16 Schneesilber und Frost

Aurian sah die schlanke, junge Frau mit den braunen Flügeln erstaunt an. Irgendwie kam sie ihr seltsam bekannt vor … Die junge Frau hatte dagegen keinerlei Zweifel. Sie sprang auf und verbeugte sich tief. Ihr spitzes, kleines Gesicht verzog sich zu einem Lächeln tiefster Erleichterung.»Lady! Yinze sei Dank, daß du hier bist.« Als sie sich wieder aufrichtete, bekam die Maske ihrer Förmlichkeit die ersten Risse. »Ich hätte nie gedacht, daß ich jemals hierher kommen würde«, gestand sie. »Ich wäre bestimmt im Ozean umgekommen, hätte ich nicht zufällig Meister Yanis’ Schiff entdeckt.«

Jetzt erst fiel Aurian auf, daß das Mädchen eine Vielzahl farbenprächtiger, wenn auch langsam verblassender Schwellungen aufwies. Ihre zerbeulten Flügel machten einen jämmerlichen Eindruck, die Spitzen waren ausgefranst, und einige Flugfedern fehlten. Einen Hügel hielt sie unnatürlich schief, und die Spitze schleifte über den Boden. Die Magusch schüttelte ihre erstaunte Benommenheit ab und sah dem jungen Mädchen eindringlich ins Gesicht – aber es war die volle Pracht schimmernder, brauner Locken, die ihrem Gedächtnis schließlich auf die Sprünge half. »Ich weiß, wer du bist!« sagte sie plötzlich. »Du bist dieses Kind – das Kind, das Hreeza im Tempel gefunden hat.«

»Das stimmt, Lady, ich …«

»Na komm schon, Linnet«, unterbrach Zanna das Mädchen entschlossen. »Wo sind deine Manieren? Laß die Lady Aurian und ihre Freunde ans Feuer treten – sie haben einen langen und ermüdenden Ritt hinter sich, und du wirst noch Zeit genug haben, ihnen alles zu erzählen, wenn sie sich ein wenig ausgeruht haben. Lauf in die Küche und sag Bescheid, daß wir fünf hungrige Besucher haben. Dann komm mit Dulsina wieder zurück.«

Linnet sah sie bestürzt an. »Jawohl, Zanna.« Einen Augenblick später hob das Mädchen seine schlaffe Flügelspitze und eilte mit einem letzten, widerstrebenden Blick auf die Magusch davon.

Aurian schüttelte den Kopf. »Meine liebe Zanna – wo um alles in der Welt kommt sie denn her?«

»Du wärest erstaunt, was wir Schmuggler so alles finden«, erwiderte die Nachtfahrerfrau mit einem trockenen Kichern. »Obwohl das sogar für uns eine Überraschung war. Damals tobte ein Sturm – es war ungefähr vor einem Monat –, und Yanis war ausgerechnet zu dem Zeitpunkt auf hoher See. Nur gut, daß er so ein erfahrener Seemann ist – er konnte von Glück sagen, daß er nicht sein Schiff und alle Männer verloren hat. Linnet hatte ebenfalls Glück, daß Yanis zufällig da war. Sie landete während des Sturms an Deck seines Schiffes, sonst wäre sie bestimmt ertrunken. Das arme Geschöpf war von seinem Kampf gegen den Wind zu Tode erschöpft – sie hätte es niemals bis ans Ufer geschafft.«

»Aber was ist bloß in sie gefahren, daß sie eine so lange und gefährliche Reise gewagt hat?« fragte Aurian verwundert.

Zanna zuckte die Achseln. »Anscheinend hat sie dich gesucht. Es hat ihr fast das Herz gebrochen, als ich ihr erzählte, daß du verschwunden seist – aber sie soll ihre Geschichte selbst erzählen.« Zannas Miene verdüsterte sich. »Das letzte Jahr hat uns allen nichts als Kummer und Schmerz bereitet.«

Aurian ergriff ihre Hände. »Ja, Vannor hat mir alles erzählt. Zanna, es tut mir so leid …«

»Vannor hat sich seine Probleme selbst eingebrockt«, ertönte eine harte Stimme von der Tür. »Und unglücklicherweise hat er uns andere mit hineingezogen.«

Die Magusch drehte sich um – und hatte alle Mühe, ihr Entsetzen zu verbergen. Aber Dulsina war doch noch gar nicht so alt, dachte sie. Das war offenbar ein Irrtum. Die aufrechte und muntere Frau, die Dulsina einst gewesen war, war kaum wiederzuerkennen. Die Zeit und der Kummer hatten sich schwer auf ihre Schultern gelegt und ihren Rücken gebeugt, als trüge sie eine furchtbare Last. Ihr glänzendes, dunkles, stets gepflegtes Haar war schneeweiß geworden und fiel ihr in Strähnen übers Gesicht, und ihre einst makellose Haut, auf die sie immer so stolz gewesen war, war jetzt von ungezählten Falten der Bitterkeit und des Zorns gefurcht.

Als sie die Magusch sah, blitzten ihre Augen zornig auf, und sie trat einen Schritt zurück, als wolle sie Aurian ins Gesicht spucken. »Deine Rückkehr kommt zu spät, Magusch«, zischte sie. »Du hast die Phaerie auf uns losgelassen, und dann hast du dich aus dem Staub gemacht, um den Konsequenzen deiner Tat zu entfliehen, Nun, jetzt ist es zu spät.« Sie zeigte mit dem Finger anklagend auf Aurian. »Der Schaden ist angerichtet, und trotz all deiner Magie kannst du die Toten nicht zurückholen.«

Die erschütterte Magusch trat einen Schritt zurück; sie war vollkommen sprachlos. Was kann ich sagen, dachte sie, im Angesicht solcher Feindseligkeit? Was kann ich tun, um das alles wiedergutzumachen? Wie kann ich einem so mitleiderregenden, zerstörten Geschöpf auch nur böse sein?

»Dulsina, du vergißt dich«, sagte Zanna scharf. »Aurian ist nicht verantwortlich für die bösen Taten der Phaerie, und sie ist auch nicht verantwortlich für Vannors Torheiten. Das eine hat das andere über uns gebracht, nachdem das Gift meinem Vater den Verstand geraubt hatte. Du solltest die Schuld bei dem suchen, der tatsächlich die Verantwortung für all das trägt, bei dem, der versucht hat, Vannor zu vergiften. Du tust weder dir noch uns einen Gefallen, wenn du auf diese Art und Weise weitermachst.«

Hargorn, dessen Augen dunkel waren vor Kummer, trat zwischen die drei Frauen und legte bedächtig eine Hand auf Dulsinas Arm. »Komm, meine liebe, alte Freundin«, drängte er. »Bekümmere dich nicht. Rede lieber mit mir. Hebba hat mich über den gesamten Klatsch und Tratsch in Nexis ins Bild gesetzt, damit ich dir alles erzählen kann.« Und mit einer sanften Geste führte er sie aus dem Zimmer.

Die Magusch stand wie angewurzelt da, und ihr Gesicht war bleich und vollkommen ausdruckslos. Nur Forral, der sie seit so vielen Jahren kannte, sah, wie tief der Kummer ging, den sie so sorgfältig vor den anderen zu verbergen suchte. Er trat zu ihr und nahm ihren Arm, womit er unbewußt Hargorns Geste wiederholte. »Komm schon, Mädchen«, brach er das beklommene Schweigen, das sich über den Raum gelegt hatte. »Das arme, alte Geschöpf ist völlig außer sich – sie hat es nicht so gemeint.« Als er das kaum merkliche Beben spürte, das ihren Körper durchlief, führte er sie zu einem Stuhl in der Nähe des Feuers. »Nun komm – ruh dich eine Weile aus, mein Liebes. Wir sind alle müde.«

»Aurian, es tut mir so leid.« Zanna war dunkelrot vor Verlegenheit; es fehlte nicht viel, und sie hätte die Hände gerungen. »Dulsina geht es schon lange nicht mehr gut – aber ich hatte keine Ahnung, daß sie sich so benehmen würde. Ich – ich geh’ mal nachsehen, was aus dem Essen geworden ist.« Hastig stürzte sie aus dem Raum.

Worum, im Namen aller Götter, ging es hier eigentlich? fragte sich der Schwertkämpfer. Einmal mehr verfluchte er den Tod, weil er ihm den Zugang zum Brunnen der Seelen verwehrt und ihn daran gehindert hatte, die Welt zu beobachten, in der zu leben ihm nicht mehr gestattet war. Es gab so viele verborgene Unterströmungen an diesem Ort – so vieles ging hier vor, das er nicht verstand. Als er Kommandant der Garnison gewesen war, hatte er zum Beispiel gar keine Ahnung von der Existenz Wyvernesses gehabt – und er hätte gutes Gold für diese Information bezahlt. Diese verwünschten Nachtfahrer waren jahrelang ein Dorn in seinem Fleisch gewesen, und er wäre nie darauf gekommen, was für liebenswerte Menschen sie waren.

Auch dieses geflügelte Mädchen war ein Schock für ihn gewesen. Sie hatte ihn völlig verwirrt. Obwohl er im Brunnen der Seelen einmal einen Blick auf Rabe geworfen hatte, Aurians ehemalige geflügelte Gefährtin, war das doch etwas ganz anderes gewesen als eine tatsächliche Begegnung mit einem der legendären Himmelsleute. Wie soll ich Aurian denn helfen, wenn ich nur die Hälfte von dem verstehe, was vorgeht, fragte er sich verzweifelt.

Nun, er konnte tun, was er immer getan hatte – sein Bestes. Als er sich umsah, stellte Forral mit einem leisen Gefühl des Unbehagens fest, daß sowohl Grince als auch das schauerliche Geschöpf, das einstmals Finbarr gewesen war, irgendwo zwischen diesem Gemeinschaftsraum und der Höhle, in der die Schiffe vor Anker lagen, verschwunden waren. Sogleich schob er den Gedanken beiseite. Abgesehen von den beiden großen Katzen waren er und Aurian zum ersten Mal seit ihrer Begegnung im Turm der Akademie allein miteinander.

Die Magusch blickte trostlos ins Feuer, und Forral, der sich sehnlichst wünschte, sie irgendwie trösten zu können, kniete neben ihr nieder und streckte zaghaft die Hand aus. Er wollte ihr das Haar zerzausen, wie er es, als sie noch ein Kind war, so oft getan hatte. Aurian drehte sich energisch um – aber in ihren Augen stand Dankbarkeit, nicht Feindseligkeit. Mit einem Seufzer ergriff sie seine Hand und barg den Kopf an seiner Schulter. »Es fällt mir schwer, es dir zu zeigen, Forral«, sagte sie leise, »aber wirklich, ich bin froh, dich wiederzuhaben.«

Grince hatte die Aufregung um die verrückte, alte Frau genutzt, um sich davonzustehlen und sich auf eigene Faust etwas umzusehen. Diese Magusch hat gut reden, mir zu erzählen, ich soll diesen Leuten vertrauen, dachte er, aber ich will lieber zuerst ein wenig mehr über sie in Erfahrung bringen. Wo soll ich denn an einem solchen Ort meinen Platz finden?

Er ging denselben Weg zurück, den er gekommen war, und gelangte schließlich in die riesige Höhle, die die Flotte der Nachtfahrer beherbergte. Die Schiffe hatten ihn fasziniert und begeistert – nicht einmal, als Nexis noch einen Fluß hatte, waren ihm solche Schiffe untergekommen, Schiffe mit kunstvollen Galionsfiguren und glatten, schnittigen Linien. Und es konnte auch nicht schaden festzustellen, was diese Ballen enthielten, die die Männer zuvor abgeladen hatten …

Auf dem belebten Strand nahm niemand von einer zusätzlichen Gestalt Notiz. Grince lungerte eine Weile in der Nähe der Männer herum, die die Fracht von Bord holten, aber zu seiner Enttäuschung wurden keine einzige Kiste und kein einziger Ballen geöffnet; alles wurde, so wie es war, weggetragen. Nach einer Weile verlor er das Interesse und schlenderte den Strand hinunter. Dabei machte er einen großen Bogen um einen alten Mann, der am Rand des Wassers auf einem niedrigen Hocker saß und einen Haufen schleimiger, übelriechender Fische ausnahm. Dann beobachtete er einige Zeit die Männer und Frauen, die die Netze und Segel flickten, aber es war eine monotone Tätigkeit, die ihren Reiz schon bald verlor. Der Dieb wollte die Nachtfahrer gerade ihrem Werk überlassen und sich etwas Eßbares suchen, als von einem der in der Nähe vor Anker liegenden Schiffe ein ganzer Schwall von Flüchen kam.

»Verdammt noch mal! Die elende Gaffel sitzt fest!«

»Na dann kletter rauf und mach das elende Ding wieder los.«

»Ich? Da hast du dich aber geschnitten, Kumpel. Die Tage, an denen ich irgendwelche Masten raufkletterte, sind lange vorbei. Das ist ein Spiel für junge Männer.«

»Na, da ist doch ein junger Mann, gleich drüben am Ufer. Du! He, du! Spring in ein Dingi und schwing deinen faulen Hintern hier rüber!«

Zu seinem Entsetzen wurde Grince klar, daß die Männer ihn meinten. »Ich?« Hastig trat er vom Wasser zurück. »Aber ich habe doch gar keine Ahnung, wie …«

Die beiden alten Schiffsbauer tauschten einen angewiderten Blick. »Das werde ich nicht dulden. Fahr rüber und hol ihn.«

»Nein, fahr du doch.«

Der Graubart, der die Fische ausnahm, blickte von seiner Arbeit auf und spuckte ins Wasser. »Überanstrengt euch nur nicht!« rief er verächtlich. »Ich bringe den Jungen rüber.« Er packte Grince, bedeckte dessen Gewand mit stinkenden Fischschuppen und verfrachtete ihn in ein kleines Boot. Bevor der Dieb wußte, wie ihm geschah, oder Zeit fand, zu erklären, daß er nicht einmal schwimmen konnte, saß er im Boot und fuhr auf das tiefere Wasser der Bucht zu.

Ungeachtet seiner Proteste hievten die Schmuggler ihn an Bord. Einer der alten Männer sah ihn mit einem leichten Stirnrunzeln an. »Zu wem gehörst du?« fragte er verwirrt. »Ich kann dich irgendwie nicht richtig unterbringen …«

»Ach, komm schon, Jeskin«, warf der andere ein, »sonst sitzen wir noch die ganze verdammte Nacht hier. Was spielt das schon für eine Rolle, zu wem er gehört, solange er nur klettern kann.« Er wandte sich an Grince. »Junge, kannst du klettern?«

»Ob ich klettern kann?« Der Dieb konnte sein Grinsen nicht verbergen. Vielleicht hatten diese Nachtfahrer doch Verwendung für seine ungewöhnlichen Talente. »Kann ein Fisch schwimmen?«

Seine Worte schienen die beiden alten Männer nicht im mindesten zu beeindrucken. »Nun, klettere diesen Mast rauf und schneide die Gaffel los.«

In diesem Augenblick bedauerte Grince seine Prahlerei auch schon. Was, im Namen aller Götter, war denn bloß eine Gaffel? Warum klemmte sie am Mast fest, und wie war das passiert? Außerdem schien der Mast schrecklich hoch und spindeldürr zu sein, und das Schiff schaukelte auf höchst beunruhigende Art und Weise hin und her …

Aber plötzlich bemächtigte sich ein neues Gefühl des jungen Diebes. Hier stand er nun an einem fremden Ort, an dem seine frühere Geschichte unbekannt war, einem Ort, an dem er einen neuen Anfang machen konnte. Mit einemmal überkam ihn die tiefe Entschlossenheit, diesen Leuten zu beweisen, was er konnte. Endlich einmal wollte auch er einfach dazugehören. Grince zog sein Messer heraus und klemmte es sich zwischen die Zähne. Dann spuckte er sich in die Hände, schluckte seine Angst hinunter und kletterte den Mast hinauf.

Die Sache erwies sich als verblüffend einfach. Das rauhe, feuchte Holz bot ihm einen guten Halt, und es waren jede Menge Seile da, die ihm seine Aufgabe erleichterten. Den ersten Teil schoß er nur so herauf, weil er wieder einmal angeben mußte. Er hatte schon mehr als die Hälfte des verflixten Dings erklommen, als sich plötzlich alles veränderte. Nach und nach wurde der Mast immer schmaler, und er hatte Schwierigkeiten, ihn mit den Beinen zu umschlingen. Außerdem schaukelte das Schiff immer heftiger, je höher er kam, und der Mast wippte in der Luft hin und her. Grince wurde ganz flau im Magen, und sein Atem ging immer heftiger. Seine Hände wurden feucht von Schweiß, was das Klettern noch mehr erschwerte. Dann schaute er in einem unbesonnenen Augenblick auch noch hinunter – und erstarrte. Mit einem leisen Wimmern schloß er die Zähne fester um den Schaft des Messers und schlang sich gleichzeitig mit Armen und Beinen um das wippende Holz.

Nur sein Berufsstolz trieb den Dieb weiter hinauf. Vorsichtig schob er sich millimeterweise höher und vermied es, noch einmal hinunter auf das schmale Deck und all das Wasser zu blicken. Nach einer halben Ewigkeit stieß seine suchende Hand auf ein Gewirr von Seilen und auf eine lange Holzspiere, die sich darin verheddert hatte. Selbst Grinces ungeübtem Auge kam der Winkel, in dem das Rundholz herabhing, unnatürlich vor. »Das muß dann wohl dieses Gaffel-Ding sein«, murmelte er. Während er sich mit einer Hand festhielt, durchschnitt er das Gewirr von Seilen – und wäre um ein Haar mit samt der Gaffel aufs Deck gekracht, als die Gaffel ihn im Fallen hart an der Schulter traf und nur knapp seinen Kopf verfehlte.

Später konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie er wieder heruntergekommen war. Als Grince wieder zu sich kam, stand er auf dem herrlichen, festen Deck, und zwei Männer schlugen ihm so heftig auf die Schultern, daß es seine Zähne durchrüttelte.

»Gut gemacht, Junge!«

»Du hast dich da oben wirklich gut gehalten – es war nicht leicht.«

»Komm schon, Jeskin – mal sehen, ob wir ihm nicht irgendwo was zu trinken besorgen können.«

Erfüllt von einem warmen Gefühl der Zusammengehörigkeit gelang es Grince, seine unendliche Erleichterung darüber, wieder an Land zu sein, vor den anderen zu verbergen. Die alten Männer brachten ihr Ruderboot an den Strand und führten den Jungen durch einen Tunnel, der sich verzweigte und wieder verzweigte, bis sie in eine riesige Küche kamen. Wie in einem Bienenstock summte es hier; offensichtlich wurde gerade die nächste Mahlzeit vorbereitet.

Grinces neue Freunde, die sich ohne jede Rücksicht ihren Weg durch die fleißigen Arbeiter bahnten, führten ihn quer durch die Höhle. »Emmie – he, Emmie? Hast du in deiner Speisekammer ein Tröpfchen Rum für einen tüchtigen Jungen?«

»Habt ein Herz, Männer – seht ihr nicht, daß ich beschäftigt bin?« Die schlanke Gestalt, die sich übers Feuer gebeugt hatte, drehte sich um, und eine blonde Frau, deren zarte, elfenhafte Züge das weiche Glühen der Jugend bereits verloren hatten, kam zum Vorschein.

Grince sah sie an, und die Welt schien sich um ihn zu drehen. Einen Augenblick lang war er wieder ein zehnjähriger Junge, der gerade von der ersten Person, die wirklich freundlich zu ihm gewesen war, seinen ersten wirklichen Besitz erhalten hatte. »Du!« stieß er hervor. »Emmie! Ich hätte nie gedacht, daß ich dich noch einmal wiedersehen würde!«

Die Frau zog ihre silbrigen Brauen verwirrt zusammen. »Kenne ich dich?«

Der Dieb wollte gerade den Mund öffnen, um eine Erklärung abzugeben, als es passierte. Unterm Tisch ertönte ein leises Jaulen, dann kam ein riesiger weißer Hund zum Vorschein, der gähnte und seine gewaltigen Gliedmaßen reckte. Die Erinnerung streckte Grince nieder wie ein Schwert. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und ihm wurde schwindelig, während ihm gleichzeitig die Tränen in die Augen schossen. Der Hund hätte der Geist seines eigenen geliebten Kriegers sein können!

Die überfüllte Küche mit all ihrer Hitze und ihrem Lärm trat in den Hintergrund. Der junge Dieb und der weiße Hund waren die einzigen Geschöpfe auf der Welt. Grince brachte keinen Laut hervor. Sein Herz versank in einer tosenden Woge von Erinnerung, Kummer und Freude. Der Hund witterte einen Fremden, der in Emmies Rudel Aufnahme gefunden hatte, kam neugierig herübergeschlendert und stieß mit wedelndem Schwanz eine kalte Nase in die Hand des Diebs. Grince zerzauste das seidige, weiße Fell des Tieres, ließ sich auf die Knie fallen und schlang die Arme um den massigen, zotteligen Hals. Die Tränen rannen ihm übers Gesicht.

Emmie blickte auf den Jungen hinab und versuchte sich daran zu erinnern, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte. Er gehörte nicht zur Gemeinschaft der Nachtfahrer, und doch, und doch … Die Erinnerung lauerte foppend in ihrem Hinterkopf, aber bisher vermochte sie sie nicht ans Licht zu zerren. Sie war sicher, daß der Junge älter sein mußte, als er aussah – seine gedrungene Statur und sein zerzaustes Aussehen waren trügerisch – und doch konnte er höchstens zwanzig sein, wenn überhaupt. Und warum war er so auf Schneesilber geflogen? Der weiße Hund schien für ihn unendlich wichtig zu sein. Es widerstrebte ihr, eine solche Szene zu stören, aber nach einem kurzen Augenblick des Zögerns streckte Emmie sanft eine Hand aus und berührte den Fremden an der Schulter. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Der Junge zuckte zusammen und blickte zu ihr auf. Nach und nach wurde sein Blick klarer und gefaßter, als komme er langsam von einem sehr, sehr fernen Ort zurück. Er zog die Nase hoch und rieb sich mit seinem zerlumpten Ärmel übers Gesicht. Dann rappelte er sich hoch und umfaßte zu ihrem Erstaunen und leisen Erschrecken mit festem Griff ihre Hand. »Emmie, erinnerst du dich nicht mehr an mich? Ich bin es, Grince – aus Nexis. Du hast mir die Welpen gegeben …«

»Grince …?« Während die Erinnerungen auf sie einstürmten, verwandelte sich sein schmutziges, unrasiertes Gesicht wieder in die mageren, ungesunden Züge des vernachlässigten, hungernden Kindes, das sie aus den schmutzstarrenden Hintergassen von Nexis gerettet hatte.

Grinces Gesichtsausdruck änderte sich plötzlich, und er wandte sich mit finsterer Miene von ihr ab.

»Egal«, murmelte er. »Vergiß es. Warum solltest du dich auch an mich erinnern?«

»Nein! Warte! Grince, natürlich erinnere ich mich.« Obwohl er einen gewissen Widerstand leistete, packte Emmie ihn an der Schulter und zog ihn wieder zu sich herum. Dann berührte sie ganz sanft sein Gesicht. »Wirklich, ich erinnere mich«, sagte sie leise. »Du bist mit einem Messer auf mich losgegangen und hast mir gesagt, ich soll mich verpissen, und …«

»Und du hast mich zu dem weißen Hund und den Welpen geführt«, beendete der junge Mann ihren Bericht. »Du warst der erste Mensch, der jemals freundlich zu mir war.« Seine Stimme klang belegt, so sehr hatte ihn dieses Wiedersehen aufgewühlt.

»In all diesen Jahren dachte ich, du wärest tot.« Als sie ihn in ihre Arme nehmen wollte, spürte Emmie plötzlich, daß die Last der Vergangenheit leichter geworden war, und eine der Wunden, die sie aus jenen furchtbaren, tragischen Tagen zurückbehalten hatte, war endlich verheilt. Sie zog an Grinces Hand. »Komm mit mir in mein Quartier. Wir haben uns so viel zu erzählen – ich möchte alles von dir wissen. Ich kann einfach nicht glauben, daß du es geschafft hast, diese furchtbare Nacht zu überleben. Komm …« Sie schob einige der Pasteten, die zum Abkühlen auf dem Tisch lagen, zusammen und schlug sie in ein Tuch ein. »Diese Bande kann sich ausnahmsweise mal selber ihr Abendessen machen.«

Zanna ging mit entschlossenem Schritt den Flur hinunter. Zwei plappernde junge Nachtfahrermädchen folgten ihr mit frischer Wäsche, Staubtüchern und Besen. Zanna war unterwegs, um das Quartier für ihre Gäste bereitzumachen, eine Aufgabe, die sie freiwillig in der Hoffnung übernommen hatte, daß die Arbeit ihr helfen würde. Noch immer verspürte sie eine heiße Scham angesichts der Feindseligkeit, mit der Dulsina die Magusch empfangen hatte. Es ist meine Schuld, dachte sie zum hundertstenmal. Ich wußte doch ganz genau, wie es seit Vaters Entführung um Dulsinas Verstand steht. Ich hätte sie niemals in Aurians Nähe lassen dürfen … Ihre übrigen Gedanken verloren sich in einer Woge stumpfen Schmerzes, die jede Erinnerung an Vannor begleitete – und es war nicht nur ein Gefühl des Verlustes, sondern auch des Verrates. Ich habe ihn schon verloren, bevor die Phaerie ihn holten, dachte sie. Nachdem er vergiftet worden war, war er nie wieder derselbe.

Zanna schüttelte den Kopf und schob die traurigen Gedanken von sich. Schließlich gab es so vieles in ihrem Leben, wofür sie dankbar sein mußte – vor allem Tarnal und ihre beiden Söhne. Valand und Martek, acht und sechs Jahre alt, wuchsen zu schönen, stämmigen Jungen heran, und sie war stolz auf sie. Und da Emmie und Yanis keine Kinder hatten und wohl kaum noch welche bekommen würden, hatte der Anführer der Nachtfahrer Valand zu seinem Nachfolger bestimmt. Der Junge, der zweifellos seinem Vater nachschlug, erwies sich bereits als geborener Seemann – man hatte ihn sogar schon zweimal bei dem Versuch erwischt, sich an Bord der Schmugglerschiffe zu verstecken.

Ein wenig aufgeheitert von dem Gedanken an ihre Familie, eilte Zanna weiter. Sie hatte beschlossen, Aurian in den Gästezimmern nahe ihrem eigenen Quartier unterzubringen, aber als sie an den Zimmern vorbeikam, die sie mit Tarnal teilte, Heß das Geräusch erhobener, zorniger Stimmen hinter der Tür sie verharren.

Zanna runzelte die Stirn. »Ihr beiden fangt schon mal ohne mich an – na los, an die Arbeit, wenn ihr vorm Abendessen fertig sein wollt. Ich komme in ein paar Minuten nach.« Als die beiden außer Hörweite waren, blieb Zanna noch einen Augenblick vor der Tür stehen und versuchte festzustellen, was eigentlich los war, bevor sie sich mitten hinein begab.

»… und ich sage, wir wollen sie nicht, und wir brauchen sie nicht. Sie haben hier nichts zu suchen.«

»Hör zu, Gevan. Aurian und Anvar sind unsere Freunde. Sie haben jedes Recht, hier zu sein.« Obwohl Tarnal sich alle Mühe gab, geduldig zu sein, erkannte Zanna an seiner gepreßten Stimme, daß seine Selbstbeherrschung langsam ins Wanken geriet. Sie seufzte. Wenn ihr sanftmütiger Gefährte dermaßen verärgert war, mußten die beiden Männer schon seit beträchtlicher Zeit gestritten haben.

»Die Pest über alle Magusch – sie bringen nichts als Pech und Schwierigkeiten! Warum konnten sie nicht wegbleiben und die Welt anständigen Leuten überlassen? Sie ist schon schlimm genug – als sie das letzte Mal ankam, hatte sie zwei verdammte Wölfe im Schlepptau und was weiß ich nicht noch alles – aber hast du diesen Anvar gesehen? Mit dem stimmt was nicht – da ist etwas ganz und gar nicht in Ordnung, denk an meine Worte. Und was ist mit dem anderen, diesem Geist, der sich in seinem Gewand versteckt und weder sein Gesicht zeigt noch ein einziges Wort sagt. Ganz zu schweigen von diesem erbärmlichen kleinen Schurken, den sie bei sich haben. Da wird irgend jemand noch gehörige Schwierigkeiten kriegen, denk an meine Worte. Du solltest besser dafür sorgen, daß die Lagerräume gut verschlossen sind!«

»Gevan, das reicht jetzt!« Nun hatte Tarnal endgültig die Geduld verloren. »Ich möchte dich daran erinnern, daß ich in Yanis Abwesenheit hier das Kommando habe. Entweder du akzeptierst das, oder du gehst.«

Zanna zog scharf die Luft ein. Yanis benutzte diese Masche recht häufig, um Gevan an seinen Platz zu verweisen – aber bei ihm funktionierte es, weil er Leynards Sohn war. Ob er sich dasselbe von Tarnal gefallen lassen würde …

»Na schön, wenn du es so haben willst. Aber das wirst du noch bereuen!« Einen Augenblick später riß Gevan die Tür auf und stolzierte mit zorngerötetem Gesicht aus dem Zimmer. Er drängte sich ungehobelt an Zanna vorbei, stürmte durch den Hur und war verschwunden. Als Zanna das Zimmer betrat, rieb sich ihr Mann müde die Stirn. Sie lief zu ihm und schlang die Arme um ihn. »Mach dir nichts draus«, sagte sie. »Gevan ist nur ein vorlauter, übellauniger Narr. Er wird sich niemals ändern.«

Tarnal schnitt eine Grimmasse. »Du hast also alles gehört?«

»Jedenfalls den Schluß«, gab Zanna zu.

»Dann hast du wahrscheinlich das Beste verpaßt – er ist seit Aurians Ankunft bei mir gewesen.« Tarnal stöhnte und schenkte sich einen Becher Wein ein. »Bei allen Göttern, mein armer Kopf platzt gleich …«

Ein prickelndes Gefühl des Unbehagens kroch über Zannas Haut. »Tarnal, glaubst du, er wird wirklich gehen?«

»Das wissen nur die Götter, Liebste. Ob er geht, oder ob er nicht geht – ich weiß nicht, was uns größere Scherereien einbringen wird.«

Der weiße Hund begleitete Grince und Emmie. Als sie das Quartier der Frau betraten, verschwand der Hund entschlossen auf der anderen Seite des Zimmers hinter einem Vorhang, der offensichtlich weitere Räume verbarg. Da der Dieb bisher noch kein Wohnquartier der Nachtfahrer gesehen hatte, schaute er sich neugierig um, während Emmie das Feuer schürte.

Emmies Zimmer waren freundlich und behaglich – sie wirkten gar nicht wie eine Höhle, dachte Grince, obwohl sie wie alle Räume an diesem Ort aus festem Gestein herausgehauen waren. Aber auf dem Boden lagen dicke, bunte, gewebte Teppiche, und die Wände wurden von farbenprächtigen Wandbehängen aufgehellt. Kleine Lampen verströmten ihr helles Licht in Wandnischen oder hingen an Ketten, die in die ungleichmäßige Steindecke eingelassen waren. Und obwohl Grince keinen Kamin entdecken konnte, wurde in einem massiven Eisenofen Treibholz verbrannt, von dem noch ein ganzer Stapel in einem Korb in der Nähe des Ofens lag. Die Möbel waren einfach und aus einer Mischung aus glattem Holz und Treibholz gebaut. Es gab Holzregale, Schränke und Lagertruhen, und die Stühle waren mit getrocknetem Gras und Kräutern gepolstert.

»Das muß gefeiert werden.« Emmie holte eine Flasche Wein und zwei Becher aus dem Schrank und legte die Pasteten auf den Tisch.

Es war die beste Mahlzeit in Grinces Leben. Während des Essens erzählte Emmie ihm von ihrer Flucht aus Nexis, von der Nacht, in der Pendrals Männer sie angegriffen hatten. »Es gab soviel zu tun, als ich hierherkam, daß ich einfach dageblieben bin, als die übrigen Nexianer nach Hause zurückkehrten«, erzählte sie dem Dieb. »Hier war plötzlich ein Platz für mich – den Nachtfahrern fehlte eine Heilerin, und Remana brauchte meine Hilfe immer dringender. Als sie vergangenes Jahr starb, habe ich endgültig das Kommando übernommen. Und dann war da noch Yanis.« Zu seiner Überraschung sah Grince sie erröten. »Nun, er ist ein guter Mann – er hat das Herz am richtigen Fleck, und nur die Götter wissen, wie dringend er eine Frau brauchte, die sich um ihn kümmerte.« Emmie zuckte die Achseln. »Was sollte ich also tun? Er hat mir einfach keine Ruhe gelassen, bis ich schließlich ja sagte. Aber was ist mit dir, Grince? Ich dachte, du wärst tot. Was ist dir in jener Nacht zugestoßen? Wie bist du entkommen?«

Zuerst noch stockend, später dann immer flüssiger, erzählte Grince ihr die ganze Geschichte. Er hatte noch nie mit jemandem über diese furchtbare Nacht gesprochen, aber zu seiner Überraschung schienen die Worte, als er erst einmal angefangen hatte, mit zunehmender Leichtigkeit über seine Lippen zu kommen. Als er ihr vom Tod seiner Mutter erzählte und von den Greueln, die er hinter der brennenden Palisade gesehen hatte, weinte er. Seine Tränen strömten von neuem, als er schließlich von Krieger erzählte und davon, wie sein geliebter weißer Hund umgekommen war – abermals von der Hand eines der Soldaten Lord Pendrals. Emmie hielt ihn wie das Kind, das er bei ihrer ersten Begegnung gewesen war, im Arm und teilte seinen Kummer, und als seine Tränen versiegten, fühlte Grince sich wie verwandelt. Es war, als hätte er sein halbes Leben lang eine eitrige Wunde mit sich herumgetragen, und heute nacht war das Gift endlich herausgeflossen.

Schließlich löste der Dieb sich aus ihrer Umarmung und putzte sich die Nase mit dem Taschentuch, das Emmie ihm aufmerksam in die Hand gedrückt hatte. Er lächelte sie unsicher an. »Es tut mir leid, ich …«

»Nein, das ist nicht nötig.« Emmie sah ihn warmherzig an. »Du hast all diesen Kummer viel zu lange in dir verschlossen, Grince – und ich meine nicht nur den Kummer um deine Mutter, sondern auch um den armen Krieger.« Sie seufzte. »Ich weiß, was für ein Gefühl das ist. Als ich vor zwei Jahren seine Mutter Sturm verlor, dachte ich, ich würde nie darüber hinwegkommen … Einige Leute schüttelten verwundert den Kopf – ich hatte einen Ehemann und zwei Kinder verloren –, und doch habe ich um einen bloßen Hund tief getrauert.«

»Ah, aber Sturm war nicht bloß ein Hund«, warf Grince leise ein. »Sie war deine Freundin.«

Emmie nickte. »Genau – das war sie. Und niemand hatte jemals eine bessere Freundin. Zumindest hatte ich mehr Glück als du, Grince. Sturm starb friedlich und hoch betagt an Altersschwäche, genau hier in diesem Raum – und ich hatte Schneesilber, ihre Tochter, die mich tröstete. Weißt du, es ist seltsam – sie war die einzige von Sturms Welpen, die wirklich nach ihrer Mutter kam, und sie stammte aus ihrem letzten Wurf. Es war fast, als hätte Sturm mir ein Geschenk zurückgelassen, damit ich, wenn sie nicht mehr war …« Ein plötzliches Lächeln erhellte Emmies Gesicht. Sie stieß ihren Stuhl mit einem lauten Kratzen zurück und sprang auf. »Grince, komm mit. Ich muß dir etwas zeigen.«

Von brennender Neugier erfüllt stand der Dieb hinter Emmie, als sie den Vorhang am anderen Ende des Raumes zurückzog. Dahinter befand sich ein kurzer Flur mit drei Türen, die davon abzweigten. Die einzige Tür auf der rechten Seite stand einen Spalt breit offen, und Emmie drückte sie nun vollends auf. Dann trat sie zurück und bedeutete ihm, voranzugehen. »Ich glaube, da drin ist jemand, der dich vielleicht gern kennenlernen würde«, sagte sie. Grince sah das Zwinkern in ihren Augen und wunderte sich, aber als er durch die Tür trat, erfaßte ihn eine jähe, unerklärliche Woge der Erregung.

Die behagliche Kammer war eine Art Werkstatt. In einem kleinen Topf auf dem Schreibtisch befanden sich eine Vielzahl von Federn, und auf den Regalen türmten sich Bücher und Schriftrollen. Ein Schränkchen, zwei große Truhen, zwei harte Stühle und eine niedriges Holzsofa stellten den Rest des Mobiliars dar. In einer Ecke stand ein kalter Ofen, und die Deckenlampe verströmte nur ein schwaches Leuchten.

Aber all diese Einzelheiten traten in den Hintergrund, als Grince die Bewohner des Sofas sah. Dort lag zusammengerollt auf den Kissen Emmies Hund – und neben ihr saß ein kleiner Welpe, der seinem Krieger wie aus dem Gesicht geschnitten war.

Grince stand fassungslos da, verloren in Erinnerungen an einen kleinen Jungen und ein Hündchen, die in einer harten und gefährlichen Welt allein ihren Weg hatten finden müssen. Der kleine Hund sah ihn an und bellte kurz, ein hohes, klares Geräusch. Dann sprang er unbeholfen vom Sofa und rannte auf ihn zu; er wedelte mit seinem zotteligen Schwanz, und als Grince in die Hocke ging, sprang das Tier auf, legte ihm die Pfoten auf die Schultern und leckte ihn am Ohr, bis er zu lachen begann.

»Erstaunlich. Er mag dich, und das kommt wahrhaftig nicht allzu häufig vor.« Hinter dem Dieb ertönte Emmies leise Stimme. »Er ist fünf Monate alt – der einzige, der von dem letzten Wurf noch übrig ist. Ich wollte ihn für mich behalten, weil er Sturm so ähnlich sah. Sein Name ist Frost – und wenn du ihn haben willst, Grince, gehört er dir.«

Es war lange her, seit Aurian das letzte Mal einen Flügel geheilt hatte. Sie hatte sich zuerst den gesunden Flügel genau ansehen müssen, bevor sie nach seinem Vorbild versuchen konnte, den verletzten so gut sie konnte zusammenzuflicken. Schließlich richtete sie sich auf, rieb sich den schmerzenden Rücken und reckte sich. »So – wie fühlt sich das an?« fragte sie Linnet.

»Besser, glaube ich.« Das Mädchen öffnete vorsichtig ihren Flügel und streckte die große, gefiederte Schwinge so weit aus, wie die enge Kammer es zuließ. »Ja, wirklich!« Ihr Gesicht leuchtete auf. »Ich kann ihn wieder bewegen. Er fühlt sich an, als wäre er so gut wie neu!«

»Nun, nicht ganz«, erklärte die Magusch ihr. »Du wirst Flugfedern brauchen, bevor du dich wieder in die Luft erheben kannst, und ich fürchte, die kann ich nicht reparieren. Du wirst warten müssen, bis dir neue wachsen.«

Sie blickte auf das geflügelte Mädchen hinab und schüttelte den Kopf. »Du bist wirklich ein unglaubliches Risiko eingegangen, weißt du das? Und du kannst von Glück sagen, daß du deine Torheit nicht mit dem Leben bezahlt hast. Was war denn so furchtbar wichtig, daß du dein Leben aufs Spiel setzen mußtest, um hierherzukommen?«

Linnet zuckte die Achseln – was in dem engen Raum für ein Mitglied der geflügelten Rasse nicht unbedingt ratsam war. Ein Becher, den sie mit einer weit ausholenden Flügelspitze gestreift hatte, rollte vom Tisch, und Aurian fing ihn gerade noch rechtzeitig auf, bevor er zu Boden fiel. Das geflügelte Mädchen kümmerte sich nicht darum. »Ich mußte kommen – es war unsere einzige Chance«, erklärte es.

Aurian runzelte die Stirn. »Aber Königin Rabe wäre doch niemals so unvernünftig gewesen, dich zu schicken …«

»Es gibt keine Königin Rabe mehr …«

»Was?«

Linnet zuckte zusammen. »Nein, es ist schon gut. Ich meine, ihr geht es gut – oder jedenfalls ging es ihr gut, als ich aufbrach. Es ist nur … Sie ist nicht länger Königin von Aerillia.«

»Und warum nicht?« Die Stimme der Magusch klang gefährlich gelassen.

»Ich werde versuchen, es zu erklären, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es selbst verstehe«, antwortete Linnet. »Um genau zu sein, weiß ich nicht mal, ob überhaupt irgend jemand es versteht – abgesehen von den Priestern.«

Aurian biß sich auf die Lippe, zählte bis zehn und rief sich ins Gedächtnis, daß Linnet noch sehr jung war. »Linnet – erzähl mir einfach, was passiert ist – bitte!«

»Ich habe dir doch gesagt, ich weiß es eigentlich gar nicht. Plötzlich entwickelte Skua, der Hohepriester, magische Kräfte. Er sagte, es sei ein Zeichen der Götter, daß Aerillia von Yinzes Tempel aus regiert werden solle. Sonnenfeder und die Syntagma haben ihn unterstützt, und es kam zu einem furchtbaren Kampf gegen die Wache von Königin Rabe – bis Skua Blitze vom Himmel herunterholte und die Hälfte von Rabes Kriegern in Brand setzte.«

Linnet schauderte. »Es war furchtbar. Die Königin war damals hochschwanger. Sie und Lord Aguila mußten um ihr Leben flüchten. Binnen weniger Tage hatte sich die Stadt zu einem Ort der Angst und des Argwohns entwickelt. Lord Skua behauptete, er könne die Gedanken der Leute lesen und der Zorn der Götter werde sich auf jene herabsenken, die die Königin weiterhin unterstützen. Dann verschwanden tatsächlich Leute und wurden nie wieder gesehen. Ich war eine von Königin Rabes Hofdamen – das war ihre Belohnung dafür, daß ich sie als kleines Mädchen gerettet hatte. Ich erbot mich, zurückzubleiben und Informationen zusammenzutragen, aber * nach einer Weile bekam ich es doch mit der Angst. Man hatte mehr und mehr den Eindruck, daß Skua tatsächlich Gedanken lesen konnte. Ich wollte zu der Königin in die neue, südliche Siedlung der Himmelsleute fliehen, aber dann dachte ich an dich. Ich war sicher, daß nur ihr uns helfen konntet, daher bin ich statt dessen nach Norden geflogen.«

»Und ich wette, du hast unterwegs das eine oder andere Abenteuer erlebt«, meinte Aurian mit einem freundlichen Lächeln, »aber das kann zunächst einmal warten. Du bist nach der Heilung sicher sehr müde, daher solltest du erst einmal ordentlich ausschlafen, dann reden wir weiter.«

»Na gut. Und ich danke dir, Lady – ich bin so froh, daß du meinen Flügel repariert hast.« Linnet bückte zu der Magusch auf, und in ihren freimütigen Augen stand ein unverhohlenes Flehen. »Lady Aurian – du wirst doch mit mir nach Aerillia zurückkehren und meinem Volk helfen?«

Eisige Kälte durchpulste Aurians Herz. Sie fühlte sich plötzlich alt und sehr, sehr müde. Ich wünschte, die Leute würden aufhören, mich um Hilfe zu bitten, dachte sie. Andererseits hatte Linnets Geschichte in ihr einen ganz bestimmten Verdacht geweckt … »Es sieht stark danach aus, als würde ich das tatsächlich tun«, sagte sie zu dem Mädchen.

Ganz in Gedanken versunken kehrte Aurian in ihr Quartier zurück – und ging dann einfach an der Tür vorbei. Forral war in diesem Zimmer, und gerade jetzt wollte sie nicht, daß er peinliche Fragen stellte, wie zum Beispiel, wo sie hinging und warum. Linnets Bericht hatte lediglich ihren Verdacht bestätigt, daß Eliseth nach Süden gegangen sein mußte. Es würde der Wettermagusch durchaus ähnlich sehen, in einer fremden Stadt die Macht an sich zu reißen und die Gier der Menschen zu manipulieren, ohne selbst aus den Kulissen herauszutreten. Außerdem hatte etwas an der Situation, wie Linnet sie beschrieb, in der Magusch eine Saite zum Klingen gebracht, als sie an die Ereignisse in Nexis vor ungefähr einem Jahr dachte. Ich kann nicht recht den Finger darauf legen, was diese beiden Dinge miteinander verbindet, dachte sie, aber es gibt eine Verbindung, oder ich will eine Sterbliche sein.

Nun, es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Normale Hellseherei würde nicht funktionieren, nicht quer über den Ozean, aber mit Hilfe des stehenden Steines würde sie das Tor Zwischen den Welten durchschreiten können. Und von dort aus konnte sie dann herausfinden, was im Süden vor sich ging …

»Und wenn du schon dabei bist, könntest du auch gleich herausfinden, was aus Anvar geworden ist«, sagte eine leise Stimme ganz hinten in ihren Gedanken, »und das ist der eigentliche Grund ist, warum du dich in ein solch übereiltes, verrücktes Abenteuer stürzt und dein Leben aufs Spiel setzt.«

»Ach, halt den Mund«, sagte Aurian und machte sich auf die Suche nach Shia.

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