4. KAPITEL

Philippos schreckte aus dem Schlaf auf und tastete unruhig neben sich. Er war allein. Dunkel erinnerte er sich, wie er Neaira verlassen hatte und zum Tempel zurückgekehrt war. Den ganzen Rückweg über hatte er das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden. Selbst im Traum hatte man ihn noch gejagt. Er war auf einem weiten Feld gewesen. Es war Nacht, und der Sturmwind fegte vom Meer heran. Auf dem Wind reitend waren Frauen mit Vogelschwingen und Adlerkrallen statt Füßen gekommen. Harpyien! Sie wollten ihn vom Boden reißen, mit sich in die Lüfte heben und davontragen.

Der Nachthimmel war von ihren schrecklichen, heiseren Schreien erfüllt gewesen. Diese Schreie waren es, die ihn hatten aufwachen lassen. Unmenschlich und ...

Im hinteren Flügel der Villa ertönte ein langgezogenes Kreischen. Immer höher und schriller wurde das Geschrei. Philippos preßte sich die Hände auf die Ohren. Er träumte doch nicht mehr! Er war wach ... In Sicherheit, in seiner Kammer und im Bett. Er hatte hier keine Harpyien zu fürchten! Was immer dort vor sich ging, er hatte nichts damit zu tun! Er würde sich jetzt hinlegen, die Wolldecke über den Kopf ziehen, sich die Ohren zuhalten und wieder schlafen.

Das Geschrei war zu einem Wimmern geworden, das fast völlig vom Wüten des Sturms überlagert wurde. Aus dem Atrium erklang das Geräusch von Sandalen. Es kam näher . Bis zu seiner Tür!

Ein junger Sklave mit einer Fackel in der Hand trat ins Zimmer! »Schnell, Herr, der Pharao befiehlt, daß Ihr zu ihm kommt. Es ist wichtig!«

Wieder erklang das unmenschliche Schreien. Es war wie auf den Schlachtfeldern, wo Männer mit abgebrochenen Speerschäften im Bauch jämmerlich verreckten. Dutzende hatte er so sterben sehen. Man konnte ihnen nicht mehr helfen.

Manche schrien sich schier die Lunge aus dem Leib, bis sie schließlich in sich zusammensanken, andere wimmerten leise vor sich hin. So ein Tod konnte Stunden dauern. Es hing ganz davon ab, wie stark man war und wie verbissen man sich an sein Leben klammerte. Gewonnen hatte diesen Kampf jedoch nie jemand.

Das Kreischen verebbte erneut. Der Sklave trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Herr, bitte . Der Neue Osiris will Euch sehen. Es eilt!«

»Was ist denn los?«

»Keiner weiß es! Der Pharao läßt niemanden in seine Gemächer. Von dort kommen die schrecklichen Schreie. Er hat mir durch die verschlossene Tür befohlen, Euch zu holen.«

Philippos fluchte leise. Was mochte dort unten vor sich gehen? Schon zweimal war er mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen worden, damit er sich um Verletzungen kümmerte, die sich Frauen zugezogen hatten, die an den wilden Orgien des Herrschers teilnahmen. Je geringer die Aussichten wurden, noch einmal nach Ägypten zurückzukehren, desto ausschweifender wurden die Feste des Königs. Ptolemaios gab sich manchmal recht eigenartigen Gelüsten hin. Aber solche Schreie wie heute ...

Wie zur Antwort auf seine Gedanken erklang erneut das unheimliche Kreischen. Was zum Henker mochte da vorgefallen sein?

»Bitte, Herr. Der Neue Osiris haßt es zu warten .«

»Ja, ja!« Philippos schob die Wolldecke zur Seite, schlüpfte hastig in eine Tunica und griff nach der Ledertasche mit seinen chirurgischen Instrumenten und dem Verbandszeug.

Der Sklave führte den Arzt durch das Atrium in den hinteren Teil der großen Villa. Vor den Gemächern des Königs drängten sich einige Sklaven und Höflinge. Auch Samu war dort. Die Priesterin hatte tiefe Ränder unter den Augen und war so bleich wie eine Toga candida. Allem Anschein nach hatte sie diese Nacht nicht allein in Morpheus Armen verbracht.

Der Sklave klopfte energisch gegen die rot gestrichene Tür, hinter der jetzt leises Schluchzen erklang. »Göttlicher Pharao, ich bringe den Arzt!«

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und das Gesicht von Potheinos erschien. »Schick ihn rein!« Der Blick des Eunuchen fiel auf Samu, und er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Priesterin. »Du kommst am besten auch gleich!«

Philippos schob sich durch die Tür und achtete instinktiv darauf, daß er den Spalt mit seinem Körper so weit ausfüllte, daß die Höflinge nicht hineinschauen konnten. Was auch immer in den Gemächern des Königs geschehen sein mochte, es war offensichtlich, daß der Hofstaat davon zumindest zunächst nichts wissen sollte.

Potheinos führte sie beide durch den kleinen Raum, in dem sie sich erst am vorigen Abend mit dem Herrscher beraten hatten, und ging weiter bis in das Schlafgemach des Königs. Ptolemaios saß bleich und zitternd auf einem Lager aus Kissen und Decken. Mit beiden Händen hielt er eine Flöte umklammert, so als wolle er sich an dem zierlichen Instrument festhalten.

Er war fast völlig nackt. Ein Kranz aus Weinlaub hing schief in seinem strähnigen Haar, und sein Gesicht war auf seltsame Art geschminkt. Vor ihm auf dem Boden lag Thais. Sie krümmte sich vor Schmerzen und hielt die Hände auf ihr Gesicht gepreßt. Einen Augenblick lang war Philippos versucht, den Herrscher zu fragen, was bei den Göttern er mit der Hetaire gemacht hatte, doch der Arzt beherrschte sich. Es stand ihm nicht zu, einen König und Gott nach seinen Vorlieben im Liebesspiel zu fragen.

Samu kniete schon an der Seite der Frau. Sie versuchte, die Arme der Hetaire zur Seite zu drücken, um ihr ins Gesicht zu sehen. Philippos kam ihr zur Hilfe. Er legte seine lederne Tasche in Griffweite und flüsterte leise. »Es wird wieder gut. Wir werden dir helfen, Thais. Du ...« Die Worte blieben dem Arzt im Hals stecken. Erst jetzt erkannte er, wie die Hetaire gekleidet war. Sie trug den kurzen Chiton einer Artemispriesterin und dazu flache Sandalen. Sie hatte sogar deren Art, sich zu schminken und die Haare zu frisieren, nachgeahmt.

Wenn man sie nicht kannte, mochte man sie durchaus für eine Priesterin des Heiligtums halten.

Erschrocken blickte der Arzt zu Samu. »Hast du gesehen, wie .«

»Ja.« Die Isispriesterin nickte knapp. »Wir haben jetzt anderes zu tun.« Sie hatte diese Worte geflüstert, doch jetzt hob sie ihre Stimme. »Sieh dir ihr Gesicht an!« So wie Buphagos liefen auch der Hetaire blutige Tränen aus den Augen.

»Was ist . mit mir?« Thais Stimme war kaum mehr als ein Hauch.

Philippos beugte sich zu ihr hinab und strich ihr sanft über die Stirn. »Die Priesterin meint nur, daß deine Schminke verlaufen ist. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wir werden dir helfen und dir .«

»Es tut . so weh .«

»Ich werde dir etwas geben, das die Schmerzen vertreibt.« Philippos griff nach seiner Tasche und holte ein kleines Gefäß aus Alabaster hervor.

»Was willst du ihr geben?«

Der Arzt warf der Isispriesterin einen zornigen Blick zu. Sie sollte endlich aufhören, sich in seine Therapien einzumischen.

»Mondtränen. Ein Kügelchen, so groß wie eine Erbse. Es wird ihre Schmerzen vertreiben. Sie wird einschlafen.«

»Du weißt .« Ausnahmsweise lag kein Vorwurf in der Stimme der Priesterin. Sie klang traurig und müde.

»Ja.« Philippos wußte sehr gut, daß Thais wahrscheinlich nicht mehr erwachen würde. Im Schlaf würde ihr Thanatos begegnen und sie mit sanftem Flügelschlag in den Hades hinabgeleiten. Die Maekonos-Pflanze, deren milchigweißen Saft man die Tränen des Mondes nannte, war dem Todesgott geweiht. Er würde Thais freundlich empfangen.

Mit einem Schrei bäumte sich die Hetaire auf und riß sich los.

Wieder preßte sie beide Hände auf die Augen. In Krämpfen zuckend wand sie sich hin und her.

»Hilf uns und halt sie fest!« herrschte Samu Potheinos an, der untätig neben ihnen stand. Die Priesterin versuchte, Thais zu fassen zu bekommen.

Philippos hatte inzwischen aus dem geronnenen und mit Honig versetzten Maekonos-Saft, den er in dem AlabasterTiegel verwahrte, ein kleines Kügelchen gedreht.

Potheinos und Samu war es gelungen, die Hetaire wieder zu Boden zu drücken. Vorsichtig öffnete der Arzt dem Mädchen den Mund und schob ihr die Kugel unter die Zunge. Schwarzrote Tränen aus Blut und Augenschminke rannen ihr zwischen den Fingern hindurch.

»Es tut so . weh .«

»Gleich wirst du schlafen. Isis, die Zauberreiche, wird den Schmerz von dir nehmen und dir schöne Träume schenken.«

Samus Stimme klang sanft und vertrauenerweckend, so als sei jedes Wort wahr, das sie sprach. Ein wenig beneidete Philippos sie darum. Ihm fehlte die Gabe, Sterbenden mit schönen Lügen ihren letzten Weg zu erleichtern. Aber vielleicht glaubte die Priesterin ja wirklich, was sie sagte?

Ein Zittern durchlief den Körper der Hetaire. Ihre Hände glitten ihr vom Gesicht. »Es ist ... so kalt ...« Philippos nahm ihre Rechte und rieb den Handrücken. Die Finger des Mädchens waren tatsächlich kalt. Das Rot unter ihren Nägeln hatte sich dunkel verfärbt. Es würde nicht mehr lange dauern .

»Ich will . noch nicht . sterben . Bitte . jagt sie weg. Sie sollen nicht . näher kommen .«

Thais Finger verkrampften sich. Sie hatte die Augen jetzt weit aufgerissen und sah Philippos direkt ins Gesicht. Der Arzt konnte ihrem Blick nicht standhalten. Er hatte die überhebliche Hetaire nie gemocht, doch ein solches Ende hatte sie nicht verdient.

Er war zu weich! Er hatte schon Hunderte Männer sterben sehen, und doch hatte er nie gelernt, den Tod hinzunehmen.

»Philip . pos . bitte . « Die Stimme des Mädchens war kaum noch zu hören. Ihr Griff löste sich. Sie sank zurück. Fassungslos starrte der Arzt in ihr blasses Gesicht. Was hatte sie getan? War es, weil sie ein Priesterinnenge-wand angelegt hatte, um ihren König zu erfreuen? War das Grund genug für Artemis gewesen, sie mit ihren unsichtbaren Pfeilen niederzustrecken? Thais war jung und dumm gewesen. Kannte die Göttin denn keine Gnade?

»Anubis hat sich jetzt ihrer angenommen. Du kannst ihr nicht mehr helfen.« Samu löste sanft die Hand der Toten aus seinem Griff.

Philippos schluckte. Er wollte etwas sagen, doch brachte er kein Wort über die Lippen.

Samu war überrascht, wie betroffen der Grieche vom Tod der Hetaire war. Es herrschte bedrückende Stille in dem Raum. Schließlich war Ptolemaios der erste, der die Sprache wiederfand. »Woran ist Thais gestorben, Priesterin?«

»An Eurem Hochmut, göttliche Majestät. Sie hat Artemis herausgefordert, um Euch zu gefallen. Seht sie Euch an! So wie Buphagos hat sie keine sichtbaren Wunden davongetragen. Die grausame Göttin von Ephesos hat Thais gerichtet, und ich .«

»Genug, Weib!« fiel ihr Potheinos ins Wort. »Wie kannst du es wagen, dem Pharao Vorhaltungen zu machen. Wir müssen nun besonnen vorgehen! Dieser Todesfall kann uns allen zum Verhängnis werden. Wir müssen um jeden Preis verhindern, daß bekannt wird, wie Thais gestorben ist und welche Kleider sie dabei getragen hat. Zieh sie aus, Philippos! Und du, Samu, wasch ihr das Gesicht! Sie soll aussehen, als würde sie schlafen.«

Ptolemaios räusperte sich leise. »Es ist nicht nötig, daß du an unserer Stelle eine aufsässige Priesterin maßregelst, Potheinos. Und was dich angeht, Samu, so befehlen wir dir, bis zur Mittagsstunde einen Weg zu ersinnen, wie wir den Tod dieser Hetaire erklären können. Schaffst du dies nicht, so werden wir dich noch heute vom Hof verbannen und nach Ägypten zurückschicken. Wir werden dafür sorgen, daß du nie wieder auch nur in die Nähe unserer Tochter Kleopatra gelangst. Wir wissen sehr gut, wieviel sie dir bedeutet. Also sei klug, Priesterin, und füge dich!«

»Ich werde .«

»Es wird nicht schwierig sein, einen Selbstmord bei Thais vorzutäuschen«, unterbrach sie Philippos. »Laßt uns nur machen, Eure göttliche Majestät. Wir beide werden alles zu Eurer Zufriedenheit erledigen. Als Heiler wird jeder unserem Wort glauben, und was wirklich geschehen ist, bleibt ein Geheimnis.«

»Wir sind erfreut zu sehen, daß du ein Mann bist, dem unser aller Sicherheit wichtiger als irgendwelche verdrehten Moralvorstellungen ist. Männer wie du sind eine Bereicherung für unseren Hof, Grieche.«

Samu biß sich auf die Lippen. Sie hatte begriffen, daß jedes Wort, das sie noch gegen den tyrannischen Pharao richtete, sie ihr Leben kosten konnte. Und sie mußte leben, wenn sich die Dinge in Ägypten einmal ändern sollten. Sie hatte Einfluß auf Kleopatra, und die junge Prinzessin würde einst herrschen. Das Mädchen war auf einem guten Weg. Nach Generationen würde sie die erste Herrscherin auf dem Thron von Alexandria sein, die ihr Volk kannte. Die Ptolemaier hatten bislang nicht einmal die Sprache ihres Landes gelernt. Im Palast wurde nur griechisch gesprochen, und die Pharaonen maßten sich die Namen von Göttern an, deren Wesen sie nicht einmal begriffen hatten. Kleopatra jedoch war anders! Sie sprach fließend die Sprache Ägyptens und noch ein halbes Dutzend anderer dazu. Mit Samus Hilfe würde sie in die Mysterien der Isis eingeweiht werden. Schon jetzt, mit ihren vierzehn Jahren hatte Kleopatra tieferen Einblick in die Geheimnisse der Priester, als ihr Vater ihn jemals erlangen würde. Das einzige, was Samu Sorge bereitete, war die Tatsache, daß die Prinzessin auch einen Teil der Verschlagenheit ihres intriganten Vaters geerbt hatte. Sicher würde ihr das nutzen, wenn sie eines Tages Herrscherin war, doch mit all ihrem anderen Wissen mochte sie auch eine Königin werden, die grausamer war als alle Herren, die Ägypten bisher gesehen hatte. Es galt, sie auf den richtigen Weg zu bringen! Und das war ihre Aufgabe, dachte Samu. Diesem Ziel war alles andere unterzuordnen, auch wenn sie sich dafür vor dem Pharao demütigen mußte ... Sollte sie vom Hof verbannt werden, dann würden Männer wie Potheinos versuchen, Kleopatra nach ihrem Bild zu formen. Die Prinzessin war jung und der Eunuch klug .

Widerwillig half Samu Philippos dabei, die Hetaire zu entkleiden. Sie hatte Thais nie gemocht, und doch schmerzte es sie, ihren toten Körper in den Armen zu halten. Sie war fast noch ein Mädchen. Die Priesterin betrachtete die zarten, flachen Brüste der Hetaire. Wahrscheinlich hatte Thais nicht einmal siebzehn Sommer gesehen. Samu konnte sich nicht vorstellen, daß es die Idee des Mädchens gewesen war, in den Gewändern einer Artemispriesterin zum Pharao zu kommen.

Es mußte der Flötenspieler gewesen sein, der sie dazu verführt hatte! Doch warum hatte der Zorn der Göttin dann nicht auch ihn getroffen? Warum hatte Artemis das Mädchen mit ihren Pfeilen gerichtet?

Potheinos brachte eine flache Schale mit Wasser, und wortlos nahm Samu das zarte Kleid, das Thais getragen hatte, um es anzufeuchten und der Toten die blutigen Tränen und die Schminke aus dem Gesicht zu wischen. Sanft schloß sie dem Mädchen die Augen. Der Schmerz und die Angst des Todeskampfes spiegelten sich nicht mehr in ihren Zügen. Es sah fast so aus, als würde sie schlafen.

»Bringt sie auf ihr Zimmer! Wir wollen sie nicht mehr sehen. Nie mehr!«

Philippos nahm das tote Mädchen auf den Arm. Das Gesicht des Griechen erschien der Priesterin grau. Welche Sorgen ihn wohl in dieser Nacht wach gehalten hatten? Ob auch er sich vor dem Zorn der Göttin fürchtete? Würde es noch weitere Tote geben? Schweigend folgte sie dem Arzt.

Potheinos öffnete ihnen die Tür, die auf den Flur vor den Gemächern des Pharao führte. Die dort versammelten Höflinge verstummten sofort.

»Der göttliche Pharao hat Thais verstoßen«, verkündete Potheinos mit fester Stimme. »Sie hat sein Mißfallen erregt und muß bis Sonnenuntergang den Hof verlassen. Der Zorn des göttlichen Herrschers hat sie ihrer Sinne beraubt, denn kein Sterblicher kann den Unwillen eines Gottes ertragen.«

Samu zuckte bei den Worten des Eunuchen zusammen. Kein Sterblicher kann den Unwillen eines Gottes ertragen. Mit ihren Lügen verärgerten der Pharao und er Artemis nur noch mehr. Ob wohl Potheinos der nächste sein würde, den die Pfeile der Jägerin trafen?

Unter den Höflingen erhob sich besorgtes Gemurmel, während sie eine Gasse öffneten, um Philippos und Samu hindurchzulassen.

Mit einem Seufzer legte der Grieche die tote Hetaire auf ihre mit Seide bezogene Kline. Leise fauchend sprang eine kleine Katze zwischen den Laken hervor und verschwand in einem dunklen Winkel des Zimmers. Thais hatte neben ihrem Nachtlager eine Öllampe brennen lassen, ganz so, als habe sie sich wie ein Kind vor der Dunkelheit gefürchtet.

Müde ließ der Arzt seinen Blick durch das Gemach schweifen.

Es war größer als sein eigenes und luxuriöser eingerichtet.

Unverkennbar war Thais dem Pharao sehr wichtig gewesen.

Bis heute abend jedenfalls . Traurig blickte er zu dem toten Mädchen. »Was sollen wir sagen? Wie werden wir bei Hof ihren Tod erklären?«

»Der Zorn des göttlichen Pharao hat sie das Leben gekostet. Potheinos hat uns doch schon einen Weg gewiesen«, erklärte die Priesterin zynisch.

Philippos schüttelte den Kopf. »So leicht können wir es uns nicht machen. Sie muß Wundmale aufweisen, oder es wird wieder zu Gerede über die Pfeile der Artemis kommen.«

»Ich bin Heilerin, Arzt! Wann wirst du begreifen, daß ich keine Leichen verstümmele?«

Der Grieche blickte wütend zur Priesterin. »Du mußt nicht glauben, daß es mir Freude bereitet. Aber wenn wir nichts unternehmen, kann das den ganzen Königshof den Kopf kosten. Ich war diese Nacht in der Stadt, und ich kann dir sagen, daß Ptolemaios und die seinen dort nicht gerade beliebt sind! Gib mir meine Tasche!« Halb riß er Samu die lederne Tasche aus der Hand. Sie machte es sich zu einfach mit ihrem schlichten Bild von Gut und Böse. Verfluchte Priesterin! Er öffnete die Schnallen am Verschluß und zog eines der Messer heraus. Dann ließ er sich neben der Toten auf der Kline nieder und nahm ihren rechten Arm. Seine Hand zitterte leicht, als er die Klinge an Thais Handgelenk ansetzte. Mit einem kurzen Schnitt durchtrennte er ihre Schlagadern. Anschließend nahm er sich den anderen Arm und wiederholte dort die Prozedur.

Mürrisch wischte er die Klinge am Laken sauber und steckte sie in die Ledertasche zurück. Nur wenig Blut tröpfelte aus den Wunden der Hetaire, doch das spielte keine Rolle. Wenn er am Hof erklärte, sie habe sich aus Verzweiflung über die Verbannung das Leben genommen, dann würde man ihm schon glauben. Und sollte es zu einer Untersuchung durch die Priesterinnen der Artemis kommen, so waren die beiden Schnittwunden Beweis genug, um seine Aussage zu untermauern.

Niemand würde sich darum kümmern, daß fast kein Blut ins Bettlaken gelaufen war.

Samu hatte die Öllampe neben der Kline aufgenommen und hielt sie dicht über das Gesicht der Toten. »Wie friedlich sie aussieht.«

Auch Philippos musterte das Antlitz der Hetaire. Man konnte meinen, daß sie schlief. Nur ihre Augenlider waren ein wenig gerötet und geschwollen. Der Arzt mußte an die gräßlichen, schwarzroten Tränen denken, die das Mädchen im Todeskampf vergossen hatte. Mehr als fünfzehn Jahre war er nun schon Arzt, doch so etwas hatte er noch nie gesehen. War das allein nicht schon Zeichen genug, daß hier eine Göttin am Werk war? Schaudernd wandte er sich ab. Vielleicht war es nicht klug, noch länger am Hof des Ptolemaios zu verweilen.

»Hast du Angst vor dem Sterben?« Die Frage der Priesterin kam für Philippos völlig überraschend. Verlegen räusperte er sich. Seitdem er die Legionen verlassen hatte, hatte er sich nicht mehr viele Gedanken über den Tod gemacht. Irgendwie war er immer davon ausgegangen, daß er alt werden würde. Schließlich war er ein Arzt!

»Wie kommst du darauf?«

»Ich hatte den Eindruck, daß du über den Tod nachdenkst. Jedenfalls ging es mir so, als ich Thais gerade ins Gesicht gesehen habe. Ich fürchte den Tod nicht, doch ich hätte Angst, so qualvoll wie sie sterben zu müssen. Glaubst du auch, daß es die Göttin war, die Thais gerichtet hat?«

Philippos zuckte mit den Schultern. »Wer sollte es sonst gewesen sein? Wer tötet, ohne Wunden zu hinterlassen?«

»Und wenn sie vergiftet worden sind? Denk nur an die Krämpfe, die das Mädchen vor seinem Tod hatte. Hast du schon einmal jemanden an Gift sterben sehen?«

Philippos schüttelte den Kopf. Das war nicht die Art, in der man im Krieg tötete. Er hatte alle Arten von Hieb- und Stichwunden behandelt und hatte mitangesehen, wie die Soldaten zu Dutzenden an irgendwelchen Seuchen krepierten, doch mit Giftmorden hatte er sich nicht einmal in der Theorie beschäftigt. So etwas hatte keinen Platz in seinem Leben!

»Ich habe zweimal erlebt, wie jemand vergiftet wurde.« Samus Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Im Palast ist das keine seltene Art, aus dem Leben zu scheiden. Meistens haben die Opfer große Schmerzen, bevor der Tod sie erlöst.«

»Und wer sollte ein Interesse am Tod der Kleinen haben?«

Samu zog eine Grimasse. »Sie war jung, und der Pharao war völlig verrückt nach ihr. Was glaubst du, wie viele Hofdamen eine Träne um sie vergießen werden? Ptolemaios hatte nur noch Augen für sie! Vielleicht war sogar Potheinos eifersüchtig auf sie, weil sie mehr Einfluß auf den Neuen Osiris hatte als er.«

»Unsinn!« Philippos schüttelte den Kopf. »Buphagos ist auf die gleiche Art gestorben wie sie. Wo besteht der Zusammenhang? Welche Hofdame könnte ein Interesse daran haben, daß dieser Langweiler in den Hades geht?«

»Man erzählt sich, daß dieser Langweiler, wie du ihn nennst, eine Affäre mit Thais hatte.«

Philippos lachte laut auf. »Thais und Buphagos? Niemals! Was sollte er gehabt haben, das die Kleine interessieren könnte.«

»Beziehungen! Ich erinnere mich, daß er es war, der Thais an den Hof geholt hat. Das geschah, kurz bevor Ptolemaios aus Alexandria vertrieben wurde. Eigentlich war sie eine Tänzerin und Flötenspielerin. Ohne die Hilfe des Mundschenks wäre sie wohl nie auch nur in die Nähe des Pharao gelangt.«

Der Grieche strich sich nachdenklich über den Bart. Das alles ergab für ihn keinen rechten Sinn. »Nehmen wir einmal an, Thais wäre ihr alter Fürsprecher lästig geworden, weil sie inzwischen höher in der Gunst des Pharaos stand als ihr früherer Schutzherr. Wenn Buphagos ihr lästig geworden wäre, hätte sie vielleicht ein Interesse daran gehabt, ihn zu töten. Doch warum sollte sie sich anschließend auf die gleiche Weise umbringen?«

»Und wenn es einen Dritten gibt?«

»Wer sollte das sein? Ich glaube, du verrennst dich in . « Ein Geräusch ließ Philippos herumfahren. Etwas auf dem Tisch am Fenster war umgestürzt.

Samu hielt die Öllampe hoch. Ein Schatten huschte vom Tisch auf den Boden und verschwand unter der Kline. »Die Katze!«

Philippos nickte. Noch immer starrte er auf den Schminktisch. Zwei Spiegel reflektierten das Licht des Lämpchens. »Kommst du mal herüber?«

Die Priesterin blickte ihn fragend an. »Was ist denn?«

»Der Tisch . ich möchte ihn mir gerne näher ansehen. Ich glaube, Thais war eine Diebin!«

Im Licht der Öllampe erkannte der Grieche den Spiegel, den er in der Kammer des Buphagos gesehen hatte. Daneben lag umgestürzt das hölzerne Salbgefäß, das wie ein Lastkorb auf dem Rücken eines knienden Sklaven angebracht war. Philippos richtete die kleine Skulptur wieder auf und verschloß den Deckel des Gefäßes. »Die Katze muß das Ochsenfett in der Salbe gerochen haben. Sie wollte wohl davon naschen und hat es dabei umgestoßen.«

»Wie nachlässig von Thais, das Töpfchen nicht zu schließen.«

Samu griff nach dem kostbaren Kleinod und betrachtete es bewundernd. »Was für eine prächtige Arbeit! Es sieht aus, als sei es für einen Pharao gemacht.«

»Und doch gehörte es nur einem Mundschenk . Ich habe es gestern in Buphagos’ Zimmer gesehen. Auch der Spiegel dort vorne mit der tierohrigen Frauengestalt und die beiden Schminktiegel daneben haben einmal dem Mundschenk gehört. Thais hat das alles gestohlen.«

»Vielleicht hat Buphagos sie auch zu seiner Erbin ernannt. Du weißt doch, daß sie auch seine Geliebte war.«

»Eine solche Angelegenheit wäre niemals ohne Pothei-nos abgewickelt worden. Als höchster Beamter bei Hofe wäre er dafür zuständig gewesen.«

Samu lächelte. »Und was hätte er getan? Einen Teil des Erbes für seine Mühen behalten. Vermutlich ein oder zwei der schönsten Stücke. Und es wäre nichts weiter geschehen, als daß man die Habe des Toten unter seiner Aufsicht von einem Zimmer in ein anderes getragen hätte. Ich kann schon verstehen, wenn Thais diese Angelegenheit lieber ohne die Hilfe dieses Geiers erledigt hat.«

»Und was wird jetzt mit den Sachen geschehen?« Philippos blickte auf den kostbaren Spiegel aus Gold und Silber. Wahrscheinlich wußte noch niemand, daß er zum Besitz der Hetaire gehörte. Folglich würde ihn auch niemand vermissen ...

»Du denkst doch nicht etwa daran, etwas mitgehen zu lassen?«

Philippos verzog beleidigt das Gesicht. »Was denkst du von mir, Priesterin? Ich bin ein Mann von Ehre!«

Samu lächelte. »Ich kenne dich lange genug, um darüber keine Diskussion mit dir zu beginnen. Doch solltest du dir abgewöhnen, Hathor, die goldene Himmelsgöttin und Herrin des Fremdlandes, eine tierohrige Frau zu nennen. Sollte Ptolemaios tatsächlich eines Tages wieder in Alexandria herrschen, dann wirst du dir mit solchen Bemerkungen unter den Ägyptern im Palast keine Freunde machen.«

»Ich werde es mir merken«, entgegnete der Arzt verärgert.

Diese Priesterin war kaum zu ertragen! Wen hätte es schon gestört, wenn er den Spiegel an sich genommen hätte. Jetzt würde ihn jemand anderes stehlen! Kurz überlegte Philippos, ob er vielleicht noch einmal zurückkommen sollte, wenn Samu gegangen war. Doch dann verwarf er den Gedanken wieder. Er würde sich nicht die Blöße geben, daß die Priesterin vielleicht eines Tages Diebesgut unter seinem Besitz fand.

»Wollen wir gehen?« Samu hatte sich vom Schminktisch abgewandt und stand bereits neben der Tür.

Philippos folgte ihr. Noch einmal betrachtete er die schöne Thais. Im gelben Licht der Öllampe wirkte sie nicht einmal blaß. Unter ihren Handgelenken hatte sich das Seidentuch, das über ihre Kline gebreitet war, dunkel verfärbt. Was für eine Verschwendung! Sie hätten sie auf den Stuhl setzen sollen.

Die Blutflecken würde man nie wieder aus der Seide herauswaschen können, und das Tuch war mindestens sein Gewicht in Gold wert! Dicht neben dem Kopf der Toten kauerte die kleine graue Katze. Sie leckte Thais die Wange, so als wollte sie ihre Herrin wecken. Schließlich gab sie auf, rollte sich neben der Toten zusammen und legte ihren Kopf auf die rechte Schulter der Hetaire.

»Was sollen wir mit ihr machen?«

Samu zuckte mit den Schultern. »Lassen wir sie hier. Soll sie die Totenwache halten. Wir können nicht mehr bleiben. Falls irgendwelche neugierigen Sklaven das Zimmer beobachten, machen wir uns verdächtig, wenn wir noch länger verweilen.«

»Die Totenwache!« Philippos biß sich auf die Lippen, um nicht laut zu fluchen. »Wir können Thais doch nicht einfach so liegen lassen! Du bist Priesterin, Samu! Du weißt, was geschehen kann, wenn man die Toten ohne Ehrenwache sich selbst überläßt!«

Die Priesterin zögerte einen Moment, dann nickte sie. »Du hast recht!« Mit flinken Schritten durchquerte Samu das Zimmer, kramte kurz zwischen den Schminktiegeln herum und kam dann mit einem kleinen Töpfchen aus rotem Stein zurück.

»Was hast du vor?«

»Wenn unsere Toten in das Reich des Westens gehen, dann ist es üblich, sie mit Amuletten gegen all die Widrigkeiten zu schützen, die ihnen auf diesem Weg begegnen können. Eines der wichtigsten Amulette ist das Tel, das auch das Isis-Blut genannt wird. Es wird normalerweise aus Jaspis oder Karneol gefertigt, doch ich hoffe, ein wenig rote Schminke wird ausnahmsweise denselben Zweck erfüllen.« Die Priesterin tauchte ihren Zeigefinger in das Schminktöpfchen und malte dann ein seltsames Zeichen zwischen die Brüste der Toten.

»Dein Blut gehört Dir, Isis,

Deine Zaubermacht gehört Dir, Isis,

Deine Zauberkraft gehört Dir, Isis.

Das Amulett ist der Schutz dieser Großen und behütet sie vor dem, der Verbrechen an ihr begeht.«

Einen Moment noch verharrte die Priesterin schweigend, dann endlich gab sie ein Zeichen zu gehen, und Philippos war froh, sich auf sein Zimmer zurückziehen zu können. Es war ihm unheimlich mitanzusehen, wie Samu ihre Magie ausübte, und in Momenten wie diesen fragte er sich, ob er überhaupt nach Ägypten wollte, denn dort in der Heimat dieser seltsamen tierköpfigen Götter würde die Priesterin gewiß noch viel mächtiger sein.

Im Atrium trennten sich die beiden. Es würde nicht mehr lange bis zum Morgengrauen dauern, und als Philippos sich endlich auf seiner Kline ausstreckte, schlief er fast sofort ein.

Das letzte, woran er dachte, war der prächtige Spiegel aus Gold und Silber. Hätte er ihn nur schon im Zimmer von Buphagos an sich genommen! Mochten die Götter wissen, wer sich dies kostbare Kleinod jetzt aneignete.

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