18. KAPITEL

»Was soll das heißen, sie ist verschwunden?«

Simon zuckte mit den Schultern. »Sie ist fort. Gestern abend hat sie das Haus Elagabals verlassen, danach ist sie nicht mehr gesehen worden. So sagt man jedenfalls.«

»Wer sagt das?« Philippos knallte wütend den Tonbecher auf den Tisch. Wie konnte ihm der Judäer in aller Gelassenheit erklären, daß Samu verschwunden war? Offenbar war ihm das Schicksal der Priesterin völlig gleichgültig!

»Meine Tochter Isebel hat auf dem Markt mit einer der Sklavinnen aus dem Haus des Handelsherren gesprochen. Samu hat gestern abend das Haus verlassen. Seitdem hat sie niemand mehr lebend gesehen.«

Philippos mußte sich zur Ruhe zwingen. Der Gleichmut des Judäers trieb ihn schier zum Wahnsinn. »Was heiß das, lebend?«

»In der Nacht hat Elagabal Männer ausgeschickt, um nach der Priesterin zu suchen. Angeblich haben sie sie nicht gefunden. Ich habe allerdings auch gehört, daß die Fischer heute morgen ein blutbeflecktes Himation aus dem Hafenbecken gezogen haben. Jahwe allein wird wissen, was mit der Götzenpriesterin geschehen ist. Vielleicht haben ihre Daimonen sie verschlungen?«

»Oder Elagabal wußte, warum sie in sein Haus gekommen war. Du hättest mir früher sagen müssen, daß sie dort wohnt! Ich hätte sie warnen können. Du weißt doch, was in der Stadt vor sich geht, Simon. Ein paar Tage noch, und es wird zum Aufstand kommen. Sie sind alle verrückt, diese Tyrener! Sie glauben, sie könnten Rom herausfordern!«

Der Judäer wiegte bedächtig den Kopf. »Ich habe dir schon einmal gesagt, daß es seit langem der Wille Jahwes ist, daß diese Stadt vernichtet wird. Es ist töricht, zu glauben, daß wir dies verhindern könnten!«

»Und dein Haus? Du wirst all dein Hab und Gut verlieren! Wie kannst du nur so gleichmütig hier sitzen und deinem Untergang entgegensehen? Was ist, wenn Samu uns verraten hat, bevor diese Schurken sie ermordet haben? Vielleicht werden auch wir diese Nacht nicht überleben? Elagabal traut mir nicht. Er läßt jeden meiner Schritte überwachen. Ich kann nicht zum Stadtkommandanten gehen, um die Römer zu warnen. Das ist deine Aufgabe, Simon! Du mußt dieses Blutbad verhindern.«

Der Judäer schüttelte entschieden den Kopf. »Die Wege Jahwes sind unergründlich. Er wird seine schützende Hand über mich halten, denn ich werde nichts tun, um das Schicksal aufzuhalten, das er dieser sündigen Stadt bestimmt hat.«

»Und deine Tochter?« zischte Philippos wütend. »Soll sie mit dir zugrunde gehen? Was glaubst du, was geschehen wird, wenn die Römer diese Stadt stürmen? Glaubst du, sie werden dein Haus verschonen, weil du ihre Götter verachtest? Glaubst du, dein Jahwe wird mit flammendem Schwert vom Himmel herabsteigen, um dich zu beschützen?«

»Genug jetzt, Grieche!« Simons Gesicht war rot vor Zorn geworden. »Ich werde nicht dulden, daß du in meinem Haus den Namen Jahwes lästerst! Noch ein Wort, und ich lasse dich von meinen Dienern auf die Straße hinausprügeln! Geh mir jetzt aus den Augen!«

Vor Zorn bebend erhob sich Philippos. Er hätte den alten Kerl am liebsten niedergeschlagen. Dieser Ignorant! Wie konnte Simon nur so seelenruhig dem Verderben entgegensehen? War es die Kraft seines Gottes, die ihm diesen Gleichmut gab? Der Grieche stieg die Treppe zum Hof hinab. Er mußte an Samu denken. Er kannte die Priesterin nicht einmal ein Jahr lang, und die meiste Zeit, die er mit ihr verbracht hatte, hatten sie sich gestritten. Trotzdem fühlte er sich jetzt schuldig an ihrem Tod. Er hatte dafür gesorgt, daß sie nach Tyros kam.

Hätte er nur gewußt, daß sie im Hause Elagabals wohnte! Es hätte sicher einen Weg gegeben, sie vor den Plänen des Phöniziers zu warnen.

Der Grieche seufzte. Seit jenem Nachmittag, an dem Buphagos die Prozession der Artemis gestört hatte, schienen sich die Götter gegen ihn verschworen zu haben. Der Mundschenk, Thais, Samu ... Wer würde das nächste Opfer sein? Ob die Priesterin ihn verraten hatte? Philippos lächelte traurig. Er dachte an ihren Stolz und ihre Dickköpfigkeit. Ihr war zuzutrauen, daß sie nichts verraten hatte, selbst wenn sie gefoltert worden war.

Der Arzt ballte wütend die Fäuste. Er würde ihren Tod rächen und die wahnsinnigen Pläne Elagabals vereiteln!

Das erste, was Samu sah, als sie wieder zur Besinnung kam, war ein Kamel. Das Tier kaute mit mahlenden Kiefern auf einem Dornenzweig und schenkte ihr keine Beachtung. Vorsichtig tastete sich die Priesterin über ihre geschwollene Schläfe. Ihre Hände waren gefesselt, und sie konnte sich nur sehr eingeschränkt bewegen.

Sie hätte besser die Finger von der Prellung gelassen. Mit der Berührung hatte sie die bösen Säfte unter der Haut geweckt, und ein pochender Schmerz breitete sich über die Schläfe in ihrem Kopf aus. Dieser Schurke Hophra! Er hatte sie einfach niedergeschlagen! Langsam kehrte Samus Erinnerung zurück. Sie waren in dem Gewölbe unter dem Lagerhaus gewesen und jetzt ...

Blinzelnd blickte sie sich um. Sie lag im Schatten einer Palme.

Überall waren Kamele. Neben ihnen türmten sich hochbeladene Packsättel. Leise Männerstimmen erklangen hinter ihr und das Geräusch von Wasser, das in eine Tränke geschüttet wurde.

Wo bei Isis war sie nur? Sie hätte damit gerechnet, daß Hophra sie ermordet, doch das hier, das konnte sie sich nicht erklären.

Der Söldner hatte sie verhöhnt und ihr erklärt, wie leicht es gewesen war, sie nach ihrer Flucht aufzuspüren. Er hatte dafür gesorgt, daß die Leiter in der Gasse neben dem Lagerhaus liegengeblieben war, damit sie dort leichter einbrechen konnte. Wie er angeordnet hatte, die Felsplatte nicht über die verborgene Treppe zu legen, hatte sie selbst mitanhören können. Grinsend hatte Hophra ihr erklärt, daß er sie genau dort unten hatte haben wollen. Gefangen in einem Loch, aus dem es keinen Ausweg mehr gab, außer an ihm vorbei.

Großmütig hatte er ihr angeboten, sie aus der Stadt zu bringen, der Heuchler! Angeblich lag sogar schon ein flaches Boot im versandeten ägyptischen Hafen bereit, um sie in Sicherheit zu bringen. Er schien tatsächlich davon überzeugt gewesen zu sein, daß sie ihm seine Lügen glauben würde. Zum Schein hatte sie sich auf sein Angebot eingelassen und war mit ihm gegangen. Bei der erstbesten Gelegenheit jedoch war sie ihm davongelaufen. Durch die halbe Stadt hatte sie die Verfolgung geführt, bis er sie schließlich einholte und mit der mittlerweile verloschenen Fackel niederschlug. Mochte die Große Schlingerin ihn in ihren Abgrund reißen, diesen verfluchten Bastard!

Die Priesterin blickte zum Himmel. Das helle Licht der Sonne schmerzte ihren Augen, und wieder begann ihre Schläfe zu pochen. Es war kurz nach Mittag. Die Sonne hatte ihren Zenit noch nicht lange überschritten. Samu leckte sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Sie hatte seit fast zwanzig Stunden nichts mehr getrunken.

Sie versuchte, etwas zu rufen und auf sich aufmerksam zu machen, doch sie bekam nur ein heiseres Krächzen heraus.

Hinter ihr ertönte wieder das Plätschern von Wasser. Offenbar wurden gerade die Kamele getränkt.

»Na, bist du doch noch zu dir gekommen.« Ein dunkles Männergesicht tauchte über ihr auf. »Ich hatte schon befürchtet, der Söldner hätte dir den Schädel eingeschlagen.« Der Mann trug eine lange, bis über die Knie hinabreichende Tunica aus hellblauem Leinenstoff. Um den Kopf hatte er ein schmutzigweißes Leinentuch gebunden. Seine Haut war dunkel, fast schon schwarz. Freundlich lächelnd hielt er Samu einen Wasserschlauch entgegen. »Trink nicht zu viel auf einmal, sonst wird dir schlecht, und du hast nichts von der Sache.«

Samu streckte ihm die gefesselten Hände entgegen, doch er schüttelte nur den Kopf. »Trinken kannst du auch so.

Der Söldner hat mich vor dir gewarnt. Es ist eigentlich nicht meine Art, auf diese Weise mit Frauen umzugehen, noch dazu, wenn sie so hübsch sind wie du, doch ich habe mit deinem ägyptischen Freund ein Geschäft abgeschlossen, und da ich ein Ehrenmann bin, werde ich mich an jede der besprochenen Vereinbarungen halten. Der Ägypter hat eine Menge Gold für dich gezahlt.« Der Beduine lachte leise und schüttelte dabei den Kopf. »Du mußt eine eigenartige Frau sein. Ein Geschäft wie dieses habe ich noch nie abgeschlossen. Ja, nicht einmal gehört habe ich von so etwas!«

Samu schluckte. Was meinte dieser ungewaschene Beduine? Sie griff nach dem Wasserschlauch und setzte das aus Horn geschnitzte Mundstück an die Lippen. Das Wasser war angenehm kühl. Es war wohl gerade erst aus einem Brunnen geschöpft worden. Sie trank in kleinen Schlucken und hörte auf, bevor sie wirklich ihren Durst gestillt hatte. Stumm reichte Samu dem Beduinen den Schlauch zurück, doch der Mann schüttelte den Kopf. »Behalt das Wasser! Ich werde nicht jedesmal nach dir sehen können, wenn du Durst hast. Ich habe eine große Karawane zu führen und werde nur während der Mittagsrast und abends ein wenig Zeit für dich haben. Kannst du eigentlich reiten, Weib?«

»Nur schlecht. Es widerspricht der Würde einer Isispriesterin, auf dem Rücken irgendeines Tieres zu sitzen!«

Der Beduine lachte breit. »Du kannst auch gerne laufen, doch fürchte ich, daß dies deinen zarten Priesterinnenfü-ßen nicht wohl bekommen wird.«

Samu senkte den Blick und tat beschämt. Es wäre besser, mit dem Kerl nicht zu streiten. Zumindest noch nicht. Erst mußte sie erfahren, wo sie war und was für ein Schicksal ihr bestimmt sein sollte. »Soll ich als Sklavin verkauft werden?«

»O nein, meine Schöne!« Das Grinsen des Beduinen wurde noch breiter. »Ich habe schon Hunderte von Sklavinnen durch die Wüsten gebracht. Wäre dies deine Zukunft, dann hätte ich dein Schicksal nicht außergewöhnlich genannt.«

Samu spürte, wie sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog.

Was bei Isis hatte der Kerl mit ihr vor? Was für eine Schurkerei hatte Hophra ersonnen, um sie zu quälen?

Ein Mann mit mürrischem Gesicht erschien und hockte sich neben dem Karawanenführer in den Sand. »Wir haben die Lasten umverteilt. Die Kleine hat jetzt ein Kamel für sich allein, Haritat.«

»Du siehst, meine ägyptische Prinzessin, ich gebe mir alle Mühe, deine Reise so angenehm wie möglich zu gestalten.«

Samu hob ihre gefesselten Hände. »Wenn du mich hiervon befreien könntest, würde ich dir sicherlich zustimmen. Ich biete dir Gold dafür, wenn du mich laufen läßt. Was hältst du davon, Haritat?«

»Beim Barte Melkarts, das werde ich nicht tun! Der Söldner hat mich ausdrücklich davor gewarnt. Du sollst wie eine Viper sein. Ich werde dich mit mir nach Jerusalem nehmen. Dort darf ich dich freilassen. Ja, ich soll mich sogar darum kümmern, daß du mit einer Karawane nach Tyros zurückkehren kannst oder an jeden anderen Ort, zu dem zu reisen dir beliebt. Er hat mir genug Gold gegeben, um dir ein Pferd zu kaufen und einen Krieger anzumieten, der dich als Leibwächter begleiten wird.

Auch hat er mir erklärt, daß, wenn ich meine Aufgabe zu seiner Zufriedenheit ausführe, ich darauf rechnen darf, in Zukunft noch weitere gute Geschäfte mit dem Handelsherrn Elagabal zu machen. So viel Gold, wie ich daran verdienen kann, wenn ich meinen Dienst für den Ägypter glücklich ausführe, kannst du mir mit Sicherheit nicht bieten.«

Samu starrte den Beduinen ungläubig an. »Du sollst mich nur mit dir nehmen und wirst mich nach ein paar Tagen wieder laufen lassen?« Hatte sie sich in Hophra getäuscht? Warum hatte der Söldner sie nicht einfach umbringen lassen? Liebte er sie am Ende doch?

»Der Handel mit den Schätzen Ägyptens wird dich noch zu einem reichen Mann machen!« brummte der Kameltreiber, der sich neben dem Karawanenführer niedergelassen hat. »Wie es scheint, bist du ein Liebling der Götter, Haritat!«

»Du weißt, daß ich meinen Reichtum mit meinen Freunden teile .«

»Du reist oft nach Ägypten?« Die Worte des Beduinen hatten die Priesterin aufhorchen lassen. Sollte sie hier die Spur finden, nach der sie im Archiv Elagabals vergeblich gesucht hatte?

»Ich war erst einmal in Alexandria, meine Schöne. Eine prächtige Stadt. Ich habe dort allerlei Schätze eingehandelt. Es war keine schöne Aufgabe. Ich mußte mir eigens Söldner anmieten, weil zu befürchten war, daß wir in der Wüste überfallen würden, wenn sich herumspricht, was für Kostbarkeiten meine Karawane transportiert.« Der Beduine grinste selbstzufrieden. »Du mußt wissen, ich bin ein geschätzter und zuverlässiger Mann. Der Phönizier, für den ich diese Waren transportiert habe, war zwar ein gottloser Verrückter, aber er war reich wie ein Pharao! Dieser Mann besitzt mehr als zwanzig Schiffe und läßt die Waren mit einer Karawane auf dem Landweg von Alexandria nach Tyros bringen! Ist das nicht verrückt? Zur See hätte es weniger als die halbe Zeit gedauert, und es hätte ihn nichts gekostet, denn die Schiffe gehören ihm ja!«

»Manchen Männern verwirrt der Reichtum den Verstand.« Samu nickte Haritat freundlich zu. »Ich kenne selbst einen dieser Verrückten. Er ist noch blutjung. War Elagabal dein Geschäftspartner? Hast du auf diese Weise Hophra kennengelernt? Diese Posse hört sich ganz nach seinem Herren an.«

Haritat zwinkerte ihr mit den Augen zu. »Halte mich nicht für dumm, meine Prinzessin. Ich werde dir keine Namen verraten. Wer mich so gut bezahlt wie dieser Phönizier, der kann auf meine Verschwiegenheit rechnen.« Der Beduine erhob sich und gab seinem Gefährten ein Zeichen, ihm zu folgen.

Philippos schabte nervös mit dem Fuß über den gepflasterten Boden. Plötzlich war er nicht mehr sicher, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Wie konnte er glauben, daß Chelbes besser war als all die anderen? Nur weil er ein guter Heilkundiger war? Es gab sonst niemanden, den er ins Vertrauen ziehen konnte. Der Hohepriester hatte ihm das Angebot gemacht, zu ihm zu kommen, wenn er Hilfe brauchte .

Chelbes trat durch das Eingangsportal des Heiligtums auf den Hof und nickte ihm freundlich zu. Philippos fluchte leise.

Jetzt war es zu spät, um noch zu gehen. Er könnte allenfalls irgendwelche Ausflüchte erfinden.

»Du siehst aus, als hättest du Sorgen, Bruder.«

Der Grieche schaute sich nervös um. Der Mann, der ihm schon den ganzen Morgen über folgte, war vor einem kleinen Schrein an der Rückseite des Hofes niedergekniet, und es schien, als bete er. »Gibt es einen Ort, an dem wir ungestört reden können? Es ist besser, wenn es für unser Gespräch keine Zeugen gibt, Herr.«

Chelbes runzelte die Stirn. »Ist es so schlimm? Wirst du verfolgt? Hier im Tempel wird niemand es wagen, dir etwas zuleide zu tun.«

»Ich würde nicht darauf dringen, wenn ich keinen guten Grund dazu hätte«, knurrte Philippos gereizt. »Mit dem, was ich Euch zu sagen habe, Herr, lege ich mein Leben in Eure Hand. Laßt mich dies wenigstens an einem Ort tun, der mir dafür geschaffen erscheint.«

»Wenn du mich wieder wie deinesgleichen ansprichst und die förmlichen Floskeln aufgibst, dann werde auch ich mich deinen Wünschen fügen.«

Philippos blickte den Hohepriester einen Moment lang verwundert an. Es ging hier um das Schicksal seiner Heimatstadt, und Chelbes diskutierte mit ihm über Floskeln! Hatte er sich vielleicht in dem Mann getäuscht? War er nicht minder verrückt als all die anderen Phönizier? Doch es war auf jeden Fall klüger, auf den Hohepriester einzugehen. »Es schmeichelt mir, daß du in mir deinesgleichen siehst, Chelbes. Ich nehme dein Angebot gerne an.«

Der Priester lächelte. »So ist es gut. Dann folge mir nun. Es gibt eine schmale Treppe, die auf das Dach des Tempels führt. Dort oben werden wir alleine sein.« Chelbes führte Philippos durch einen Seitenflügel des Tempels auf einen zweiten, verborgenen Hof, der allein den Priestern vorbehalten war. Dort erklommen sie die Stiege zum Dach. Der Eshmun-Tempel lag nicht weit vom Meer entfernt. Seine Rückwand berührte fast die Stadtmauer, und von dem flachen Dach konnte man über die Zinnen der Mauer hinweg auf die See blicken. In die andere Richtung hatte man einen guten Blick über die Dächer der Stadt. Nur der Melkart-Tempel, der ungefähr in der Mitte von Tyros lag, war noch höher.

»Nun, was hast du mir zu sagen, Bruder?« Der glatzköpfige Priester blickte Philippos mit seinen dunklen Augen erwartungsvoll an.

Der Arzt erzählte ihm alles, was er über die Verschwörung wußte, ließ die Geschichte um den Mordanschlag auf Ptole-maios allerdings aus. Chelbes hörte ihm ruhig zu. Als der Grieche geendet hatte, zog der Priester die Stirn in Falten und blickte Philippos einige Herzschläge lang schweigend an.

Schließlich seufzte er leise. »Ich weiß, was in der Stadt vor sich geht. Auch ich beobachte die Ereignisse mit Sorge, doch kann ich nichts tun. Azemilkos, der Hohepriester des Melkart, behauptet, es sei der Wille des Gottes, daß Marcus Antonius stirbt und die Römer vertrieben werden. Ich werde mich nicht gegen einen Gott auflehnen, Söldner. Wie die anderen Hohepriester werde auch ich den Feldherren vor dem Tempel des Melkart erwarten. Wenn der Gott ihn nicht richtet, und ich sehe, daß es die Menschen sind, die sich gegen Marcus Antonius empören, dann werde ich meine Stimme erheben und versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Sollte es aber der Wille Melkarts sein, daß wieder einmal Feuer und Schwert in unserer Stadt regieren, so werde ich treu zu den Meinen stehen.«

Philippos schüttelte verständnislos den Kopf. »Du bist ein kluger Mann, Chelbes. Du mußt doch wissen, was es heißt, wenn die Römer Krieg führen. Keine Stadt hat ihnen je widerstehen können. Denk nur an Korinth, Syrakus oder das mächtige Karthago!«

»Du hast mein Wort gehört, Grieche. Gleichgültig, was du mir zu sagen hast, ich werde meine Meinung nicht ändern. Du kannst sicher sein, daß ich dich nicht verraten werde. Deine Sorge zeichnet dich als einen Ehrenmann aus, Philippos, doch mußt du auch verstehen, daß ich als Hohepriester mich nicht wider die Götter entscheiden kann.«

Загрузка...