5. KAPITEL

Heller Rauch wand sich in Spiralen aus dem Feuerbek-ken der Decke entgegen. Breite Bahnen aus goldenem Licht durchschnitten das große Zimmer der Hetaire. Kein Lüftchen regte sich draußen, und dumpfe, brütende Hitze lag über dem Land. Der Himmel war klar und wolkenlos. Selbst die sonst allgegenwärtigen Möwen waren verschwunden und hatten irgendwo Schutz vor der Sonne gesucht.

Der Rauch der Kräuter, die in der kleinen Kohlenpfanne schwelten, war zwar würzig und angenehm, doch hatte er in der Hitze des Nachmittags auch etwas Erstickendes. Samu atmete schwer. Die Lichtbalken, die durch die Fenster schossen, schienen wie goldene Speere um sie herumzutanzen.

Heißer Schweiß tropfte ihr von den Achseln. Die weiße Fläche der Wand ihr gegenüber veränderte sich. Es schien, als würde sie kippen und zu einer Ebene werden. Die Priesterin hatte gehört, daß es irgendwo, weit im Westen, eine Wüste geben sollte, wo der Sand so weiß war, daß es schmerzte, ihn im hellen Sonnenlicht anzusehen. So erschien ihr jetzt auch die weiße Ebene, die sich in der Wand geöffnet hatte. Samu blinzelte die Tränen fort, die ihr in die Augen getreten waren. Kleine Punkte bewegten sich in dem Weiß. Sie kamen ihr entgegen.

Einer der Flecken zog sich in die Länge. Die Konturen wurden schärfer ... Schließlich erkannte sie eine Frauengestalt. Sie war hochgewachsen und schön. Sieben kleine Katzen waren um sie herum. Die Tiere wirkten ernst, so als hätten sie eine wichtige Aufgabe. Wachsam blickten sie in alle Richtungen, fast so wie Krieger, die ihren Pharao in der Schlacht beschützen sollten.

Plötzlich begannen die Katzen zu maunzen. Ein riesiger, schwarzer Schatten war auf die Ebene gefallen. Er sah ein wenig aus wie ein großer Hundekopf. Die Katzen stürzten tot zu Boden. Drohend erhob die Frauengestalt ihre Faust zum Himmel, dorthin, wo irgendwo das Ungeheuer sein mußte, das seinen Schatten auf die Ebene warf. Die Bilder verschwommen Samu vor den Augen. Die Frau löste sich ... Der Schatten verlor seine Form. Sie sah nur noch schwarz und weiß, schwarz und weiß . Hell und dunkel schienen wie in Spiralen miteinander verwoben.

Wieder hörte sie eine Katze maunzen. Die Vision war verflogen. Die kleine, graue Katze, die Thais gehört hatte, kauerte neben dem Leichnam ihrer toten Herrin und blickte Samu mit großen, grünen Augen an. Wieder miaute das Tier, als wolle es der Priesterin etwas sagen.

»Was ist denn, meine Kleine?« Samu wollte sich vorbeugen, doch richtete sie sich sofort wieder auf. Ihr war übel, und mit jeder Bewegung wurde es schlimmer. Was mochte die Vision bedeutet haben? Die Priesterin war sicher, daß die Frauengestalt Isis gewesen war. Doch die Katzen . Es gab eine Geschichte, in der die Göttin von sieben Skorpionen begleitet in die Wüste floh und sich vor Seth versteckte, der ihren Gefährten Osiris getötet hatte.

Doch Katzen hatten mit dieser Geschichte nichts zu tun! Es gab keine Erzählung von sieben Katzen. Der Schatten des Hundekopfes, das mochte vielleicht Seth gewesen sein oder auch der schakalköpfige Anubis, doch Katzen .

Traurig blickte die Priesterin auf die nackte Tote hinab. Sie würden sie verbrennen! Samu hatte um Thais gekämpft und hatte verloren. Wieder einmal war es Potheinos gewesen, der sich durchgesetzt hatte. Die Vernunft war auf seiner Seite.

Manchmal hatte die Priesterin das Gefühl, daß diese Vernunft etwas zutiefst Griechisches war. Der Eunuch war für all ihre Einwände taub gewesen. Samu war sicher, daß Thais gewünscht hätte, nach dem alten Ritus einbalsamiert und in ein Felsgrab gelegt zu werden. Es wäre auch möglich gewesen, ein Felsgrab zu bekommen. Berge gab es genug um Ephesos, und wenn Ptolemaios Thais tatsächlich so geliebt hatte, wie er behauptete, dann wären die Kosten für ein solches Grab mit Sicherheit kein Hinderungsgrund gewesen. Er hatte so viele Schulden bei den Römern und selbst bei dem Megabyzos, dem Verwalter der Schätze des Artemisions, gemacht, daß das Gold für ein Grab nicht ins Gewicht gefallen wäre.

Potheinos war taktvoll oder verschlagen genug gewesen, in seiner Argumentation nicht von Gold zu sprechen. Er sagte, die Priesterinnen der Artemis würden die Kunst des Einbalsamierens nicht gutheißen. Also konnte man von ihnen auch nicht erwarten, daß sie diesbezüglich Schritte unternahmen.

Da es aber dem gesamten Hofstaat des Pharaos verboten war, das Gelände des Tempels zu verlassen, gab es auch niemanden, den man in die Stadt schicken konnte, um einen Einbalsamierer zu suchen. Nicht einmal einen Sklaven konnte man als Boten senden, denn die Tempelsklaven, die Ptolemaios zu Diensten standen, ließen sich nicht dazu überreden, eine solche Aufgabe zu übernehmen.

Samu hatte vorgeschlagen, einen der Besucher des Heiligtums mit einer Botschaft in die Stadt zu schicken, doch war Potheinos zu stolz, diesen Weg zu gehen. Nach seinen Worten durfte ein Gott nicht zu einem Bittsteller vor einem dahergelaufenen Bauern werden.

Für Samu war all dies nur leeres Gerede. In ihren Augen unterwarf sich der Neue Osiris der Jägerin Artemis. Indem der Pharao duldete, daß Thais verbrannt wurde, brachte er der Göttin ein Opfer und hoffte vielleicht, auch sie vergessen zu machen, zu welchem Anlaß die Liebesdiene-rin das Gewand einer jungfräulichen Priesterin angelegt hatte. Er verdammte Thais auf diese Weise dazu, im jenseitigen Leben ohne Körper zu sein. Ja, er zerstörte das, was er an ihr am meisten geliebt hatte! Ob er sich wohl schuldig am Tod der Tänzerin fühlte? Wollte er, daß sie auf immer vernichtet wurde, damit er ihr auch im Reich des Westens nicht mehr begegnen mußte? Man würde sie auch bei Hof schneller vergessen, wenn Thais morgen verbrannt würde. Die Einbalsamierung hätte neunzig Tage gedauert, und erst nach dieser Frist wäre die Tote feierlich in ihr Grab gebettet worden.

Natürlich hatte Potheinos auch für die schnelle Verbrennung einen ganz pragmatischen Grund nennen können. Es war die Hitze. Seiner Meinung nach war es nicht schicklich, einen Toten bei diesen Temperaturen länger als zwei Tage unbestattet zu lassen. Samu schnaubte verächtlich. Sie wußte, daß der erste Eunuch schon vor einigen Jahren ein prächtiges Grabmal für sich errichtet hatte. Es lag in der Nekropole östlich von Alexandria. Er wollte nicht, daß man seinen Leib verbrannte!

Samu stellte den Tiegel auf den Boden, den sie die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte, und musterte den nackten Leichnam der Tänzerin. Sie hatte all die Amulette auf den Körper aufgemalt, die man unter anderen Bedingungen beim Einbalsamieren zwischen den Leinenbinden angebracht hätte.

Samu war entschlossen, jene Zauber, die der Totenritus vorschrieb, zu wirken, jedenfalls soweit sie diese kannte. Vielleicht hatten die Götter Ägyptens ja auch hier genügend Macht, um ein Wunder geschehen zu lassen. Womöglich würden sie den Leib der Toten vor den Flammen schützen oder ihn entrücken.

Jeder Teil des menschlichen Körpers hatte seinen eigenen Schutzgott, und Samu würde sie alle beim Namen nennen und um Hilfe bitten. Sie schloß die Augen und versuchte, sich an den Wortlaut des langen und komplizierten Zauberspruches zu erinnern.

Neben der Kline stand das niedrige Feuerbecken, in dem Samu Weihrauch und anderes Räucherwerk verbrannt hatte.

Die Wohlgerüche sollten ihr helfen, ihren Geist für die Kraft der Magie zu öffnen.

»Dein rechtes Auge ist die Nachtbarke, dein linkes Auge ist die Tagesbarke, und deine Augenbrauen sind die Götterneunheit.

Dein Scheitel ist Anubis, dein Hinterkopf ist Horus, deine Finger sind Thot, deine Haarlocke ist ...«

Die Tür zur Kammer der Toten wurde aufgestoßen. Wütend drehte Samu sich um. Es war Potheinos, der die Zeremonie störte. Schon lag der Priesterin ein Fluch auf der Zunge, als hinter dem Eunuchen noch ein zweiter Mann eintrat: Orestes, der Eirenarkes von Ephesos.

Potheinos schien zu ahnen, was sie dachte. Jedenfalls sah sie ihn rasch ein Schutzzeichen schlagen. »Verzeih, wenn wir dich stören, Dienerin der Zauberreichen«, murmelte der Eunuch verlegen. »Der Eirenarkes wünscht die Tote zu betrachten.«

»Auch wenn Thais dir keinen Dienst erweisen konnte, Verschnittener, solltest du ihr doch die Ehre erweisen, sie bei ihrem Namen zu nennen.«

Potheinos funkelte Samu böse an. Dann trat er zur Seite, um Orestes an die Kline zu lassen. »Auf welche Weise, glaubst du, ist . Thais gestorben?«

Zu gerne hätte Samu dem Eirenarkes die Wahrheit gesagt, doch galt es jetzt, an Kleopatra und die Zukunft der Prinzessin zu denken. Würde sie die Wahrheit sagen, mochten allein die Götter wissen, was aus der Kleinen werden würde. »Wie unschwer zu sehen ist, hat sie sich dicht über der Handwurzel die Arme aufgeschnitten. Sie ist verblutet. Eine Sklavin hat sie so heute morgen gefunden.«

Orestes beugte sich vor, um die Verletzungen in Augenschein zu nehmen. In dieser seltsamen Stellung erinnerte er die Priesterin an einen Jagdhund, der Witterung aufnahm.

»Hat man Thais auf dieser Kline gefunden?«

»So ist es«, antwortete Potheinos eifrig. »Wie die Priesterin sagte, hat eine Sklavin Thais heute morgen entdeckt.«

»Merkwürdig. Ich sehe hier gar kein Blut. Man sollte doch denken, daß man eine Frau, die sich auf diese Weise das Leben nimmt, inmitten einer Blutlache finden würde.«

»Ich habe die blutbesudelten Tücher entfernen und verbrennen lassen«, entgegnete Samu. »Sie war eine große Dame bei Hof und hat Anspruch auf ein würdiges Totenlager.«

»Eine große Dame ...« Orestes tauschte mit Potheinos einen kurzen Blick. »Vielleicht kann man das wirklich so nennen. Aber warum sollte sich eine große Dame das Leben nehmen?«

Dieser Grieche wollte ihr eine Falle stellen, dessen war sich Samu mittlerweile sicher. Aber so leicht würde sie es ihm nicht machen. »Es hat in der letzten Nacht einen Streit zwischen Thais und dem Neuen Osiris gegeben und .«

»Neuer Osiris?« Der Eirenarkes runzelte die Stirn.

»Das ist der Name unseres göttlichen Pharaos«, mischte sich Potheinos ein. »Er ist nicht allein ein Herrscher, er ist auch ein Gott.«

»So.« Dem Griechen genügte dies eine Wort, um deutlich zu machen, was er von Gottkönigen hielt. »Und weswegen wurde gestritten? Ich hoffe, meine Frage ist nicht zu vermessen. Doch soll ich der Hohepriesterin Bericht über diesen Todesfall erstatten und auch dem Rat der Stadt. Es ist also keine Neugier, sondern allein meine Pflicht, die mich zwingt, so taktlos zu fragen.«

Samu glaubte dem Eirenarkes kein Wort. So wie er aussah, machte es ihm Freude, seine übergroße Nase in die Angelegenheiten anderer zu stecken. »Soweit ich weiß, ging es darum, daß der Neue Osiris dachte, die Dienste von Thais in Zukunft nicht mehr in Anspruch zu nehmen. Dieser plötzliche Stimmungswandel des Pharaos hat sie so erschreckt, daß sie die Sinne verlor. Gemeinsam mit dem griechischen Arzt Philippos habe ich sie aus den Gemächern des Neuen Osiris hierher gebracht. Als sie erwachte, scheint sie sich dann das Leben genommen zu haben.«

»Und mit diesen Zauberzeichen hast du sie danach bemalt, Priesterin?« Orestes zeigte auf die nachgezeichneten Amulette auf der Brust der Toten. »Was haben sie zu bedeuten?«

Samu zeigte auf ein längliches Symbol, das ein wenig an den Stößel erinnerte, der zu einem Mörser gehört. »Das hier ist der Djed-Pfeiler. Für gewöhnlich wird er aus Gold gefertigt. Er schützt das Rückgrat der Verstorbenen, so wie das Tet, der Isis-Knoten dort zwischen den Brüsten, das Blut und die Zauberkraft von Thais erhalten wird, und .«

»Wie kann das Blut erhalten werden, wenn sie sich die Adern an den Handgelenken aufgeschnitten hat?« Orestes grinste triumphierend und tauschte mit Potheinos einen kurzen Blick.

»Webe nur deinen Zauber, Priesterin. Ich glaube nicht, daß ich deine Götter und Rituale verstehen werde. Ich will der Artemis opfern. Es erscheint mir sinnvoller, die Gnade der mächtigen Göttin anzurufen.« Der Grieche wandte sich ab und hatte schon die Tür erreicht, als er noch einmal stehenblieb. »Wer ist eigentlich die neue Favoritin des Herrschers?«

Potheinos hüstelte leise, dann warf er dem Eirenarkes einen verschwörerischen Blick zu. »Es gibt viele schöne Frauen in unserem Gefolge. Was uns vor allem von euch Griechen unterscheidet, ist, daß unsere Priesterinnen größere Freiheiten haben, was den Umgang mit Göttern angeht.«

Orestes bedachte Samu mit einem anzüglichen Blick. »Ich denke, ich habe Verstanden, was ihr mir sagen wolltet, Potheinos.«

Samu errötete. Dieser Bastard! Was sollte diese Lüge? Wollte der Eunuch sie vor dem Fremden demütigen? Warum hatte er sie zur Buhlin des Pharao gemacht? Sie würde sich das nicht einfach so bieten lassen! »Sagt, Orestes, wie kommt es, daß der Scheiterhaufen des Buphagos schon in der Nacht in Flammen aufgegangen ist? Sollte er nicht erst heute abend nach einer feierlichen Totenzeremonie entzündet werden?«

Der Eirenarkes räusperte sich wichtigtuerisch. »Es war der Wille der Götter. In der Nacht hat sich Thanatos der Priesterin offenbart, die mit der Totenwache beauftragt war! Der Gott selbst ist noch einmal gekommen, um nun auch den Leichnam an sich zu nehmen. Die Priesterin beobachtete, wie Thanatos den Toten zum Scheiterhaufen hinauftrug. Kaum hatte er euren Mundschenk niedergelegt, da fuhr aus den Sturmwolken ein Blitz hinab und entzündete das Holz. So waren es die Götter selbst, die entschieden haben, das Totenfest zu feiern.« Das Gesicht des Orestes war so ausdruckslos wie eine Maske. Samu hätte nur zu gerne gewußt, ob der Grieche das, was er erzählte, auch selbst glaubte.

»Jedenfalls«, so fuhr Orestes fort, »wird damit wieder Frieden in den Tempelbezirk einkehren. Dennoch bleibt das Verbot bestehen, daß Mitglieder des Hofstaates des Ptolemaios das Tempelgelände verlassen dürfen Es wird wohl noch ein paar Tage dauern, bis das Volk von Ephesos sich so weit beruhigt hat, daß ihr wieder völlig sicher seid.«

Samu verneigte sich leicht. »Es ist gut zu wissen, unter dem Schutz so aufrichtiger Dienerinnen der Göttin zu stehen. Mir selbst ist meine Herrin noch nie erschienen, doch sagt man euch Griechen ja nach, daß kein Volk seinen Göttern so nahe steht wie ihr.« Samu fragte sich, ob die Priesterin in der vergangenen Nacht Batis gesehen hatte und jetzt wirklich glaubte, dem Thanatos begegnet zu sein, oder ob sie diese Geschichte erfunden hatte, nachdem der Leichnam, den sie bewachen sollte, plötzlich verschwunden war.

Orestes hatte den ironischen Unterton ihrer Worte bemerkt.

Er wirkte verwirrt und schien nicht sicher zu sein, wie er darauf reagieren sollte. Er legte den Kopf schief und musterte Samu nachdenklich. Schließlich murmelte er leise: »Der Blick der Olympier ruht auf uns in diesen Tagen. Ich hoffe, daß sie keinen Anlaß mehr haben werden, einen Frevel zu sühnen, und daß die Tage, die da kommen, friedlicher sein werden als jene, die vergangen sind.«

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