Kapitel 4

Nein!«jammerte Ursula Schwabe.»Nein… nein. «Der Wald, der Hügel, das Schloß, der Park drehten sich vor ihren Augen, lösten sich auf in schwarze und rote Punkte, die vor ihr tanzten, ineinanderflossen und dann zerplatzten. Sie umklammerte den rauhen Stamm und hielt sich an ihm fest und fühlte, wie sie nach unten sank, wie ihre Hände, ihr Gesicht an der Rinde entlangglitten und blutig aufrissen.

Erst als sie auf den Knien lag und die Kälte durch ihren Körper schnitt, wurde es klarer um sie. Mit einem Schrei sprang sie auf und rannte den schmalen Weg zurück zum Wachhaus, an der hier wieder hohen, unüberblickbaren Mauer entlang, hinter der sie noch immer, sich langsam entfernend, den kehligen Gesang der Verstümmelten hörte.

Der Wachunteroffizier hatte einen Augenblick den Drang, laut» Sa-nitäääter!«zu brüllen, als Ursula Schwabe in den Raum stürzte. Dann erinnerte er sich, daß man ja hier in einem Lazarett und nicht an der Front war, und sprang herbei, riß sein Taschentuch aus dem Rock, drückte es auf das blutende Gesicht Ursulas und führte sie zu einem der Feldbetten.

«Was ist denn los?«rief er und griff nach dem Telefon. Er drehte die Nummer Dr. Lisa Mainettis und starrte auf Ursula, während das Rufzeichen hinausging.»Wo kommen Sie denn her? Wer hat Sie denn so zugerichtet? Hat irgend so ein Sauhund Sie vielleicht. «Der Unteroffizier schluckte.»Die haben monatelang keine Frau gesehen, außer den Haubengeschwadern. Die sind wie… wie. «Ihm fiel kein Vergleich ein, und er war froh, als die Stimme Dr. Mainettis aus der Hörmuschel klang.

«Frau Doktor!«sagte er stramm.»Frau Schwabe — sie ist eben zurückgekommen. Ich weiß nicht, was passiert ist. Sie blutet im Gesicht und an den Händen, und sie weint. Ich nehme an, daß jemand draußen versucht hat. Nein, gesehen hat es keiner. Gut, ich halte sie hier fest. Jawoll. Ende.«

Er legte den Hörer zurück und setzte sich unsicher auf die Tischkante. Eine Sauerei, dachte er ergrimmt. Will ihren Mann besuchen. und dann so was! Und man kann gar nichts sagen. Wie soll man da trösten? Soll man sagen: Frauchen, wer Hunger hat, der frißt sogar Gras. Zu dumm ist das! Und Hunger hat man selbst, wenn man sie so ansieht. blond, jung, schlank, mit langen Beinen und einer wohlgefüllten Bluse. Das erinnert einen an so manches, und dann ist's wie ein Fieber durch den Körper.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Dr. Mainetti stieß die Tür zur Wachstube auf und trat ein. Sie warf einen Blick auf die auf dem Feldbett liegende, blutbeschmierte und haltlos weinende Ursula und winkte dem Unteroffizier zu.

«'raus!«sagte sie laut.»Und erst wenn ich rufe, kommen Sie wieder!«

«Jawoll!«brüllte der Unteroffizier.

Er entfernte sich schnell und ziemlich ernüchtert. Auch so kann eine Frau sein. Schlimmer als ein ostpreußischer Feldwebel! Und dabei sieht die Mainetti aus wie eine Frau auf einem berühmten Gemälde. Der Name fiel ihm nicht mehr ein… er hatte eine Abbildung in einer Illustrierten gesehen und gleich gedacht: Wie unsere Frau Doktor.

Lisa Mainetti wartete, bis die Tür hinter dem Unteroffizier zufiel. Dann setzte sie sich neben Ursula Schwabe auf das Feldbett und drehte deren Gesicht vorsichtig nach oben. Mit einem großen Mulllappen wischte sie das nachgesickerte Blut von der abgeschabten Haut und tupfte zugleich die Tränen weg.

«Was ist denn?«fragte sie leise. Nichts war mehr an ihr von dem lauten Kommandoton, mit dem sie durch das Lazarett ging und die Landser strammstehen ließ, auch wenn sie immer sagte:»Jungs — ihr sollt nicht Männchen bauen — ihr sollt nur Ordnung halten und vernünftig sein!«Jetzt war ihre Stimme so weich und fraulich wie ihr Äußeres. Sie legte beide Hände um Ursulas Kopf. Es waren kühle, weiche Hände, und Ursula schlug die Augen auf und umklammerte die Arme der Ärztin wie eine Ertrinkende.

«Wie… wie sieht Erich aus?«stammelte sie. Blankes Entsetzen stand in ihren Augen.»Ist er so wie… wie. Ich habe sie gesehen. sie haben ja gar keine Gesichter mehr. «Sie warf den Kopf auf die Seite und schrie auf. Ihr Körper krampfte sich zusammen und zuckte zurück. Dann lag sie starr, wie versteinert, und starrte zur Decke mit

unbeweglichen, aufgerissenen Augen.

Dr. Lisa Mainetti senkte den Kopf. Die drückende Sorge, daß das geschehen sei, was der Wachunteroffizier befürchtet hatte, war von ihr genommen. Aber eine neue Belastung war entstanden, und sie war noch weit schlimmer.

«Wo haben Sie die Verletzten gesehen?«fragte sie.

«Im Wald… über die Mauer… sie kamen über eine Wiese und sangen. «Wieder lief ein Zucken über Ursulas Gesicht. Die Erinnerung an das schreckliche Bild zerbrach die Starrheit des Entsetzens.

«Aber die Mauer ist doch so hoch.«

«Von einem Hügel.«

«Eine Sauerei!«Dr. Mainetti verfiel wieder in den Lazarettton. Wir werden sofort einen dichten Stacheldrahtzaun ziehen, dachte sie. Da bemüht man sich, die Frauen schonend auf alles vorzubereiten, und dann können sie ein paar Schritte weiter über die Mauer sehen.

Ursula Schwabe faßte wieder nach den Händen der Ärztin. Ihre Stimme schwamm in Tränen.

«Sagen Sie es mir, Frau Doktor. bitte, bitte, sagen Sie es mir. Wie sieht Erich aus? Durfte ich darum Erich nicht sehen, weil er. weil er.«

Dr. Mainetti strich fast zärtlich über Ursulas blonde Locken. Wie jung sie ist, dachte sie dabei. Fast zu jung, um zu begreifen, was das Schicksal von ihr verlangt. Sie ist das wahre Opfer. Der Mann wird sich mit einem neuen Gesicht zurecht finden. Aber ob sie es kann, diese kleine, gerade ins Leben getretene Frau mit der großen Hoffnung auf das Glück?

«Er sieht nicht schön aus«, sagte sie vorsichtig.»Kein im Gesicht Verwundeter sieht gut aus. Aber das ist nur vorübergehend. Was wir Ärzte tun können, das tun wir. Alles, was in unseren Kräften steht, wird versucht werden, um auch Ihren Mann wiederherzustellen. Es werden Narben bleiben, das läßt sich nicht vermeiden. Und vielleicht wird er ein wenig anders aussehen als vorher. so ganz genau können auch wir nicht die Natur nachmachen. Aber er lebt! Und er wird leben bleiben, und wenn der Krieg noch zehn Jahre dauert. Für Ihren Mann gibt es keinen Krieg mehr, Sie werden ihn behalten können, ganz sicher. Das ist etwas, was heute Millionen anderer Frauen nicht sagen können. Ihnen, Frau Schwabe, hat der Krieg den Mann zurückgegeben… was haben da schon die paar Narben zu sagen, die er im Gesicht tragen wird?«

«Aber… aber wenn er kein Gesicht mehr hat?«stammelte Ursula.

«Er hat eins!«sagte Dr. Mainetti fest.»Ich verspreche es Ihnen: Wenn Sie ihn wiedersehen, wird er wieder ein Mensch sein.«

«Und wann. wann ist das?«

Dr. Mainetti hob leicht die Schultern. Hunderte von Malen hatte sie diese Frage von Müttern und Frauen gehört, und selbst die Väter hatten bei dieser Frage Tränen in den Augen und einen Kloß im Hals gehabt. Und immer wieder hatte sie die Schultern gehoben und gesagt, was sie auch jetzt zu Ursula Schwabe sagen mußte:

«Wir werden uns alle Mühe geben. Es kann ein Jahr dauern, aber auch zwei oder drei. oder mehr. Die Natur läßt sich nicht zwingen. Viele Operationen sind nötig, und jede braucht ihre Zeit, um zu verheilen. Und jeder Körper reagiert anders auf Überpflanzungen.«

«Und so lange soll ich Erich nicht sehen?«

«Aber doch. «Dr. Mainetti stützte Ursula, als sie sich aufrichtete.»Sobald es geht, werden Sie ihn sehen und sprechen und mit ihm ausgehen. Vor allem eins müssen Sie ihm sein: seine Frau! Das ist das wichtigste überhaupt. Sie brauchen viel, viel Liebe, diese Verletzten. Nichts heilt so gründlich wie das Bewußtsein: Ich habe eine Frau, die mich trotzdem liebt. Ich bin ein Mensch geblieben!«

«Und wann kann ich ihn sehen?«

«Ich werde es Ihnen schreiben. «Dr. Mainetti half Ursula aufzustehn.»Und jetzt gehen wir erst einmal ins Haus, und ich schmiere Ihnen Salbe aufs Gesicht. Und dann müssen Sie Geduld haben. Viel, viel Geduld!«

Ursula Schwabe senkte den Kopf und nickte.»Aber warum darf sie ihn sehen, seine Mutter?«

«In einem solchen Unglück wird der stärkste Mann wieder zum Kind.

Und nach wem ruft denn ein Kind, wenn es einmal in Not ist?«

Ursula Schwabe lehnte den Kopf an die Schulter Dr. Mainettis.

«Grüßen Sie Erich von mir«, weinte sie und bedeckte mit beiden Händen das Gesicht.»Sagen Sie ihm, daß ich ihn liebe… ganz gleich, wie er aussieht… sagen Sie ihm, daß ich warten werde, und wenn es Jahre dauert. Sagen Sie ihm, daß ich. daß ich. «Die Worte erstickten in Schluchzen. Sie drückte den Kopf an die Ärztin und ließ sich aus dem Zimmer führen wie ein hilfloses Kind.

Draußen wartete der Unteroffizier und kaute an der Unterlippe.»Wer war der Lump?«fragte er wütend, als Dr. Mainetti mit Ursula an ihm vorbeiging.»Ich brech' dem Schwein alle Knochen.«

«Ihr Männer habt immer nur eins in eurem hohlen Kopf!«schnauzte Dr. Mainetti.»Gehn Sie in Ihren Wachraum und halten Sie den Mund! Verstanden?«

«Jawoll!«brüllte der Unteroffizier und rannte mit rotem Kopf zurück in die Wachstube.

«Ich muß leider stören«, sagte Dr. Mainetti und zog die Tür hinter sich zu.

Auf dem Bett saßen Erich Schwabe und seine Mutter. Sie hielten sich an den Händen und waren glücklich. Eine riesige Mauer, die den Himmel vor Schwabe versperrt hatte, war eingerissen worden. Nun war es ihm, als säße er in der vollen Sonne. Es gibt eine Zukunft, dachte er immer wieder. Mutter hat es mir gesagt. es ist alles halb so schlimm. Sie war nicht entsetzt, sie hat sich nicht geekelt. Vielleicht war es ein falsches Bild, das ich im Spiegel des Wassers gesehen habe.

Ein verzerrtes Bild, so wie man es auf den Jahrmärkten in den Juxspiegeln der Lachkabinette sehen kann.

Es war eine Hoffnung und ein neuer Glaube, die ihn stark und mutig machten.»Das nächste Mal bringst du Ursula mit!«hatte er gerade gesagt, bevor Dr. Mainetti ins Zimmer trat. Und Frau Hedwig Schwabe hatte genickt, seine Hände gestreichelt und mit mühsam fester Stimme geantwortet:»Ganz bestimmt, mein Junge. Ursula wird sich wundern, warum du so ängstlich warst. «Und sie wußte genau, daß sie log, und daß Ursula nicht die Stärke haben würde, dieses Gesicht anzusehen oder gar zu küssen.

«Sie haben meinen Jungen gut gepflegt, Frau Doktor!«sagte Frau Schwabe und streichelte Erichs Hände.»Bestimmt hat er drei Pfund zugenommen. Ich bin froh, daß es ihm gut geht.«

Dr. Mainetti nickte. Sie blickte in die mit Leukoplast verpflasterte Fratze Schwabes und lächelte sogar.

«Und welche Angst er vor dem heutigen Tag gehabt hat!«sagte sie.

«Er ist eben doch immer noch ein dummer Junge. «Frau Schwabe erhob sich. Sie sah in dem Blick Dr. Mainettis, daß die Besuchszeit vorbei war. Und sie las auch daraus, daß die Ärztin mit Ursula gesprochen hatte.

«Willst du schon gehen?«sagte Erich Schwabe. Es war ein kehliges, kaum verständliches Röhren, aber Frau Schwabe verstand es, als spräche er mit wunderbarer, klarer Stimme.

«Ich komme ja wieder, mein Junge. «Sie strich mit den Fingern über sein blondes Haar und wuschelte es durcheinander. Die Haare sind ihm geblieben, dachte sie. Und wie widerborstig sie sind. Schon als kleiner Junge war es unmöglich, ihm einen vernünftigen Haarschnitt beizubringen. Wie ein Pinsel sah er immer aus.»Ich bleibe eine Woche in Bernegg, und jeden Tag komme ich dich eine Stunde besuchen. wenn es die Frau Doktor erlaubt.«

«Aber natürlich.«

Erich Schwabes Augen leuchteten. Es war für andere Menschen die einzige Möglichkeit, in diesem weggeschabten und verpflasterten Gesicht einen Ausdruck der Freude zu bemerken.

«Laß Ursula nachkommen. Bitte, Mutter.«, sagte Erich Schwabe.

«Das nächstemal, mein Junge. «Frau Hedwig Schwabe stieß hinter dem Rücken Erichs die Tasche mit dem Kuchen und der Schmier-wurst tief unters Bett.»Jetzt bin erst einmal ich da. Und nun sei brav und tu alles, was man dir sagt.«

Erich Schwabes Augen lächelten.»Ja, Mutter«, sagte er leise.»Es ist ja so schön, daß du da bist.«

Dr. Mainetti sah aus dem Fenster, während Frau Schwabe noch einmal das zerstörte Gesicht des Sohnes küßte. Es kostete sie keine Überwindung mehr. Es ist mein Kind, dachte sie. Mein Fleisch und Blut. Was man ihm angetan hat, hat man auch mir angetan.

«Mein lieber, lieber Junge«, sagte sie zärtlich und küßte Erichs Augen.»Bis morgen! Ich werde Ursula sofort schreiben, wie gut es dir geht.«

Es klopfte. Schwester Dora Graff kam herein, um Erich Schwabe abzuholen.

«Ich werde ihr auch schreiben, Mutter. «Schwabe lehnte den Kopf auf die Schulter der Mutter.»Und danke schön, Mutter… für alles, für alles… alles… bin jetzt so froh.«

Er riß sich los, und ohne sich noch einmal umzublicken, verließ er mit Dora Graff das Zimmer.

Als die Tür hinter ihm zuklappte, vernahm Dr. Mainetti hinter sich einen tiefen Seufzer. Ehe sie zuspringen konnte, sank Frau Schwabe auf das Bett und drückte den weißhaarigen Kopf in die Kissen.

«Erich!«schrie sie in das Kissen.»Mein Junge! Mein Junge!«

Dann weinte sie, endlich befreit von allem Zwang, dem sie sich zwei Stunden gebeugt hatte. Nun fand das Grauen auch zu ihr, und ihr war, als zerreiße es ihr das Herz.

Dr. Mainetti ließ sie weinen. Sie setzte sich sacht neben sie auf das Bett und wartete, bis die alte Frau den Kopf hob.

«Sie waren unendlich tapfer«, sagte sie.

Frau Schwabe schüttelte den Kopf.»Glauben Sie, daß er nichts gemerkt hat?«schluchzte sie.

«Bestimmt nicht. Sie haben mehr zu seiner Heilung beigetragen als hundert Medikamente.«

«Wird er. wird er jemals wieder ein Gesicht bekommen, Frau Doktor?«

«Ja. Wir werden alles versuchen. Haben Sie ein gutes Foto von Ihrem Sohn? Wir wollen uns bemühen, sein Gesicht so ähnlich wie möglich wiederherzustellen.«

Frau Schwabe trocknete ihre Tränen ab. Ein Gedanke nahm jetzt von ihr Besitz, der ihre ganze mütterliche Kampfbereitschaft aufrief und keinen Platz für Trauer oder Entsetzen ließ.

«Was wird Ursula, seine Frau, sagen, wenn sie ihn so sieht?«fragte sie.»Was soll ich ihr sagen, Frau Doktor?«

«Die Wahrheit. Ich habe mit der kleinen Frau gesprochen. Während wir dachten, sie sitzt sicher in der Wachstube, ist sie spazierengegangen und hat einige der Gesichtsverletzten durch Zufall gesehen. Sie hat sich besser benommen, als ich erwartet habe. Sie will ihren Mann sehen.«

«So nicht!«Frau Schwabe hob beide Hände.»Ich lasse das nicht zu, Frau Doktor!«

«Sie will warten. Vielleicht in zwei oder drei Monaten wird es möglich sein. «Dr. Mainetti legte die Hände zusammen.»Sie haben jetzt zwei große Aufgaben, Frau Schwabe. Sie müssen Ihrem Sohn die Zukunft schenken, indem Sie ihn belügen. Und Sie müssen auf Ihre Schwiegertochter achtgeben, daß sie an diese Zukunft ebenso fest glaubt wie Ihr Sohn. Es wird nicht leicht sein, ich kenne das aus vielen Fällen. Für Sie bleibt Erich immer Ihr Kind. aber die kleine Frau wird sich nächtelang den Kopf zergrübeln, ob es möglich ist, mit einem Mann ohne Gesicht für immer zusammen zu leben. Sie ist noch jung, ihr Leben als Frau hat eben erst begonnen. Es wird für sie unendlich schwerer sein als für Sie als Mutter, sich an einen Anblick zu gewöhnen, der einem ständig einen Stich ins Herz gibt. Sie werden eine schwere Aufgabe haben.«

«Ich weiß. «Frau Schwabe holte die Tasche unter dem Bett hervor und packte sie aus. Den Kuchen, die Wurst, die Plätzchen. Abgehungert von den wenigen Lebensmittelmarken, erbettelt von den Nachbarn.

«Geben Sie es den Jungen, die wieder richtig kauen können«, sagte sie stockend.»Darf ich morgen wiederkommen?«

«Aber natürlich.«

«Ich brauche Ursula nichts zu sagen?«

«Nein. Sie weiß alles.«

Sie gingen durch die langen Gänge bis zu dem kleinen Wartezimmer neben dem Verbandsraum. Dort wartete Ursula, auf einem Schemel hockend. Ihr Gesicht hatte man ganz mit Salbe beschmiert, und über ein paar der abgeschrammten Stellen klebte Leukoplastpflaster.

Frau Schwabe fragte nicht, was geschehen war. Sie faßte Ursula unter und zog sie mit sich fort.»Komm, Kindchen!«sagte sie nur.»Wir bleiben noch eine Woche in Bernegg.«

«Was macht… wie geht es Erich?«stammelte Ursula. Ihre Fingernägel gruben sich in Frau Schwabes Arm.»Wie sieht er aus?«

«Gut.«

«Gut?«

«Er hat drei Pfund zugenommen.«

«Aber sein Gesicht, Mutter.«

«Ach was!«Frau Schwabe schüttelte energisch den Kopf.»Es wird viel zuviel darüber geredet! Natürlich sieht es nicht schön aus, die Frau Doktor hat es dir ja gesagt. Aber in ein paar Monaten ist alles wieder gut!«

Ursula Schwabe schwieg. Sie dachte an die Männer, die sie über die Mauer hinweg gesehen hatte. Fratzen wie aus wilden Fieberträumen geboren. Sie wußte, daß die Schwiegermutter sie belog. Jetzt wußte sie es genau. Aber sie nahm es ihr nicht übel. Vielleicht würde ich sie auch belogen haben, wenn ich Erich zuerst gesehen hätte, dachte sie. Und sie schloß die Augen und sah Erichs Gesicht vor sich: ein fröhliches, lachendes Gesicht mit wirren blonden Haaren und einem männlichen, ein wenig sinnlichen Mund. Und dann zog eine Wolke über das lachende Gesicht, und als die Wolke sich verflüchtigte, war es ein Kopf ohne Konturen, der zurückblieb: Augen, nur die Augen inmitten einer narbigen, roten, zerrissenen Fläche. Und darüber die wirren blonden Haare -

Vor dem Schloß brach Ursula ohnmächtig zusammen und hing am Arm Frau Schwabes. Ein Kübelwagen der Wehrmacht brachte sie hinunter zum Ort Bernegg, wo man die Ohnmächtige in das Gasthofzimmer trug und der alte Landarzt ihr eine herzstärkende Injektion gab.

Erich Schwabe saß unterdessen glücklich auf seinem Zimmer und schrieb einen Brief an seine Frau.

«Liebste Uschi!«schrieb er.

«Mutter war hier, und sie wird Dir erzählen, wie es mir geht. Ich hatte solche Angst, Dich zuerst zu sehen… bitte, verzeih mir. Aber jetzt, wo Mutter sagt, daß alles halb so schlimm ist, sollst Du kommen. Nun will ich Dich sehen und auch von Dir hören, daß Du mich immer lieben wirst.«

Dann sah er zufrieden aus dem Fenster. Unten, im Tal, unterbrochen durch die Baumkronen, sah er die Dächer von Bernegg. Auch das Dach des Gasthofs, in dem Ursula Schwabe gerade ihre herzstärkende Injektion erhielt.

Zwei Tage vor Weihnachten wurde ein neuer Patient eingeliefert. Dr. Mainetti, die an diesem Abend Arzt vom Dienst war, wurde aus ihrem Zimmer zur Aufnahme gerufen. Im Kleinen Verbandsraum saß ein junger Soldat auf einem Hocker. Neben ihm stand ein zweiter Soldat mit verkniffenem Gesicht, in der Faust ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett.

Er sah verwundert auf die Ärztin, die in den Raum trat und ihn wie ein Feldwebel musterte. Dann wandte sich Dr. Mainetti dem Jungen zu. Er hatte eine Kieferklemme im Mund und sah mit einem fast hündisch flehenden Blick zu ihr auf, nackte Angst in den Augen.

Der Schreibstubensanitäter, der die Aufnahme eintragen mußte, saß an einem kleinen Tisch am Fenster. Er kannte Dr. Mainetti seit zwei Jahren. Er schwieg, während sich der Mann mit dem Bajonett räusperte und, den Blick zu ihm gewandt, mit einer Kopfbewegung auf die Ärztin wies.

«Sie brauchen gar nicht wie ein Asthmatiker zu röcheln!«sagte Dr. Mainetti laut. Sie begann das Kinn des jungen Soldaten abzutasten. Dabei bemerkte sie, daß der Junge eine Uniform ohne Schulterstücke trug. Sie war alt, zerschlissen und am Kragen durch Blutspritzer be-fleckt.

«Im übrigen — was machen Sie hier im Behandlungszimmer?«fragte Dr. Mainetti den Begleitsoldaten.»Sie haben vor der Tür zu warten!«

«Irrtum!«Der Mann mit dem Bajonett grinste breit.»Ich bleibe hier! Ich muß bei der Behandlung dabeisein.«

«'raus!«schrie Dr. Mainetti.»Und zwar flott!«

«Ich habe den Befehl von meinem Kompaniechef!«Der Wachmann blieb stehen und senkte wie ein Stier den Kopf.

«Ihr Kompaniechef geht mich einen Dreck an! Hier bin ich der Chef! Wenn Sie nicht sofort gehen, lasse ich Sie hinauswerfen!«

«Na so was! Ein Weib, das wild wird!«Der Soldat wandte sich an den Sanitäter, der still an seinem Tisch saß.»Kumpel! Hol mir mal den wachhabenden Arzt! Dem werd' ich was flüstern!«

«Sofort!«

Mit einem Satz sprang der Sanitäter auf, stand vor Dr. Mainetti stramm und meldete:»Frau Doktor… da ist jemand, der möchte den diensthabenden Arzt sprechen! Er möchte sich bei ihm beschweren!«

«Himmel, Arsch und Zwirn!«machte der Mann mit dem Bajonett. Dann zog er das Gewehr an und stand ebenfalls stramm.»Melde Einlieferung eines Soldaten vom Strafbataillon zu fachärztlicher Behandlung. Ich habe den Befehl, den Mann.«

«Wer hier befiehlt, ist wohl klar, was?«Dr. Mainetti zeigte auf die Tür. Der Blick des Soldaten ging an dem ausgestreckten Arm entlang, in seinem Gesicht zuckte es.»'raus! Und zwar mit Hurra! Und was mit dem Mann geschieht, bestimme ich und nicht Ihr Kompaniechef, verstanden?«

«Ich.«

«'raus!«brüllte Lisa Mainetti. Der Wachsoldat zuckte zusammen, nahm sein Gewehr unter den Arm und verließ das Behandlungszimmer. Draußen auf dem Flur blieb er vor der Tür stehen, wie eine Schildwache.

Der junge Soldat mit dem schiefstehenden Kiefer sah Lisa dank-bar an. In seine Augen traten plötzlich Tränen, er streckte die Hände aus, als suche er Hilfe. Dr. Mainetti tastete noch einmal vorsichtig den Kiefer ab. Sie stellte fest, daß hier kein totaler Bruch vorlag. Der Unterkiefer links war nur aus dem Gelenk gesprungen, und der äußere Prozessus war angebrochen. Ein Bluterguß war nicht mehr vorhanden, das öffnen des Mundes war nur bis zu zwei Fingerbreiten möglich.

Dr. Mainetti richtete sich auf.

«Sie sind in einem Strafbataillon?«fragte sie und winkte dem Sanitäter.»Evipan und Gipsbinde«, rief sie ihm zu.

Der Junge nickte.

«Und warum?«

«Ich habe den Urlaub überschritten. Nur drei Tage, nicht mehr. «Er weinte jetzt und lehnte den Kopf zurück an die Wand.»Ich war in Urlaub, und meine Mutter hatte Grippe. Ganz fürchterlich hat sie gehustet. Und am letzten Tag war Fliegeralarm, wir mußten in den kalten Keller. Da ist es schlimmer geworden mit ihr, sie hat Fieber bekommen, 40,5, Frau Doktor. Da bin ich drei Tage länger geblieben, um sie zu pflegen. Kein Krankenhaus wollte sie aufnehmen, alles war voll von den Bombenverletzten. Dann bin ich zurück zur Truppe, als das Fieber vorbei war. Und dort haben sie mich verurteilt. Wegen unerlaubter Entfernung von der Truppe — zuerst zum Tode — dann hat es mein Kommandeur umgewandelt, weil ich doch vorher noch nie etwas… Strafbataillon. «Das Gesicht des Jungen verzerrte sich vor nackter Angst.»Aber ich wollte doch nur meiner Mutter helfen. Niemand hat ihr doch beigestanden! Und nun… nun… keiner glaubt mir… keiner.«

Dr. Mainetti wusch sich die Hände. Das ist unmöglich, dachte sie. Diese Verletzung ist keine Kriegsverletzung. Zusammengeschlagen hat man den Jungen, einfach zusammengetrommelt mit den Fäusten. Sie unterbrach ihre Waschung und klinkte mit den nassen Händen die Tür auf. Der Wachmann stand vor dem Behandlungsraum. Als er Lisa sah, wurde er rot im Gesicht und kniff die Lippen zusammen.

«Warum ist der Mann im Strafbataillon?«rief Dr. Mainetti.

«Weiß ich nicht!«brummte der Wachsoldat.

«Und woher hat er den Kieferbruch?«

«Weiß ich nicht.«

«Gehen Sie zurück zu Ihrem Kommandeur und sagen Sie ihm, daß der Mann hier bleibt! Ich muß den Bruch einrichten und schienen. Ein schriftlicher Bericht wird nachgereicht.«

«Das geht nicht. «Der Wachmann trat einen Schritt auf Dr. Mai-netti zu.»Ich muß ihn wieder mit zurückbringen.«

«Die Schnauze müssen Sie halten!«schrie Lisa.»Gehen Sie aufs Geschäftszimmer und warten Sie auf einen Aufnahmeschein! Und dann 'raus hier!«

Sie knallte die Tür zu und ging zurück zum Waschbecken.

Im Flur stand der Wachsoldat unschlüssig herum.

So traf ihn Dr. Urban, der auf seinem Zimmer aus der Lektüre der neuen Nummer des >Reichs< durch Lisas Stimme aufgeschreckt worden war und nun zum Verbandszimmer kam.

«Was ist denn hier los?«fragte er. Er sah das aufgepflanzte Bajonett und stieß einen kurzen Pfiff aus.»Was machen Sie denn hier? Haben Sie einen gebracht? Kommen Sie mit auf mein Zimmer und berichten Sie mir.«

Während Lisa Mainetti nach der Evipaninjektion den Kiefer des Jungen mit einem Gipsverband einrichtete und fixierte und ihn dann auf ihre Station bringen ließ, berichtete der Wachsoldat über seinen Auftritt mit ihr.

«Tun Sie alles, was sie Ihnen gesagt hat«, sagte Dr. Urban zufrieden.»Und erzählen Sie Ihrem Kommandeur alles. Das saubere Früchtchen werde ich selbst im Auge behalten. Abhauen und dann hier auch noch große Bogen spucken. Ich werde das schon regeln.«

Dr. Mainetti schrubbte sich noch den Gips von den Händen, als Dr. Urban lächelnd eintrat und sich neben das Waschbecken stellte.

«Ich nehme an, der junge Mann hat einen solch komplizierten Bruch, daß er einige Monate im Lazarett bleiben muß«, sagte er gehässig.»Wie ich höre, ist er auch auf Ihrer Station. Wissen Sie eigentlich, was auf Wehrkraftzersetzung steht?«

Dr. Mainetti nickte.»Sicherlich weiß ich das. Ich weiß auch, was auf Diebstahl von Morphium aus der Lazarettapotheke steht.«

«Damit schrecken Sie mich nicht mehr, Kollega. Ich weiß, warum Sie den Strafsoldaten behalten. Unter dem Mantel des ärztlichen Gewissens leisten Sie passiven Widerstand gegen den Führer und den Endsieg!«

Lisa Mainetti schwieg. Sie sah Dr. Urban mit einem raschen kalten Blick an und verließ, wobei sie einen Bogen um ihn machte, den Verbandsraum. Durch die offene Tür sah ihr der Oberarzt nach, wie sie mit tropfenden Händen über den langen Flur zum Zimmer des Chefarztes ging.

Natürlich, dachte er. Jetzt sucht sie sich Rückendeckung. Alles eine Bande! Hochnäsig und sicher, daß wir den Krieg verlieren. An die Wand sollte man sie stellen!

Er blieb mit gesenktem Kopf im Behandlungszimmer stehen, während hinter ihm der Sanitäter die flachen Gipsschalen auswusch. Man trifft sie am besten, dachte Dr. Urban, wem man ihr ihre Lieblinge nimmt. In jedem Zimmer liegen welche herum, die man längst entlassen könnte und die sie festhält, um sie der Front zu entziehen. Nur eine Meldung brauchte man zu machen. Einen kleinen Schrieb: Seht euch mal das Lazarett Bernegg an. Dort liegen Kerle herum, die manche Frontlücke füllen könnten.

Ein schwerer Schlag würde es sein. Und dabei hätte man doch nichts getan als seine simple vaterländische Pflicht.

Die Stube B/14 hatte sich an den Anblick Erich Schwabes gewöhnt. So etwas geht schnell unter Männern, die alle das gleiche Leid tragen. Schon nach dem ersten Besuch seiner Mutter war Schwabe auch aufgeschlossener geworden; er saß jetzt öfter mit am Tisch und spielte Skat oder Schach oder mit dem >Wastl-Pascha< eine Partie Mensch-ärgere-dich-nicht, die er immer gewann.

Die nach dem Weggang ihrer einstigen Attraktion, des Mannes mit der >Frauenbrust< am Kinn, ihrer Berühmtheit beraubte Stube 14 hatte eine neue, wenn auch wesentlich stillere Sensation bekommen: Der Unteroffizier Kaspar Bloch war zu ihnen gekommen.

Bloch war ein hochaufgeschossener, schwarzhaariger Junge, dem ein Granatsplitter das rechte Jochbein zerschlagen und das Ohr abgesäbelt hatte. Seine rechte Gesichtshälfte sah aus, als sei sie unter einen Dampfhammer geraten. Seit über einem Jahr war er in Behandlung. Zuerst bei den Gesichtschirurgen, dann bei der Psychiatrie, zuletzt in der Abteilung für Hals-, Nasen- und Ohrenkranke. Von dort war er zurückgekommen zu Professor Dr. Rusch und Dr. Lisa Mainetti, die sein Gesicht so weit wiederhergestellt hatten, daß man es ansehen konnte.

Nur taub war er geblieben, völlig gehörlos. Das war das große Rätsel, das ihn von einer Spezialabteilung in die andere führte. Daß er rechts nichts mehr hören konnte, leuchtete allen Spezialisten ein. aber wieso er auf dem linken Ohr gehörlos geworden war, dort, wo keinerlei Verletzungen vorlagen, konnte sich keiner erklären.

Dr. Urban, der bei der Rückkehr Kaspar Blochs die Krankenblätter durchlas, sprach das aus, was Dr. Mainetti seit langem im stillen dachte:

«Der Fall ist doch klar!«rief er und warf die Krankengeschichte Blochs auf den Tisch zurück.»Der Lümmel simuliert! Der kann so gut hören wie wir alle. Aber ich garantiere dafür, daß ich ihn überführe! Das wollen wir doch mal sehen!«

So kam Kaspar Bloch auf das Zimmer 14. Der Ruf, ein unangreifbarer Simulant zu sein, lief ihm voraus. Mit Spannung wartete die Stube 14 darauf, wie er sich benehmen würde, wenn der Wastl Feininger einen seiner knalligen Witze losließ. Bei nur einem halbwegs intakten Gehör war es einem unmöglich, nicht die Miene zu verziehen.

Kaspar Bloch bestand die Prüfung. Er saß am Tisch und spielte Schach, als der Wastl begann, ein Erlebnis aus der Sennhütte zu erzählen. Es wurde der deftigste Witz, den die Stube 14 je gehört hat-te.

«So ein Saustück!«keuchte Paul Zwerch und hielt sich den Bauch.»Den muß ick vajessen, sonst träum' ick davon.«

Ruhig lächelnd saß Kaspar Bloch vor seinem Schachbrett und wartete geduldig, bis sich das Lachen seiner Kameraden gelegt hatte. Kein Muskel seines Gesichtes hatte sich verzogen, Fritz Adam hatte es genau beobachtet.

«Der hört wirklich nichts!«sagte er, als es wieder still im Zimmer wurde.»So kann sich kein Mensch beherrschen. Von wegen Simulant… das ist wieder so eine Mistigkeit von dem Nazi-Urban!«

Am Abend, wenn die Lichter gelöscht waren und die anderen schliefen, lag Kaspar Bloch noch wach und starrte ins Dunkel.

Vierzehn Monate, dachte er, vierzehn Monate habe ich durchgehalten. Und ich werde weiter durchhalten, bis dieser Mist hier vorbei ist.

Manchmal war es fast unmöglich, zu tun, als hörte ich nichts.

Vor allem damals, als sein Vater zu Besuch kam, der Professor der Psychiatrie Dr. Thomas Bloch. Man hatte ihm nicht gesagt, daß sein Sohn das Gehör verloren hatte, und er kam mit ausgestreckten Armen auf seinen Sohn zu und sagte:»Ich soll dich herzlich von Mutter grüßen und dir von ihr diesen Kuß geben!«Und Kaspar Bloch mußte mit fragender Miene dastehen, als habe er nichts verstanden, während sein Herz schrie und die Rührung in ihm hochstieg. Aber er sah die scharf beobachtenden Augen der ihn umstehenden Ärzte, und er hob die Schultern, zeigte auf seine Ohren und hätte aufschreien können über den entsetzten Blick seines Vaters, den er betrügen mußte wie alle um sich herum.

Dreimal hatte Dr. Urban versucht, Kaspar Bloch zu überführen. Es war mißlungen. Sogar das letztemal: Dr. Urban hatte zu einem Sanitäter gesagt, als Bloch an ihnen vorbeiging:

«Ach, da ist ja der Bloch! Michel, überlegen Sie mal, wie man dem armen Jungen schonend beibringen kann, daß man seinen Vater wegen Wehrkraftzersetzung vorgestern oder vor drei Tagen verhaftet hat.«

Kaspar Bloch war nicht zusammengezuckt. Er war weitergegangen, ohne den Bruchteil einer Sekunde im Schritt zu zögern. Erst auf der Toilette hatte er sich gegen die kalten Kacheln gelehnt und sich die Lippen blutig gebissen. Drei Tage lang ging er durch die Hölle der Ungewißheit, drei Nächte lag er wach und grub die Fingernägel in die Handflächen. Dann kam ein Brief von seinem Vater, in dem er schrieb, daß es allen gut gehe. Da löste sich seine Spannung, und er weinte eine ganze Nacht, die Decke an sein Gesicht gedrückt, damit es niemand im Zimmer hörte.

«Der Kerl simuliert doch!« sagte Dr. Urban später am Tisch des Chefarztes.»Ich werde schon was finden, was ihn umhaut. Lassen Sie nur erst einmal Weihnachten kommen. Ich habe da so einen Plan.«

«Ob Sie mich hören können oder nicht«, sagte Dr. Lisa Mainet-ti später zu Kaspar Bloch,»interessiert mich nicht. Nur passen Sie an Weihnachten auf. Verlieren Sie nicht Ihre Ruhe. Was man auch sagen wird. es ist nicht wahr!«

Kaspar Bloch stand im Vorzimmer zum OP und drehte Tupfer aus Mull. Man hatte ihn zu solchen kleinen Hilfeleistungen herangezogen. Während Lisa mit ihm sprach, sah er sie freundlich, aber bewegungslos an, als höre er wirklich nichts. Nur in seinen Augen glomm ein Funken auf, als Lisa zu Ende gesprochen hatte.

Dr. Mainetti atmete tief auf.»Bist ein tapferer Junge«, sagte sie und klopfte Bloch auf die Wange.»Ich hätte diese Kraft nicht.«

Sie wandte sich ab und wusch sich die Hände und Arme. In wenigen Minuten würden neue Verwundete von der Front kommen. Ein Lazarettzug war wieder eingetroffen, die Sankas von Bernegg waren unterwegs.

Für Block B zwölf Neuzugänge, hatte die Verwaltung gemeldet. Zwölf zerstörte Gesichter. Zwölf zerstörte Schicksale. Zwölf Fratzen des Krieges. Zwölf junge Menschen, die in der Einsamkeit von Bernegg ein neues Leben beginnen mußten.

Zwölfmal die ungeheuerliche Konsequenz eines politischen Wahnsinns.

Und keiner lernte daraus.

Weihnachten war gekommen.

Ursula Schwabe war aus ihrem Keller umgezogen in den Keller der Horst-Wessel-Straße 4, zu ihrer Schwiegermutter. Eines Tages stand sie mit einem Pappkoffer und ihren Kleidern über dem Arm vor der Tür in dem zerstörten Haus und weinte.

«Ich kann nicht mehr«, sagte sie.»Keine Nacht kann ich mehr schlafen. Immer sehe ich diese Gesichter vor mir, die keine mehr sind. Und Erich sehe ich immer… auch so, ohne alles… nur noch Augen… und diese Augen weinen, weinen. Es ist furchtbar, Mutter. Laß mich bei dir wohnen. ich halte es allein nicht mehr aus!«

Frau Schwabe verstand sie, nahm sie an der Hand und führte sie hinab in den Keller. Im Laufe des Tages, während der kurzen Entwarnungen, rannten sie zu Ursulas Keller und schleppten alles, was sie tragen konnten; zur Horst-Wessel-Straße. Das Luftschutzbett, die Matratzen, die Töpfe, die Decken, die Kissen, zwei Stühle, Geschirr und Gläser in Pappkartons. Und eine Schuhschachtel voll Fotos. Bilder von Erich Schwabe: vom Kind, das im Sandkasten spielte, bis zum Hochzeitsbild, das ihn stolz und selbstbewußt zeigt: Seht, solch eine hübsche Frau habe ich ab heute!

«Fährst du Weihnachten wieder hin?«fragte Ursula.

Sie hatte eine Sonderzuteilung Mehl bekommen. Nun saß sie vor der Tüte und wußte nicht, ob sie ein paar Weihnachtsplätzchen bak-ken sollte oder nicht.

«Ja«, sagte Frau Schwabe.

«Ob er schon Plätzchen essen kann?«

«Ich glaub' es nicht, Uschi.«

Ursula trug die Tüte mit Mehl weg in eine Ecke und verschloß sie im Oberteil eines Küchenschranks, das auf dem Kellerboden stand. Das Unterteil war verbrannt.

«Er hat geschrieben, ich soll mitkommen«, sagte sie, als sie zurückkam. Seit zwei Wochen sagte sie es, immer und immer wieder, und stets hatte Frau Schwabe die gleiche geduldige Antwort für sie.

«Im Februar wird es gehen, sagt die Frau Doktor.«

«Aber ich liebe ihn doch! Ich werde bestimmt nicht entsetzt sein.

Ich. ich.«

«Du mußt Geduld haben, Uschi. Sei tapfer um Erichs willen. Es wird einmal eine Zeit kommen, wo er dich voll und ganz braucht. Dich allein… nicht mehr mich. Und es wird bald sein. Mit jeder Operation kommt er näher zu dir, kommt er zu dir zurück. Du kannst ihm jetzt nur helfen, indem du wartest.«

Einen Tag vor Heiligabend fuhr Frau Schwabe wieder nach Schloß Bernegg. Sie hatte diesmal nichts zu essen bei sich, aber eine große Fotografie Ursulas in einem geschnitzten Holzrahmen. Beides zusammen hatte sie die Rauchermarken von sechs Wochen gekostet. Und Bücher hatte sie gekauft, von einem Mann, der durch den Verkauf seiner geretteten Bibliothek seinen Kochtopf füllte.

So kam sie, schwer bepackt, in Bernegg an.

Sie war nicht die einzige Mutter in dem großen, ausgeräumten Zimmer, in dem sie dann saß und wartete. Viele Frauen waren gekommen; sie saßen ein wenig bedrückt auf den Stühlen und warteten, was geschehen sollte. Es roch nach frischem Tannengrün und Gebäck, nach Äther und angebranntem Gulasch. Ein Soldat mit Rotkreuzbinde stand in der Tür und sah auf seine Armbanduhr.

«Der Chef kommt gleich«, sagte er.»Er hat vorher noch etwas zu sagen.«

Загрузка...