraft ham se uns! Keene Fresse mehr und keene Freiheit. Ick jloobe, Jerechtigkeit is bloß noch 'n Wort im Lexikon!«

«Was soll ich machen, Frau Doktor!«Es war ein kläglicher Schrei, der aus Schwabe herausbrach. Bitte, hilf mir, bedeutete die Frage. Nur Sie wissen jetzt Rat, nur Sie allein. Dr. Mainetti verstand ihn. Und als sie seine Augen sah, diese entsetzten, bettelnden Augen, nickte sie ihm zu und klopfte ihm auf den gebeugten Rücken.

«Ich werde mit Major Braddock sprechen«, sagte sie.»Vielleicht läßt er Ihre Frau zu Ihnen.«

«Vielleicht«, stammelte Schwabe.

«Es wird natürlich nur im Beisein eines amerikanischen Soldaten möglich sein, wenn überhaupt.«

«Wie im Zuchthaus!«schrie der Berliner.»Sprecherlaubnis mit 'n Wachtmeester im Rücken. Kinder, wer's noch nicht kann — hier kann-ste 's Kotzen lernen!«

«Schließlich haben wir den Krieg verloren, Jungs«, sagte Dr. Mainetti laut. Der Wastl Feininger hob abwehrend und kopfschüttelnd beide Arme.

«I net! I hob net ang'fangn! G'holt ham's mi, von heut auf mor-gen!«

«Ich werde alles versuchen, Schwabe. «Lisa Mainetti legte ihre Hand unter Schwabes Kinn und hob sein verstümmeltes Gesicht mit dem neuen Nasenknochengerüst empor. In seinen Augen sammelten sich die Tränen und rannen lautlos durch die Narbengräben zum Mund.»Sie sind doch ein Mann, Schwabe, und keine Heulsuse!«sagte sie grob.»Es wird sich schon eine Möglichkeit finden. Schon vorher flennen — Himmel, was seid ihr bloß für große Kinder!«

Schwabe schluckte und legte beide Hände auf sein Gesicht, um die Tränen zu verdecken. Er lächelte sogar, sein wild vernarbtes Gesicht mit dem lippenlosen Mund wurde zu einer schrecklich grinsenden Fratze.

«Einen Ton haben Sie, Frau Doktor.«, sagte er mit mühsam fester Stimme.

«Na ja, den versteht ihr wenigstens! Soll ich mit euch heulen? Das wäre ein schöner Gesangverein. So, und nun legen Sie sich lang und bleiben Sie liegen. Baumann wird Sie nachher zum Verbinden abholen. Und daß mir das Gesicht trocken ist! Wie sieht denn so ein nasser Verband aus?«

«Ich danke Ihnen, Frau Doktor«, sagte Schwabe leise.»Ich werde Ihnen ewig danken!«

«Sie reden schon wieder Dummheiten, Schwabe! An Ihre Frau sollten Sie jetzt denken und was Sie ihr sagen wollen, wenn sie zum erstenmal vor Ihnen steht und Sie sieht. Das ist nicht einfach.«

«Ich habe mir das alles schon überlegt, Frau Doktor. Seit Monaten schon jedes Wort.«

«Und was wollen Sie sagen?«

«Nicht viel. Nur: >Da bin ich, Uschi.<«

«Typisch Mann!«Dr. Mainetti knüpfte ihren weißen Arztkittel zu.»Hier bin ich — und damit ist alles in Ordnung!«

«Was soll man denn sonst sagen?«

«Etwas Liebes, etwas Tröstendes.«

«Jawohl!«Dr. Mainetti wandte sich an die anderen, die stumm herumstanden.»Ihr müßt euch endlich abgewöhnen, zu denken, daß man euch trösten muß! Eure Frauen und Mütter brauchen Trost, wenn sie euch so sehen.«

«Ooch det noch!«sagte Paul Zwerch, der Berliner.»Und wer hat mir jetröstet?«

«Ich!«Lisa sah den Berliner ernst an, und der Junge senkte den Kopf und scharrte mit den Fußspitzen über den Boden.»Soll ich erzählen, wie's war, als man Sie einlieferte, lieber Zwerch? Aus dem Fenster wollten Sie sich stürzen, und später haben Sie mich zwei Tage lang angefleht, Ihnen eine Überdosis Morphium zu geben, damit det Unjeheuer von Mensch weg ist! Na, und jetzt? Wer hat im Block B die größte Schnauze?«

Der Berliner nickte schwach.»Sie sin 'ne dufte Frau«, sagte er leise.»Ick danke Ihnen. Jehn wir also hin und trösten die Ursula.«

«Und Sie werden vorher mit ihr sprechen, nicht wahr, Frau Doktor?«rief Schwabe ihr durch die offene Tür nach, als Lisa das Zimmer schon verlassen hatte. Vom Flur her nickte sie ihm zu.

«Natürlich, Schwabe! Wenn Sie vor Ihrer Frau stehen, kriegen Sie ja doch kein Wort heraus.«

Die Tür klappte zu. Schwabe legte die Hände unter seinen Kopf und sah hinüber zu seinen Stubengenossen.

«Woher Sie das bloß weiß?«sagte er.

Major Braddock sah erstaunt auf das Whiskyglas, das vor ihm auf dem Tisch stand. Es war leer, und niemand machte Anstalten, es zu füllen. Professor Rusch saß hinter seinem Schreibtisch. Man sah ihm an, daß er es als unangenehm empfand, was Lisa Mainetti hier, ohne ihn zu fragen, arrangiert hatte. Sie stand neben Braddock, an den Schreibtisch gelehnt, und sie hatte den Arztkittel mit einem hellen, luftigen Sommerkleid vertauscht.

Damned, dachte James Braddock. Sie ist ja eine Frau, und was für eine! Sie hat einen schlanken, schönen Körper, lange, gerade Beine und einen Kopf wie eine Römerin. Und jünger sieht sie plötzlich aus — sie ist von jener Unbestimmbarkeit, die einen Mann reizt,

die Reife einer Frau festzustellen.

«Hier bin ich also«, sagte Braddock und schielte wieder auf das leere Whiskyglas.»Ich konnte nicht widerstehen, sofort Ihrer Bitte nachzukommen, Miß Mainetti. «Er legte seine Hand um das Glas, es wirkte aufreizend auf ihn durch seine Leere. Dr. Mainetti lächelte und tippte Braddock auf den Handrücken.

«Sie vermissen Whisky, Major?«

«Ein leeres Glas irritiert mich immer. Warum steht es hier?«

«Ihretwegen. Ich nehme an, daß Sie eine Flasche bei sich haben. Wenn Sie nichts dagegen haben, hole ich für den Chef und mich auch noch ein Glas.«

James Braddock starrte Lisa entgeistert an. Dann lachte er schallend, zog aus der Tasche eine flache Flasche und stellte sie auf den Schreibtisch.»Diese Erpressung sollten Sie sich patentieren lassen!«rief er.»Verdammt, ich muß nach Germany kommen, um so eine Frau kennenzulernen.«

Lisa Mainetti hielt Braddock ihr und Ruschs Glas hin. Sie schien ausgelassen fröhlich zu sein, ebensosehr sehr wie Professor Rusch stumm und sichtlich mißgelaunt war.

«Es ist eben doch etwas dran an dem Begriff >Made in Germa-ny

«Ein Teufelsweib!«rief er.

«Ich finde, du benimmst dich ein wenig frivol«, sagte Professor Rusch. Seine Stimme war dunkel und gepreßt. In Lisa Mainetti sprang eine heiße Welle hoch und durchspülte ihren Körper. Er ist eifersüchtig, dachte sie. Professor Rusch ist eifersüchtig auf einen amerikanischen Major. Der Gedanke und dieses Gefühl machten sie noch glücklicher. Sie stieß mit James Braddock an und trank einen langen Schluck des goldgelben Whiskys. Rusch nippte nur, unlustig, mit verkniffenem Gesicht, trotzig wie ein Junge, dem Spielzeug weggenommen wurde.

«War's nur der Whisky?«fragte Braddock, als er sein Glas geleert hatte. Dr. Mainetti lachte und setzte sich auf den Schreibtisch.

«Ich habe Sie immer für einen besonders klugen Mann gehalten, Major«, sagte sie.»Aber was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, ist kein Versuch, Gesetze, Bestimmungen, Befehle oder was Sie sonst von Washington haben, zu verwässern oder vergessen zu lassen. Es ist nichts anderes als ein simpler Appell an Ihr Herz, weiter nichts! Ich rufe Ihr Herz, Major, Ihre Menschlichkeit.«

«Das klingt geheimnisvoll, Miß Mainetti. «Braddock lehnte sich im Sessel zurück und betrachtete eingehend Lisas Knie.»Wollen Sie mehr Kalorien für das Lazarett? Völlig unmöglich! Deutschland hat den Krieg verloren. Und nun werden die Deutschen hungern müssen, bis ihnen die Knochen erweichen. Ich kann es nicht ändern.«

Lisa Mainetti beugte sich vor. Braddock sah im Ausschnitt ihres Kleides den Brustansatz, und sein Blick wurde irritiert.»Ich kann nicht beurteilen, ob Sie nicht in der Lage sind, zwei oder drei Kartons Lebensmittel mehr zu besorgen«, sagte sie.»Obgleich ich weiß, daß in Bernegg die Köche Ihrer Truppenkantinen jeden Tag Fett pfannenweise auf die Erde kippen und nicht gegessene gebratene Hühner vergraben.«

«Befehl, Miß Mainetti! No fraternisation!«

Braddock hob bedauernd beide Hände und goß neuen Whisky ein.

«Ich weiß. «Lisa wartete, bis Braddock wieder einen langen Zug genommen hatte.»Aber es geht nicht um Essen, Major.«

«Nicht? Haben die Deutschen denn noch wichtigere Probleme?«

«Ich habe sie, Major. Ich persönlich.«

Braddock nickte verständnisvoll.»Verstehe. Ich soll Ihnen eine Garnitur aus Nylon kommen lassen?«

Einen Augenblick war selbst Lisa Mainetti verblüfft. Professor Rusch schnaufte durch die Nase und sah Lisa böse an. Aber dann lachte sie laut und bog sich in den Hüften. Braddock stellte verwundert und ein wenig beleidigt sein Glas wieder auf den Tisch zurück.

«Warum finden Sie das so lächerlich?«fragte er laut. Jetzt werde ich ihr weh tun, dachte er zufrieden. Ihren Stolz werde ich k.o. schlagen.»Für einen Nylonschlüpfer kann man die Moral der deutschen Frau kaufen!«sagte er grob.

Dr. Mainettis Lachen brach ab. Plötzlich war sie wieder ernst und fast unnahbar steif. Als sei sie in ihren weißen Kittel geschlüpft, dachte Braddock. Sie ist wie ein Chamäleon. Blitzschnell wechselt sie Stimmung und Aussehen. Ein phantastisches Weib.

«Es ist traurig, Major«, sagte Lisa,»daß Sie in Deutschland nur diese Frauen kennengelernt haben. Um einen Nylonschlüpfer zu bekommen, bitte ich Sie nicht ins Lazarett. Da wär' ich zu ihnen nach Bernegg gekommen, nach Einbruch der Dunkelheit.«

«Sorry«, sagte Braddock etwas verlegen.»Was also wollen Sie von mir? Wo soll mein Herz sprechen?«

«Ein Verwundeter von uns, einer der ganz schwer Gesichtsverletzten, der bestimmt noch fünf Jahre braucht, um wieder wie ein halbwegs ansehbarer Mensch zu wirken, bekommt Besuch von seiner Frau.«

James Braddock erhob sich sofort. Sein Gesicht wurde dienstlich und undurchdringlich.»Nicht erlaubt!«sagte er hart.

«Genau das habe ich erwartet, Major. Hier spricht der Soldat, hier kommandiert der Sieger: Nicht erlaubt! Auch die Verwundeten sind POWs!«

«Ich habe noch keine anderen Befehle erhalten, Miß.«

«Eben darum geht es. Ich möchte keinen Befehl umgehen. Ich rufe Ihr Herz, Major!«

«Was Sie verlangen, ist gegen jede Instruktion!«James Braddock begann, in dem großen Chefzimmer hin und her zu laufen.»Sie haben hier über 200 Gesichtsverletzte! Wenn jeder seine Frau oder seine Mutter oder seine Braut kommen ließe! Das ist ja vollkommener Irrsinn! Ein Gefangenenlager — auch ein Gefangenenlazarett — ist doch kein gemütliches Kaffeekränzchen oder kein riesiges Ehebett!«

«Es handelt sich um eine Frau, Major. Sie ist schon unterwegs. Sie schlägt sich von Köln bis nach Bernegg durch, auf der Straße per Anhalter, mit Güterzügen, auf Zugdächern oder Trittbrettern. Zum erstenmal will sie ihren Mann sehen, den sie zum letztenmal geküßt hat, als er mit blonden Haaren und einem lachenden Gesicht vom Urlaub zurückfuhr. Und nun wird sie ihn wiedersehen — ein glattgeschabtes Gesicht ohne Lippen, ohne Nase, mit abgerissenen Ohren und vernarbten und verkrusteten Wangen — eine Fratze nur, Major Braddock. Und sie kommt über Hunderte von Kilometern, um dieser Fratze ihre Liebe zu sagen. - Rührt das nicht an Ihr Herz, Major? Sind da nicht alle Befehle nur noch leeres Papier? Können Sie da sagen: >Nicht erlaubt!<, ohne sich vor sich selbst zu schämen?«

James Braddock stand am Fenster, mit dem Rücken zu Lisa und Professor Rusch. Seine Finger trommelten gegen die Scheibe, ein rasender, monotoner Rhythmus.

«Ich möchte den Mann sehen«, sagte Braddock rauh. Er drehte sich um und ging rasch an Lisa Mainetti vorbei aus dem Zimmer.

«Ich gratuliere«, sagte Professor Rusch dumpf.

Mit wirbelnden Beinen folgte Lisa dem Major, sie holte ihn auf dem Treppenhaus ein und hielt ihn am Ärmel fest.

«Zimmer 14, Major«, sagte sie atemlos.

Braddock blieb stehen.»Da lag doch Sergeant Rondey!«

«Ja, dieses Zimmer ist es. Erich Schwabe heißt der Mann. Wenn Sie ins Zimmer kommen und alle ansehen, werden Sie sofort wissen, wen ich meine.«

Braddock ging den Flur entlang, Lisa folgte ihm. Der Major riß die Tür von Zimmer 14 auf. Fritz Adam schrie» Achtung!«und gleich hinterher:»Good day, Major!«Die sechs Mann standen stramm, sogar Kaspar Bloch, der eigentlich das» Achtung «nicht hören durfte.

Braddocks Blick fiel sofort auf Schwabe. Das ist er, dachte er, und er spürte, wie eine leichte Gänsehaut über seinen Rücken lief. Zu ihm kommt eine Frau, dachte er weiter, und diese Frau will und soll ihn lieben. Dieses Gesicht, das aussieht wie eine uralte, verwitterte, rissige wurmstichige Holzplatte. O Gott, wenn es wirklich diese Frau gibt. Man sollte sie verwöhnen mit allen Herrlichkeiten, die unsere Welt bereithält.

«Sie sind Erich Schwabe?«fragte Braddock mit ausgetrocknetem Hals. In Schwabes Augen sprang ein Funke Angst. Er trat einen Schritt vor und nahm stramme Haltung an.

«Ja, Herr Major.«»Sie wissen, daß Sie Kriegsgefangener sind?«

«Ja, Herr Major. «Schwabes Stimme brach. Sein Gesicht zuckte. Braddock sah zur Seite. Einen Whisky, dachte er. Himmel, jetzt einen Whisky. Ich habe ihn noch nie nötiger gebraucht.

«Sie haben den Krieg nicht gewollt, ich habe ihn nicht gewollt. Sie haben ihn verloren, wir haben ihn gewonnen. Das ist ein beliebtes Spiel mit Millionen von Menschen, und merkwürdigerweise machen die Menschen mit. Vielleicht ist es Massenidiotie, ich weiß es nicht. Ich mache ja auch mit.«

«Meine Frau, Herr Major.«, stammelte Schwabe.

«Dr. Mainetti wird Ihnen alles weitere sagen. Kommen Sie mal mit. «Braddock trat auf den Flur hinaus, und Schwabe folgte ihm. Mit dem Fuß trat Braddock die Tür zu. Sie waren allein auf dem Gang. Lisa war im Zimmer geblieben.

«Schwabe«, sagte Braddock und schluckte.»Wie alt sind Sie?«

«Bald 27 Jahre, Herr Major.«

«Sie könnten fast mein Sohn sein. «Braddock nestelte an den Knöpfen seiner Uniform.»Ich kann nicht sagen: Sie haben ein ehrliches Gesicht.«

«Nein, gewiß nicht, das kann man nicht mehr sagen«, stotterte Schwabe.

«Aber Ihre Augen sehe ich, Schwabe. Es sind für mich jetzt keine deutschen Augen mehr, sondern einfach die Augen eines Menschen. Sie verstehen mich?«

«Ja, Herr Major«, sagte Schwabe leise.

«Ich werde erlauben, daß Sie Ihre Frau sehen.«

«Herr Major. «Durch Schwabes Körper lief ein Zittern.»Ich. ich.«

«Sie können das Lazarett verlassen. Urlaub auf Ehrenwort. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, Schwabe! Einen Tag — vom Nachmittag bis zum nächsten Morgen um 10 Uhr.«

Braddock streckte seine Hand hin. Schwabes Hand tastete vor und lag bebend in Braddocks Fingern.

«Mein Ehrenwort, Herr Major«, stammelte er.»Mein Ehrenwort. ich.«

Dann brach er zusammen. Sein Kopf sank auf die Schulter des amerikanischen Majors, er weinte haltlos. Steif und unbeweglich stand Major Braddock, mit hängenden Armen und versteinertem Gesicht. Aber er wehrte ihn nicht ab. Er blieb so stehen und ließ den deutschen Soldaten an seiner Schulter weinen.

Es könnte mein Sohn sein, dachte er nur. Mein Gott, wenn Percy kein Gesicht mehr hätte.

Drei Tage brauchte Ursula, um nach Bernegg zu kommen.

Auf den Puffern eines Güterzuges fuhr sie bis Hanau. Dahinter hörten die Schienen auf. Sie waren von Bomben zerfetzt und nur eingleisig wieder aufmontiert worden. Zu Fuß ging sie weiter, über die staubige Landstraße aufWaldwegen. Amerikanische Lastwagen donnerten an ihr vorbei, riesige Ungetüme, die sie mit Lehm und Staub bedeckten und deren Luftdruck sie in den Straßengraben preßte.

Sie biß die Zähne zusammen, hakte die Daumen in die Träger des Rucksacks, den sie auf der Schulter trug, und stemmte sich gegen die Müdigkeit, die von den Füßen her über die Beine und den Leib bis an ihr Herz kroch.

Wie mit Mehl bestäubt, kam sie am Abend des ersten Tages in ein Dorf. Die unversehrten Häuser sahen sauber aus, in den Gärten blühten Blumen. Tulpen und Narzissen, weißer und roter Flieder mit dicken Dolden, Rotdorn und Lupinen.

Wie schön das ist, dachte sie trotz ihrer bleiernen Müdigkeit. Tulpen und weißer Flieder — das war mein Hochzeitsstrauß. Ich habe ihn aufgehoben und die Blumen getrocknet. Und dann verbrannten sie, in einer Oktobernacht, in der es viertausend Tote gab. Und jetzt blüht es wieder. Und wie stark der Flieder riecht. In unseren Trümmern blüht es auch. Butterblumen, Brennesseln, Disteln und wilde Möhre. Keiner weiß, wo es herkam, plötzlich waren die grünen Flecke zwischen den Ruinen.

Hinter dem Fenster des Hauses, vor dessen Garten sie stand, sah sie zwei Köpfe. Eng zusammengesteckt blickten sie durch die Gar-dine und beobachteten sie.

Ob sie ein Bett haben, dachte Ursula. Oder nur ein Sofa? Und ein wenig Kaffee?

Sie ging zur Tür und drückte auf die Klingel. Sie hörte den Klang, aber im Hause blieb alles still. Niemand kam, keiner öffnete. Aber sie sind doch da, dachte Ursula, ihre Köpfe waren doch hinter der Gardine. Sie schellte wieder und wartete.

Sie wollen nicht, dachte Ursula und ging die Straße weiter durch das Dorf. Sie machen nicht auf, sie haben Angst, ich würde betteln — um ein paar Kartoffeln, um eine Möhre, um eine Steckrübe. Natürlich müssen sie das denken, denn ich habe ja einen Rucksack auf der Schulter.

Sie läutete beim nächsten Haus, beim übernächsten, beim dritten und vierten. Niemand öffnete ihr, als seien die Häuser ausgestorben, so still war es in ihnen. Nur die Gardinen bewegten sich, und Köpfe zuckten zurück, wenn sie genauer hinsah.

«Ich habe zu essen bei mir!«schrie Ursula beim nächsten Haus.»Nur ein Dach überm Kopf will ich! Schlafen! Nichts weiter. Ich will ja nicht euer Essen!«

Sie schrie gegen taube Wände, säuberlich gefugte Ziegel und weißgestrichene Türen, gegen die sich versteckenden Köpfe und die kalten, abweisenden Augen.

«Ich will nur schlafen! Ich will doch nicht betteln! Ich habe zu essen bei mir!«

Schließlich übernachtete sie in einer Scheune, auf einem Ballen fauligen Strohs. Sie war zu müde, um sich zu ekeln, nicht einmal den Geruch der Fäulnis nahm ihre Nase auf. Sie sank einfach um und warf sich auf die Seite, den Rucksack noch auf dem Rücken.

Am Morgen des zweiten Tages nahm sie ein Milchauto mit. Es brachte einige verbeulte Zinkkannen zu einer Sammelstelle, wo die Milch an Kinder und Krankenhäuser verteilt wurde.

«Nach Bernegg wollen Sie?«fragte der Fahrer.»Das ist noch ein gutes Stück. Den Main hinauf bis Würzburg und dann durch die Hügel.«

«Wenn noch ein paar so freundlich sind wie Sie«, sagte Ursula,»kann ich morgen da sein.«

«Ich geb' Ihnen einen guten Rat. «Der Milchfahrer zeigte auf eine amerikanische Militärkolonne, die sie überholte.»Die da, die müssen Sie anhalten! Wenn sie einzeln fahren. Und wenn ein Neger am Steuer sitzt — na, der nimmt Sie bestimmt mit. So blond wie Sie sind! Nur müssen Sie aufpassen, daß die nicht betrunken sind, dann wird's gefährlich. Ohne Schnaps sind die Neger wie Kinder. Die schenken Ihnen sogar Schokolade und Kekse!«

«Danke«, sagte Ursula und schüttelte den Kopf.»Ich werde zu Fuß gehen, das ist sicherer.«

Der Milchfahrer hob die Schultern. Über tiefe Schlaglöcher klapperte der Wagen durch den heißen Tag. Hinten klirrten die Milchkannen und quietschte eine ungeschmierte Achse.

«Wer so blond ist wie Sie, kann jetzt reich werden«, sagte der Fahrer.»Ist ja doch alles im Eimer, Mädchen. Und wenn man dadurch weiterleben kann!«

Von Aschaffenburg fuhr wieder ein Zug nach Würzburg. Es war sogar ein Personenzug, mit uralten Dritter-Klasse-Wagen und zerbrochenen Scheiben. An deren Stelle hatte man Pappe oder Drahtglas in die Rahmen genagelt. Ein Platz war in dem Zug nicht mehr zu haben, auf den Trittbrettern hingen die Menschen wie Trauben und waren bereit, jeden wegzutreten, der noch aufsteigen wollte. Ein Bahnbeamter rannte den Zug entlang und brüllte:»'runter von den Trittbrettern und Puffern! 'runter! Es ist verboten!«

Niemand hörte auf ihn. Sie ließen ihn laufen und schreien. Es war gewiß, daß man ihn zerreißen würde, wenn er den Versuch unternehmen sollte, mit Gewalt die Trittbretter zu räumen. Eine geballte Masse Roheit und Blutdurst hing an dem Zug. Mit höchster Grausamkeit würde man den Platz verteidigen, den man erkämpft hatte — einen Platz, um nach Würzburg zu kommen.

Ursula stand vor dem Zug und starrte in die finsteren Gesichter. Kein Mitleid war darin, nur das kalte Ich, das brutale Eigenleben. Sie machte einen zagen Versuch, auf ein Trittbrett zu steigen und sich am Fensterrahmen festzuklammern. Zwei Fäuste stießen sie vor die Brust und auf den Bahnsteig zurück.»Hau doch ab, du Miststück!«schrie jemand.»Lach dir lieber 'n blöden Ami an!«

«Der Zug fährt gleich ab!«rief der hilflose Bahnbeamte.»Die Trittbretter und Puffer räumen! Ich lasse den Zug nicht eher abfahren!«

Jeder wußte, daß es eine leere Drohung war. Man lachte, man grölte. Jemand schrie:»Wenn du nicht abpfeifst, leg' ich dich auf die Schienen und pfeif für dich!«Er erntete lauten Beifall. Der Bahnbeamte schwieg und rannte bis zur Lok, begleitet vom Gejohle der Menge.

Der Zug fährt gleich, dachte Ursula. Ein Zug nach Würzburg. Ich muß mit — so oder so! Wenn ich bis Würzburg laufen muß, brauche ich ja eine Woche.

Sie kletterte auf einen Puffer, und als man sie dort hinunterwerfen wollte, schrie sie grell:»Laßt mich! Ich will aufs Dach. Ich muß nach Würzburg. Ich muß zu meinem Mann!«

«So 'n Druck, Mädchen?«rief jemand. Und plötzlich lachten alle und hoben Ursula auf das Wagendach. Dort saßen schon einige Männer und hielten sich an den Entlüftungshauben fest.

«Vom Dach 'runter!«brüllte der Bahnbeamte und drohte mit der grünroten Kelle.

«Leck mich am Arsch!«schrie einer der Männer zurück.

Dann fuhr der Zug endlich an, langsam, träge, überladen und vorsichtig, um die Menschen nicht von den Trittbrettern, Puffern und Dächern zu wehen.

Fünf Stunden brauchte er von Aschaffenburg bis Würzburg, fünf Stunden lag Ursula in der prallen Sonne, an eine Entlüftung festgeklammert. Der schwarze Qualm der Lok strich über sie und rußte ihr Gesicht und das Kleid ein, legte sich auf den Gaumen und nahm ihr fast den Atem. Aber sie kam in Würzburg an, und es war ihr, als spüre sie schon die Nähe Erichs, so wie man das Meer schon von weitem riecht, ohne es zu sehen.

Die zweite Nacht schlief sie in einem der kleinen Weingerätehäuschen in einem Weinberg bei Sommershausen. Sie wusch sich an einer Pumpe und stieg dann zur Straße hinab, über die in langen Kolonnen die grünen Transporter der Amerikaner brummten.

Heute werde ich in Bernegg sein, dachte sie glücklich. Auch wenn ich zu Fuß gehen muß — ich werde es erreichen. Und ich werde Erich sehen und ihm alles sagen. Alles. Auch das mit Karlheinz Petsch. Und er wird mich verstehen, denn ich will ihn ja lieben, so wie er ist. Ganz gleich, wie sein Gesicht auch jetzt aussieht.

Und sie redete sich ein, daß es nicht schwer sein würde. Immer wieder sagte sie es sich. Und trotzdem wuchs ihre Angst, je näher sie Bernegg kam.

Das letzte Stück fuhr sie auf dem Leiterwagen eines Bauern aus Bernegg.»Zum Lazarett wollen Sie?«fragte er und musterte verstohlen die kleine blonde Frau.»Waren Sie schon mal dort?«

«Ja. Einmal.«

«Dann ist's ja nichts Neues. Und nun wollen Sie wieder da 'rauf?«

«Ja.«

«Einen besuchen?«

«Ja.«

«Den Bräutigam?«

«Meinen Mann.«

«Das wird nicht gehen.«

Ursula fuhr zusammen.»Warum nicht?«stammelte sie.

«Da kommt doch keiner 'rein. Das sind doch Kriegsgefangene.«

«Aber sie haben doch kein Gesicht mehr!«

«Trotzdem sind's Gefangene.«

Ursula umklammerte das Gestänge des Wagens. Ihre Stimme war ganz klein und kläglich.»An wen muß ich mich denn wenden?«

«So 'n Major ist da. Wohnt in der Schule. Ein sturer Bursche.«

Ursula nickte stumm. Und wieder kam die Angst, und sie wuchs und wuchs mit jedem Räderknarren und wurde riesengroß wie ein Felsblock, der auf ihr Herz fiel.

Dann sah sie Schloß Bernegg auf dem Hügel liegen. Es glänzte in der Abendsonne wie eine Märchenburg.

Ein verwunschenes Schloß für gesichtslose Wesen.

Seit dem Brief Petra Wolfachs wartete Walter Hertz geduldig jeden Tag auf ein neues Zeichen dieser aussichtslosen Liebe.

Manchmal stand er stundenlang am Fenster und sah nach Bernegg hinab. Dort steht sie jetzt und sieht zu mir hinauf, dachte er. Vielleicht hat sie mir geschrieben, viele Briefe, und sie liegen dort unten bei den Amerikanern, und sie geben sie nicht weiter. Oder sie ist gar nicht mehr in Bernegg, geflüchtet mit den Eltern, als die Panzerspitzen von Würzburg her kamen. War Hubert Wolfach nicht Fabrikant von Kriegsmaterial? Zubringerindustrie, wie man das nannte. Was er herstellte, wußte Hertz nicht, aber es mußten feinmechanische Geräte sein. Damals, am Kamin bei dem Glas Rotwein, hatte Hubert Wolfach gesagt:»Wenn ich nicht will, schießen die mit der Flak um die Ecke. Gezielt wird nur mit Wolfach!«Und er hatte gelacht, denn er sah es als einen köstlichen Witz an.

Bestimmt sind sie geflohen, dachte Walter Hertz. Irgend etwas hätte ich sonst längst gehört von Petra. Und dann half er sich über seine Enttäuschung und seinen leisen inneren Schmerz hinweg mit dem ständigen Vorsagen: Es wäre doch nichts geworden, Walter Hertz! Es war nur eine Episode, ein Erlebnis am Rande des Kriegs, ein flüchtiger Anhauch des Glücks, weiter nichts. Was hat ein Mensch wie du, ein Mensch mit einer eingedrückten Gesichtshälfte, zu suchen in der Welt dieser Menschen, die bis dahin nichts gekannt hatten als Reichtum und Zufriedenheit? Es gibt da keinen Platz für dich.

Fritz Adam und Schwester Dora Graff lebten wie ein glückliches Brautpaar. Sie gingen im Schloßpark spazieren, saßen am Teich und verloren sich in Zukunftsplänen.

«Ich werde weiterstudieren«, sagte Adam.»Woher ich das Geld nehme, weiß ich noch nicht. Aber es wird sich schon etwas finden. Man kann Nachhilfeunterricht geben, ich bin ein guter Mathematiker. Oder ich kann in den Semesterferien in einer Fabrik arbeiten.«

«Es wird in Deutschland keine Fabrik mehr geben, Liebster. «Dora Graff strich ihm zärtlich über das verbrannte Gesicht.»Aber Krankenhäuser gibt es immer. Ich werde eine Stelle als Schwester annehmen. Eine Doppelstelle — in dem einen Haus als Tagesschwester, in einem anderen als Nachtschwester.«

«Und wann willst du schlafen!«

«Zwischendurch. Ein paar Stunden genügen.«

«Das lasse ich nie und nimmer zu. Es wird schon eine Möglichkeit geben, daß ich mir die Semestergelder verdienen kann.«

«Und die Zimmermiete? Essen und Trinken?«

«Und wenn ich nachts Trümmer wegräume«, sagte Adam verbissen.

«Auch das geht nicht. Um 22 Uhr ist Sperrstunde.«

«Es wird nicht immer so bleiben.«

«Wissen wir es? In Bernegg stehen die Frauen für 100 Gramm Margarine ab morgens 4 Uhr an. Und nebenan in der Schule haben die Amerikaner gestern einen ganzen Kessel mit flüssigem Fett in eine Grube geschüttet. Einen ganzen Kessel, der für Bernegg zwei Tage Paradies bedeutet hätte. Pommes frites hatten sie gemacht. Und als sie das Fett wegschütteten, standen am Zaun des Schulhofs über dreißig Frauen und starrten stumm auf die fettige Grube.«

«Sie haben ihren Befehl«, sagte Fritz Adam langsam.»Ich weiß, daß die Kinder in Polen Regenwürmer sammelten und sie rösteten, solchen Hunger hatten sie. Und wir hatten die Lager voll und nahmen aus den Scheunen der polnischen Bauern das Letzte heraus. «Er legte den Kopf in Dora Graffs Schoß und starrte hinauf in den blauen Frühlingshimmel.»Es gibt kein größeres Untier als den losgelassenen Menschen.«

Dora Graff schwieg. Sie hatte vor einigen Tagen mit Professor Rusch und Dr. Mainetti gesprochen. Sie hatte erzählt, daß Fritz Adam und sie heiraten wollen, gleich, nachdem die sinnlose Ehe Adams geschieden sein würde. Professor Rusch hatte ihr versprochen, für eine gute Schwesternstelle zu sorgen.»Wenn man mich weiterarbeiten läßt«, hatte er gesagt,»nehme ich Sie mit, Dora. Sie können sich darauf verlassen. «Das war ein großer Trost und eine Hoffnung für die Zukunft.

«Wir werden es schaffen, Fritz«, sagte sie und küßte seine Stirn.»Alles fängt ja wieder von vorn an, es geht allen gleich.«

Der Wastl Feininger hatte andere Sorgen. Sein Hof bei Berchtesgaden war unzerstört. Was noch an Schweinen und Großvieh üb-riggeblieben war, wußte er nicht. Aber zu hungern brauchte die Resi nicht. Da war der Garten, da waren die Obstbäume, und auch wenn sie allein war auf dem Hof, konnte sie immer noch so viel Getreide anbauen, daß es zum Mehlreiben und zum Brotbacken reichte. Und tauschen konnte man natürlich. Für den Wastl waren allein die strammen Neger eine innere Plage.

«Wos mach' i, wenn's an Negerbuam kriagt?«fragte er öfter und kratzte sich den Schädel.»Stellt's euch vor, a Negerbua, der nachher Seppl Feininger heißt!«

Kaspar Bloch, der >Gehörlose vom Dienst<, wie man ihn nannte, versuchte seit dem 5. Mai vergeblich mit seinem Vater in Verbindung zu treten. Major Braddock hatte einen Bericht von Professor Rusch erhalten, in dem geschildert war, daß der Unteroffizier Kaspar Bloch alle Bedingungen für eine sofortige Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft erfülle, da sein Vater, der bekannte Psychiater Professor Dr. Thomas Bloch, als >Opfer des Nazismus< gelte. Man habe ihm im Mai 1944 seine Praxis geschlossen, ihn als Chefarzt entlassen und ab Juli 1944 in eine Fabrik für Granatzünder >kriegsdienstver-pflichtet<, weil Professor Bloch sich geweigert hatte, an sogenannten >erbkranken< Kindern und später auch durch Kopfschüsse irrsinnig gewordenen deutschen Soldaten die Euthanasie vorzunehmen.

Kaspar Bloch wußte weder von diesem Schriftstück etwas noch von dem tragischen Schicksal seines Vaters. Er hatte immer Briefe nach Bernegg bekommen, in denen Professor Bloch schrieb, es gehe ihm gut, nur die Arbeit in der Klinik nehme überhand und Mutter mache sich Sorgen um seinen Gesundheitszustand, bis in die Nacht hinein halte ihn oft die Klinik fest, und andere fromme Lügen mehr.

Major Braddock hatte Ruschs Schriftstück eingehend studiert und an das Oberkommando weitergeleitet. Von da an war Schweigen. Niemand wußte, wo Professor Bloch war. Man hatte gesehen, daß er mit einem Militärkommando weggefahren war. Frau Bloch war einen Monat vorher nach Norddeutschland gefahren. Zu Verwandten, hatte sie den Nachbarn erzählt. Aber eine Adresse wußte man nicht.

«Ich verstehe das nicht«, sagte Kaspar Bloch einmal zu Professor Rusch.»Mein Vater hat mir doch versprochen, sofort zu kommen. Wie lange soll ich denn nun immer noch hier den Tauben spielen?«

Erich Schwabe lebte in einer anderen Welt, seit er Ursulas Telegramm bekommen hatte. Er wußte nicht mehr, was er tun sollte. Alles erschien ihm dumm und sinnlos. Am Kartenspiel hatte er kein Interesse mehr, am Schachbrett konnte er sich nicht mehr konzentrieren. Er saß nur herum, rannte unruhig im Zimmer oder im Park hin und her und stand dann wieder am Fenster und sah die Straße nach Bernegg hinab.

Es war ein grausames Warten. Bis zu einer gewissen Grenze ertrug er es, dann rannte er zu Dr. Mainetti.

«Noch nichts?«fragte er atemlos.

«Nein. Noch nichts«, sagte Lisa jedesmal.

«Ob ihr etwas passiert ist, Frau Doktor?«

«Daran wollen wir nicht denken, Schwabe. «Dr. Mainetti gab ihm eine Tasse Nescafe. Vorsichtig schlürfte Schwabe, er hatte ja keine Lippen mehr.»Von Köln bis hier ist ein weiter Weg. Sie schlägt sich schon durch.«

«Aber sie ist so zart, Frau Doktor. Und so ängstlich. Können Sie nicht mal den Major anrufen. Ich meine, vielleicht hat er was gehört?«

«Wir müssen Geduld haben, Schwabe. «Dr. Mainetti schüttelte Schwabe an den Schultern.»Nun drehen Sie nicht schon wieder durch! Wir haben doch das Warten geübt.«

Endlich war es soweit. Aus Bernegg rief Major Braddock an. Lisa Mainetti ging zur Stube 14, es war ihr, als käme ihre eigene Mutter zu Besuch, als erlebe sie selbst etwas Wunderbares und Einmaliges.

Schwabe saß am Fenster und sah nach Bernegg hinab. Er fuhr zusammen, als Lisa seinen Namen rief.

«Schwabe — der Major hat eben angerufen. Er schickt gleich einen Wagen herauf und läßt Sie abholen. Ursula ist da.«

«Sie ist da?«schrie Schwabe.»Jungs, hört ihr — meine Frau ist da!«

Er drehte sich im Kreise und hielt sich den Kopf fest.»Was nun?«stotterte er.»Was zieh' ich an? Was hat der Major denn gesagt? Wie sieht sie aus? Sie wollten doch noch mit ihr sprechen, Frau Doktor!«

«Ick würd' im Schlafanzug jehn!«sagte der Berliner gemütlich.»Dann sparste det lange Ausziehen!«

Fritz Adam half dem völlig verwirrten Schwabe. Unter der Matratze holte er die Hose hervor. Seit zwei Tagen hatte Schwabe darauf geschlafen, und nun hatte sie einen messerscharfen Bruch. Der Wastl zog ihm die Schlafanzugjacke über den Kopf und reichte das Hemd, Kaspar Bloch putzte noch einmal über die Stiefel, und Walter Hertz schüttelte die Flusen von der Feldbluse, auf deren Rückenseite ein dicker Negersoldat gleich nach dem Einmarsch mit weißer Farbe ein großes POW gemalt hatte.

«Ich fahre mit Ihnen nach Bernegg«, sagte Lisa. Sie freute sich mit Schwabe und empfand jetzt ein dumpfes Gefühl im Magen. Wird es gut gehen? dachte sie. Eine Entscheidung würde fallen, das war sicher. Ein Tag begann, der über ein ganzes weiteres Leben entschied.»Wenn Sie sich umgezogen haben, kommen Sie in den OP I. Ich mache Ihnen einen Verband, daß Sie wie eine Schönheit aussehen!«

Walter Hertz, der am Fenster stand, hob beide Arme.»Der Ami-wagen kommt! Los, beeil dich, Erich!«

«Wo sind meine Socken?«schrie Schwabe.»Ich habe sie gestern noch gestopft!«

Man fand auch die Socken. Es dauerte lange, denn sie lagen in einem zusammengeklappten Schachspiel. Baumann erschien und rief:»Schwabe zum Verbinden!«

«Meine Socken!«brüllte Schwabe.»Himmel, Arsch und Zwirn! Wer hat die in das Schachspiel gelegt!«

Er war es selbst gewesen, denn Stopfgarn und Nadel lagen noch dabei.

Endlich stand Schwabe mit Hilfe der ganzen Stube ausgehfertig im Zimmer. Das beste an ihm war der Hosenkniff.Auf dem Flur hörte man laute englische Worte, Baumann in der Tür winkte heftig.

«Die Amis warten nicht gern. Reiß dich los!«

«Viel Glück, Junge«, sagte Fritz Adam und drückte Schwabe die Hand.

«Und det mir ooch 'n Junge dabei 'rauskommt!«rief der Berliner.

Walter Hertz klopfte Schwabe stumm auf die Schulter. Dann wandte er sich ab und ging zum Fenster. Er mußte an Petra denken, und es zerriß ihm das Herz.

Erich Schwabe taumelte hinter Baumann her zum OP I. Dort wartete Lisa Mainetti bereits. An der Wand standen zwei baumlange amerikanische Soldaten. Auf ihren Helmen stand in weißer Leuchtfarbe MP. Wie Cowboys trugen sie ihre schweren Pistolen in langen Halftern, die gegen die Kniekehlen schlugen.

«Wir werden Sie mit Leukoplast vollkleben«, sagte Dr. Mainetti,»und um die Nase legen wir einen schönen, weichen Verband.«

Schwabe setzte sich auf den Verbandsstuhl.»Machen Sie,wie es richtig ist, Frau Doktor«, sagte er heiser vor Erregung.»Sie können alles verbinden — nur nicht die Augen.«

«Und den Mund, Schwabe. Sonst können Sie die kleine Frau ja nicht küssen.«

«Mit dem Mund?«sagte Schwabe kaum hörbar.

Lisa schwieg. Baumann reichte ihr die Verbände und Leukoplaststreifen. Nach wenigen Minuten sah Schwabe in einen Spiegel, den ihm Dr. Mainetti hinhielt.

Es war der über und über verpflasterte Kopf eines Verwundeten. Mehr nicht. Man sah keine Verstümmelungen mehr, man ahnte nicht einmal, daß unter diesen rosa Streifen und weißen Mullappen ein abrasiertes Gesicht lag. Nur der Mund war frei. Ein narbiger, verharschter, eingezogener Mund. Schwabe sah lange in den Spiegel.

«Muß der Mund frei sein?«fragte er dann leise. Lisa nickte.

«Sie wollen doch mit Ihrer Frau sprechen. Sie sieht ja sonst nichts von Ihrem Gesicht.«

Schwabe wandte sich ab. Einer der MP-Männer winkte und grinste breit.»Come on!«sagte er.

Schwabe blieb in der Tür des OP stehen. Er wartete auf etwas. Lisa

Mainetti stand am Instrumententisch und räumte die Scheren zusammen.

«Sie wollten doch mitkommen, Frau Doktor?«sagte er.

Lisa sah kurz auf.»Ich wollte es ja, Schwabe. Aber der Major hat nur Ihnen Ausgang gegeben. Ich muß hierbleiben. Ich darf nicht mit nach Bernegg!«

Schwabe rührte sich nicht. Die beiden MP-Männer hinter ihm kauten ihren Kaugummi und grinsten verständnislos.

«Was soll ich denn ohne Sie bei Uschi«, stammelte Schwabe.»Sie — Sie wollten ihr doch vorher sagen, wie ich aussehe. Ich kann doch nicht so ohne weiteres.«

«Sie werden es können, Erich«, sagte Dr. Mainetti. Güte und Aufmunterung waren in ihrer Stimme.»Packen Sie das neue Leben mit beiden Händen, und lassen Sie es nicht mehr los. Haben Sie Mut, und wenn es der Mut der Verzweiflung ist. Für eine ehrliche Liebe darf es einfach kein Unmöglich geben.«

Schwabe nickte stumm. Er schluckte ein paarmal, dann drehte er sich um und ging vor den beiden MP-Riesen die Treppe hinunter. Ein schmaler, nach vorn gebeugter Mann mit dem weißen, leuchtenden POW auf dem Rücken. Es sah so aus, als sei es eine schwere Last, die er trug.

«Jetzt fahren sie ab«, sagte Walter Hertz, der oben am Fenster stand.»Mensch, haben die ein Tempo drauf.«

Fritz Adam saß auf seinem Bett und sah vor sich auf den Boden.»Vielleicht ist es dumm, Jungs«, sagte er langsam, aber deutlich,»und vielleicht lacht ihr darüber. Aber wir sollten jetzt für unseren Erich beten.«

Und niemand lachte.

Major Braddock saß in seinem Sessel und hatte die Beine bequem auf den Tisch gelegt. Er rauchte und trank seinen geliebten Whisky. Vor ihm hockte auf einem Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet, das staubige Kopftuch noch um die Haare geschlungen, Ursula Schwa-be und sah an Braddock vorbei auf ein Hitlerbild, das noch immer an der Wand des zu einem Büro umgestalteten Schulraums hing. Amerikanische Soldaten hatten unter Hitlers Kinn einen Vollbart gemalt und eine Brille um seine starr blickenden Augen gezeichnet. Jetzt war er lächerlich.

Vor Ursula stand ein Glas mit Whisky und eine aufgerissene Packung Zigaretten. Sogar eine Tafel Schokolade hatte Braddock hingelegt und eine Schachtel Butterkekse. Ursula hatte nichts angerührt. Die Angst engte ihr den Magen ein und legte eine eiserne Klammer um ihre Kehle.

«Haben Sie schon ein Zimmer?«fragte James Braddock. Über die Schuhspitzen warf er einen Blick auf die schmale, blonde Frau. Ursula schüttelte den Kopf.

«Nein, ich bin doch eben erst gekommen. Ich weiß überhaupt nicht…«

«Natürlich. «Major Braddock zerdrückte seine süßlich duftende Zigarette.»Es wird auch schwer sein, etwas zu finden. In den Hotels wohnen meine Offiziere. Ich kann sie schlecht wegen eines deutschen POW hinauswerfen. Aber wir werden schon etwas frei machen. Ich schicke zwei von meinen Jungs los, die sollen ein Privatzimmer suchen. «James Braddock nahm die Füße vom Tisch und dachte an etwas Bestimmtes. Es war ihm plötzlich eingefallen, und sein Gesicht wurde von einem väterlichen Lächeln überstrahlt.»Natürlich, das ist es. Wir fahren zusammen hin. «Seine Hand winkte flink durch die Luft.»Alles o.k., Mrs. Schwabe, wir haben ein Zimmer!«

«Sie erlauben mir also, daß ich meinen Mann sehe?«fragte Ursula schüchtern.»Darf ich ihn auch sprechen? Nur ein paar Worte? Ich will ihm nur die Grüße von seiner Mutter bestellen. Und — und sagen will ich ihm, daß ich ihn liebe. Darf ich das, Herr Major?«

«Warten Sie ab«, antwortete Braddock und grinste freudig.»Es wird sich alles finden. Sie haben Ihren Mann noch nicht gesehen, seit. «Wie sagt man das nur, dachte er. Es soll nicht so rauh klingen. Ursula senkte den Kopf.

«Ich weiß, wie er aussieht. Mutter hat es mir erzählt. Es ist mir egal. Ich will nur bei ihm sein. Ich — ich habe Angst in Köln.«

James Braddock sah zur Seite aus dem Fenster. Der Jeep mit den beiden MP-Männern und dem in sich zusammengesunkenen Erich Schwabe raste auf den Schulhof und bremste quietschend. Einer der Militärpolizisten stieß Schwabe gegen die Schulter.

«Go on, boy!«

Mit steifen Beinen kletterte Schwabe aus dem Jeep. Seine Arme hingen schlaff an seinem Körper herunter. Sein verbundener, verpflasterter Kopf bewegte sich hin und her, der Blick glitt über das Schulgebäude, über das wehende Sternenbanner, über die in Reihe aufgefahrenen grünen Wagen, über die Schulturnhalle, die jetzt zur Messe umgestaltet war und aus der ein herrlicher Duft von gebratenen Hühnern wehte.

Das POW auf seinem Rücken leuchtete grell. Er nahm das alte Militärschiffchen vom Kopf, und seine blonden Haare fielen über den Verband und wehten im Wind über die sorgfältig mit Mull geschützte neue Nase.

Major Braddock setzte seine Mütze auf und erhob sich. Auch Ursula schnellte vom Stuhl hoch. Aber dann schwankte sie, hielt sich an der Tischkante fest und schloß die Augen.

«Wenn Sie schlapp machen, schaff ich ihn wieder weg!«sagte Braddock absichtlich grob. Ursula richtete sich auf und zwang sich, nicht zu zittern.»Wenn Sie ihn aber lieb umarmen, mein Kind — ich lasse ihn Ihnen auf meine Verantwortung ungestört bis morgen früh 10 Uhr.«

«Bi…bis morgen früh?«Ursula starrte ihn ungläubig an.

«Jawohl. Eine ganze Nacht.«

«Eine Nacht!«Es war wie ein unterdrückter Schrei.

Major Braddock trank noch schnell seinen Whisky aus. Sein Hals brannte, als er Ursula so stehen sah, überwältigt von einem Schicksal, das nicht einmal als Ahnung in ihr lebendig gewesen war.

Im Flur der Schule hörten sie jetzt Schritte.»Da ist er«, sagte Brad-dock überflüssigerweise.»Ich komme in zehn Minuten wieder, und

dann fahren wir los.«

Die Tür wurde aufgerissen. Einer der MP-Riesen schob Erich Schwabe in das Schulzimmer. Major Braddock zeigte mit dem Daumen auf Ursula. Mit dem Rücken zur Tür stand sie, die Fäuste vor dem Mund und die Zähne in die Fäuste gegraben.

Erich Schwabe blieb an der Tür stehen. Uschi, dachte er, meine kleine Uschi. Das Schiffchen fiel ihm aus der Hand, sein lippenloser Mund verzerrte sich, er wollte etwas sagen, nur ein Wort: Uschi. Aber es kam kein Laut aus seiner Kehle, nicht einmal ein Röcheln oder ein Stammeln. Es war ein lautloser Schrei, der tief unten in der Kehle bereits erstickte.

«Er ist da«, sagte Major Braddock heiser.»Schön sieht er nicht aus, aber stumm ist er bestimmt nicht.«

Dann ging er hinaus, schloß die Tür hinter sich und winkte die beiden MP-Riesen weg, die draußen Wache hielten.»Der läuft nicht weg«, sagte er, zündete sich eine Zigarette an und ging auf dem Flur hin und her, die Hände auf dem Rücken und mit gesenktem Kopf.

Erich Schwabe stand noch immer an der Tür. Sein Blick glitt über die schmale Gestalt mit den unordentlichen, verstaubten blonden Locken, den verblichenen Socken und den dicken Schuhen, die gar nicht zu den kleinen Füßen und den schlanken Fesseln paßten. Einen grauen, fleckigen Wollrock hatte sie an und eine blaue Baum-wollbluse, übersät mit Rußflecken.

«Uschi«, sagte Schwabe leise.»Uschi, dreh dich um.«

Durch Ursulas Körper rann es eiskalt. Sie hörte die Worte, aber es war nicht Erichs Stimme. Es war eine dumpfe, kehlige, fremde Stimme. Eine Stimme, die wie durch einen verstopften Trichter sprach, ohne Schwingungen, ohne Klang.

«Uschi«, sagte Schwabe noch einmal, ganz leise.

Mit einem Aufschrei drehte sie sich um. Nur eine Sekunde lang sah sie den verbundenen Kopf, das kreuz und quer mit Leukoplaststreifen verklebte Gesicht, einen flachen, verharschten Mund. und seine Augen sah sie, blau, wie sie immer gewesen waren, und seine Haare lagen über der verbundenen Stirn, blond und wirr wie immer, so ungebändigt, daß er früher, an Sonntagen, wenn sie zum Tanzen gingen, Pomade darüberstreichen mußte, damit sie hielten.

Wie das Aufblitzen eines Lichts in einem dunklen Raum war das alles, ein zuckendes Erkennen und Begreifen. Dann warf sie die Arme vor und stürzte auf ihn zu, und sie schrie» Erich! Erich!«und fiel gegen ihn, umklammerte ihn und tastete nach seinem Kopf. Verbände, Leukoplast, narbige Haut.»O mein Erich!«schrie sie wieder, und dann zog sie den Kopf herunter und küßte den lippenlosen Mund und spürte, wie die Narben gegen ihre Lippen drückten und wie nichts da war, keine Wärme, keine Weichheit, nichts, nichts.

«Ich liebe dich, Erich!«schrie sie.»Nun bin ich bei dir und bleibe bei dir. Immer… immer… immer. «Und dann wurde ihr Körper schlaff, ihr Kopf sank von Schwabes Mund weg und fiel gegen seinen Hals. Sie hing in seinen Armen, ohnmächtig und in der Ohnmacht verzweifelt nach Luft ringend, als ersticke sie.

«Sanitäter!«brüllte Schwabe. Er trug Ursula zu Braddocks Schreibtisch und legte sie darauf wie auf einen OP-Tisch, mitten auf die Papiere und Akten. Dann rannte er zur Tür und riß sie auf.»Sanitäter!«schrie er grell.»Hilfe! Hilfe!«

Braddock raste den Flur entlang zum Schulraum. Die beiden MP-Männer folgten ihm. Schwabe kniete schon wieder neben Ursula. Er hatte ihr die Bluse aufgerissen und massierte wie wild ihre kleine Brust, bewegte ihre Arme auf und nieder und rief immer wieder ihren Namen, mit einer kindlich schrillen, in der Angst zerreißenden Stimme.

Major Braddock ergriff Schwabe am Kragen und stieß ihn zur Seite. Er taumelte gegen einen Stuhl, verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.

«Sie stirbt!«schrie er grell.

«Blödsinn!«Braddock legte Ursulas Kopf auf seinen Unterarm. Mit der Linken holte er seine Whiskyflasche, entkorkte sie mit den Zähnen und setzte die Flasche an Ursulas farblose Lippen. Die beiden MP-Männer klopften mit geübten Griffen, als handele es sich um einen bewußtlosen Kameraden, den nackten Oberkörper und massierten den Hals, bis Ursula Schluckbewegungen machte und der scharfe Alkohol in den schlaffen Körper rann.

James Braddock sah zu dem noch immer auf der Erde sitzenden Schwabe.»Tut mir leid, boy«, sagte er.»Aber nun werden Sie eine betrunkene Frau wiedersehen. Hat auch seine Vorteile, gerade in Ihrem Fall.«

Nach einigen Schlucken kehrte die Farbe in Ursulas Gesicht zurück. Braddock setzte die Flasche ab. Er knöpfte die Bluse über Ursulas Brust wieder zu, hob den schmalen Körper vom Schreibtisch und setzte ihn in den Sessel. Dort schlug Ursula wieder die Augen auf. Sie waren groß und glänzend und kreisten unkontrolliert in den Augenhöhlen.

«Groggy!«sagte Major Braddock sachverständig.»Hatte sicherlich nichts im Magen. Na, denn los, boys!«

«Wohin?«fragte Schwabe. Er hielt die schwankende Ursula fest und drückte ihren Kopf gegen seine Brust.

«Das werden Sie sehen. Wir machen eine kleine Fahrt.«

Mit dem Jeep fuhren sie aus Bernegg hinaus, die Hügelstraße entlang. Nach einigen Biegungen sah man auf einer Erhebung ein großes, stolzes Haus stehen, eine Villa im Jugendstil mit einem säulenverzierten Eingang.

«Da ist's!«sagte Braddock und zeigte auf die Wolfachsche Villa.»Die haben Platz genug.«

Der Jeep ratterte den steilen Weg hinauf und hielt vor der Terrasse. Die dicken, schmiedeeisernen Gittertore vor dem Eingang waren geschlossen. Vor allen Fenstern waren die Jalousien heruntergelassen. Das Haus war verlassen.

«Es geht um Höheres als um Gesetze!«sagte Braddock.»Macht auf, boys!«

Die beiden MP-Männer zerschlugen mit den Kolben ihrer Maschinenpistolen eine der Holzjalousien und das dahinter liegende Fenster. Sie kletterten in die verlassene Villa und öffneten von innen eine der Fenstertüren zur Terrasse. Major Braddock trat ein. Zufrieden sah er sich in dem großen, elegant eingerichteten Salon um.

«Ich wollte euch nur ein Zimmer geben, aber so ist es auch gut! Echte Teppiche, ein Flügel, tiefe Sessel. Ich wette, ihr werdet sogar Daunenbetten finden. «Er klopfte Schwabe auf die Schulter und nickte ihm zu.»Morgen früh um 10 Uhr holen wir dich wieder ab, boy. Nutz die Zeit!«

Er nickte den beiden Riesen zu, und über die Terrasse entfernten sie sich wieder. Kurz darauf hörte Schwabe das Aufheulen des Jeepmotors und das sich entfernende Geräusch der wild mahlenden Räder.

Sie waren allein, in einer fremden, gewaltsam aufgebrochenen Villa, ein Kriegsgefangener ohne Gesicht und eine schwankende, betrunkene Frau. Seine Frau.

«Uschi«, sagte er.»Uschi. «Er kniete vor ihr, und sie saß in einem der Kaminsessel und lächelte ihn an.

«Mir ist so komisch, Liebling. «Sie hob die rechte Hand und tippte mit dem Zeigefinger Schwabe auf die verbundene, neue Nasenwurzel.»Ein ganz buntes Gesicht hast du, ganz bunt, wie im Zirkus. Da… das sieht lustig aus.«

«Uschi«, stammelte Schwabe.»Uschi.«

«Uschilein ist müde.«, sagte sie mit einem Schmollmündchen.»Komm. bring Uschilein ins Bett.«

Und Erich Schwabe nahm seine Frau auf die Arme und trug sie durch das fremde Haus, bis er ein Schlafzimmer fand, darin ein Doppelbett mit weichen Daunensteppdecken und weißen Fellen auf dem Boden.

Mit zitternden Fingern entkleidete er Uschi und deckte sie zu. Dann saß er neben ihr und hielt die Hände, als müsse er sie in den Schlaf singen.

«Komm, Liebling«, lächelte Ursula und dehnte sich und rückte zur Seite.»Komm zu deinem Uschilein. «Ihre trunkenen Finger glitten über Schwabes Gesicht.»Und nimm die Maske ab, ja? Komm doch!«

«Mein Gott«, stammelte Schwabe.»O hilf, mein Gott. «Er fiel neben Ursula auf das Bett, vergrub das zerstörte Gesicht in die Kissen und weinte und krallte die Hände in das Bett und biß in das

Kissen in wilder, zerstörerischer Verzweiflung.

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