12. KAPITEL

Philippos saß erschöpft im Hof des Tempels. Neben ihm kauerte der Eshmun-Priester, der geholfen hatte, die Wunde von Abimilku zu versorgen. Er reichte dem Griechen einen kleinen, tönernen Wasserkrug, aus dem er getrunken hatte. Dankbar lächelnd nahm der Arzt ihn an.

Seine Kehle war wie ausgedörrt. Es war Stunden her, seit er zum letzten Mal etwas getrunken hatte.

»Man sagte mir, du seist Söldner ...« Der Priester blinzelte Philippos freundlich an. Sein Gesicht wirkte offen, und er schien ein aufrechter Mann zu sein. Wie alle Priester im Tempel hatte auch er seinen Kopf kahlrasiert. Seine Augen waren mit dunkler Schminke umrandet. Er trug ein mit dicken Fransen geschmücktes Wickelgewand, das ganz ähnlich wie eine Toga geschnitten war.

Der Grieche nickte. »Das stimmt. Doch ich habe genug Tod und Unheil gesehen. Ich bin auf der Flucht vor dem Krieg und suche nach einer Heimat, in der ich ein Leben in Frieden führen kann.«

Der Priester wiegte den Kopf hin und her. »Ich habe schon viele Soldaten gesehen, doch bei dir scheint es mir, als könntest du besser Wunden verbinden, als sie schlagen. Das ist eine ungewöhnliche Begabung für einen Söldner. Nicht nur, daß du vorhin wußtest, daß man eine Blutung mit einem Brandeisen stillt, du wußtest auch genau, wo es anzusetzen war, um die Brandwunde möglichst klein zu halten. Du bist ein würdiger Gast im Haus des Eshmun. Manch ein Priester hier versteht sein Handwerk schlechter als du.«

Philippos musterte sein Gegenüber verstohlen. Was wollte der Priester? Wozu diese Fragen?

Der Eshmun-Priester lächelte, ganz so, als habe er Philippos’ Gedanken gelesen. »Mich interessiert es nicht, warum du dich als Söldner ausgibst. Vielleicht verstehst du ja auch etwas vom Kriegshandwerk, doch vor mir brauchst du dich nicht zu verstellen. Du bist ein Heilkundiger, Grieche, und als solcher bist du immer willkommen in diesem Tempel. Wußtest du, daß manche Gelehrte Eshmun mit dem griechischen Gott Asklepios gleichsetzen? Du bist hier unter Gleichgesinnten, und ich würde mich glücklich schätzen, einen Mann wie dich im Tempel zu Gast zu haben. Wenn du also jemals eine Zuflucht brauchst oder einfach nur jemanden suchst, mit dem du reden kannst, dann komm’ hierher und frage nach Chel-bes. Deine Kunst macht dich zu meinem Bruder, und ich schwöre vor dem Angesicht Eshmuns, daß ich niemals einen Verrat an dir begehen würde.«

»Dein Angebot ehrt mich, Chelbes, doch fürchte ich, daß du mein Können überschätzt. Auch wenn du Zweifel haben magst, so kann ich bei Zeus schwören, daß ich zwanzig Jahre lang Soldat gewesen bin.« Das war ja auch nicht gelogen, dachte Philippos bei sich. Er war in der Legion gewesen und hatte als Soldat lediglich eine besondere Aufgabe erfüllt, wenn er als Arzt gedient hatte. Trotzdem war er oft genug in Kämpfe verwickelt gewesen und hatte das Handwerk des Kriegers gelernt, noch bevor seine Begabung als Heilkundiger aufgefallen war.

Chelbes musterte ihn mit gerunzelter Stirn und schüttelte den Kopf. »Sollte ich mich in dir so getäuscht haben? Wie dem auch sei, vor den Toren des Tempels wartet ein bärtiger Taucher auf dich. Er soll dich zum Haus von Abimilku bringen. Den Kapitän haben seine Freunde schon nach Hause gebracht. Sorge dafür, daß man sich dort gut um seine Wunde kümmert. Du sollst wissen, daß der Biß des Schlangenfisches sehr gefährlich ist. Meistens zieht eine solche Verletzung üble Säfte an. Die Wunde kann brandig werden und zum Tode führen. Deshalb ziehen meine Brüder es vor, bei einer Verletzung durch diesen Fisch das betroffene Körperglied zu amputieren. Ich habe mich von dir überreden lassen. Nun sorge dafür, daß die Angelegenheit auch gut ausgeht.«

»Ich werde meine ganze Kunstfertigkeit in den Dienst des Schiffers stellen.«

»Ich habe nichts anderes von dir erwartet, Philippos. Möge Eshmun seine Kraft in deine geschickten Hände legen.« Der Priester verneigte sich und verließ dann den Tempelhof.

Besorgt blickte Philippos ihm nach. Ein falsches Wort des Priesters, und keiner würde die Geschichte über seine Vergangenheit als Söldner mehr glauben. Aber hätte er zulassen sollen, daß die Priester Abimilku den Arm amputierten? Er war Heilkundiger und hatte einmal geschworen, sein Wissen immer zum Besten der Menschen einzusetzen und Leid zu mildern, wo es in seiner Macht stand. Abimilku war noch ein junger Mann. Philippos hatte einfach nicht zulassen können, daß ein paar übereifrige Priester ihn zum Krüppel machten.

Falls sich üble Säfte in der Wunde bildeten, konnte man den Arm immer noch amputieren. Doch seiner Meinung nach waren die Aussichten gut, daß dem Kapitän dieses Schicksal erspart bleiben würde.

Mit einem Seufzer erhob sich der Grieche. Wenn er sich durch seine Hilfe verraten hatte, dann war es der Wille der Götter! Die Unsterblichen hatten ihn in diese schwierige Lage gebracht! Warum nur konnte sein Leben niemals einfach sein? Er dachte an Neaira. Wie es ihr wohl ergangen war? Ob sie jetzt Hunger und Not litt? Philippos hatte ein Gefühl, als wolle eine unsichtbare Faust ihm den Hals zudrücken. Er wünschte, er wäre jetzt an ihrer Seite. Alles Gold des Pharaos würde er dafür geben! Voll hilfloser Wut ballte er die Fäuste. Er sollte besser in das Haus des Kapitäns gehen. Jetzt würden ihm die Fischer freundlich gesonnen sein! Es würde kein Problem sein, sie über die Purpurhändler auszuhorchen. Wenn er Abimilkus Arm rettete, dann würden sie ihn als einen der ihren aufnehmen. Und er, er würde sie hintergehen und benutzen, grübelte Philippos. Doch das war ihm gleichgültig! Alles, was zählte, war so schnell wie möglich den Giftmörder zu finden und dann nach Ephesos zurückzukehren. Wenn nicht zu viel Zeit bis zu seiner Rückkehr verging, dann mochte es ihm vielleicht gelingen, herauszufinden, wohin Neaira gegangen war, nachdem man sie aus der Stadt vertrieben hatte. Sie war ihm wichtiger als ein Posten als Hofarzt! Warum hatte er das nicht schon vor zwei Wochen begreifen können? Dann wäre alles ganz anders gekommen!

Als Philippos durch das Tempelportal trat, wurde er bereits vom bärtigen Taucher erwartet. Der große Mann lachte ihn an und schloß ihn übermütig in die Arme. »Du hast meinem Schwager das Leben gerettet. Ich weiß, daß er sich umgebracht hätte, wenn sie ihm den Arm abgeschnitten hätten. Man sagt, daß die Priester es nur deinetwegen nicht getan haben, Grieche.«

»Gerede.« Philippos befreite sich aus der Umklammerung des Hünen und winkte müde ab. »Wäre der Priester Chelbes nicht im Grunde derselben Meinung gewesen wie ich, dann hätte ich einen ganzen Tag reden können, ohne daß es etwas genutzt hätte.«

»Du hast sogar den Hohepriester des Eshmun überzeugen können?« Der Taucher pfiff durch die Zähne und schlug dem Griechen auf die Schulter. »Bei Melkart, du tauchst zwar so schlecht wie eine alte Katze, aber die Götter scheinen dir eine goldene Zunge geschenkt zu haben, wenn du sogar Chelbes überzeugen konntest.«

»Ich habe mit keinem Hohepriester gesprochen«, ent-gegnete der Arzt ärgerlich. »Chelbes hat nicht anders ausgesehen als die anderen Priester auch.«

»Du kannst mir erzählen, was du willst, Grieche! Sei doch nicht so bescheiden! Es gibt nur einen Priester im Tempel des Eshmun, der Chelbes heißt, und das ist der Hohepriester.« Philippos schluckte. Das durfte nicht wahr sein! Warum zum Zeus hatte er ausgerechnet an den Hohepriester des Tempels geraten müssen? Als Vorsteher des Tempels mußte Chelbes zu den einflußreichsten Männern in der Stadt zählen. Vielleicht gehörte er am Ende gar zu den Verschwörern, die Ptolemaios das Gift geschickt hatten. Als Hohepriester des Gottes der Heilkunst kannte er sich vermutlich besser als jeder andere Tyrener in Giften aus. Wer immer sich mit der Heilkunde befaßte, der lernte auch von den verderblichen Kräften der Pflanzen und Mineralien. Wenn Chelbes seinem Gott wirklich so treu ergeben war, wie es den Anschein hatte, würde er sich dann dazu hinreißen lassen, auf so heimtük-kische Weise ein Leben zu zerstören? Philippos wußte nichts über den Kult des Eshmun, doch konnte er sich nicht vorstellen, daß ein Gott der Heilkunde einen Giftmord billigen würde.

»Was ziehst du nur für ein Gesicht, Grieche! Du hast meinen Schwager gerettet. Heute ist ein Festtag! Komm mit mir, es wird Wein geben, und wir werden ein Lamm schlachten. Wir werden feiern wie die persischen Satrapen!«

Der Arzt nickte müde. Vielleicht war es das beste, Dionysos zu huldigen und alle Sorgen im Weinrausch zu ertränken. Für die Purpurtaucher war er heute ein Held. Er sollte das genießen! Zeus allein wußte, wie viele Feste er noch feiern konnte, wenn Chelbes tatsächlich zu den Verschwörern gehörte und ihn verdächtigte, ein Spitzel zu sein.

Das Haus des Elagabal lag inmitten eines kleinen Gartens, den jahrelange Sklavenarbeit dem felsigen Boden der Insel abgetrotzt haben mußte. Der Kaufmann hatte Samu am Abend eine Sänfte geschickt und sie zu einem Festmahl eingeladen.

Einige Augenblicke lang hatte die Priesterin gezögert, die Einladung anzunehmen. Die Nachstellungen des jungen Mannes machten sie verlegen. Zugleich fand sie seine aufdringliche Art abstoßend. Doch war das Festmahl bei Elagabal nicht ein Geschenk der Göttin? Auf diese Weise wurde sie unter den Handelsherren der Stadt eingeführt und hätte vielleicht sogar Gelegenheit, den einen oder anderen unter ihnen auszuhorchen, überlegte Samu.

Obwohl die Träger auf sie warteten, nahm sich die Priesterin eine ganze Stunde Zeit, um sich zu schminken, ihr Haar kunstvoll zu flechten und ihr bestes Kleid anzulegen. Auch trug sie die wenigen Schmuckstücke, die sie besaß. Die prächtige, breite Halskette aus roten Karneol und himmelblauen Lapislazuli und den goldenen Schlangenarmreif, den ihr einst ihr Liebster geschenkt hatte, bevor er zur unsicheren Nabatäergrenze im Osten abkommandiert worden war. Was aus Hophra wohl geworden sein mochte? Gedanken, von dunklen Schwingen getragen, zogen ihr durch den Sinn. Ob Hophra tot war? Und konnte sie Elagabal trauen? War es ein Zufall, daß sie sich getroffen hatten, oder hatte der reiche Kaufmann nach ihr gesucht? Vielleicht hatte er durch Abdoubast, den Kapitän des Lastenseglers, mit dem sie nach Tyros gekommen war, erfahren, daß eine Gesandte des Ptolemaios in der Stadt weilte. Falls Elagabal in den Anschlag auf den Pharao verwickelt war, würde es ihm kaum schwerfallen, zu erraten, weshalb sie gekommen war.

Samu bekämpfte die aufsteigende Angst. Wenn sie herausfinden wollte, wer das Gift geschickt hatte, mußte sie zwangsläufig mit den Kaufleuten verkehren. Einem von ihnen hatte das Schiff gehört, mit dem die falschen Geschenke nach Ephesos gekommen waren. Es nutzte also nichts, davonzulaufen!

Schließlich war sie in die Sänfte gestiegen und hatte sich zum Haus des Handelsherren bringen lassen. Im Garten erwartete sie ein prächtig gewandeter Diener, der sie durch das Haus auf einen Innenhof führte, dessen Wände mit bunt glasierten Ziegeln geschmückt waren. Die Ziegelreliefs zeigten stilisierte Palmen und Blumen, so daß man, obwohl in diesem Hof nichts wuchs, die Illusion haben mochte, erneut in einem Garten zu stehen.

»Ah, meine schöne Priesterin! Mein Herz geht über vor Freude, Euch in meinem bescheidenen Haus zu sehen.« Elagabal war durch eine der gegenüberliegenden Türen auf den Hof getreten. »Darf ich Euch zu meinen anderen Gästen geleiten?«

Mit beschwingtem Schritt führte der Kaufmann sie durch sein großes Haus, zeigte ihr Wandreliefs, die er aus verfallenen syrischen Palästen mitgebracht hatte, kostbare, rotfigurige Amphoren aus Athen und Korinth sowie Elfenbeinschnitzereien aus dem fernen Indien. Endlich betraten sie das Triclinium, wo sich die anderen Gäste des Kaufmanns aufhielten. Es war ein Saal, dessen nördliche Seite von Säulen getragen wurde und sich zum Garten hin öffnete. Mehr als zwanzig Gäste, die es sich auf Klinen an niedrigen Tischen bequem gemacht hatten, waren zu dem Fest gekommen. Es waren allesamt Männer. Die meisten von ihnen starrten die Priesterin mehr oder weniger unverhohlen an, als sie mit Elagabal eintrat.

»Ihr werdet den Ehrenplatz an meiner Seite erhalten«, erklärte der Kaufmann lächelnd, führte sie zu einem Tisch, der ein wenig abseits stand, und ließ sich auf der breiten Kline nieder.

So blieb Samu nichts anderes übrig, als sich zu dem feisten jungen Mann zu legen. Auf den linken Arm aufgestützt, streckte sie sich auf die mit purpurnem Stoff bezogene Liege. Elagabal lag leicht versetzt hinter ihr, so daß er mit seiner Rechten ihren linken Arm streifte, als er zum ersten Mal nach den Datteln auf dem Tisch vor der Kline griff. Er war ihr so nah, daß Samu trotz des schweren Parfüms, das der Phönizier benutzte, den sauren Schweiß unter seinen Achseln riechen konnte.

»Meine Liebe, darf ich Euch unsere Tischgefährten vorstellen?« Elagabal wedelte wieder auf die ihm eigene, affektierte Art mit seiner Rechten und wies dann auf den Mann, der ihnen gegenüber lag. »Dies ist der ehrwürdige Archelaos, der Hohepriester der Theokratie von Comana und ein besonderer Freund des Gnaeus Pompeius.« Archelaos runzelte verärgert die Stirn, doch Elagabal fuhr ungerührt fort. »Eigentlich ist er der Gast meines Rivalen Iubal, aber für diesen Abend hat er sich dazu durchringen können, mir die Ehre zu erweisen. Zu seiner Rechten liegt Iubal, der mich eigentlich nicht leiden mag. Doch offenbar mochte er seinen erlauchten Gast nicht allein an meiner Tafel speisen lassen. Man sagt, er sei der reichste Kaufmann in Tyros, doch ich habe meine Zweifel.«

Iubal, ein kleiner, schlaksiger Mann von vielleicht vierzig Jahren, hob seinen Weinpokal, so als wolle er Elagabal zuprosten.

»Aber, aber, mein Freund! Du kennst doch meinen Wahlspruch. Wer wirklich reich ist, hat es nicht nötig, darüber zu reden. Lassen wir dieses leidige Thema doch für den Abend.«

»Wie man hört, ist er einer der geschicktesten Rhetoriker in der Boyie, dem Rat der Hundert, der über das Schicksal unserer Stadt bestimmt.« Die Stimme des Gastgebers war einen Moment lang kühler geworden, doch dann verfiel er wieder in seinen frechen Plauderton. »Der unverschämt gutaussehende junge Mann dort vorne ist Oiagros, mein bester Kapitän. Er behauptet, daß seine Urahnin eine Nymphe gewesen sei und daß er vom ältesten thrakischen Königsgeschlecht abstamme, doch ich bin eher der Meinung, daß seine Stammutter eine Nereide gewesen sein muß, denn kein Sturm vermag ihm etwas anzuhaben, und selbst bei widrigster See hat er meine Schiffe bisher stets unbeschadet in den Hafen gebracht. Der ehrwürdige Greis an seiner Seite aber ist Azemilkos, der Hohepriester des Melkart, des Schutzgottes unserer Stadt. Wo so viele Priester um einen Tisch versammelt sind, werden die Götter unserem kleinen Fest heute abend sicher wohl gesonnen sein.« Elagabal lachte als einziger über seinen Scherz und griff nach den Datteln auf dem Tisch.

»Mir scheint, Ihr habt schon reichlich getrunken«, entgegnete der greise Priester eisig. »Sonst würdet Ihr wohl nicht auf diese respektlose Art von den Göttern sprechen. Ich hoffe, Ihr habt dem Melkart ein Opfer gebracht, bevor Ihr Euer Haus den Gästen geöffnet habt.« Das Gesicht des Alten sah zum Fürchten aus. Sein Schädel war kahlgeschoren, und seine welke Haut spannte sich so straff über die Knochen, daß sein Antlitz Samu an die Züge alter Mumien erinnerte. Anstelle von Augen klafften zwei rote, vernarbte Höhlen in seinem Kopf.

»Seid Ihr die Priesterin, die heute morgen im Tempel war, um dem Melkart eine Wachtel zu opfern?«

»So ist es«, entgegnete Samu und hoffte, daß er ihrer Stimme nicht den Ekel anhörte, den sie vor ihm empfand. »Ich sehe, daß Eure Priester Euch wohl unterrichten, Eure Erhabenheit.«

»Nur weil ich blind bin, heißt das nicht, daß ich nicht wüßte, was um mich herum geschieht. Ich selbst habe mir mit einem Opferdolch das Augenlicht genommen, um meinem Gott näher zu sein und nicht durch all das schnöde Blendwerk, das geschaffen ward, die Sinne der Sterblichen zu verwirren, von der Erkenntnis des wahrhaft Göttlichen abgelenkt zu werden. Doch genug davon! Im übrigen würde ich vorschlagen, daß wir darauf verzichten, einander mit Ehrennamen und Titeln anzusprechen, denn auch dies sind nur leere Hüllen, die fast nichts über das Wesen der vermeintlichen Würdenträger aussagen. Oder sollte es jemanden in dieser Runde geben, der darauf beharrt, daß wir die Förmlichkeiten beibehalten?«

Samu musterte die Gesichter der Anwesenden verstohlen, während sie sich vorbeugte, um nach den Datteln auf dem Tisch zu greifen. Iubal und der Priesterkönig Archelaos tauschten Blicke aus. Offenbar war der Hohepriester und Herrscher von Comana von der Rede des Alten einigermaßen verblüfft. Für das hohe Amt, das Archelaos bekleidete, war er noch sehr jung. Er hatte dunkle Haut, und ein kurzgeschorener Bart rahmte sein Gesicht. Sein schwarzes Haar war leicht gelockt und fiel ihm bis weit über die Schultern hinab.

Fast jeden seiner Finger schmückte ein Ring, und um seinen Hals hing eine schwere goldene Kette. Sein Gewand bedeckte seine Arme nicht, so daß man erkennen konnte, wie erstaunlich muskulös er für einen Priester war. Wahrscheinlich stand er dem wettergegerbten Oiagros kaum an Kraft nach.

»Nun, da mir keiner widerspricht, gehe ich davon aus, daß es keine Einwände gegen meinen Vorschlag gibt.« Azemilkos lächelte, was seinem Gesicht eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem grinsenden Totenschädel verlieh. »Würdest du mir die Ehre erweisen, mir deine rechte Hand zu reichen, Priesterin?«

Samu blickte verblüfft zu Elagabal, doch dieser schien genauso verwundert zu sein wie sie. Mit einem unguten Gefühl folgte sie der Aufforderung des Hohepriesters. Wie die Kralle eines Raubvogels schnappte seine Hand nach ihr. Azemilkos hatte lange, gelbe Fingernägel. Mit ihnen strich er Samu über den Handrücken.

»Wende deine Hand bitte, so daß ihre Innenfläche zur Decke weist, sonst kann ich nicht in ihr lesen.«

Stumm gehorchte Samu. Sie hatte das Gefühl, als krieche ihr eine große Spinne über die Hand, als Azemilkos über ihre Finger tastete.

Der Hohepriester lachte leise. »Hast du Angst vor mir, Priesterin? Deine Hand ist ganz feucht.«

»Sollte ich das?« Samu starrte in seine vernarbten Augenhöhlen und betete stumm zu Isis, daß die Zauberreiche sie vor der Macht des Hohepriesters schützen möge.

»Die Göttin ist stark in dir, Samu. Da ist ein Schatten, den das Licht des Melkart nicht zu durchdringen vermag.

Ich sehe eine Frau in einem weißen Gewand und einen Mann, der einen Kopf wie ein Schakal hat. Sie beide ringen um dich, Samu! Ein ...«

Mit einem Aufschrei riß Azemilkos seine Hand zurück.

»Was ist geschehen?« Elagabal war aufgesprungen und kniete neben der Kline des Hohepriesters. Die anderen in der Runde starrten mit schreckensweiten Augen auf Samu.

Auch die Priesterin konnte sich nicht erklären, was der alte Mann hatte. Sie hatte weder etwas Ungewöhnliches gespürt noch einen Schutzzauber gegen ihn gewirkt. Spielte er womöglich nur mit ihr? Sein Atem ging keuchend, doch das konnte vorgetäuscht sein. Sie sollte vor ihm auf der Hut sein!

»Laß mich in Frieden, Elagabal. Mir fehlt nichts!« krächzte Azemilkos wütend, dann wandte er sich Samu zu. »Sag mir, woher kommst du, Priesterin!«

»Aus Ägypten. Ich bin Priesterin im Tempel von .«

»Wie sahen die Ohren des hundeköpfigen Mannes aus?« unterbrach sie Archelaos. »Welche Form hatten sie?«

»Was fällt dir ein, ihr ins Wort zu fallen«, giftete Aze-milkos ihn an. »Wozu ist das überhaupt von Bedeutung?«

»Sag mir, wie die Ohren aussahen, und ich sage dir, was es damit für eine Bewandtnis hat, alter Mann«, entgegnete der Priesterfürst arrogant.

Azemilkos runzelte die Stirn. Eine dicke Ader schwoll an seiner Schläfe an. »Seine Ohren waren in der Tat ungewöhnlich. Sie waren nicht spitz, sondern eckig, so als hätte man sie abgeschnitten. Ich hoffe für dich, daß du jetzt eine Geschichte zu erzählen hast, die mich deine hochfahrende Rede vergessen läßt.«

Archelaos lächelte triumphierend. »Hätte der Gott, von dem du sprachst, spitze Ohren gehabt, so wäre es Anubis gewesen. Er hat den Kopf eines Schakals und geleitet die Toten hinab in das Reich des Osiris. Die seltsamen Ohren aber, die du beschrieben hast, gehören zu Seth, dem Gott der Zerstörung, dem Wächter in der Barke der Millionen Jahre und dem Mörder des Osiris. Seth ist der Schutzherr Berenikes. Wenn du ihn in deiner Vision gesehen hast, dann erübrigen sich alle anderen Fragen an die Priesterin, Azemilkos. Sie steht auf seiten der neuen Herrscherin, und wir können ihr trauen.«

Verwundert blickte Samu zu dem jungen Priesterfürsten. »Du kennst dich erstaunlich gut mit den Göttern meines Landes aus.«

Archelaos setzte ein überhebliches Lächeln auf. »Sagen wir, ich habe vor einiger Zeit meine Leidenschaft für Ägypten entdeckt und .«

»Was hältst du eigentlich von den Römern, Priesterin?« Iubal, der schmächtige Kaufmann an der Seite des Priesterfürsten, war Archelaos unvermittelt ins Wort gefallen, so als wolle er ihn daran hindern, weiterzureden.

»Bei Hof betrachtet man die Entwicklung in Rom mit großer Sorge. Wie ihr vielleicht wißt, hat die Königin Berenike vor einigen Monaten eine große Gesandtschaft nach Italien geschickt, um vor dem Senat ihr Anrecht auf den Thron zu rechtfertigen. Doch die Römer haben geduldet, daß man die Gesandten ermordete. Man sagt, daß Pompeius und der geflohene Pharao Ptolemaios für diese schändliche Bluttat verantwortlich seien. Pompeius war begierig darauf, mit seinen Legionen den Flüchtling auf den Thron zurückzuführen. Doch geht es ihm dabei nicht um Gerechtigkeit, sondern es ist allein das Gold Ägyptens, das ihn lockt. Ganz ähnlich sieht es mit dem zweiten mächtigen Mann aus, Crassus. Man sagt, daß er den Aulus Gabinius als Proconsul von Syrien ablösen soll.

Angeblich hat Crassus schon jetzt begonnen, neue Legionen auszuheben. Man munkelt, er plane einen Krieg gegen die Parther, doch vielleicht ist auch er versucht, sich zunächst einmal das Gold Ägyptens anzueignen, um damit seine weiteren Feldzüge zu finanzieren.«

»Deine Einschätzung der Lage deckt sich exakt mit unserer Auffassung über die Pläne Roms, Samu.« Elagabal war ein wenig dichter an sie herangerückt, so daß die Priesterin jetzt die Wärme seines Körpers im Rücken spüren konnte. Als er nach einer der gerösteten Tauben griff, die eine Sklavin an Stelle der Datteln auf den Tisch gestellt hatte, schmiegte er sich eng an ihren Rücken, so daß sie seinen erigierten Phallos spüren konnte. »Wir beobachten diese Entwicklung mit großer Sorge, mußt du wissen. Erst vor ein paar Tagen ist Oiagros mit einem meiner Schiffe aus Ephesos zurückgekehrt. Er hat dort in Erfahrung gebracht, daß man am Hof des Ptolemaios offenbar guten Mutes ist, schon bald nach Ägypten zurückzukehren.«

Samu stockte der Atem. Der Kapitän Elagabals war also erst vor kurzem in Ephesos gewesen! War er etwa derjenige, der das Gift gebracht hatte? Und war dieser schwitzende junge Mann in ihrem Rücken der Mörder, den sie suchte? Trieb Elagabal vielleicht nur ein Spiel mit ihr? Sie durfte sich jetzt nichts anmerken lassen!

»Du vergißt, daß Aulus Gabinius im Moment mit den aufsässigen Judäern beschäftigt ist«, wandte Iubal ein. »Wer außer ihm sollte dem Pharao zu seinem Thron verhelfen? Nach allem, was wir aus Italien wissen, hat Pompeius seine Legionen auflösen müssen, und die Truppen des Crassus sind noch nicht zum Kampf bereit.«

»Die Judäer werden Gabinius nicht lange aufhalten«, brummte Azemilkos. »Er hat sie schon einmal besiegt und wird es wieder tun. Man müßte ihn dazu verleiten, die Parther anzugreifen. Das wäre sein Untergang.«

»Unterschätze die Judäer nicht!« Archelaos warf einen Hühnerknochen hinter sich auf den Boden und wischte sich die Hände an einem der Leinentücher ab, die auf dem Tisch lagen. »Sie sind wie die Hydra, die Herakles einst bekämpfte. Ihr wißt ja, daß für jedes Haupt, das er dem Ungeheuer abschlug, sofort zwei neue nachgewachsen sind. Mit den Judäern ist es ganz ähnlich. Hat Gabinius sie in einer Schlacht besiegt, dann erheben sie sich sofort an zwei anderen Orten aufs neue. Sie haben den Heldenmut, der uns verlorengegangen ist. Selbst wenn die Römer ihnen drei zu eins überlegen sind, scheuen sie es nicht, den Kampf mit ihnen aufzunehmen. Ihr werdet sehen, daß sie zuletzt triumphieren werden!«

»Du kennst diesen Römer schlecht«, wandte Elagabal auf beiden Backen kauend ein. »Er wird das Problem so wie Herakles lösen. Der Held hat die Stümpfe der Hydra mit Hilfe seines Wagenlenkers ausgebrannt, so daß keine Köpfe mehr nachwachsen konnten. Genauso wird es Gabinius machen. Er wird die Städte der Judäer niederbrennen und selbst vor einer Belagerung Jerusalems nicht zurückschrecken, wenn dies notwendig ist. Ihr Widerstand ist ihm doch nur willkommen. So hat er einen Vorwand, plündernd durch das Land zu ziehen und sich zu bereichern. Man kann diese Metapher sogar noch weiterführen. Sein Wagenlenker, in übertragenem Sinne, ist der Reitergeneral Marcus Antonius. Nach allem, was man hört, ist er der fähigste Offizier in der Armee des Gabinius.«

»Und der größte Säufer und Hurenbock ist er auch«, meldete sich Oiagros, der Kapitän, zu Wort. »Ich habe im letzten Jahr in Ostia einige Seeleute über ihn reden hören, die steif und fest behaupteten, sie seien mit diesem Kriegshelden im gleichen Bordell gewesen. Angeblich hat er dort ein großes Wetttrinken veranstaltet und es auch gewonnen.«

Samu dachte an ihre Begegnung mit Marcus Antonius. Kleopatra hatte für ihr Dafürhalten zu viel Interesse an dem jungen Soldaten gezeigt, doch er hatte sich tadellos verhalten.

Während ihrer gemeinsamen Reise nach Misenum hatte sie Antonius nicht ein einziges Mal betrunken erlebt.

»Vielleicht ist das gerade sein Geheimnis«, wandte Elagabal ein. »Er hurt und säuft wie ein gemeiner Soldat. Seine Krieger betrachten ihn als einen der ihren und nicht als irgendein Patriziersöhnchen, das eine Weile Soldat spielen muß, um in seiner politischen Karriere weiterzukommen.«

»Was hat das für uns für eine Bedeutung?« schnaubte Archelaos verächtlich. »Ein Soldat ist so gut wie der andere.«

»Ich glaube, du hast die Lage nicht ganz begriffen, mein junger Freund.« Azemilkos hatte sich ein wenig aufgerichtet und wandte sich zu dem Priesterfürsten. »Mit einem anderen Mann hätte man vielleicht reden können, oder es wäre möglich gewesen, ihn einzuschüchtern. Bei Marcus Antonius wird das nichts nutzen. Er wird kommen und seinen Befehl ausführen. Nichts wird ihn daran hindern, die Grundsteinlegung zu dem Aquaeduct vorzunehmen, notfalls wird er seinen Auftrag mit Waffengewalt durchführen.«

»Wir sind weit gekommen, wenn wir nicht einmal mehr selbst darüber bestimmen können, ob wir ein Aquaeduct in unserer Stadt haben wollen.«

»Das liegt daran, daß den Römern der rechte Glaube an die Götter fehlt«, ereiferte sich der Blinde. »Sie lassen uns unsere Tempel und unsere Götter, sie geben sich großzügig, doch im Zweifelsfall tun sie das, was sie für richtig halten und ignorieren unsere Wünsche!«

»Und wenn ihr diesem Römer den Zugang zu eurer Stadt verwehrt«, fragte Archelaos. »Tyros ist doch eine fast uneinnehmbare Festung.«

»Die leider von einer römischen Garnison besetzt ist. Außerdem haben wir keine Soldaten. Nur mit ein paar aufgebrachten Bürgern werden wir keine römischen Legionäre vertreiben«, entgegnete Elagabal nüchtern. »Machen wir uns nichts vor, meine Freunde, wir allein werden uns der Römer nicht erwehren können.« Der Kaufmann wandte sich an Samu. »Du mußt wissen, daß es eine Prophezeiung gibt, daß Melkart unsere Stadt verlassen wird und von Tyros nichts bleibt als ein Felsen voller Ruinen, wenn eines Tages sprudelndes Quellwasser auf der Insel entspringt. Genau das werden uns die Römer antun, wenn sie ihr Aquaeduct bauen. Zweimal haben wir Gesandtschaften zu Aulus Gabinius geschickt, doch der Proconsul war so sehr mit seinen Kriegen beschäftigt, daß er die Gesandten nicht einmal empfangen hat. Aber genug jetzt von der Politik. Erzähle uns vom Hof der Berenike. Wir alle sind gespannt darauf, Neuigkeiten aus Ägypten zu hören.«

»Aber ich sagte doch schon, daß ich nicht mehr zum Hofstaat gehöre. Vor zwei Jahren noch war ich die Lehrerin der Prinzessinnen Arsinoe und Kleopatra. Doch zur Zeit der Nilschwemme, noch vor der Flucht des Ptolemaios, bin ich in meinen Tempel zurückgekehrt. Seitdem höre auch ich nur noch Gerüchte über das, was bei Hof geschieht.«

»Nur Gerüchte ...«

Die Männer auf den Klinen blickten einander an, und Samu spürte ihr Herz wie rasend schlagen. Was hatten sie von ihr erwartet? Dachten sie etwa, sie sei eine Gesandte Berenikes? Oder hielten sie sie jetzt sogar tatsächlich für das, was sie war? Ein Spitzel in Diensten des Ptolemaios!

»Was führt dich denn in unsere Stadt, Priesterin? Du bist doch sicher nicht allein gekommen, um dir im Hafen Purpurschnecken anzusehen.« Der schlacksige Iubal hatte ihr diese Frage gestellt. Sein spitzes Gesicht erinnerte Samu jetzt ein wenig an eine Ratte.

»Ich bin im Dienste meines Tempels hier. Isis hat meiner Hohepriesterin eine Vision geschickt. Sie sah ein weißes Schiff in euren Hafen fahren, an dessen Bug eine Frauengestalt aus Licht stand. Die Hohepriesterin war nicht sicher, ob die Göttin selbst auf dem Schiff stand oder eine Herrscherin, die unter dem Schutz der Zauberreichen steht. Wegen dieser Vision wurde ich beauftragt, in den Hafen eurer Stadt zu kommen und auf ein weißes Schiff zu warten.« Samu hoffte, daß die Männer ihr die Geschichte glaubten und daß Isis ihr diese Lüge nachsah.

»Ein weißes Schiff, an dessen Bug eine Frauengestalt aus Licht steht!« Azemilkos wiederholte nachdenklich ihre Worte. »Was für eine verheißungsvolle Vision! Vielleicht ist ihr Ashtoreth, die Königin des Himmels, erschienen?«

»Ich fürchte, dieses Rätsel wird nur die Zeit lösen, mein werter Freund. Laßt uns jetzt die Politik und die Omen vergessen. Wir sind gekommen, ein Fest zu feiern.« Elagabal klatschte laut in die Hände. »Musikantinnen, kommt näher zu uns und spielt uns auf. Schickt auch die Tänzerinnen herein und laßt den gebratenen Ochsen auftragen. Es soll in der Stadt nicht heißen, daß dieses Haus ein Ort der Traurigkeit sei und der Hausherr mit den Köstlichkeiten geize, die die Götter uns zum Genüsse geschenkt haben.«

Erleichtert ließ Samu sich zurücksinken. Ihr war sogar egal, daß sie sich dabei an Elagabal anlehnte. Offenbar hatten die Männer ihr geglaubt, und die Gefahr, als ein Spitzel zu gelten, war gebannt.

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