8. KAPITEL

Als Philippos die Augen aufschlug, sah er das Meer. Der Himmel war strahlend blau und ohne Wolken. Der Boden unter ihm schwankte leicht. Er war an Bord eines Schiffes. Verwirrt versuchte er, den Kopf zu drehen und sich umzusehen, doch ein stechender Schmerz in seinem Nacken ließ ihn innehalten.

»Du hast also doch beschlossen, noch einmal wach zu werden.« Samu beugte sich über ihn und lächelte. »Willst du etwas trinken?«

Philippos fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ja, danke.« Der Grieche versuchte, sich zu erinnern, wie er an Bord des Schiffes gekommen war. Vergebens! Er wußte, daß er bei Neaira gewesen war. Sie hatten eine wunderbare Liebesnacht gehabt und seinen Erfolg gefeiert und dann ... Nichts.

Er entsann sich, in den Armen der Hetaire gelegen zu haben, doch konnte er beim besten Willen nicht mehr sagen, wann und unter welchen Umständen er sie verlassen hatte. Es war, als sei er betrunken gewesen. Mißtrauisch blickte er zu der Isispriesterin. Ob sie vielleicht einen Zauber auf ihn gelegt hatte?

»Wie bin ich hierher gekommen?«

»Der Pharao mußte dich von seinem Hof verbannen.«

»Mußte mich verbannen?« Ungläubig wiederholte der Arzt ihre Worte. Wie konnte das sein? Am Morgen hatte er doch noch die Gunst des Königs genossen. »Was ist geschehen?«

»Du erinnerst dich an nichts?« Mißtrauisch musterte der Grieche Samu. Da war mehr als nur Betroffenheit in ihrer Stimme gewesen. Sein Schicksal schien sie nicht gerade zu betrüben. »Du weißt doch wohl noch, daß du das Gelände des Artemisions verlassen hast.«

Philippos nickte. Wieder jagte ein stechender Schmerz durch seinen Nacken. Er sollte sich nicht mehr bewegen. Was bei den Göttern hatte man ihm nur angetan?

»Du mußt ja einmal ein Soldat mit erstaunlichen Fähigkeiten gewesen sein.«

»Ich war nie gerne Soldat«, knurrte Philippos verärgert. »Erinnere mich nicht an diese Zeit. Ich bin Arzt, kein Soldat.«

»Was soll man nur von einem Arzt halten, der drei Krieger so übel zurichtet, daß sie für viele Tage nicht mehr diensttauglich sind. Der Eirenarkes sprach von gebrochenen Knochen, verrenkten Gliedern und Platzwunden. Möge Isis mich davor bewahren, jemals auf die Heilkunst eines solchen Arztes angewiesen zu sein.«

»Wovon redest du, Weib?«

»Davon, daß die Wachen des Eirenarkes dich in der letzten Nacht im Haus einer Hetaire aufgestöbert haben und du dich aufgeführt haben mußt wie Herakles am Hof der Hippolyte. Mit sieben Kriegern hat Orestes dich durch das Hafenviertel verfolgt und schließlich im Schlafgemach eines zu Tode erschrockenen Handelsherren aufgespürt. Du hast also nicht nur das Gebot der Priesterinnen mißachtet, indem du heimlich das Tempelgelände verlassen hast, sondern auch noch den Frieden der Stadt Ephesos gestört. Der Eirenarkes hat sehr energisch auf deine Auslieferung bestanden. Ich glaube, er hatte vor, dich für deine Missetaten in die Steinbrüche zu schicken, aus denen der Marmor der Epheser kommt. Ich weiß zwar nicht, warum, aber aus irgendeinem Grund war der Neue Osiris sehr von dir eingenommen. Jedenfalls hat er all seinen Einfluß bei der Hohepriesterin geltend gemacht, um dafür zu sorgen, daß du nur vom Hof verbannt wirst. Der Pharao wünscht, daß du mich nach Tyros begleitest, um mit mir zusammen nach den Kaufleuten zu suchen, die ihm die vergiftete Schminke geschickt haben. Ich habe allerdings meine Zweifel, ob du in drei Tagen überhaupt wieder aus eigener Kraft stehen kannst. Man hat mir erzählt, daß du von einem Häuserdach auf eine gepflasterte Straße gestürzt bist. Asklepios persönlich scheint seine schützende Hand über dich gehalten zu haben. Es ist ein Wunder, daß du dir nicht den Schädelknochen zertrümmert hast und nicht einmal die Schwellung aufgeplatzt ist. Außerdem hast du dir irgendwo dein Knie und das linke Bein aufgeschnitten. Du hast eine Menge Blut verloren.«

»Sprich nicht wie mit einem Kind mit mir!« zischte der Arzt wütend. Er mußte zurück, mußte den Irrtum klarstellen und . Philippos versuchte sich aufzurichten, doch ihm wurde so schwindlig, daß er wieder auf sein Lager zurücksank.

»Woher wußte der Eirenarkes, daß ich bei Neaira war?« Der Stimme des Arztes fehlte jetzt jede Kraft. Ihm war schlecht, und er hatte das Gefühl, sich gleich erbrechen zu müssen.

»Du hast nicht nur Freunde bei Hof, Philippos.«

»Ich muß zurück. Ich muß wissen, wer .«

Die Priesterin lachte laut. »Zurück! Du bist seit drei Tagen an Bord dieses Schiffes, und ich glaube nicht, daß du den Kapitän dazu bewegen könntest, noch einmal umzukehren. Er hat strikte Anweisungen, uns nirgendwo anders als in Tyros an Land gehen zu lassen. Dort sollen wir uns nach einem Kaufmann umhören, den man Simon den Judäer nennt. Er hat sein Haus irgendwo in der Nähe des Hafens. Simon wird uns bei sich aufnehmen und uns helfen. Ich glaube, auch er gehört zu den Leuten, bei denen der Göttliche Schulden hat.«

»Ich muß wissen, wer mich verraten hat . und was ist mit Neaira? Weißt du, was der Eirenarkes mit ihr gemacht hat?«

»Wenn du den Verräter suchst, dann überlege doch einfach, vor wem du großsprecherisch mit deiner Geliebten geprahlt hast. Ich weiß es von Batis. Unser nubischer Freund ist nicht gerade verschwiegen, was diese Dinge angeht. Deine Neaira hat man aus der Stadt vertrieben. Orestes hat seinen Zorn an ihr ausgelassen. Man sagt, sie sei gegeißelt worden, und der Pöbel habe sie vor die Tore der Stadt geprügelt. Wenn du sie wirklich geliebt hättest, dann wärest du in jener Nacht nicht zu ihr gegangen. Du hast sie ins Unglück gestürzt.«

»Wie kannst du so reden, du hartherziges Weib. Du weißt doch nicht einmal, was Liebe ist, ägyptische Hexe! Gegeißelt .«

Philippos schluchzte leise. Wie konnten sie das nur tun? Die Hetaire traf doch keine Schuld. Wenn er sich nur erinnern könnte, was in jener Nacht geschehen war? Warum hatte er sie verlassen? Wie war es zu dem Kampf gekommen? Mißtrauisch blickte der Arzt zu der Priesterin auf. Es war sehr wahrscheinlich, daß sie wußte, wie es dazu gekommen war, daß der König sie für die Mission in Tyros ausgewählt hatte. »Batis hat dir also von meiner Liebe zu Neaira erzählt?«

Samu nickte. »Mir und jedem anderen, der es hören wollte ...«

»Ich glaube nicht, daß es noch viele andere gab. Du sagst, man haßt mich bei Hof. Mir fällt nur eine Person ein, die mich hassen könnte und kaltherzig genug wäre, das Glück Unschuldiger ihrer Rachsucht zu opfern. Das bist du, Samu.«

Die Priesterin funkelte ihn wütend an. »Du glaubst ...« Sie versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

Philippos biß die Zähne zusammen. »Du schlägst Verletzte, Heilerin? Nun, wenn du schon nicht lieben kannst, dann bist du doch wohl wenigstens in der Lage, zu hassen.«

»Ich passe mich deinem Stil an, Grieche. Du verstehst es, in jedem Menschen das Schlechte zum Vorschein zu bringen. Glaube nicht, ich hätte mir gewünscht, dich auf dieser Reise als Begleitung zu haben.«

Wie ein riesiges steinernes Schiff erhob sich Tyros am Horizont aus dem Meer. Die Stadt war auf einem flachen Felsriff einige hundert Schritt vor der syrischen Küste errichtet worden.

Die Mauer, die sie umgab, war höher als die Masten der Galeeren, die Samu von Ferne im Hafen erkennen konnte. Dies also war die Stadt, die es dem großen Alexander verwehrt hatte, in ihren Toren den Tempel des Herakles zu besuchen und die viele Monate lang seiner Belagerung widerstanden hatte. Die Priesterin hatte viele Geschichten über das prächtige Tyros gehört, und doch war sie ein wenig enttäuscht, denn von der Stadt selbst war zumindest jetzt noch nichts zu sehen.

Sie verschwand hinter ihren gewaltigen Mauern, Türmen und Bastionen.

»Es tut gut, die Heimat wiederzusehen.« Abdoubast, der bärtige Kapitän des Handelschiffes, war neben die Priesterin getreten und blickte zur Stadt am Horizont. »Es ist nur ein nackter Felsen im Meer, und es gibt dort nicht einmal Wasser, dennoch liebe ich keinen Ort so wie diesen. Niemals haben Piraten den Hafen von Tyros betreten. Dort zu ankern heißt, den Schrecken des Meeres entkommen zu sein.«

»Den Schrecken des Meeres?« Samu drehte sich um und blickte den Kapitän an. Er war breitschultrig, und seine Haut war von Wind und Wetter gegerbt. Abdoubasts schwarzer Bart war von weißen Strähnen durchsetzt, und sein langes, lockiges Haar war durch ein Lederband gebändigt, so daß es ihm nicht in den Nacken fiel. »Liebst du das Meer denn nicht?«

Der Kapitän schüttelte bedächtig den Kopf. »Kein Schiffer liebt die See. Er respektiert und achtet sie, so wie man einen übermächtigen Feind respektiert und achtet. Jedesmal, wenn ich einen Hafen verlasse, weiß ich nicht, ob ich auf der Reise nicht Schiff und Leben verlieren werde. Ich habe mit angesehen, wie turmhohe Wellen Freunde von mir über Bord gerissen haben, so als wollten die zornigen Götter des Meeres mit einem Menschenopfer beschwichtigt werden . Kennst du die Geschichte des Odysseus, Ägypterin?«

Samu nickte.

»Glaubst du, er hätte des Meer geliebt? Zehn Jahre ist er über die See geirrt. Jeden Vers aus dem Epos Homers kenne ich auswendig. Nicht einer besingt die Schönheit der See. Es sind die sicheren Häfen, die der Seemann liebt.« Abdoubast schirmte mit der Hand die Augen gegen die Sonne ab und brummte etwas Unverständliches. »Dieser makedonische Bastard, Alexander, hat uns einen unserer drei Häfen genommen. Die Seefahrt war ihm immer egal. Schiffe sind für ihn nur Transportmittel gewesen.« Der Kapitän streckte die Hand aus und zeigte zur Insel hinüber. »Siehst du dort vorne hinter den Wellenbrechern die Mauer? An ihrem östlichen Ende steht ein Turm, auf dem bei Nacht ein Leuchtfeuer brennt. Neben diesem Turm liegt die Einfahrt in den sidonischen Hafen. Noch weiter im Osten kannst du Palaetyros erkennen. Das ist der Teil von Tyros, der auf dem Festland liegt. Dort gibt es einen zweiten Hafen, der nach Ashto-reth, der Himmelkönigin, benannt ist. Doch den werden wir nicht anlaufen, denn unsere Fracht ist zu kostbar, um in die Lagerhäuser auf dem Festland gebracht zu werden.« Der Kapitän strich sich lächelnd durch den Bart, und Samu war sicher, daß er an den Gewinn dachte, den ihm seine Waren einbringen würde.

»Und der dritte Hafen?«

Das Gesicht des Seemanns verfinsterte sich. »Den dritten Hafen hat uns Alexander gestohlen. Er hat eine sechzig Schritt breite Rampe quer durch das Meer bis zur Insel gebaut, um seine Belagerungsmaschinen vor die Mauern der Stadt schieben zu können. Dadurch haben sich die Strömungen in der Bucht verändert. Der ägyptische Hafen, wie er genannt wurde, lag auf der Südseite der Insel und ist heute unter einer dicken Schicht aus Schlick und Sand begraben. Nur kleine Fischerboote können dort noch verkehren.«

»Und wenn man die Rampe einreißen würde?«

Der Tyrener schnaubte verächtlich. »Sag das den Handelsherren, die über das Schicksal unserer Stadt bestimmen! Sie sind bequem geworden ... Du weißt, es gibt kein Wasser auf der Insel. Jeder Schluck Wasser, der getrunken wird, jeder Eimer voll, den die Tuchfärber brauchen, um ihr Handwerk auszuüben, wird vom Festland herangebracht. Es macht sehr viel weniger Mühe, das Wasser in Karren über den breiten Damm heranschaffen zu lassen. Man sagt sogar, daß die Römer ein Aquaeduct bauen wollen, das von den Bergen im Hinterland bis nach Tyros reichen soll. Viele Bürger glauben, daß wir endgültig die Gunst des Baal Melkart verlieren werden, wenn sprudelndes Quellwasser auf den Felsen seiner Insel tropft. Der Gott hat nicht gewollt, daß es dort eine Quelle gibt! Er hat auch nicht gewollt, daß wir die Insel mit dem Festland verbinden lassen. Was ist aus dem mächtigen Tyros geworden, seit Alexander den Damm gebaut hat?« Der Kapitän hieb wütend mit der Faust auf die Reling. »Einst waren wir die bedeutendste Hafenstadt der Welt. Unsere Schiffe fuhren bis zu den Säulen des Herakles und weiter noch in das schreckliche Nordmeer, wo schwimmende Inseln auf dem Wasser treiben. Unsere Ahnen haben Karthago gegründet und etliche andere mächtige Handelsstädte. All dies ist dahin, seit wir von Alexander heimgesucht wurden und er unsere Insel ans feste Land gefesselt hat. Wenn die Römer nun auch noch eine Quelle in ihr Aquaeduct umleiten und Wasser nach Tyros bringen, dann wird damit unser Untergang besiegelt sein! Baal Melkart wird seine Stadt verlassen, und schon bald wird es von Tyros nichts als ein paar Ruinen geben, durch die das Wasser sickert, das uns die Römer geschenkt haben. Aber vielleicht ...« Der Seemann blickte Samu an. »Was erzähle ich dir von den Römern und unserer Stadt, Priesterin! Du wirst doch sicher nur kurz zu Gast sein? Kommst du, um im Tempel des Melkart für deinen König zu opfern?«

»So ist es«, antwortete Samu einsilbig. Da sie nicht wußte, wer in dieser fremden Stadt ihr Feind sein würde, hielt sie es für klüger, die wahren Beweggründe der Reise zu verschweigen.

»Ich soll auch Nachrichten aus Ägypten für den Pharao einholen. Es gibt einige Kaufleute, die dem Göttlichen als Spione dienen und die mir Bericht über die Herrschaft Berenikes erstatten sollen.«

Abdoubast lächelte breit und entblößte dabei seine makellosen, weißen Zähne. »Nachrichten? Es gibt wohl kein Geschäft, das die Tyrener Kaufleute nicht betreiben würden. Man sagt, Berenike hat viele Gäste aus den Königreichen im Osten. Sie machten dem römischen Proconsul einigen Ärger. Angeblich bemüht Berenike sich um ein Bündnis mit den Parthern. Mir wäre es nur recht, wenn sie die Römer wieder aus dem Land werfen würden. Wußtest du, daß eine Wölfin die beiden Stammväter des römischen Volkes gesäugt hat? Wie Wölfe verhalten sich die Römer auch heute noch! Sie reißen alles an sich, mischen sich in jedes Geschäft ein und können kein Volk in Frieden leben lassen. Kein Tyrener würde jemals einem Römer eine Träne nachweinen. Doch ich rede zu viel, Priesterin. Ich muß mich um das Schiff kümmern. Vor dem Hafen liegen ein paar gefährliche Riffe.« Abdoubast wandte sich um und rief seinen Seeleuten einige Kommandos zu. Dann eilte er zum Heck des Lastseglers, um sich persönlich an das lange Seitenruder zu stellen und das Handelsschiff sicher in den Hafen zu bringen.

Nachdenklich musterte Samu den Kapitän. Er hatte die Stirn gerunzelt und beobachtete aufmerksam das Meer. So wie er sprach, mochte Abdoubast vielleicht selbst ein Verschwörer sein. Sie sollte vorsichtig sein, wenn sie die Spur der Giftmörder aufnahm! Offenbar war Berenike hier wesentlich beliebter als Ptolemaios, den jeder als einen Freund der Römer kannte.

Загрузка...