19. KAPITEL

Samu war erwacht, als sie etwas auf ihrem Bein krabbeln spürte. Still verharrte sie und wartete, was geschehen würde. Etwas hockte auf ihrem linken Oberschenkel.

Es schien keine Schlange zu sein. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie die Decke zurückschlagen sollte, um nachzusehen.

Vielleicht war es ja nur eine Wüstenmaus ... Doch wenn nicht? Es war besser, still liegenzubleiben!

Haritat hatte ihr ein eigenes, kleines Zelt errichten lassen, in dem sie unbehelligt von den Blicken der Männer die Nacht verbringen konnte. Der Beduine hatte ihr zur Nacht sogar die Fesseln abgenommen. Gleichzeitig hatte er sie allerdings eindringlich davor gewarnt, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Wenn sie seinen Worten glauben konnte, dann waren nabatäische Bogenschützen als Wachen aufgestellt worden.

Das Ding unter ihrer Decke bewegte sich wieder! Deutlich spürte Samu, wie das Tier ihren Schenkel weiter hinaufkroch ... Spürte die starren Füße auf ihrer Haut.

Ängstlich biß sie sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien. Jetzt hatte sie keine Zweifel mehr, daß ein Skorpion unter ihrer Decke hockte. Endlich verharrte das Tier und preßte seinen kalten Leib auf ihren Bauch.

Samu betete leise. Die vertrauten Worte nahmen ihr ein wenig Angst. Als Isis vor Seth in die Wüste geflohen war, da hatten sieben Skorpione sie begleitet, um sie zu beschützen. Vielleicht war es ja die Göttin, die ihr das Tier geschickt hatte?

Draußen dämmerte es. Die Priesterin konnte hören, wie das Leben im Lager erwachte. Sie atmete nur flach, so daß sich ihr Bauch kaum hob. Der Skorpion hockte jetzt unmittelbar unter ihrem Rippenbogen. Samu kam es so vor, als wäre das Tier ungewöhnlich groß. Sie würde es gerne sehen. Es war leichter, mit einer Gefahr umzugehen, der man ins Auge blicken konnte. Auch wüßte sie dann, ob es sich um einen der Skorpione handelte, deren Gift selbst Menschen zu töten vermochte, oder aber um eine harmlose Art.

Vorsichtig krallte sie ihre Zehen in den weichen Leinenstoff, und jedesmal, wenn sie ausatmete, zog sie die Decke mit den Füßen einen Finger breit tiefer. »Petet, erhöre mich! Sage deinem Bruder, daß ich eine Dienerin der Göttin bin!« Samu spürte, wie sich der Skorpion auf ihrem Bauch ein kleines Stück bewegte. Würde der Zauber auf ihn wirken?

»Tjetet, erhöre mich! Sage deinem Bruder, daß ich eine Dienerin der Göttin bin!« Wieder zog sie die Decke ein wenig tiefer. Die Stimme der Priesterin klang leise und monoton. Ihr Gesicht war naß von Schweiß. Sie versuchte, sich das Tier vorzustellen, das auf ihrem Bauch hockte. Versuchte, es im Netz der Magie einzufangen.

»»Matet, erhöre mich! Sage deinem Bruder, daß ich eine Dienerin der Göttin bin!« Samu wollte alle sieben Skorpione anrufen, die der Isis gedient hatten. Sie waren die Mächtigsten ihres Volkes, und einer von ihnen mußte der Herrscher über jenen Skorpion sein, der auf ihrem Bauch kauerte.

Die Priesterin hatte die Decke jetzt bis über ihre Brüste hinabgezogen. Nur noch ein kleines Stück, und sie würde die Bestie sehen! »Mesetetef, erhöre mich! Sage deinem Bruder, daß ich eine Dienerin der Göttin bin!« Wieder rutschte die Decke ein klein wenig tiefer. Das Tier verhielt sich weiterhin ruhig.

Die Priesterin leckte sich über die trockenen Lippen.

»Mesetetef, erhöre mich! Sage deinem Bruder, daß ich eine Dienerin der Göttin bin!«

Im selben Augenblick, in dem sie den Namen Mesetetef aussprach, begann das Tier sich zu bewegen. Langsam schoben sich seine Zangen unter der Decke hervor. Lautlos öffneten und schlossen sie sich, so als wolle er ihr ein Zeichen geben oder sie einfach nur grüßen. Auf seinen dünnen Beinen kroch der Skorpion vorwärts, bis er zwischen ihren Brüsten lag. Er war schwarz wie die Nacht und fast so groß wie eine Menschenhand. Seinen Stachel hatte er drohend über den Rücken erhoben.

»Ist Mesetetef dein Herrscher?«

Der Stachel des Skorpions zuckte auf und nieder.

»Ich bin Samu, Dienerin der Isis. Spürst du die Kraft der Göttin in mir? Laß uns einen Bund schließen, so wie dein Herrscher einst mit meiner Herrin einen Bund geschlossen hat.« Samu sprach leise und bewegte bei ihren Worten kaum die Lippen. Langsam senkte sich der drohende Stachel.

»Bist du zu mir gekommen, so wie Mesetetef gekommen ist, um die Zauberreiche zu schützen?«

Die Plane am Eingang des Zeltes wurde zurückgeschlagen, und Haritat trat hinein. »Guten Morgen, Priesterin. Wenn du noch ...« Der Beduine verstummte. Schlagartig wich die Farbe aus seinem Gesicht. Seine Rechte glitt zu dem Dolch an seinem Gürtel.

Von der fremden Stimme erschreckt, hatte der Skorpion sich umgedreht und wieder drohend seinen Stachel erhoben.

»Beim Barte Melkarts! Bewege dich nicht, Priesterin!« Langsam zog der Beduine seinen Dolch. »Ich werde dich retten, aber bleib ganz ruhig.«

»Laß ihn in Ruhe, Haritat! Die Göttin hat ihn geschickt, um über mich zu wachen. Wie du siehst, hat er zwischen meinen Brüsten geschlafen und mir nichts getan. Doch dich mag er nicht! Er hat mir gesagt, daß er in der nächsten Nacht seine Brüder mitbringen und dich besuchen wird.«

Der Beduine schlug mit der Linken ein Schutzzeichen.

Währenddessen kroch der Skorpion Samus Bauch hinab und kletterte auf die Decke. Die Priesterin atmete immer noch ganz flach. Sie war sich keineswegs sicher, ob sie dieser kleinen Bestie wirklich zu gebieten vermochte. Doch davon würde sie sich nichts anmerken lassen!

»Ich glaube, mein Leibwächter mag dich nicht, Haritat! Ich habe ihm erzählt, daß du mich in Fesseln nach Jerusalem führen willst. Er war darüber sehr zornig.« Samu konnte sehen, wie sich der Adamsapfel des Beduinen auf und ab bewegte. Haritat machte einen Schritt zurück.

»Wenn du mir dein Wort gibst, nicht zu fliehen, Priesterin, dann mußt du keine Fesseln mehr tragen.«

»Hat dir Hophra eigentlich erzählt, wer ich bin? Hast du dich nicht darüber gewundert, daß er mich bewußtlos zu dir gebracht hat? Was glaubst du wohl, warum er das Weite gesucht hatte, noch bevor ich wieder zu mir gekommen bin?«

Haritat leckte sich nervös über die Lippen. »Was willst du von mir, Priesterin? Ich habe dich nicht schlecht behandelt!«

Samu schnaubte verächtlich. »Ich bin deine Gefangene! Nennst du das gute Behandlung? Doch du und die Deinen werden dafür büßen. Ich bin eine Dienerin der Isis. Sieben Jahre lang hat man mich die Geheimnisse der Göttin gelehrt. Ich vermag den Daimonen zu gebieten, und wenn ich es will, dann reichen drei Worte von mir, um deine sämtlichen Kamelstuten unfruchtbar werden zu lassen und dich obendrein, Haritat. Kannst du dir vorstellen, wie der Stachel, den du so stolz zwischen deinen Beinen trägst, verdorrt und schließlich abfällt?«

Samu konnte sehen, wie sich die Faust des Beduinen um den Dolchgriff verkrampfte, so daß die Knöchel weiß hervortraten. Schweiß stand ihm auf der Stirn.

»Denk lieber erst gar nicht daran! Hat man dir nie gesagt, daß der Fluch einer sterbenden Zauberin der mächtigste ist, den sie in ihrem ganzen Leben spricht? Bis ins siebente Glied hinein wird er deine Ahnen verfolgen! Wer immer deiner Sippe angehört, den soll der Fluch des Skorpions treffen. Immer dann, wenn sich zum dreißigsten Mal der Tag ihrer Geburt jährt, wird deine Kinder und Kindeskinder ein Skorpion heimsuchen und sie töten. So lange wird sich dies Schicksal wiederholen, bis deine Sippe ausgelöscht ist, Haritat. Das ist der Preis, den du zahlen wirst, wenn du eine Waffe gegen mich erhebst!«

Der Skorpion glitt jetzt an Samus Bein hinunter und eilte auf das Kleiderbündel zu, das dicht neben ihr auf dem Boden lag. Mit starrem Blick verfolgte der Beduine das Tier. Die Hand, in der er den Dolch hielt, zitterte leicht.

»Der Ägypter hat mich betrogen, Priesterin. Er hat mir nicht die Wahrheit darüber gesagt, wer du bist. Also muß ich mich auch nicht an das Wort gebunden fühlen, das ich ihm gegeben habe.«

Samu lächelte zufrieden. »Wie ich sehe, bist du ein weiser Mann, Haritat.«

»Wenn ich dir ein Kamel satteln lasse und dir freien Abzug gewähre, wirst du dann darauf verzichten, mich zu verfluchen, Zauberin?«

»Gib mir noch einen Führer, und wir sind handelseinig. Nicht du bist der, dem mein Zorn gilt. Ich will den Kopf des Mannes, der mich zu dir gebracht hat! Ich sehe, daß du von Hophra getäuscht worden bist und dich keine Schuld trifft.«

Der Beduine nickte heftig. »Genauso ist es. Er hat mir gesagt, du seiest nur ein törichtes Weib, das sich in Schwierigkeiten gebracht hat. Davon, daß du eine Zauberin bist und in Fehde mit ihm liegst, hat er kein Wort gesagt.«

»Gehe jetzt und suche einen Mann, dem du traust! Doch versuche nicht, mich zu betrügen, Beduine. Mein Fluch über dich ist ausgesprochen, und ich werde ihn erst zurücknehmen, wenn ich sicher im Lager der Römer bin, die nach Tyros marschieren.«

»Du willst zu den Römern?«

»Du wirst doch wohl wissen, wo ich sie finde, oder? Man sagt doch, ihr Beduinen wißt um jeden, der durch die Wüste reist. Also wird dir doch nicht verborgen geblieben sein, daß eine ganze Armee nach Tyros marschiert.«

»Keine Armee, Priesterin. Drei Kohorten und eine Abteilung Reiter. Ich werde dich nicht fragen, was du von ihnen willst. In der Zeit, die die Sonne braucht, um zwei Finger breit über den Himmel zu wandern, werde ich dir ein Kamel satteln lassen und einen Führer auswählen. Du wirst nicht weit reiten müssen, um zu den Römern zu gelangen.«

Samu lächelte zufrieden. »Ich sehe, du bist ein kluger Mann, Haritat. Du wirst dir keine Sorgen um die Zukunft deiner Sippe machen müssen.«

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