9 Der Ruf

Aurian zweifelte keine Sekunde lang. Das Gesicht und der Körper des Mannes auf dem Bett gehörten Anvar, aber seine Gesten, seine ganze Haltung, sein Mienenspiel – all das brachte der Magusch eine Hut von Erinnerungen an Forral zurück. Und obwohl die Gestalt mit Anvars Stimme gesprochen hatte, wies die Wortwahl, die Betonung, die ganze Aussprache eindeutig auf den lange verstorbenen Schwertkämpfer hin.

Aurian stockte der Atem. Sie konnte nicht sprechen – ihr fehlten einfach die Worte. Forral. Unmöglich. Und wo war Anvar? Was war dem Geist und der Seele zugestoßen, die einst diesen Körper bewohnt hatten?

Erst als sie den festen Druck der Tür gegen ihre Schulterblätter spürte, wurde der Magusch klar, daß sie langsam rückwärts gegangen war. Das Gefühl des kühlen Holzes – etwas ganz Normales und Reales – riß sie aus der Taubheit des Schreckens zurück in die Wirklichkeit.

»Aurian, erkennst du mich nicht? Ich …« Forral setzte sich auf; machte Anstalten, als wolle er sich von dem Bett erheben.

Das war mehr, als Aurian ertragen konnte; zuviel, um es sofort begreifen zu können. Freute sie sich? War sie entsetzt? Sie vermochte es kaum zu sagen. Nach einigem verzweifelten Tasten fand sie den Türriegel hinter sich. Sie fuhr herum, ließ die Tür hinter sich zukrachen – und war verschwunden. Dann jagte sie die Turmtreppe hinunter, als sei eine Horde Dämonen hinter ihr her. Tränenblind und den Stab der Erde mit schmerzhaftem Griff umklammernd, rannte sie ins Freie.

Forral fluchte und sprang auf, um Aurian zu folgen, aber sein Körper war vollkommen aus dem Lot; die Beine waren länger, als er es gewohnt war, und das Gewicht und die Muskeln anders verteilt. Seine Füße verhedderten sich unter ihm, und er stürzte, schürfte sich beim Fallen Knie und Ellbogen auf und konnte nur mit Mühe verhindern, daß er mit dem Gesicht auf den Boden krachte. Halb betäubt zog der Schwertkämpfer sich auf die Knie. Ein lebhaftes Bild von Aurians entsetztem Gesicht hatte sich in seine Gedanken eingebrannt. Was war mit ihm geschehen, fragte er sich. Wie war es ihm gelungen, ins Reich der Lebenden zurückzukehren? An die Stelle der überwältigenden Freude, die ihn beim Anblick seiner verlorenen Liebe erfaßt hatte, trat nun das flaue Gefühl, daß etwas Furchtbares passiert sein mußte, etwas Unbeschreibliches. Obwohl Forral der Magusch am liebsten Hals über Kopf gefolgt wäre, blieb er für den Augenblick, wo er war, und versuchte sich Klarheit über seine Situation zu verschaffen. Als Aurian weggerannt war, hatte sie ihr Maguschlicht mitgenommen und den Raum wieder in tiefe Dunkelheit gestürzt. Der kränklich blasse Strahl des Mondlichts, der durch den Fensterflügel fiel, vermochte kaum etwas gegen die Finsternis auszurichten. Das Licht reichte Forral gerade, um die Kerze in dem angelaufenen Kerzenständer auf dem Nachttisch zu sehen, aber er brauchte eine ganze Weile, um in der unvertrauten Lederkleidung, die irgendwie merkwürdig zusammengestellt war, einen Feuerstein zu finden. Schließlich hatte er die Kerze entzündet. Dann streckte er seine Hand aus, um sich in dem flackernden, bernsteinfarbenen Licht betrachten zu können.

Forral runzelte die Stirn. Was war das? Leicht gebräunte Haut und lange, spitz zulaufende Finger. Ein zarter Schimmer hellen, goldenen Haars auf dem Handrücken. Schwielige Fingerspitzen, aber keine der tiefen Schwertnarben, die seine eigenen Hände und Unterarme übersät hatten. Forral fröstelte. Das hier war nicht seine Hand. Verzweifelt tastete er sein Gesicht ab. Kein Bart. Er biß die Zähne zusammen und schüttelte fassungslos den Kopf. »Was, verflucht noch mal, hast du eigentlich erwartet?« fragte er sich barsch. Zorn war auf jeden Fall besser als Angst. »Du bist seit Jahren tot und begraben, du jämmerlicher Narr – dein Körper war schon vor langer Zeit nur noch Futter für die Würmer!« Bei diesem Gedanken erfaßte ihn eine leichte Übelkeit. Sein Verstand arbeitete nur träge, als hätte er sich noch nicht so recht an sein neues Gefäß gewöhnt.

Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Also, wessen Körper habe ich gestohlen?

Aurian war bei ihrer überstürzten Flucht aus dem Turm zweimal hingefallen, aber die Biegungen des Treppenhauses hatten ihren Fall jedesmal gebremst, so daß ihr nichts Ernstliches geschehen war. Bei ihrem zweiten Sturz – gerade als die Magusch sich wieder aufrappelte – kam ihr Shia auf der Treppe entgegen. Aurian stieß die Katze beiseite und lief auch noch die restlichen Treppenstufen hinunter. Sie wußte, daß Shia ihr folgte, wollte aber im Augenblick die verzweifelten Fragen ihrer Freundin noch nicht beantworten. Nicht jetzt. Zuerst mußte sie aus dem Turm raus. Zutiefst erschüttert und mit blauen Hecken übersät, taumelte Aurian ins Freie, krümmte sich zusammen und erbrach sich. Dann stand sie keuchend da, sog die kalte Nachtluft tief in ihre Lungen und versuchte sich zu beruhigen. Jetzt, da sie diese Kreatur aus Anvars Körper und Forrals Stimme hinter sich gelassen hatte, konnte Aurian langsam wieder vernünftig denken.

»Was ist passiert?« Plötzlich stand Shia neben ihr. »Ist Anvar da oben? Ich habe in deinen Gedanken gesehen, daß er dort war – und dann war er es wieder nicht. Ist er da oben? Können wir ihm helfen?«

Die Magusch atmete tief durch, lehnte sich gegen den kalten, weißen Stein der Turmmauer und versuchte entschlossen, ihrer Verwirrung Herr zu werden. »Nein«, sagte sie tonlos, da ihr nichts anderes einfiel. Sie würde nicht weinen. Sie durfte nicht weinen – sonst würde sie nie wieder aufhören. Jetzt, da Aurian etwas ruhiger war, spürte sie, daß ihre Freundin versuchte, die Erinnerungen an diese qualvollen letzten Minuten aus ihren Gedanken herauszulesen. »Bist du sicher, daß es Forral war?« fragte Shia sie. »Erinnere dich an jenen Tag in der Wüste«, fuhr die Katze fort. »Eliseth hat solche Trugbilder schon früher benutzt. Was du zu sehen glaubtest – das kann doch einfach nicht möglich sein? Wie kann ein toter Geist von einem Lebenden Besitz ergreifen?«


Einen Augenblick lang schlug Aurians Herz bei diesem Gedanken höher – aber ihr Verstand wußte es besser. Sie war nicht länger das unerfahrene junge Mädchen, das sich in seiner Verwirrung und Trauer in der Wüste so leicht hatte übertölpeln lassen. Sie wußte genau, was sie gehört und gesehen hatte. Außerdem konnte sie den scharfen Kummer hinter Shias Gedanken spüren und begriff, daß die Katze sich vor dem Gedanken verschloß, Anvar könne vielleicht tot sein.

»Nein, ich habe mich nicht geirrt«, sagte sie zu ihrer Freundin. »Anvar ist wirklich verschwunden, und es sieht so aus, als hätte Forral seinen Körper übernommen.«

Aurian schlug mit der Faust gegen die Mauer, da sie ihrem inneren Aufruhr nicht auf andere Weise Luft machen konnte. Ich kann es nicht glauben, dachte sie. Es ist einfach zu grausam. All diese Zeit, die ich um Forral getrauert habe – wie habe ich mich nach ihm gesehnt! Ich wünschte mir immer noch, er käme zurück, obwohl es mir das Herz entzweireißen würde – aber ich will ihn in seiner eigenen Gestalt wiederhaben, nicht so. Ich hatte gerade mit Anvar Frieden und Glück gefunden – muß ich jetzt anfangen, ihn zu betrauern? Das alles noch einmal durchmachen?

Und was ist mit Forral, der nur durch einen tödlichen Tauschhandel wiedergekommen war, einen Tauschhandel, der ihr eine Liebe für die andere genommen hatte? Er war ihre erste Liebe gewesen – sie liebte ihn immer noch. Er war der Vater ihres Kindes, aber … Ich bin vor ihm davongelaufen, dachte Aurian, als wäre er ein Ungeheuer. Und wenn es eine Möglichkeit gibt, Anvar zurückzubekommen, dann werde ich Forral noch einmal verlieren. Noch während sie diesen grauenvollen Gedanken in Worte faßte, spürte sie, wie sich tief in ihr ein wilder Zorn regte. Wie konnte das geschehen? Wie war es dem Schwertkämpfer gelungen, Anvars Körper zu stehlen? Und warum hatte er sich nicht einen anderen dafür ausgesucht – irgendeinen anderen? Je länger Aurian darüber nachdachte, um so größer wurde ihre Überzeugung, daß dies kein Zufall sein konnte. Dies mußte die Rache des Schwertkämpfers sein, weil sie sich nach seinem Tod einem anderen Mann zugewandt hatte. Wie konnte er nur? dachte sie. Ich habe Forral geliebt. Meine ganze Kindheit hindurch war er der einzige Mensch, dem ich vertrauen konnte. Wie konnte er mir das antun?

»Ist das wirklich möglich?« drang Shia sanft in die Gedanken der Magusch ein. »Und wenn ja, was willst du deswegen unternehmen?«

Aurian machte ein finsteres Gesicht. »Wegen Forral? Ich weiß, was ich zu tun habe. Ich werde ihn zur Rede stellen und die Wahrheit herausfinden. Ich muß nur noch den Mut dazu aufbringen.«

Forral war es, als wolle das Herz in seiner Brust bersten, als ihm plötzlich wieder einfiel, daß Aurian Anvars Namen gerufen hatte. Eine eisige Kälte erfaßte ihn. Es war nicht möglich … es konnte nicht sein. Aber er erinnerte sich an Anvars Erscheinen Zwischen den Welten und auch an die Warnung des Todes. Dann hatte sich das Portal abermals geöffnet … »Nein«, murmelte er verzweifelt. »Es war ein Unfall – ich habe das nicht gewollt …«

Ach wirklich nicht, höhnte eine leise Stimme in den Winkeln seiner Gedanken. Bist du sicher?

»Nein, nein! Das ist nicht wahr – das kann nicht wahr sein.«

Immer wieder beobachtete er aus den Augenwinkeln einen einzelnen Lichtstrahl, der ihn an ein Kind erinnerte, das – um Aufmerksamkeit heischend – an seinem Ärmel zupfte. Forral drehte sich halb um und sah, daß die Kerze von einem Spiegel reflektiert wurde, der am Fußende des Bettes an der Wand hing. Der Spiegel war ihm zuvor gar nicht aufgefallen – und bis zu diesem Augenblick hatte er auch nicht bemerkt, daß er wieder einmal in den Gemächern des Erzmaguschs war – ironischerweise eben dem Ort, an dem er gestorben war.

Wo steckt dieser Bastard Miathan überhaupt? dachte Forral. Hat er es irgendwie vermocht, mich hierher zu holen? Hat er den Spiegel dort aufgehängt, um mich zu verletzen und endgültig zu vernichten?

»Sei nicht so ein verdammter Narr, Forral«, zischte er sich selbst an. »Das elende Ding hat die ganze Zeit dort gehangen. Du konntest es nur nicht sehen, bevor du die Kerze angezündet hattest.«

Der Spiegel hing dort und wartete, dunkel und geheimnisvoll. Der Schwertkämpfer wußte, daß er die Sache nicht auf ewig hinausschieben konnte. Er hatte keine andere Wahl, als sein Spiegelbild anzusehen und die Wahrheit herauszufinden. Und Aurian – Aurian war voller Entsetzen vor ihm geflohen. Er sollte keine Zeit verschwenden, sondern ihr nachlaufen, sie suchen und ihr versichern, daß alles gut sei.

Ist es das wirklich? Wird es jemals wieder gut sein? Forral wischte diesen heimtückischen Gedanken beiseite. Dann holte er tief Luft, erhob sich mühsam und stolperte zu dem Spiegel.

Die Kerze, mit der er seine Gesichtszüge beleuchtete, begann in Forrals Hand zu zittern. Er erkannte den Mann im Spiegel, obwohl das lohfarbene Haar jetzt länger war und von der Sonne gebleicht. Auch das Gesicht war sonnengebräunt; seine Züge älter, schärfer, reifer und selbstbewußter als die des zu Tode erschreckten Jungen, den Aurian gerettet und mit dem Forral sich angefreundet hatte. Aurians Geliebter war jetzt ein Mann – und Forral war an seine Stelle getreten.

»O ihr Götter«, stöhnte der Schwertkämpfer. Seine Beine gaben unter ihm nach. Er ließ sich wie ein uralter Mann auf die Knie fallen und setzte die Kerze auf den Fußboden. Dann begrub er das Gesicht in den Händen, als wolle er Anvars gestohlene Züge verbergen – als wolle er die Wahrheit leugnen. »Was habe ich getan?« flüsterte er. »Was habe ich getan?«

»Was hast du denn getan?« Die Stimme klang ungewohnt scharf. Aurian stand hoch aufgerichtet und drohend in der Tür. Ihre ganze Haltung verriet Entschlossenheit, obwohl ihre Augen dunkel waren vor Schmerz. Forral sprang auf. Er wünschte sich sehnlichst, ihr entgegenzulaufen, um sie in die Arme zu nehmen und zu trösten, wie er es getan hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war – aber etwas in ihrem Gesicht hielt ihn davon ab.

Anvar war nicht der einzige, der reifer geworden war, dachte der Schwertkämpfer. Das hier war nicht mehr das naive, vertrauensvolle junge Mädchen, an das er sich erinnerte. Selbst als sie schon ein Paar gewesen waren, hatte Aurian noch etwas von der unverdorbenen Unschuld besessen, die so gar nicht zu der arroganten und oft ungerechten Natur der Maguschgeborenen paßte. Ja wirklich, bis zum allerletzten Augenblick hatte sie immer noch mit ganzer Kraft versucht, an Miathan zu glauben, an dieses Ungeheuer mit der schwarzen Seele. In jenen Tagen hatte Aurian niemals versucht, ihre Magie besonders aufzubauschen, sondern das Vermächtnis ihres Maguschblutes in Gesellschaft Sterblicher eher heruntergespielt. Jetzt umgab ihre Macht sie wie eine flammende Aura. Ihr hageres, grimmiges Gesicht war das einer Kriegerin, und die vom Schmerz gemeißelten Linien und die wachsamen Augen, die so viel Leid, Verrat und Tod gesehen hatten, sprachen dieselbe Sprache. Ein Schaudern durchlief ihn, als er an das kleine Mädchen dachte, das er vor so langer Zeit behütet und geleitet hatte. Was im Namen aller Götter war ihr, während er sie nicht hatte beschützen können, widerfahren?

Forral konnte seine bittere Enttäuschung nicht verbergen. »Ist das alles, was du mir nach all dieser Zeit zu sagen hast? Aurian, erkennst du mich nicht?«

Grinces letzter Kerzenstummel flackerte und erlosch, dann stürzte die Schwärze auf ihn ein wie ein wildes Tier. Angenommen, die Geister der Magusch existierten wirklich? In diesem Augenblick wünschte Grince, er hätte sich niemals an die Akademie mit ihren verborgenen Geheimnissen herangewagt. Mit Hilfe der Kerzenstummel, die er immer bei sich trug, hatte er sich durch die Abwasserkanalisation getastet, bis er schließlich eine Felsspalte fand, die zu den Tunneln herunterführte, von denen Hargorn ihm einst erzählt hatte. Zuerst hatte er es für eine gute Idee gehalten – Pendrals Wachen wagten es ja offensichtlich nicht, ihn in die Spukhöhle der Magusch zu verfolgen –, aber er hätte sich nie träumen lassen, daß das Gewirr der Korridore unter dem Felsvorsprung derart komplex war. Noch bevor seine letzte Kerze verloschen war, war er stundenlang durch diese Tunnel geirrt und hatte jede Orientierung verloren.

Der Dieb war erschöpft und wurde von einem quälenden Durst geplagt. Ihm tat alles weh, vom Kopf, wo der hin und her schwingende Eisenhaken ihn getroffen hatte, bis zu den Füßen, die er sich versengt hatte, als er durch den Küchenkamin gerutscht war.

Bei seiner wilden Flucht durch Pendrals Gebüsch (wer hätte auch gedacht, daß dieser hinterhältige Bastard seinen Garten mit Dorngestrüpp bepflanzt hatte?) hatte er sich an hundert Stellen blutig gekratzt, und an seinen Sturz erinnerten ihn ungezählte blaue Flecken. Die Schwertwunde in seinem Bein brannte, und an seiner Schulter und seiner Taille klebte vertrocknetes Blut, wo der Hund ihm seine gewaltigen Zähne ins Fleisch gebohrt hatte. Diese Verletzungen waren bei weitem die schlimmsten. Jeder Schritt brachte furchtbare Schmerzen mit sich.

Die Dunkelheit der unterirdischen Tunnel hielt ihn umklammert, und die Luft war staubig und abgestanden, so daß er kaum atmen konnte. Grince schlich langsam durch den Korridor, tastete sich mit beiden Händen an der grob behauenen Mauer entlang und schlurfte wie ein alter Mann, um auf dem unebenmäßigen Steinfußboden nicht auszurutschen oder zu stolpern. Soviel zu den Geistern der verfluchten Magusch, dachte er verbittert. Der Hauptfeind an diesem Ort ist meine eigene Dummheit. Warum konnte ich nicht einfach in den Abwasserkanälen bleiben, bis die Luft rein war?

Es war Gier, die ihn in die Archive der Akademie getrieben hatte. Gier und Neugierde. Sobald er seine Verfolger abgeschüttelt hatte, hätte er diesen irrsinnigen Plan aufgeben und nach Hause gehen sollen, aber er wußte, daß er niemals mehr den Mut aufbringen würde, hierher zu kommen. Außerdem war die Versuchung, die Archive zu erkunden, einfach unwiderstehlich gewesen. Es mußte doch irgend etwas Wertvolles hier unten geben! »Etwas Wertvolles, du Idiot«, murmelte der Dieb mürrisch. Warum war er nur so dumm gewesen? Gerade in diesem Augenblick könnte er warm und mit vollem Bauch am Feuer sitzen. Irgend jemand hätte sich bereits um seine Verletzungen gekümmert, und er hätte einen Becher mit Bier in der Hand. Ein kaltes Gefühl der Panik breitete sich in Grinces Brust aus. Sein Herz begann zu rasen, und klebriger Schweiß trat ihm auf die Stirn. Ich muß hier raus!

Später konnte er sich nicht mehr daran erinnern, daß er plötzlich losgerannt war. Er kam erst wieder richtig zu Bewußtsein, als er stürzte.

Die Wucht seines Falles raubte ihm den Atem, und sein Schrei wahr nicht mehr als ein Ächzen. Keuchend lag Grince auf dem Boden, und sein Herz hämmerte gegen die Rippen. Einen grauenhaften Augenblick lang hatte er nicht gewußt, wie tief er fallen würde – es konnte ein halber Meter sein oder dreihundert. Seit seiner Kindheit, als die Soldaten Jarvas’ Herberge angriffen, hatte er nicht mehr so grenzenlose Angst erlebt. Wahrscheinlich war er in Panik geraten und losgerannt – und dann einfach ins Leere getreten, als das Gefälle des Bodens unter ihm etwas steiler wurde. Mit einem Schaudern wurde ihm sein Glück bewußt. In diesem Augenblick hätte er genausogut mit zerschlagenen Gliedern auf dem Grund einer tiefen Felsspalte liegen können.

»Grince, du verdammter Idiot! Das hast du nun von deiner blinden Panik«, beschimpfte er sich, nur um in der tiefen, totenstillen Leere um ihn herum den Trost seiner eigenen Stimme zu verspüren. Ganz vorsichtig setzte er sich auf und tastete seine Gliedmaßen ab. Aber abgesehen von ein paar blauen Flecken mehr und dem Gefühl, daß jeder Knochen in seinem Körper durchgeschüttelt worden war, schien ihm nicht viel passiert zu sein – obwohl er, wenn er jemals hier raus kam, wahrscheinlich feststellen würde, daß sein Haar weiß geworden war. Nachdem er seine Umgebung abgetastet hatte, stellte er fest, daß er drei Stufen tief in eine Art Nische im Mauerwerk gefallen war. Als seine suchenden Finger auf etwas Weicheres, Wärmeres trafen als die scharfkantigen Steine des Tunnels, versteifte Grince sich jäh. Aber natürlich – die Nische wurde von einer Tür versperrt, und die drei Stufen führten zu eben dieser Tür hinunter. Doch bevor er seinen Gedanken ganz zu Ende gedacht hatte, gab das glatte Holz dem Druck seiner Finger langsam nach, und Grince griff ins Leere. Das Quietschen der Angeln durchbrach die tiefe Stille, und Grince verspürte einen kalten Luftzug im Gesicht, als die entriegelte Tür aufschwang.

Was sollte er jetzt tun? Grince mußte sich eingestehen, daß er weder mit mysteriösen Türen, die sich scheinbar aus eigenem Antrieb öffneten, noch mit den darunterliegenden Räumen irgend etwas zu schaffen haben wollte. Er sollte versuchen, einen Ausweg aus diesen unterirdischen Tunneln zu finden, statt in den Räumen der verfluchten Magusch herumzutappen. Er hatte seine Lektion gelernt. Wenn es hier unten irgendwelche Geheimnisse – oder gar Wertgegenstände – gab, konnten sie, soweit es ihn betraf, gern hier bleiben. Und dann war ihm plötzlich klar, daß er niemals wieder ins Freie finden würde, wenn er sich weiter blind durch die Dunkelheit tasten mußte. Bisher hatte er in den Korridoren weder Lampen noch Fackeln gefunden, aber in den Räumen selbst mußten die Magusch doch irgendwelche Lichtquellen aufbewahrt haben? Wenn er sich an den Wänden entlang schob, mußte er irgendwann einen Fackelhalter oder einen Mauervorsprung mit einem Kerzenleuchter finden, irgend etwas. Grince zog sich hoch. O bitte, ihr Götter, macht, daß ich irgendwo eine Lampe oder eine Fackel finde, betete er. Laßt mich bloß hier rauskommen, und ich schwöre, ich werde mich nie wieder mit den Magusch einlassen … Eine Hand zur Orientierung an den Türrahmen gelegt, trat er vorsichtig über die Schwelle und in den dahinter liegenden Raum.

Als Forral Aurian das letzte Mal als lebendiger Mensch gegenübergetreten war, hatten sie sich in eben diesem Gemach befunden. Beim Anblick ihres Gesichtes stürzten die Erinnerungen von neuem auf ihn ein: die undurchdringliche, klebrige Dunkelheit, die nach Verwesung und Fäulnis stank, das wahnsinnige, geifernde Gelächter Miathans, das schrille, sirrende Fauchen des Todesgeistes, als dieser auf ihn herabfuhr, und Aurians verzweifelter, zum Scheitern verurteilter Versuch, sein Leben zu retten. Er erinnerte sich an die Finsternis, die über ihm zusammenschlug – und dann war die graue Tür hinter ihm zugefallen, und er konnte nur noch Aurians Stimme hören, die von der anderen Seite verzweifelt und tränenschwer nach ihm rief, wieder und wieder. Damals, dachte der Schwertkämpfer verbittert, hätte sie die Sonne vom Himmel gestohlen, um ihn zu retten. Jetzt sah sie ihn mit kalten Augen an, als könne sie seine Nähe nicht ertragen; ihr Gesicht war der Inbegriff des Jammers, während sie zu erklären versuchte, was sich geändert hatte. Und jedes ihrer Worte, brach ihm das Herz.

»Aber du bist nicht Forral – verstehst du das nicht? Forral ist tot – ich war dabei, als er starb. Wenn du in deinem eigenen Körper zurückgekommen wärst, als der Forral, den ich kannte und liebte, wäre ich außer mir vor Freude gewesen, dich wiederzusehen.« Aurian seufzte und wandte den Bück ab. »Es tut mir leid, wenn ich dir weh tue. Ich weiß, du hättest ein anderes Willkommen verdient – und erwartet –, nachdem du so lange fort gewesen bist und auf so wunderbare Weise zurückkehren konntest. Aber du mußt mich auch verstehen. Ich habe niemals damit gerechnet, daß du zurückkommen würdest – so etwas war einfach ausgeschlossen. Ich habe große Qualen ausgestanden, bevor ich mir auch nur eingestehen konnte, daß ich Anvar liebte, aber schließlich war ich dann soweit. Und erinnere dich bitte, du hast selbst gesagt, daß ich jemanden finden müsse …«

»Ich weiß, verflucht!« brüllte Forral. »Erzähl mir nicht, was ich gesagt habe! Wenn ich gewußt hätte, wie eifrig du mich beim Wort nehmen würdest, hätte ich meinen dämlichen Mund gehalten!«

»Das ist ungerecht!« Aurian war aufgesprungen, und in ihren Augen flammte das kalte, unmenschliche Licht des Maguschzorns. »Ich habe dich betrauert. Ich habe um dich geweint. Und ich habe ganz gewiß nicht damit gerechnet, daß du eines Tages in einem gestohlenen Körper zurückkommen und mir das alles ins Gesicht schleudern würdest!«

»Ich habe Anvars Körper nicht gestohlen!« Nun war auch Forral aufgesprungen.

»Wenn du seinen Körper nicht gestohlen hast – wie würdest du das nennen, was du getan hast? Wo ist er jetzt? Warum hast du ihm das angetan?«

Forral fühlte sich, als hätte sie ihn geschlagen – und wahrhaftig, es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte ihr Schwert genommen und es ihm ins Herz gebohrt. Den Schmerz hätte er ertragen können. Während der langen, qualvollen Wartezeit seines Exils Zwischen den Welten hatte der Schwertkämpfer sich an die Überzeugung geklammert, daß er, wenn er nur einen Weg zurück in die Welt der Lebenden finden würde, alles in Ordnung bringen konnte. Jetzt, da er endlich am Ziel seiner Träume angelangt war, mußte er zu seinem Entsetzen feststellen, wie sehr er sich geirrt hatte. Er hatte die gestohlenen Augenblicke, in denen er Aurian vom Brunnen der Seelen aus hatte betrachten können, zu einem Phantasiegebilde gewoben, das von Hoffnungen und Wünschen zusammengehalten wurde. Aber seit seiner Ermordung hatte die Welt sich auch ohne ihn weitergedreht, und für ihn, Forral, war kein Platz mehr darin. Ein Blick auf Aurians Gesicht genügte, um ihm das klarzumachen. Der Tod hatte die ganze Zeit über recht gehabt – es gab kein Zurück.

Plötzlich liefen Aurian Tränen übers Gesicht, und sie wischte sie mit zorniger Hast fort. »Ich habe niemals aufgehört, dich zu lieben, weißt du das? Anvar hat das begriffen. Er hat sich seinen eigenen Platz in meinem Herzen geschaffen – er hat gar nicht versucht, deinen einzunehmen. Am meisten schmerzt mich die Tatsache, daß du zu dieser grauenhaften Tat fähig gewesen bist. Ich hätte Heber bis ans Ende meiner Tage um dich getrauert, als herausfinden zu müssen, daß du niemals der Mann warst, für den ich dich gehalten habe – daß ich all diese Jahre mit einer Lüge gelebt habe …«

»Nein! Hör auf! Hör sofort damit auf!« Forrals Brüllen hätte sich auf jedem Schlachtfeld hören lassen können. Es erstaunte ihn, daß Anvars Stimme zu solcher Lautstärke fähig war. Aurian schloß abrupt den Mund, funkelte ihn aber weiter voller Zorn an. Eine Mischung aus Erleichterung und Entsetzen überflutete den Schwertkämpfer. Das also war der Grund, warum seine Rückkehr sie so erzürnte. Sie glaubte, er sei für Anvars Verlust verantwortlich! Er hielt ihr die Hand hin und verbarg seine Enttäuschung, als sie sie nicht ergriff. »Aurian, bitte hör mir zu. Setz dich einfach hin und hör mich an, während ich dir erkläre, was passiert ist. Wenn du mich danach weiter hassen willst – nun, das ist deine Sache. Aber zumindest wirst du dann die Wahrheit kennen.« Als er ihr Zögern sah, fügte er hinzu: »Bitte. Nach all unseren gemeinsamen Jahren schuldest du mir wenigstens die Chance, mich zu verteidigen.«

Aurian zögerte nur eine Sekunde lang. »Na gut«, antwortete sie leise. »Das ist nur gerecht.« Dann ließ sie sich auf den staubigen Boden neben dem leeren Kamin sinken. Sie legte sich den schlangenförmig geschnitzten Stab mit dem unheimlich funkelnden grünen Juwel auf den Schoß und strich mit rastlosen Fingern über das glatte, gewundene Holz. Forral wußte sofort, daß sie versuchte, ihren Zorn und ihre Angst zu beherrschen, um ihm wirklich zuzuhören. Er unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung und setzte sich ihr gegenüber hin. Ohne auch nur eine Sekunde lang den Blick von ihr abzuwenden, begann er zu sprechen.

Lord Pendrals ohnehin stets gerötetes Gesicht wurde vor Zorn purpurn. »Was soll das heißen, er ist einfach verschwunden? Du Idiot! Er ist nicht verschwunden – du hast ihn entkommen lassen, du jämmerliches Nichts von einem menschlichen Wesen!«

Im Gegensatz zu der dunklen Gesichtsfärbung seines Herrn war der Kommandant der Wache totenbleich. Adjutant Rasvald, der das Ganze von seinem sichereren Platz neben dem Stuhl des Hohen Herrn beobachtete, sah, wie sein Kommandant von einem Fuß auf den anderen trat. »Aber – aber, hoher Herr«, stammelte der unglückselige Mann. »Der Dieb ist in die Kanalisation unter der Akademie geflohen. Ich hätte nie gedacht, daß er den Mut aufbringen würde, dort zu bleiben. Ich dachte, die Geister würden ihn hinaustreiben, und ich hatte überall Männer postiert.«

Pendrals Miene wurde noch düsterer. »Oh, was für ein wunderbarer Plan. Du hast also beschlossen, die Zeit meiner Soldaten zu verschwenden, indem du sie auf einen Mann warten ließest, der nie auftauchte!« Seine Worte begannen mit einem drohenden Fauchen und endeten in einem Brüllen.

»Hoher Herr, bitte … ich habe doch gerade versucht, eine Verschwendung Eurer Soldaten zu vermeiden, indem ich sie nicht zu diesem bösen, von Gespenstern heimgesuchten Ort geführt habe …«

Die feige Unterwürfigkeit seines vorgesetzten Offiziers war ein peinliches Spektakel. Adjutant Rasvald wandte diskret den Blick ab – er hatte schon vor langer Zeit entdeckt, daß es für einen Mann in Lord Pendrals Diensten gesünder war, gewisse Dinge nicht zu sehen. Rasvald betrachtete die Wände der Bibliothek der Villa, wo eine dicke Farbschicht die Narben an den Stellen verdecken sollte, an denen die alten Bücherregale samt und sonders herausgerissen worden waren. Pendral hatte die Bibliothek in ein Audienzzimmer verwandelt, in dem er Bittsteller empfing und – noch häufiger – über jene zu Gericht saß, die ihm getrotzt oder eines der immer zahlreicheren Gesetze gebrochen hatten – ganz zu schweigen von jenen, die in ihrem Dienst versagt hatten, so wie der glücklose Kommandant.

»Hör auf zu winseln, du hirnloser, rückgratloser Wurm!« schrie Pendral. »Meine Männer verschonen wolltest du, ja! Und warum, bitte schön? Ich habe noch Hunderte davon! Nein …« Er zeigte mit einem dicken Finger, der wie eine juwelenbesetzte Wurst aussah, auf den zitternden Mann. »Gestehe – nicht der Gedanke an meine Männer hat dich davon abgehalten. Es war deine eigene Haut, die dir am Herzen lag. Du hattest Angst, dich den Geistern der Magusch zu nähern, also hast du dich feige zurückgezogen und diesen verfluchten Hurensohn von einem Dieb mit meinen Juwelen entkommen lassen, die jetzt irgendwo in den Gedärmen der Erde verschwunden sind!« Mittlerweile schrie Pendral vor Zorn. An seinem Hals und auf seiner Stirn traten die Adern hervor, und ein paar Speicheltröpfchen trafen den am ganzen Leib bebenden Kommandanten im Gesicht.

Mit einemmal verfiel der Hohe Herr in unheilvolles Schweigen. Rasvald spürte, wie seine Gedärme nachgaben, als Pendral seinen blutunterlaufenen Blick auf ihn heftete. »Du«, sagte er mit tödlicher Sanftheit. »Du hast diesen Haufen Unrat doch begleitet, oder nicht, als er den Dieb verlor?«

Dem Adjutanten klebte die Zunge am Gaumen. Er betete darum, daß der Erdboden sich unter ihm auftun und ihn verschlingen möge – jedes Schicksal war besser als das Los jener, die Lord Pendral in seinem Zorn entgegentreten mußten.

»Nun?« bellte der Hohe Herr. »Hast du den Verstand verloren oder nur deine Zunge? Wenn du sie nicht benutzen möchtest, werde ich sie dir rausschneiden lassen.«

Rasvald schluckte verzweifelt. »Hoher Herr, ich – ja, ich war bei dem Kommandanten, als er die Hunde abrief. Aber es war nicht meine Idee, Herr. Ich habe dagegen protestiert. Ich habe ihm gesagt, das sei töricht …«

Der Kommandant der Wache sog angesichts eines so überwältigenden Verrats scharf die Luft ein. »Wahrhaftig, du hinterhältiger, verlogener Bastard!« rief er. »Das ist nicht wahr, er hat nie …«

»Es spielt keine Rolle.« Pendral sprach laut genug, um die Beteuerungen des Mannes zu übertönen. »Du.« Er zeigte auf Rasvald. »Für den Augenblick wirst du zum Kommandanten der Wache befördert. Sei still«, unterband er die gestotterten Dankesworte des ehemaligen Adjutanten. »Ich werde dir Bescheid geben, wenn du sprechen darfst. Folgendes sind deine Befehle.« Er zählte sie an den Fingern ab. »Erstens, du wirst einen neuen stellvertretenden Kommandanten ernennen, der die ganze Stadt Haus für Haus durchsucht. Zweitens, du wirst dieses Stück Dreck hinausführen und töten. Persönlich.«

Der Kommandant der Wache warf sich auf den gewachsten Boden. »Erbarmen, Herr – Erbarmen!« wimmerte er.

»Wachen!« Der Hohe Herr schnippte mit den Fingern, und zwei stämmige Gestalten verließen ihren Posten an der Tür. Einer von ihnen packte den ehemaligen Kommandanten von hinten, während der andere ihm mehrere Male ins Gesicht und in den Magen schlug. Ohne ein weiteres Wort schleppten sie den Unglücklichen, dem das Blut aus Mund und Nase lief, aus dem Raum.

Pendral seufzte. »Ich hab’s ihnen wieder und wieder gesagt, daß ich kein Blut auf meinem Fußboden haben will«, murmelte er, »aber nehmen sie jemals Rücksicht darauf? Also, wo war ich?« Abermals durchbohrten seine Augen wie zwei Dolche den Mann vor ihm. Rasvald erbleichte. »O ja. Sobald du mit dem Gefangenen fertig bist, nimmst du dir so viele Männer, wie du für nötig hältst, und steigst in diese Kanäle runter.«

»Was, jetzt, hoher Herr? Mitten in der Nacht?« stieß Rasvald atemlos hervor.

»Natürlich jetzt!« Ein bösartiger Blick trat in Pendrals Augen. »Und komm nicht ohne meine Juwelen und diesen elenden Tropf zurück, der sie gestohlen hat, oder du wirst in demselben Grab landen wie dein Kommandant.«

Es war nur gut, daß das Leben Grince zur Vorsicht erzogen hatte. Direkt hinter der Tür des Alkovens führte eine weitere Treppe in den eigentlichen Raum hinein, aber diesmal tastete Grince mit den Füßen nach dem Rand der Stufe und brachte die Treppen sicher hinter sich. Nachdem er sich einen Augenblick lang in der Dunkelheit orientiert hatte, wandte er sich nach rechts und schob sich wie ein Blinder an der Wand entlang.

Zum Entsetzen des Diebs schien der Raum vom Boden bis zur Decke nichts anderes als Bücher zu enthalten, die allesamt auf Regalen lagen. Aber es mußte doch irgendwo eine Kerze geben oder vielleicht eine Lampe – was wäre sonst der Sinn all dieser Bücher gewesen? Niemand konnte im Dunkeln lesen. Grimmig setzte er seine Suche fort; er hatte keine andere Wahl, wenn er diesen schrecklichen Ort jemals verlassen wollte. Einmal lösten seine suchenden Hände einen Bücherstapel über seinem Kopf, der auf ihn herunterpolterte und ihm weitere Beulen eintrug. Grince fluchte verärgert, und der Klang seiner Stimme hallte erschreckend laut und grell durch die Stille des Raumes.

Grince hatte das Gefühl, als führe ihm ein eisiger Finger über den Rücken. Es konnte sich unmöglich irgend jemand – oder irgend etwas – außer ihm in dem Raum befinden, und trotzdem hatte er plötzlich das sichere Gefühl, nicht allein zu sein. Obwohl er wußte, daß dieser Gedanke einfach lächerlich war, ließ sich das Gefühl nicht abschütteln. Grince blieb inmitten der herabgefallenen Bücher auf dem Boden sitzen und wagte es nicht, aufzustehen, wagte es nicht mal, zur Tür zurückzugehen, aus Angst vor dem, was ihm in der Dunkelheit begegnen mochte.

Lange Minuten verstrichen, während er wartete und versuchte, möglichst lautlos zu atmen und auf das leiseste Geräusch in der Kammer zu lauschen. Nach einiger Zeit wurde ihm klar, wie töricht er sich benahm. Es war niemand außer ihm in diesem Raum – natürlich nicht. Und wenn doch jemand hier bei ihm war, brauchte Grince gar keine Kerze, um ihn zu sehen – er hatte die ganze Zeit über buchstäblich auf der Lösung seiner Probleme gesessen. Er durchstöberte seine Tasche nach Feuerstein und Zündholz, griff dann nach dem nächstbesten Buch und riß die Seiten heraus.

Beim vierten oder fünften Versuch hatte er endlich Erfolg, und ein dünner, beißender Rauch trieb dem Dieb die Tränen in die Augen. Mit einiger Mühe gelang es ihm schließlich, eine winzige Flamme zu entzünden, die sich zuerst in den Stapel der zerknitterten Seiten hineinfraß und dann wie eine sich öffnende Knospe erblühte. Als Grince vor Erleichterung tief aufseufzte, Heß sein Atem die Rammen tanzen, als sei das Feuer ein lebendiges Wesen. Grince spürte, wie sein Gesicht und seine Hände sich langsam erwärmten. Während das hungrige Feuer immer kräftiger wurde, begann das bernsteinfarbene Licht die Dunkelheit zu verzehren und breitete sich bis zu den Wänden des Raumes hin aus. Schnell warf Grince neue Seiten in die Flammen. Er würde seine Lichtquelle am Leben erhalten müssen, bis er eine Möglichkeit gefunden hatte, sie auf seine Wanderung mitzunehmen. Papier allein würde für seine Zwecke zu schnell verbrennen, aber wenn er in der Kammer etwas Holz fand – einen Stuhl oder vielleicht ein Regal, das er in Stücke brach, konnte er sich vielleicht ein paar einfache Fackeln machen, die ihm den Heimweg erleuchten würden.

Dies mußte einer der größeren Räume sein. Das Licht seines kleinen Feuers reichte nicht ganz aus, um die Ecken oder die schattigen Alkoven zu beleuchten, die hier und da in der ihm am nächsten gelegenen Wand eingelassen waren. Auch der Qualm verringerte die Sicht. Der dichte Rauch erhob sich jetzt in erstickenden Wolken zur Decke und brannte dem Dieb in den Augen. Schließlich warf Grince noch eine Handvoll Seiten in die Flammen, stand dann hastig auf, wandte sich von dem Feuer ab und ging quer durch den Raum auf die rechte Ecke zu. Als er an den ersten Alkoven kam, trat er in dessen Schatten hinein und blinzelte, um in dem schummrigen Licht besser sehen zu können. Als eine weitere Seite Feuer fing, wichen die Schatten für einen Augenblick zurück, um eine hünenhafte Gestalt mit kalten, glitzernden Augen preiszugeben. In dem Alkoven stand jemand!

Grince schrie auf. Er wollte weglaufen, konnte sich aber nicht von der Stelle rühren. Statt dessen gaben seine Beine unter ihm nach. Hinter ihm machten sich abermals die Schatten breit, als sein Feuer erlosch, aber trotz der Düsternis konnte Grince nicht anders, als den Kopf in den Nacken zu legen und hinaufzuschauen. Der hypnotische Blick dieser glitzernden blauen Augen hatte ihn vollkommen in seinen Bann gezogen.

Sie standen wartend am Fuß des Turmes, als Shia Khanus Augen im Mondlicht hell aufblitzen sah. »Es wäre besser, Aurian würde sich etwas beeilen«, sagte er. »Sie ist jetzt so lange weg, daß ich mir langsam Sorgen mache. Und was kann da nur passiert sein? Was ist dem armen Anvar zugestoßen?«

»Das wüßte ich auch gerne – ich habe nicht mal die Hälfte von dem verstanden, was Aurian mir erzählt hat«, gab Shia zu. »Ich habe kein Zutrauen zu diesem Ort – und ich vertraue auch diesem Menschen nicht, den sie da gefunden hat, diesem Menschen, der den Körper eines anderen übernehmen konnte«, fügte sie düster hinzu.

»Du vertraust überhaupt keinem Menschen, abgesehen von unseren Freunden«, bemerkte Khanu, »genausowenig wie ich. Außerdem mag ich diese Stadt auch nicht – sie ist irgendwie unnatürlich. Gefährlich. Ich wünschte, wir wären wieder in den Bergen.«

Shia warf ihm einen wütenden Blick zu. »Wo Aurian hingeht, da gehe ich auch hin«, sagte sie feierlich. »Ich möchte nirgendwo anders sein.«

»Nun, du könntest ja zur Abwechslung mal sie bitten, dahin zu gehen, wo du hin möchtest«, gab Khanu unerschrocken zurück. Dann fuhr er sich geziert mit der Zunge über Nase und Schnurrbarthaare. »Ich spüre schon die Veränderungen, die sehr bald mit dir vorgehen werden, Shia. Es wird nicht mehr lange dauern, bis …« Seine Worte gingen in einem erstickten Heulen unter, als eine schwere Tatze ihm auf die Nase schlug.

»SEI STILL!« zischte Shia ihn zornig an. »Halt dich aus Dingen, die dich nichts angehen, heraus!«

»Die mich nichts angehen?« Khanus vom Mondlicht beschienene Augen glitzerten böse. »Als das einzige Männchen in einem Umkreis von Hunderten von Meilen gehen mich diese Dinge sehr wohl etwas an – und es tut mir absolut nicht leid.«

Shias Schwanz zuckte hin und her. »Wenn du noch ein Wort sagst, werde ich dafür sorgen, daß es dir mehr als leid tut«, warnte sie ihn mit einem sonoren Knurren.

»Es ist töricht von dir, einfach zu ignorieren, was bald geschehen wird. Früher oder später wirst du es akzeptieren müssen«, murmelte Khanu verdrossen. Als Shia abermals fauchte, brachte er sich hastig in Sicherheit, damit er nicht noch einmal Bekanntschaft mit ihrer schnellen Pfote und den scharfen Krallen machte. »Ich werde jetzt dieses große Gebäude auf der anderen Seite des Hofs auskundschaften«, sagte er und versuchte mannhaft, sich seine Furcht nicht anmerken zu lassen.

»Du brauchst dich nicht zu beeilen, ich komme gut ohne dich zurecht«, fuhr Shia ihn an, bevor sie wieder versuchte, das Gespräch zu belauschen, das Aurian ein paar Stockwerke weiter oben führte. Gerade als sie dieses Unterfangen aufgeben wollte, um sich auf die Suche nach der Magusch zu machen, hörte sie Khanus Gedankenstimme: »Shia, hör nur …«

Shia konnte mit ihrem scharfen Katzengehör aus einiger Entfernung ein schwaches und sehr gedämpftes Geräusch wahrnehmen, das von der anderen Seite des Hofs zu kommen schien.

»Hast du das gehört?« fragte Khanu. »Ich glaube, es ist unter der Erde. Du solltest besser mit Aurian reden. Für mich klang das wie der Schrei eines Menschen.«

Während Aurian sich mit entsetzter Faszination die Geschichte des Schwertkämpfers anhörte, ebbte ihr Zorn langsam ab. Trotz allem, was geschehen war, war dies immer noch Forral, ihre erste Liebe, und als er ihr von seinem Martyrium in der endlosen grauen Monotonie Zwischen den Welten erzählte, tat ihr das Herz für ihn weh. Sie hörte, wie er den Brunnen der Seelen benutzt hatte, um über sie zu wachen, bis der Tod seinem Treiben ein Ende machte – kein Wunder, daß sie oft das Gefühl hatte, daß er ihr nahe sei. Und er erzählte ihr auch, wie er herausgefunden hatte, daß er nur eine Hand in das Wasser zu tauchen brauchte, um seinen Schatten in die Welt zu senden, wenn er ihr helfen wollte, so wie er es in Dhiammara getan hatte.

Dann berichtete Forral von der rätselhaften Ankunft und dem Verschwinden Vannors. Aurians Herzschlag setzte für einen Moment aus, als Forral von dem Eingeständnis des Todes sprach, wonach der Kaufmann von niemand anderem als Eliseth persönlich vergiftet worden sei. Ein grauenhafter Verdacht stieg in ihr auf, und Aurians Finger krampften sich um den Erdenstab.

»Diese verfluchte Hexe«, fauchte sie, faßte sich dann aber schnell wieder. »Sprich weiter«, drängte sie den erschrockenen Schwertkämpfer. »Ich kann mir langsam vorstellen, was passiert sein muß – aber erzähl mir auch den Rest.«

Als Forrals Geschichte jedoch zu Anvar und seinen Qualen kam, konnte Aurian es kaum ertragen, länger zuzuhören. »Als Anvar im Reich des Todes ankam, versuchte ich mit ihm zu reden«, erklärte ihr der Schwertkämpfer. »Ich wartete doch verzweifelt auf Neuigkeiten. Wenn Anvar tot war, was war dann mit dir passiert? Der Tod versuchte ihn – genaugenommen, uns beide –, zu überreden, mit ihm zu kommen. Er sagte, wir könnten nicht dort bleiben – es sei nicht sicher. Jemand mißbrauche den Kessel der Wiedergeburt …«

O ihr Götter, dachte Aurian verzweifelt. Ich wußte es! Dann bemerkte sie, daß Forral in seinem Bericht innegehalten hatte. Er biß sich auf die Lippen und wandte den Blick von ihr ab. »Du hattest wahrscheinlich recht mit deinen Vorwürfen«, murmelte er. »Es muß meine Schuld gewesen sein. Vielleicht wäre Anvar in seinen Körper zurückgekehrt, wenn ich ihn nicht aufgehalten hätte – aber, verstehst du, der Tod hat mich so viele Male zu überreden versucht, in den Brunnen der Seelen zu steigen und wiedergeboren zu werden, daß ich dachte, er wolle mich abermals überlisten.« Forral runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht genau, was dann passiert ist – alles war so verworren –, aber ich glaube, daß dieser Kessel irgendwie mich statt Anvar zurückgeholt hat.« Er hielt ihr flehentlich die Hände hin. »Aurian, du mußt mir glauben. Ich habe es nicht absichtlich getan – ich wurde einfach geholt, und ich wußte nicht, wie ich Anvars Stelle hätte einnehmen können.«

Forral sah der Magusch offen in die Augen. »Wir waren wirklich zu lange voneinander getrennt, wenn du mir so etwas zutraust – aber möchtest du die Wahrheit wissen, meine Geliebte? Ich danke den Göttern, daß sie mich niemals vor diese Wahl gestellt haben – denn ich habe dich so sehr vermißt, daß ich nicht sagen kann, wozu mein Herz mich vielleicht verleitet hätte.«

Als sie das verständnisheischende Flehen in Forrals Stimme hörte und seinen Kummer so deutlich auf Anvars Gesicht geschrieben sah, schien aller Zorn von Aurian abzufallen. Er hatte ihr zweifellos die Wahrheit gesagt. Dieses letzte Eingeständnis war der endgültige Beweis dafür. Außerdem hätte Forral, wenn es ihm möglich gewesen wäre, ohne Hilfe zurückzukehren, das gewiß schon vor langer Zeit getan. Jetzt wußte die Magusch zumindest, wer wirklich für dieses Unglück verantwortlich war. Nur Eliseth war erfinderisch genug, um ihre Feindin mit einem so qualvollen Dilemma zu schlagen – und jetzt war sie auch noch im Besitz des Kelches der Wiedergeburt!

Was für ein verfluchtes, abscheuliches Durcheinander! Und es schien keinen Ausweg zu geben. Selbst wenn sie, Aurian, den Gral fände – würde sie in der Lage sein, Anvar mit Hilfe des Artefakts zurückzuholen? Und wenn sie es tat, würde das bedeuten, daß sie Forral ein weiteres Mal opfern mußte. Die Magusch sank unglücklich in sich zusammen, und einen Augenblick fühlte sie sich furchtbar unsicher und verletzlich. Dann spürte sie Forrals Blick auf sich. Der Schwertkämpfer hielt immer noch ihre Hände fest und wartete auf eine Antwort.

»Ich glaube dir«, sagte Aurian leise. »Du trägst keine Schuld an alledem. Ich hätte es besser wissen müssen – und es tut mir leid, daß ich an dir gezweifelt habe.« Dann atmete sie tief durch und versuchte mit aller Macht, die qualvollen Gedanken an Anvar und seine furchtbare Situation für den Augenblick aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie griff nach Forrals Händen. »Irgendwie werden wir diese Sache schon durchstehen – und wenigstens haben wir so die Chance, wieder zusammen zu sein.«

»Zumindest für eine Weile«, sagte Forral – und dann wechselte er, sehr zu Aurians Erleichterung, abrupt das Thema, als spüre er, daß sie sich abermals auf gefährlichem Boden bewegten. »Aurian, es ist lange her, seit der Tod mir das letzte Mal erlaubt hat, einen Blick in diese Welt zu werfen. Was ist mit unserem Sohn? Wo ist er jetzt? Geht es ihm gut?«

O ihr Götter – Forral wußte es nicht! Aurians Herz zog sich vor Kummer zusammen. Wie soll ich ihm antworten, dachte sie. Wie kann ich ihm erklären, daß Miathan seinen Sohn dazu verflucht hat, die Gestalt eines Wolfs anzunehmen – und daß ich das arme Kind dann im Stich gelassen habe, um gegen Miathan und Eliseth zu kämpfen. Ich weiß ja nicht einmal, wo Wolf jetzt ist – oder ob er überhaupt noch lebt. Wie kann ich das Forral eingestehen? In diesem Augenblick tauchte Shia auf und ersparte es der Magusch, ihrem ehemaligen Geliebten die schreckliche Wahrheit zu sagen. »Aurian, komm schnell. Hier ist jemand. Khanu ist in das große Gebäude auf der anderen Seite des Hofs gegangen. Er sagt, er hätte von irgendwo unter der Erde Schreie gehört.«

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