10. KAPITEL

Samu hatte früh am nächsten Morgen das Haus Simons verlassen und sich mit ihrem Gepäck in einer Herberge in der Nähe des Hafens eingemietet. Mochte Philippos in seinem blinden Vertrauen nur in sein Verderben laufen. Sie hatte ihn gewarnt. Mehr konnte sie nicht für ihn tun. Sie würde es dem Judäer jedenfalls nicht so leicht machen.

Die Priesterin hatte überlegt, ob sie sich einen Leibwächter mieten sollte. Irgendeinen Söldner, der sie in Zukunft begleiten würde. Geld genug hatte sie. Es wäre auch besser, wenn sie nicht allein im Hafenviertel unterwegs war. Sie trug zwar das Gewand einer Priesterin, doch war sie nicht sicher, ob sie das vor betrunkenen Seeleuten und Schlimmeren schützen mochte.

Die ganze Nacht lang hatte sie nicht schlafen können und überlegt, wie sie der tödlichen Falle, in die sie geraten war, entgehen mochte. Es waren ihr Gerüchte zu Ohren gekommen, daß Marcus Antonius auf dem Weg nach Tyros war. Wenn sich der junge Praefectus equitum noch an sie erinnerte, würde er sie sicher unterstützen. Er war ein Gefolgsmann des Aulus Gabinius und gehörte somit in das Lager des Pompeius. Der mächtige römische Feldherr war ein Freund des Pharaos und wollte Ptolemaios wieder auf seinem Thron in Ägypten sehen. Den Römern würde sie trauen können, und bei ihnen konnte sie auch sicher sein, daß sie ein Interesse daran hätten, denjenigen aufzuspüren, der Ptolemaios das vergiftete Kohl geschickt hatte.

Gemächlich schlenderte Samu über den Markt. Sie war zuversichtlich, auch ohne die Hilfe Simons auskommen zu können.

Zunächst würde sie Melkart, dem Gott der Stadt, ein Opfer bringen und ihn um seine Unterstützung bitten. Unentschlossen blickte sie sich um. Ein Lamm oder ein Zicklein wäre ihr zu teuer. Es kam auf die Geste an und nicht darauf, daß sie vor dem Gott mit einem Reichtum prahlte, den sie nicht besaß. Ihr Blick fiel auf einen Stand, an dem sich Dutzende hölzerner Käfige stapelten. Ein Huhn oder eine Taube - das war es, was sie brauchte! Ein altes Weib mit wettergegerbter Haut und schlohweißem Haar hockte zwischen den Käfigen. Sie trug ein schlichtes, braunes Kleid, das mit bunten Flicken besetzt war. Als Samu vor ihr stehenblieb, hob die Alte den Kopf und musterte die Priesterin eindringlich. Eines ihrer Augen war mit einem milchigweißen Film überzogen.

»Du bist Ägypterin, nicht wahr?«

Samu nickte. »Verkaufst du auch weiße Tauben, Alte?«

»Weiße Tauben? Was willst du damit? Wenn du sie auf die Tafel bringst, ist es doch egal, welche Farbe die Taube hatte. Ich habe wunderbare Tauben. Weiß sind sie nicht, aber so zart, daß sie dir auf der Zunge zerfallen. In einer Soße aus Wein und Kräutern geben sie ein Mahl ab, das der Tafel eines Königs würdig wäre!«

»Ich beabsichtige aber nicht, einen König zu beköstigen. Wenn du keine Taube hast, dann gib mir ein weißes Huhn.«

Die Alte legte den Kopf schief und schnitt eine Grimasse. »Du willst wohl in den Tempel, Kindchen. Bist eine Priesterin, nicht wahr! Weißt du denn nicht, daß man dem Melkart keine Tauben und Hühner opfert? Du willst den Gott doch nicht erzürnen.«

Samu überlegte, ob die Alte sie vielleicht belügen wollte, um sie an ihrem Stand zu halten, obwohl sie offenbar keine angemessenen Opfertiere hatte.

»Dem großen Melkart mußt du Wachteln opfern, wenn du die Gunst des Gottes erringen willst. Einst hat Typhon den mächtigen Melkart im Kampf getötet. Der Heilkundige Eshmun aber hat den Gott durch eine Wachtel wieder zum Leben erweckt. Darum sind Melkart die Wachteln besonders liebe Opfertiere. Wenn du also die Gunst des Gottes erringen willst, so opfere ihm Wachteln! Ich habe einige besonders schöne, mein Kind.«

Samu musterte die Alte mißtrauisch. Die Priesterin hatte noch nie von diesem Mythos gehört, doch wußte sie auch nur sehr wenig über die verschiedenen phönizischen Stadtgötter. »Wie teuer sollen deine Wachteln denn sein?«

»Nun, normalerweise überlasse ich sie Fremden überhaupt nicht. Es sind nicht irgendwelche Wächtern, die du bei mir kaufen kannst. Gehe ruhig zu den anderen Vogelhändlern und sieh dich um. Nirgends wirst du so fette Tiere bekommen wie bei mir. Fünf silberne Shekel mußt du mir für einen Vogel geben. Das ist ein guter Preis.«

»Fünf Shekel für eine kleine Wachtel? Glaubst du, ich bin so reich wie ein pontischer König? Für fünf Shekel kannst du deine Wachteln behalten!«

»Kindchen, reg dich nicht auf! Du hast meine Wachteln gesehen, du weißt, wie gut sie sind. Fünf Shekel kostet es dich, wenn du dir eine Wachtel nimmst und sie in einem Holzkäfig trägst. Läßt du mir den Käfig hier, dann kann ich sie dir auch für vier Shekel überlassen. Billiger wirst du so schöne Vögel nirgendwo anders bekommen. Bedenke, du gehst zum Herrn dieser Stadt, um ihm zu opfern. Du wirst doch nicht etwa um Kupferstücke mit mir feilschen wollen. Dein Geiz würde den Gott erzürnen!«

Samu zögerte einen Augenblick, doch dann öffnete sie den Geldbeutel an ihrem Gürtel und nahm vier ephesische Silberstücke heraus. Die Alte begutachtete die Münzen kritisch.

Sie zeigten auf der Vorderseite die Front des Artemisions und auf der Rückseite eine Palme. »Woher kommt dieses Geld? Solche Münzen habe ich noch nicht gesehen. Was ist das für ein Tempel?«

»Es ist das Haus, in dem die mächtige Göttin Artemis wohnt.«

Die Alte grunzte etwas Unverständliches, dann biß sie in eine der Münzen und versuchte, sie zu biegen. Anschließend ließ sie jedes der Geldstücke vor sich auf den gepflasterten Boden des Marktplatzes fallen und lauschte dabei auf den Klang.

Endlich grinste sie zufrieden und ließ die Silberstücke in einer Falte ihres Gewandes verschwinden. »Ich kenne die Münzen zwar nicht, doch sie sind aus gutem Silber geschlagen. Welche der Wachteln möchtest du mitnehmen? Such dir eine aus, Priesterin!«

»Gib mir deine Schönste. Du kennst deine Vögel am besten, Alte, und bedenke dabei, was es dich kosten mag, eine ägyptische Zauberpriesterin zu verärgern.«

»Dienst du der Isis? Du wirst mir doch nicht etwa zürnen, weil ich einen gerechten Preis für meine Ware gefordert habe? Du wirst sehen, daß ich dich nicht übervorteilt habe.« Die Händlerin schob ihre Käfige auseinander und holte eine besonders große Wachtel hervor. »Sieh dir nur dieses Vögelchen an. Hast du je ein prächtigeres Exemplar gesehen?« Mit den Flügeln schlagend versuchte sich die Wachtel dem Griff der Alten zu entwinden. Mit geübter Geste klemmte sich das Marktweib den Vogel unter die rechte Achsel, packte einen der Flügel und verdrehte ihn, so daß Samu deutlich das Knacken der dünnen Flügelknochen hören konnte. Das Rufen der Wachtel wurde immer schriller und klagender. Gleichzeitig erhob sich in den Käfigen rundherum ein infernalisches Schnattern und Gackern. Davon ungerührt brach die Marktfrau der Wachtel auch noch den zweiten Flügel. Dann packte sie den Vogel bei den Füßen und reichte ihn Samu. »Du mußt das Tierchen an den Füßen festhalten und mit dem Kopf nach unten tragen. Dann wird es sich ruhig verhalten und dir keinen Ärger machen, Priesterin. Mögen die Götter deinen Weg segnen!«

»Möge Isis jedes Unheil von deinem Haus fernhalten.«

Der Tempel des Melkart war so alt wie die Stadt, ein gedrungener Bau aus bunt glasierten Ziegeln, die Bilder von geflügelten Ungeheuern zeigten, über die der mächtige Stadtgott triumphierte. Im Inneren des Tempels waren die Wände mit prächtigen Alabastereliefs geschmückt, die von den Taten des Gottes erzählten und Gesandte aus allen Völkern der Welt zeigten, die dem mächtigen Baal Melkart Geschenke brachten.

Die Türrahmen waren von riesigen Vogeldämonen flankiert, die jeden Eindringling mit kalten, steinernen Augen musterten. Der Duft von Weihrauch und Myrrhe zog durch den Tempel, und irgendwo erklang das metallische Klappern von Gebetsrasseln. Schließlich trat Samu in einen Raum, an dessen Ende sich eine riesige, ganz mit Goldblech beschlagene Tür erhob. Zwei Säulen flankierten das Tor. Die eine schien ganz aus lauterem Gold zu bestehen, und ein Bildfries mit Schiffen zog sich in Spiralen um ihren schimmernden Leib. Die andere Säule war von tiefem Grün, als sei sie aus Smaragd geschnitten, und von ihrem Inneren ging ein unstetes Leuchten aus, ganz so, als habe man eine Flamme in ihr eingefangen.

Voll ehrfürchtigem Staunen betrachtete Samu die Smaragdsäule, als ein Priester an ihre Seite trat. Der Mann war von schwer zu schätzendem Alter. Sein Kopf war kahlgeschoren, und selbst die Augenbrauen hatte man ihm abrasiert.

Schwarze Lidstriche umrandeten seine Augen. Er trug ein langes, weißes Gewand und darüber einen mit purpurnen Fransen geschmückten Umhang. »Ich sehe, du bist gekommen, dem Gott zu opfern, Tochter. Welche Bitte soll ich dem Mächtigen in deinem Namen vortragen?«

»Ich flehe den Lichtbringer an, daß er meinem Aufenthalt in dieser Stadt wohl gesonnen sein möge und daß er seine schützende Hand über mich halte. Möge er wie das Licht der Fackel den Schleier der Dunkelheit um jenes Geheimnis zerreißen, das zu ergründen mir bestimmt ist.« Samu reichte dem Priester die Wachtel, und er trat zu einem der Altäre, die in den Nischen an den Seitenwänden des Heiligtums standen.

Einige Augenblicke vergingen, bis der Priester wieder zu ihr zurückkehrte und ihr seine blutbefleckten Hände entgegenstreckte. »Der Himmelswanderer hat deine Bitten günstig aufgenommen, Tochter. Er wird den Schatten des Geheimnisses vertreiben, doch wird dunkle Trauer über deinem Herzen liegen, wenn du unsere Stadt verläßt.«

Samu verneigte sich vor dem Priester. »Ich danke dir für deinen Dienst. Möge das Licht des Melkart hell über deinen Wegen leuchten.«

Nachdenklich verließ sie den Tempel. Was mochte der eigentümliche Orakelspruch zu bedeuten haben? Worüber würde sie trauern, wenn sie die Stadt verließ und den Giftmischer aufgespürt hatte? Sie sollte Philippos warnen! Womöglich würde ihm ein Unglück widerfahren. Er durfte nicht mit den Muscheltauchern aufs Meer hinausfahren!

Samu machte sich auf den Weg zum Hafen.

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