11. KAPITEL

Der Arzt musterte die Phönizier in dem kleinen Segelboot voller Mißtrauen. Es waren ausnahmslos junge Kerle.

Simon hatte mit ihnen in der fremden Sprache der Syrer darüber debattiert, ob sie Philippos mit in ihr Boot nehmen würden. Das Gespräch hatte lange gedauert und war alles andere als ruhig verlaufen. Endlich hatte der junge Mann, der das Kommando über das Segelboot führte, eingeschlagen und Philippos einen Wink gegeben, an Bord zu kommen. Wie Simon zu diesem Ergebnis gekommen war, blieb dem Griechen ein Rätsel. Ganz offenkundig war er allerdings nicht sonderlich willkommen auf dem Boot. Vermutlich hatte der Kapitän irgendeine alte Schuld damit beglichen, daß er ihn in seine Mannschaft aufnahm, mutmaßte der Arzt.

Schon als sie aus dem Hafen ausliefen, hatte sich gezeigt, wie wenig Philippos zum Seemann taugte. Die hohen Mauern der Kais und ein ungünstiger Wind machten es notwendig, das schlanke, kleine Segelboot durch die enge Hafenausfahrt zu rudern. Während die anderen Phönizier schnell in einen regelmäßigen Takt fanden, hatte der Grieche alle Mühe gehabt, mit ihnen mitzuhalten, und immer wieder die Ruderer an der Steuerbordseite durcheinandergebracht. Schließlich hatte man ihn unter allerlei Flüchen von seiner Ruderbank vertrieben und ihm einen Platz nahe dem Mast zugewiesen, wo er niemanden störte.

Außerhalb des Hafens hatten die Phönizier das kleine Segel gehißt und waren vor dem Wind bis zu einem Riff gefahren, das nur zwei Stadien vom Hafen entfernt lag. Dort warfen sie zwei schwere Anker aus und holten das Segel nieder. Während die anderen noch damit beschäftigt waren, das Segeltuch als Sonnenschutz über das Deck zu spannen, trat Abimilku, der Kapitän des Bootes, an Philippos heran.

»Du wirst nun Gelegenheit haben, uns zu beweisen, ob du als Taucher geschickter bist als am Ruder. Besitzt du ein Messer?«

Philippos schüttelte den Kopf. »Ich besitze zwar eins, doch trage ich es nicht bei mir.«

»Wie ungewöhnlich für einen Söldner. Du kannst meines geliehen haben.« Abimilku zog eine breite und sehr dicke Klinge aus der Lederscheide an seinem Gürtel und drückte sie dem Arzt in die Hand. »Mit den langen Lederriemen am Griff bindest du dir das Messer am Handgelenk fest. So kannst du es im Wasser nicht verlieren, und es behindert dich nicht zu sehr beim Schwimmen. Du mußt am Riff hinabtauchen und nach großen Muscheln Ausschau halten. Wir brauchen sie als Köder für die Purpurschnecken, die wir später fangen wollen. Du mußt darauf achten, daß du die Muscheln vom Felsen löst, ohne sie zu zerbrechen. Sie müssen noch leben, sonst haben sie keinen Wert für uns. Du wirst ein Netz mitbekommen, in dem du die Muscheln verstauen kannst. Und paß auf, daß du nicht zu dicht bei den Klippen bist, wenn du auftauchst. Die Meeresdünung könnte dich gegen die scharfen Felskanten drücken.«

Philippos nickte. Mit mulmigem Gefühl starrte er erst auf das Messer und dann auf das Meer. Es mochten mehr als zwanzig Jahre vergangen sein, seit er zum letzten Mal getaucht war.

Abimilku schien seine Gedanken erraten zu haben. Der Phönizier setzte ein schiefes Lächeln auf und blickte ihn mit seinen dunklen Augen triumphierend an. »Du mußt dort nicht hinunter. Ein Wort von dir genügt ... Wir werden dich den Tag über im Boot behalten und heute abend wieder im Hafen absetzen. Ich habe Simon gegenüber meine Schuldigkeit getan, und du ... Du wirst leben. Du weißt doch wohl, wie gefährlich es ist, in das dunkle Reich Poseidons hinabzusteigen.«

Philippos nahm dem Kapitän das Messer aus der Hand. »Ich weiß. Wann fangen wir an?« Kaum waren die Worte über seine Lippen, da verfluchte der Arzt sich schon innerlich für seinen Stolz. War er denn wahnsinnig? Der junge Mann hatte ihm ein Angebot gemacht, sich halbwegs glimpflich aus dieser Angelegenheit wieder herauszubringen, und was tat er? Es war nicht zu fassen! Welcher Daimon schlummerte nur in ihm, der ihn immer wieder in solche Schwierigkeiten brachte? War er denn von einem bösen Geist besessen, der ihn vernichten wollte?

Abimilku nickte. »Gut, du hast es so gewollt. Du wirst als dritter hinuntergehen. Tauche hier beim Boot hinab und schwimm dann zu den Klippen hinüber. In der Tiefe spürst du die Meeresdünung kaum noch. Sie kann dir unten am Fuß der Klippen nicht gefährlich werden. Ich werde als zweiter tauchen. Du folgst mir, Grieche.«

Der Phönizier ließ seinen Gürtel zu Boden gleiten und streifte seine Tunica über den Kopf. Philippos schluckte. Abimilku hatte einen Körper wie jene Athleten, nach denen die Bildhauer ihre Statuen fertigten. Einer der Männer reichte ihm ein neues Messer, das er an seinem Handgelenk befestigte. Dann begann der Kapitän, systematisch seine Lungen zu füllen und wieder zu leeren. Er atmete so tief ein, wie er nur konnte, und machte dabei pfeifende Geräusche wie ein Blasebalg neben der Esse eines Schmiedes. Philippos konnte beobachten, wie erstaunlich weit sich die Rippen des Phöniziers bei jedem seiner Atemzüge dehnten. Einer der anderen Purpurtaucher nahm einen der großen Steine auf, die im Boot lagen, und gab ihn Abimilku, der ihn mit beiden Händen gegen seine nackte Brust drückte. Dann ließ der Kapitän sich so plötzlich über die niedrige Bordwand fallen, daß das kleine Segelboot heftig ins Schlingern geriet.

Mit einem mulmigen Gefühl blickte Philippos ihm nach, wie er in den blauen Fluten versank. Jemand tippte ihm auf die Schultern. Ein bärtiger Mann mit einer breiten Narbe über der rechten Augenbraue grinste ihn an. »Du bist dran, Grieche.«

Mit steifen Fingern tastete der Arzt nach seiner Gürtelschnalle und löste sie. Dann knüpfte er die Riemen seiner Sandalen auf und streifte sich die Tunica über den Kopf. Zweifelnd blickte er an sich herab. Er war nicht gerade schwächlich gebaut.

Die Jahre in der Legion hatten seinen Körper gestählt, doch im Vergleich zu den jungen Tauchern war er ein Nichts. Ein alter Narr, der auf dem Weg war, sich lächerlich zu machen oder - schlimmer noch - sich umzubringen.

Prustend und schnaufend tauchte Abimilku neben dem Boot auf. Seine Gefährten zogen ihn über die niedrige Bordwand und begannen, ihn mit groben Wolltüchern abzureiben. Im Netz, das am linken Handgelenk des Tauchers hing, waren drei große gelbbraune Muscheln.

Der Kapitän schüttelte seine langen, nassen Haare. »Es ist schwierig, dort unten noch brauchbare Muscheln zu finden. Wir waren schon zu oft hier. Viel Glück, Grieche.« Philippos schluckte. Alle Augen waren nun auf ihn gerichtet. Einer der Männer trat herüber und legte vor ihm einen Felsklotz hin.

»Willst nicht doch lieber aufgeben, alter Mann?«

Der Arzt band sich die Lederriemen des Messers am Handgelenk fest. »Ich werde vielleicht keine drei Muscheln finden, aber ich werde nicht mit leeren Händen zurückkehren.« Er griff nach dem Netz und begann, rhythmisch ein- und auszuatmen. Ihm war ein wenig schwindelig, als er nach dem Felsblock vor seinen Füßen griff und sich aufrichtete. Entschlossen setzte er den rechten Fuß auf die Reling und blickte auf das Meer. Jetzt gab es kein Zurück mehr! Ein letztes Mal pumpte er seine Lungen voll Luft, dann ließ er sich fallen. Kalt umfingen ihn die Arme der See. Der Stein riß ihn in die Tiefe hinab. Ein dumpfes Pochen hallte in seinen Ohren. Der Arzt blickte nach oben und versuchte, abzuschätzen, wie tief er schon gesunken war. Wie ein riesiger Fisch hing der Rumpf des Bootes über ihm im Wasser. Gleich goldenen Speeren stach das Sonnenlicht durch die Fluten. Philippos ließ den Stein los. Das Riff lag rechts von ihm. Mit einigen kräftigen Stößen gelangte er zu dem dunklen Felsen, der mit allerlei wunderlichen Meerespflanzen bedeckt war. Seltsame Blumen mit fadenförmigen Blättern, die in den Blütenkelchen verschwanden, wenn man sich ihnen näherte. Daneben klammerten sich kleine rote oder weiße Büsche mit feinen Ästen an das Riff. Silberne Fische tanzten mit der Strömung durch diesen Garten Poseidons, ohne auf den Eindringling zu achten.

Philippos spürte, wie der Druck in seiner Brust größer wurde.

Nervös sah er nach oben. Er war nicht sehr tief. Es blieb ihm noch etwas Zeit. Sein Blick glitt suchend über das Dickicht aus Farben. Er entdeckte eine kleine Kolonie von grauschwarzen, unregelmäßig geformten Muscheln. Einen Moment lang überlegte er, ob er nicht einige von ihnen nehmen sollte. Doch die Phönizier würden ihn auslachen. Er hatte genau gesehen, was für Muscheln man zum Purpurschneckenfang brauchte.

Mit zwei kurzen Stößen glitt er höher. Der Druck in seinen Lungen wurde immer unerträglicher. Verzweifelt huschten seine Blicke über den Felsen. Da endlich entdeckte er eine der großen, gelbweißen Muscheln. Er packte das Messer und schwamm dichter an den Felsen heran. Vor Anspannung zitterten ihm die Hände, als er versuchte, die Muschel vom Riff zu lösen. Sie schien mit dem dunklen Felsgestein regelrecht verwachsen zu sein. Vor Anstrengung atmete er aus. Große, glasige Blasen strichen über sein Gesicht. Endlich löste sich das Tier. Ohne es näher anzusehen, steckte er es in das Netz. Er mußte hier weg. Nach oben! Atmen!

Mit einem Stoß drückte er sich vom Felsen ab. Etwas schrammte schmerzhaft über seine Füße. Der dunkle Bootsschatten schien ihm unendlich weit entfernt. Noch einmal atmete er aus.

Das Bedürfnis, Luft zu holen, war fast unerträglich. Die schimmernde Wasseroberfläche schien so nah, und doch konnte er sie nicht erreichen. Verzweifelt stieß Philippos die Arme nach oben und paddelte mit den Füßen. Er hatte verloren ... Hätte er nur auf Samu gehört! Er würde sterben. Und alles nur, weil er zu stolz gewesen war, auf die Priesterin zu hören.

Das Gesicht Daphnes schimmerte zwischen den Lichtstrahlen, die durch das Wasser brachen. Er würde jetzt einatmen . Seine Lungen mit brennendem Salzwasser füllen und sich sinken lassen. Der Kampf war verloren.

Der Kopf des Griechen schoß durch die Wellen. Keuchend hechelte er nach Luft. Bei den Göttern, er lebte! Ein heftiger Schlag ließ ihn pfeifend ausatmen. Er war zu dicht an den Klippen. Die Dünung warf ihn gegen den scharfkantigen Felsen.

Verzweifelt versuchte er, sich an dem muschelverkrusteten Riff festzuklammern. Die dünnen Schalen schnitten ihm in die Finger. Wieder schleuderte ihn eine Woge gegen den Felsen.

Aus dem Boot war lautes Rufen zu hören. Philippos’ Augen brannten vom Salzwasser. Er konnte kaum noch sehen.

Jemand packte ihn bei der Schulter. Seine Brust schrammte über die Muschelsplitter. Dann wurde er nach hinten gerissen.

Er ließ sich treiben. Ein zweites Paar Hände griff nach seinen Armen. Blinzelnd sah er, wie der Felsen sich entfernte.

Endlich wurde er über die Reling ins Boot gezogen. Jemand rieb ihn mit einer groben Wolldecke ab. Einer der Männer reichte ihm einen Tonbecher mit kaltem Wasser.

»Du wirst nicht mehr tauchen. Wir haben gesehen, daß du Mut hast, Grieche. Du brauchst uns nichts mehr zu beweisen. In deinem Alter taugt man nicht mehr als Schneckentaucher.«

»Meine Muschel«, stammelte der Arzt erschöpft.

»Sie ist zerbrochen. Begreifst du, Grieche? Du hast dein Leben für eine Muschel eingesetzt, die fast nichts wert ist!

Wir können sie höchstens noch als Köderfleisch verwerten. Auf meinem Boot wirst du nicht noch einmal dein Leben für eine Muschel riskieren«, schnaubte Abimilku wütend.

Philippos war zu erschöpft, um dem Tyrener noch zu widersprechen.

Der Mittag war schon weit vorangeschritten, und die Eimer mit Meerwasser im Boot waren fast bis an den Rand mit lebenden Muscheln gefüllt, als ein gellender Schrei das Geräusch der Brandung übertönte. Der Kopf Abimilkus tauchte zwischen den Wellen auf. Einen Moment lang winkte der Schiffer mit einem blutüberströmten Arm, dann war er wieder zwischen den Wogen verschwunden.

Sofort sprangen zwei der Taucher ins Wasser und schwammen zu der Stelle, wo ihr Kapitän verschwunden war. Ein etwas älterer Seemann hob einen langen Speer auf und stellte sich nach vorne in den Bug des Bootes, um von dort aufmerksam die Wellen zu beobachten. Keiner sprach an Bord. Alle Blicke waren gespannt auf das Meer gerichtet.

Auch Philippos hatte sich zur Reling gewandt und starrte auf das schimmernde dunkle Wasser. Einen Moment lang glaubte er, bei den Kuppen eine Wolke von Blut dicht unter der Wasseroberfläche zu erkennen, doch mochte es auch nur ein Schatten gewesen sein.

Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, bis die beiden Taucher endlich wieder zu sehen waren. Zwischen ihnen trieb der leblos wirkende Körper des Kapitäns.

»Unser Boot ist verflucht«, murmelte der Bärtige mit dem Speer und spuckte in die See. »Das ist jetzt schon der dritte in diesem Jahr. Keinen Fuß werde ich mehr auf diesen Kahn setzen.«

»Still!« zischte ein anderer. Der älteste unter den Männern hatte einen Korb an das Ende eines Seils gebunden und schleuderte ihn den beiden Tauchern entgegen. Dankbar griffen sie nach dem Korb und wurden dann an Bord gezogen.

»Was ist passiert?«

»Ein ... Schlangenfisch ...«, stammelte Abimilku und preßte seine Rechte auf eine klaffende Wunde am linken Unterarm. »Ich muß ... seiner Höhle ... zu nahe ... gekommen .«

»Wickelt ihm ein Leinentuch um den Arm. Seht nur, wie er blutet!« Die Taucher legten den Kapitän zwischen den Körben nieder.

Philippos konnte sehen, wie das Blut pulsend in kleinen Fontänen aus der Wunde schoß. Ein einfacher Leinenverband würde hier nicht mehr helfen! »Laßt mich an ihn heran. Ich kenne mich mit so etwas aus!«

»Warum sollten wir dir trauen, Fremder?« Der Bärtige hatte sich vor Philippos aufgebaut. »Du hast doch keinen Grund, Abimilku zu helfen. Er hätte dich mit Schimpf von seinem Boot gejagt, wenn wir im Hafen angekommen wären.«

»Thanatos wird euren Kapitän in den Hades hinabtragen, bevor wir den Hafen überhaupt erreichen, wenn ich ihm jetzt nicht helfen. Ich war Söldner. Ich habe mehr Wunden geschlagen und auch verbunden, als du in deinem ganzen Leben zu sehen bekommen wirst. Ich weiß, was zu tun ist. Also laß mich zu ihm!«

Der Bärtige tauschte einen Blick mit den anderen Männern.

Dann nickte der Alte, der den Tauchern das Seil zugeworfen hatte, und Philippos wurde an die Seite des Kapitäns gelassen.

Die Wunde am Unterarm sah übel aus. Eine der großen Adern war durchtrennt. Er brauchte eine Klemme oder Presse. Hätte er nur sein Arztbesteck dabei, dachte Philippos verzweifelt.

Er blickte zu dem Bärtigen, der sich zum Wortführer im Boot aufgeschwungen hatte.

»Wenn Abimilku stirbt, dann wirst du nicht mehr lebend in die Stadt zurückkehren.«

»Gib mir dein Stirnband!«

»Was willst du damit?«

»Dein Stirnband, beim Zeus! Jetzt ist keine Zeit zu reden. Und ein Messer brauche ich!«

Widerwillig streifte der Bärtige sein ledernes Stirnband ab.

Einer der anderen Männer gab Philippos ein Messer. Der Arzt knüpfte aus dem dünnen Band eine Schlinge und zog sie über den Arm des Verletzten. Dann schob er das Messer durch die Schlinge und drehte sie zu, bis das Leder tief ins Fleisch des Kapitäns einschnitt und die Wunde zu bluten aufhörte.

»Habt ihr Honig an Bord?« Philippos blickte sich fragend unter den Seeleuten um.

»Wozu sollte das nutzen? Wir nehmen nur das mit aufs Meer, was wir auch brauchen.«

Resignierend zuckte der Arzt mit den Schultern. »Dann gebt mir einen Eimer mit Salzwasser und ein helles Leinentuch. Ich muß die Wunde säubern, oder sie wird böse Säfte anziehen.«

Der älteste unter den Tauchern schüttelte den Kopf. »Das wirst du nicht verhindern können. Er ist von einem Schlangenfisch gebissen worden. Ihre Zähne sind so giftig wie die der Schlangen, die du in der Wüste findest. Er wird bei lebendigem Leib verfaulen, wenn wir ihn an Land nicht sofort in den Eshmun-Tempel bringen. Die heilkundigen Zauberpriester werden Abimilku vielleicht noch helfen können. Sie müssen ihm den Arm abschneiden, bevor das Gift tiefer in den Körper eindringt und beginnt, ihn von innen zu zerfressen. Glaube mir, Grieche, ich habe schon oft gesehen, was mit den Männern geschieht, die vom Schlangenfisch gebissen werden. Er ist der Wächter der Klippen. Er hat entschieden, daß Abimilku nie wieder tauchen soll.«

Philippos hörte sich schweigend die Rede des Tauchers an. Er wußte nicht, wie stark das Gift dieses seltsamen Fisches sein mochte, doch war der Arzt der Überzeugung, daß die Wunde allein eine Amputation nicht rechtfertigen würde. Jedenfalls nicht, solange sich das Fleisch nicht entzündete und dunkler Eiter begann, den ganzen Körper zu vergiften. Er sollte mit den Fischern zum Tempel gehen und versuchen, mit den Heilkundigen zu reden. Wenn es ihm gelingen sollte, Abimilkus Arm zu retten, dann wäre der Kapitän ihm zu Dank verpflichtet. Vielleicht würde er dann doch noch unter den Purpurfischern aufgenommen. Auf jeden Fall würde sein Wort in Zukunft unter diesen Männern Gewicht haben, und es würde ihm leichter fallen, sie nach den Handelsverbindungen der Purpurhändler auszuhorchen.

Den ganzen Nachmittag über hatte Samu im Schatten einer der Hafenmauern gesessen und auf die heimkehrenden Boote der Purpurfischer gewartet. Auch wenn sie Philippos nicht sonderlich leiden konnte, so hatte sie doch zu Isis gebetet und die Göttin angefleht, den Griechen zu verschonen. Ganz auf sich allein gestellt, würde sie es in dieser fremden Stadt schwer haben. Sie dachte daran, wie der Arzt sie in Italien gepflegt hatte, als ein schweres Fieber sie zu verzehren drohte. Wenn man wußte, wie er zu nehmen war, dann konnte man mit ihm auskommen. Er gierte nach Macht und Gold. Das hieß im Grunde, daß ihre Interessen sich nicht kreuzten. Wenn er das erst einmal begriffen hätte, dann ließe sich sicherlich besser mit ihm zurechtkommen. Hoffentlich war es nicht schon zu spät! Wie hatte Philippos dem Judäer nur trauen können? Welche Beweise gab es schon, daß Simon tatsächlich treu zum göttlichen Pharao stand? Irgendwo in dieser Stadt lauerte ein feiger Giftmörder, und so wie die Dinge lagen, war jeder Bewohner von Tyros verdächtig, der ein Interesse daran haben konnte, sich in die Intrigenspiele der Mächtigen einzumischen.

Während sie ihren düsteren Gedanken nachgehangen hatte, war ein kleines Segelboot in den Hafen eingelaufen. Es steuerte auf die Anlegestellen zu, die von den Purpurfischern genutzt wurden. Ein langer Kai, auf dem sich hölzerne Reusen und Netze türmten. Auch Dutzende von Eimern standen dort, in denen Muscheln und kleinere Fische in Meerwasser gehalten wurden. Das ganze Dock war mit einer Schicht aus zertretenen Schneckenhäusern und Muschelschalen bedeckt, so daß es bei jedem Schritt, den man machte, leise unter den Sohlen der Sandalen knirschte. Vor allem aber stank es nach fauligem Fisch.

Hin und wieder versuchte eine besonders freche Möwe, zwischen den Eimern zu landen, um einen Fisch zu stehlen, doch eine Schar kleiner, mit Lederschleudern bewaffneter Jungen bewachte den Fang und vertrieb die meisten der diebischen Vögel umgehend mit gezielten Steinwürfen.

Die Seeleute an Bord des Bootes warfen dem alten Mann, der die Kinderschar kommandierte, ein Seil zu, und dieser schlang es um einen der großen Holzpfeiler, die in regelmäßigen Abständen den Kai säumten.

Samu stand auf und ging langsam zur Anlegestelle hinab.

Irgend etwas stimmte mit dem Boot nicht! Jetzt hoben sie jemanden in einem Leintuch über die Bordwand. Neugierig vernachlässigten die Kinder ihren Wachdienst und drängten sich um die Taucher.

Die Priesterin schluckte. Sollten ihre Gebete nicht erhört worden sein? Brachten sie den toten Griechen zurück? Sie mußte sich beherrschen, um nicht in Laufschritt zu verfallen und so auf sich aufmerksam zu machen. Die Schiffer kletterten aus dem Boot auf den Kai und scharten sich um den Mann, der auf dem Boden lag. Unter ihnen erkannte die Priesterin Philippos. Der Arzt sprach mit einem älteren Mann. Zwei kräftige Kerle nahmen das Segeltuch wieder auf. Jetzt konnte Samu erkennen, daß der Mann, der getragen wurde, offenbar nur verletzt war. Ein heller Verband war um seinen linken Arm geschlungen. Die Priesterin verlangsamte ihren Schritt und tat so, als würde sie sich für den Fang interessieren, der in den Holzeimern ausgestellt war.

Der kleine Trupp aus Fischern setzte sich in ihre Richtung in Bewegung. Einen kurzen Moment kreuzten sich die Blicke der Priesterin mit denen des Griechen, und er schüttelte fast unmerklich den Kopf. Samu nickte. Sie hatte verstanden.

Irgendwie schien es dem Arzt gelungen zu sein, unter den Tauchern aufgenommen zu werden. Unter diesem Umständen war es besser, wenn sie beide so taten, als würden sie einander nicht kennen.

Nachdenklich blickte sie den Männern hinterher. Wie mochte Philippos das nur geschafft haben? Offenbar hatte er recht gehabt und war nicht in Gefahr gewesen. Hatte ihr Zorn auf den Judäer tatsächlich so sehr ihren Verstand getrübt, daß sie ihn völlig zu Unrecht als Intriganten verdächtigte? Sollte sie zurückkehren und sich bei ihm entschuldigen?

Nein! Simon würde sie auch weiterhin nicht ernst nehmen. Für ihn war sie nur eine Götzenpriesterin. Er würde sich niemals dazu herablassen, ihr zuzuhören und ihrem Wort Gewicht beizumessen. Sie kannte diese Sorte von Männern!

Es war klüger, wenn sie weiterhin ihre eigenen Ziele verfolgen würde! Nur ein paar Tage noch, und Marcus Antonius würde in die Stadt kommen. Mit seiner Hilfe wäre es ein leichtes, den ...

»Seid Ihr im Purpurgeschäft tätig, schöne Fremde?«

Erschrocken fuhr Samu herum. Vor ihr stand ein fülliger, junger Mann, der in kostbare Gewänder gehüllt war. Er trug einen Chiton, der mit bunten Stickereien geschmückt war. Um seine Schultern und seinen Leib war ein Himation aus purpurn gefärbter Seide geschlungen, das von goldenen Fibeln gehalten wurde. Ein Sklave mit einem safranfarbenen Sonnenschirm begleitete ihn, ebenso ein Krieger, der einen weißen Leinenpanzer und einen polierten Bronzehelm mit weißem Federbusch trug.

»Man sagte mir, daß der Reichtum dieser Stadt von seltsamen Schneckentieren herrührt, die aus dem Meer gefischt werden. Ich war neugierig, diese Wundertiere zu sehen, deshalb kam ich in den Hafen und betrachtete den Fang Eurer Fischer.«

»Und ist Eure Neugier befriedigt worden?«

»Nun, ich muß ganz ehrlich sagen, daß ich nicht begreifen kann, wie Ihr aus diesen wimmelnden Krebsen und Schnecken einen Farbstoff gewinnt, der so unvergleichlich ist, daß man ihn nur in Eurer Stadt zu fertigen vermag.«

Der junge Mann grinste. »Unser Reichtum begründet sich darauf, daß wir dieses Geheimnis zu wahren wissen. Ich muß allerdings sagen, daß selbst der kostbarste Purpur neben Eurer Schönheit verblaßt, und wüßte ich um die Kunstfertigkeit unserer Färber, so wäre ihr Geheimnis bei mir schlecht verwahrt, denn ich würde es jederzeit gegen Eure Gunst eintauschen.«

Samu blickte verlegen zu Boden und wünschte sich, ebenfalls einen Leibwächter an ihrer Seite zu haben, um nicht allein auf die Höflichkeit dieses aufdringlichen Fremden vertrauen zu müssen.

»Eure Worte sind so süß wie Honig. Ihr seid es sicher gewohnt, Frauen Komplimente zu machen. Doch täuscht Euch in mir nicht. Ich bin keine, die sich mit Worten oder Reichtum einfangen läßt. Wie Ihr seht, trage ich das Gewand der Isis, und mein Herz gehört allein der Göttin.«

»Was denkt Ihr von mir?« Der Jüngling wedelte affektiert mit seiner Hand hin und her. »Es ist allein aufrichtiges Interesse, das mich dazu trieb, Euch anzusprechen. Immerhin ist es doch verwunderlich, wenn sich eine Frau wie Ihr stundenlang ohne männliche Begleitung im Hafen aufhält. Habt Ihr denn gar keine Sorge, daß Euch etwas geschehen könnte? Seht Euch doch nur die Männer an, die hier verkehren. Hier findet Ihr alles nur erdenkliche Gesindel. Grobschlächtige Gesellen, die sich im Zweifelsfall einfach nehmen, was sie begehren. Wenn Ihr gestattet, würde ich Euch gerne bis zu Eurem Quartier zurückbegleiten. So hätte ich die Gewißheit, daß Euch nichts geschehen wird. Zugleich würde ich Eurem pflichtvergessenen Gastgeber rügen, daß er Euch so ganz ohne Schutz auf den Straßen der Stadt wandeln läßt.«

»Eure Sorge um mich rührt mich zutiefst.« Samu musterte den Söldner, der wie versteinert hinter seinem Herren stand.

Irgend etwas an ihm kam ihr vertraut vor, ohne daß sie mit Sicherheit zu sagen wußte, was es war. Er trug einen thrakischen Helm, dessen ausladende, wie ein Vollbart geformte Wangenklappen, mit Ausnahme von Mund und Augen, das ganze Gesicht verbargen. So konnte sie allein die stechenden braunen Augen und die schmalen Lippen des Söldners erkennen. Die Haut seiner Arme war ungewöhnlich dunkel, so wie bei Kriegern aus dem fernen Baktrien oder bei jenen Ägyptern, die tief im Süden nahe der Grenze zu Numidien lebten. Sie hatte einmal jemanden gekannt, der ... Samu lächelte. Es war Unsinn, ihre Gedanken an eine längst begrabene Vergangenheit zu vergeuden.

»Wie schön, Euch lächeln zu sehen. Darf ich dies so auslegen, daß Ihr meinem Vorschlag, Euch zu begleiten, wohl geneigt seid?«

»Ihr dürft. Doch glaubt nicht, ich sei mir nicht darüber im klaren, daß Euch auch daran gelegen ist, auf diese Weise zu erfahren, wo ich wohne. Täusche ich mich, oder könnte es sein, daß Ihr darüber nachdenkt, mir vielleicht in nächster Zeit Eure Aufwartung zu machen?«

Wieder wedelte der Jüngling mit seiner Rechten. »Welch intrigante Hintergedanken Ihr mir unterstellt! Ganz so, als sei ich ein persischer Satrap. Mir ging es einzig und allein um Eure Sicherheit.«

Samu lächelte breit. »Was soll ich zu so viel Offenheit noch sagen? Ich bin froh, einem Mann wie Euch begegnet zu sein. Wie Ihr schon ganz richtig erkannt habt, bin ich fremd in der Stadt. Viele Dinge erscheinen mir rätselhaft und undurchschaubar. Vielleicht könntet Ihr mir eine Hilfe sein, Eure geheimnisvolle Heimatstadt besser kennenzulernen. Es gibt wohl hundert und mehr Fragen, die Euch wahrscheinlich allesamt sehr töricht erscheinen werden, die mir als Fremde aber unerklärlich bleiben.«

»Seid gewiß, daß es mir eine Ehre und ein Vergnügen sein wird, Euch in jeder nur erdenklichen Weise zur Verfügung zu stehen.«

Samu lächelte kokett. »So erweist mir die Ehre, mir Euren Namen zu nennen.«

Der Phönizier deutete eine Verbeugung an. »Elagabal werde ich geheißen. Ich bin Kaufmann und Mitglied in der Boyie, dem Rat der Hundert.«

»Ihr schmeichelt mir, indem Ihr mir Eure Gunst erweist. Ich bin es nicht gewohnt, die Aufmerksamkeit so bedeutender Männer zu genießen. Man nennt mich Samu. Ich bin Priesterin der Isis, doch bekleide ich keinen besonderen Rang. Wollt Ihr, da Ihr dies nun wißt, mich immer noch bis zu meiner Unterkunft geleiten?«

Elagabal hob in pathetischer Geste seine Hände. »Welche Bedeutung haben Titel? Schon als ich Euch zum ersten Mal sah, begriff ich, was Schönheit bedeutet. Liebreiz und Anmut haben durch Euch einen neuen Namen bekommen. Samu!«

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