4 Die Jahre des Schweigens

Das Flammenschwert wirbelte klirrend über glatten, weißen Stein davon. Der schwarz angelaufene Kelch der Wiedergeburt fiel scheppernd zu Boden, rollte im Kreis herum und blieb schließlich bebend hegen. Eliseth taumelte einen Schritt nach vorn und fiel auf die Knie, niedergestreckt von ihrem eigenen unerwarteten Schwung und einer übelkeiterregenden Woge der Verwirrung. Erst nach und nach nahm die Wirklichkeit wieder ihren gewohnten Lauf. Eliseth berührte das Pflaster unter sich und unterdrückte einen schrillen Aufschrei, als ein heißer Schmerz durch ihre geschwärzten, blasenübersäten Hände schoß. Jetzt erinnerte sie sich wieder. Sie hatte sich an dem Schwert verbrannt, als sie Aurian das Artefakt geraubt hatte. Instinktiv konzentrierte die Magusch ihre Kräfte darauf, den Schmerz abzublocken. Jede weitere Heilung konnte warten – im Augenblick war das ihre geringste Sorge.

Und wann war es überhaupt Nacht geworden? Als ihre Augen sich endlich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sich nicht mehr alles vor ihr drehte, schaute Eliseth sich um. Sie erwartete, dasselbe Tal vor sich zu sehen, das sie, wie es schien, nur wenige Sekunden zuvor verlassen hatte. Statt dessen sah sie eine niedrige, weiße Mauer vor sich, die aus dem vertrauten perlmuttartigen Marmor gemeißelt war. Trotz der sie umgebenden Dunkelheit konnte sie den schwachen Schimmer des Gesteins wahrnehmen. Ungläubig und erstaunt raffte die Wettermagusch sich mühsam auf und blickte über die niedrige Brüstung. In dem Tal unter ihr lag Nexis, und sie konnte auch die dunklen Höcker der Hügel dahinter ausmachen, die im Augenblick tiefschwarz in den bewölkten Himmel ragten.

Trotz der Nachtsichtigkeit der Magusch wirkte Nexis irgendwie verändert – die Umrisse seiner Straßen und Gebäude schienen sich von den Formen, an die Eliseth sich erinnerte, ganz leicht zu unterscheiden. Aber sie verwandte kaum einen Gedanken auf dieses Rätsel. Ihr Herz schlug beim Anblick der Stadt schneller, und sie stieß einen leisen, triumphierenden Aufschrei der Erleichterung aus. Durch irgendein Wunder hatte der Gral sie in die Akademie zurückgebracht und auf das flache Dach des Maguschturms gestellt. Obwohl sie keinen Göttern huldigte, schien es ihr diesmal, als seien ihre unausgesprochenen Gebete erhört worden. Sie hatte ihren schrecklichen Sturz durch den Riß in der Wirklichkeit nicht nur überlebt – sie war auch sicher nach Hause zurückgekehrt. Die Wettermagusch, die in der kühlen Brise leicht schauderte und noch immer unter dem Schock ihrer jüngsten Erlebnisse stand, lehnte sich in der seidenweichen Dunkelheit gegen die Brüstung und atmete mit tiefen Zügen die herrliche, rauchdurchzogene Luft von Nexis ein. Sie war dem Tumult der Ereignisse im Tal nur um Haaresbreite entkommen und immer noch ein wenig benommen. Außerdem war sie über alle Maßen zufrieden mit sich – als sei sie verantwortlich für ihr Glück. Sobald ihr Versuch, Aurian zu besiegen, mit so dramatischen und tödlichen Konsequenzen auf Eliseth zurückgefallen war, daß sie aus der Welt gerissen wurde, hatte ihre einzige Sorge dem Überleben gegolten. Sie konnte sich nur an einen flirrenden Strahl vielfarbigen Lichts erinnern – das Gefühl, aufgesaugt und in einen dunkel glitzernden Strudel gezogen zu werden. Sie erinnerte sich daran, daß sie sich mit einer verzweifelten, wilden Sehnsucht in die Akademie zurückgewünscht hatte – aber wer hätte auch geahnt, daß die Artefakte ihren Wunsch so wörtlich nehmen würden? Gewiß hatte die Kraft ihres eigenen Willens sie gerettet.

Ihr hämischer Triumph wurde von einem schwachen, kaum hörbaren Geräusch und einer winzigen Bewegung, die sie nur aus den Augenwinkeln wahrnahm, gestört. Mit einem erschrockenen Fluch fuhr Eliseth herum. Hinter ihr schob sich eine dunkle Gestalt schwach über das Dach. Eine blasse Hand blitzte auf und griff nach dem kostbaren Schwert. Anvar! Als Eliseth langsam ausatmete, klang es wie das Zischen einer Giftschlange. In der Panik ihres Sturzes durch die Zeit und der anschließenden Erleichterung darüber, wieder in Nexis zu sein, hatte die Wettermagusch für einen Moment vergessen, daß Aurians Geliebter ebenfalls in den Strudel gezogen worden war.

Die Magusch sah, wie Anvar erstarrte. Er hatte offensichtlich bemerkt, daß sie ihn entdeckt hatte. In der tiefen Finsternis auf dem Dach traf sein Blick den ihren, und eine Sekunde lang sah Eliseth Furcht, Entschlossenheit – und den eisigen Stahl unversöhnlichen Hasses. Dann stürzte er mit unvermuteter Geschwindigkeit nach vorn und versuchte verzweifelt, das Schwert zu ergreifen. Eliseth reagierte auf der Stelle. Sie bündelte ihre Kräfte und ließ sie auf die am Boden liegende Gestalt niederfahren. Ein Knäuel rauchiger, mit grellen Fäden blauweißen Lichts durchzogener Schwärze schloß sich um Anvars Körper. Als der Zauber ihn traf, zuckte er wie unter Krämpfen zusammen, dann hüllte ihn die vibrierende Masse des dunklen, mit wabernden blauen Fäden durchzogenen Dunstes endgültig ein. Schließlich lag er, ohne zu atmen, vollkommen reglos da, eingesperrt in einen einzigen Augenblick und gestrandet außerhalb des Stroms der Zeit – bis Eliseth in Stimmung war, ihn zurückzuholen.

Die Wettermagusch lachte triumphierend auf und trat an ihr Opfer heran. Einen Augenblick lang stand sie nur da und sah mit höhnischem Grinsen auf ihn herab. Wie leicht es gewesen war, ihn zu besiegen! Ohne Aurian als Beschützerin hatte der ehemalige Akademielakai schon bald seine niederen, halb sterblichen Ursprünge verraten. Nach der Gefangenschaft Miathans war es nicht weiter schwierig gewesen, einen weiteren Magusch aus der Zeit zu nehmen – und jetzt hatte sie Anvar in ihrer Gewalt, während sie selbst in aller Ruhe über seine Zukunft befinden konnte. Langsam dämmerten Eliseth die verschiedenen Möglichkeiten, die diese Situation ihr bot. Jetzt, wo sie den Geliebten ihrer Feindin in dem wabernden blauen Schimmer des Zauberbands gefangen wußte, hatte sie genug Zeit zum Nachdenken. Welche Vorteile seine Niederlage ihr im Kampf gegen Aurian verschaffen würde – gegen Aurian, die offensichtlich nicht den Mut aufbrachte, ihrem angeblichen Geliebten zu folgen, um sein Schicksal zu teilen. Aber irgendwann würde sie schon auftauchen – dessen war Eliseth sich absolut sicher. Und wenn sie es tat … Die Wettermagusch lächelte kalt. Aurian war eine jämmerliche Närrin mit ihrer weichherzigen Zuneigung zu diesem halb sterblichen Abschaum mit seinem verdorbenen Blut. Eliseth wußte, daß sie Anvar als Köder benutzen konnte, um sich für alle Zeit von ihrer Feindin zu befreien.

Ohne einen Blick zurück ließ sie ihr Opfer dort, wo es auf den kalten Steinen des Daches lag – eingesperrt in ihren Zeitzauber konnte Anvar ihr dort oben kaum etwas anhaben. Mit langen Schritten ging Eliseth auf die Tür zu, die in den Turm hinabführte. Als sie jedoch an dem Riegel zog und nichts geschah, hob sie überrascht die Augenbrauen. Aber diese Tür war doch nie versperrt! Bei näherem Hinsehen stellte sie fest, daß der Riegel vollkommen verrostet war.

»Aber ich war doch nur fünf oder sechs Tage fort«, murmelte die Magusch. »Wie konnte das elende Ding in so kurzer Zeit in so einen Zustand geraten?« Da es ihr widerstrebte, die Tür, die den Turm vor der Witterung schützte, vollkommen zu zerstören, trat sie einen Schritt zurück und ließ mehrere kurze, erfolgreiche Strahlen reiner Energie auf den widerstrebenden Riegel los, bis sich das Metall in seinem rostigen Mantel löste. Aber obwohl der Riegel nun frei war, leistete die Tür, deren angeschwollene Paneele rissig und zu einem faden Silberton verblichen waren, Eliseths Ansturm heftigen Widerstand.

Endlich, als die Geduld der Magusch schon fast erschöpft war, schwang die Tür stöhnend und auf steifen, rostüberzogenen Angeln gerade so weit auf, daß Eliseth sich hindurchzwängen konnte. Als ihr die feuchten, klebrigen Fäden eines Spinnennetzes durchs Gesicht strichen, sprang sie mit einem unwillkürlichen Aufschrei zurück. Sie prallte gegen die Wand und stellte fest, daß sie sich unangenehm schleimig anfühlte. »Was hat denn das schon wieder zu bedeuten?« Mit einer angewiderten Grimasse wischte sie sich die Hände an ihrem Rock ab und tauchte das Treppenhaus dann mit einem zischenden Lichtstrahl in grelles Licht.

Es war unglaublich. Noch lange nachdem die Helligkeit der Dunkelheit Platz gemacht hatte und Eliseth wieder etwas besser sehen konnte, stand sie wie gelähmt vor Schrecken da, außerstande zu akzeptieren, was sie gerade gesehen hatte. Der saubere weiße Stein des Treppenhauses war unter einer dicken Schicht aus Staub und Schmutz verschwunden, und auch die fehlenden Fußabdrücke sprachen eine deutliche Sprache. Hier war seit langer, langer Zeit keine Menschenseele mehr entlang gegangen. Die Decke war übersät mit Spinnweben, und auf den vorgewölbten Wänden glitzerte schwarzer, schleimiger Moder. Die Luft im Korridor war abgestanden und stank nach Vernachlässigung und Verfall.

Benommen setzte die Wettermagusch sich auf die oberste Stufe der Treppe. Um den Schmutz und die kalte Feuchtigkeit, die sie sofort durch ihren Rock spüren konnte, scherte sie sich nicht im mindesten. Wie konnte das nur geschehen? Offensichtlich waren die oberen Stockwerke des Maguschturms seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Aber das war unmöglich – oder sollte es jedenfalls sein. Eliseths Gedanken kehrten zu ihrem beängstigenden Sturz durch den Riß in der Schöpfung zurück. Sie war auf ihrem Weg vom Tal nach Nexis eindeutig durch den Raum gewandert. War sie auch durch die Zeit gereist? Und wenn ja, wie viele Jahre war sie von ihrer eigenen Zeit entfernt? War sie in die Zukunft oder in die Vergangenheit gelangt?

»Benutz deinen Verstand!« murmelte die Magusch bei sich. »Es muß die Zukunft sein. Wäre ich in die Vergangenheit gereist, wäre die Akademie nicht so verlassen.« Aber wie weit in der Zukunft war sie jetzt? Eliseth erinnerte sich an ihr unbehagliches Gefühl, daß Nexis sich irgendwie von der Stadt ihrer Erinnerung unterschied. Hastig und ein wenig unbeholfen erhob sie sich, verließ das Treppenhaus und eilte zurück, quer über das flache Dach zu der niedrigen Mauer, von der aus man einen Blick auf die gewellte Landschaft der Dächer und Giebel hatte. In der Dunkelheit und aus dieser großen Höhe vermochte sie jedoch keine Einzelheiten zu erkennen, daher konnte sie im Augenblick nicht sagen, wieviel Zeit seit ihrem Aufenthalt in Nexis vergangen sein mochte. Obwohl eine Anzahl von Laternen die verdunkelten Straßen der Stadt säumte, gab es auf dem Gelände der Akademie weder Lichter noch irgendwelche anderen Lebenszeichen; auch der Wachraum am Tor war unbemannt. Eliseth hätte der einzige lebende Mensch auf der ganzen Welt sein können. Zum ersten Mal seit ihrem Triumph über Miathan verspürte sie den kalten Hauch wahrer Angst. Ohne Vorwarnung hatte man sie von allem fortgerissen, was ihr vertraut und sicher schien. Ein ungewohntes Gefühl der Einsamkeit durchfuhr sie, und sie schauderte.

So ging es nicht weiter! Mit großer Selbstbeherrschung schob die Wettermagusch die bösartigen Gefühle von Furcht und Verzweiflung, die ihren Verstand zu trüben drohten, beiseite. Dann richtete sie sich auf, drehte sich um und ging mit entschlossenen Schritten zurück zur Treppe. Plötzlich traf ihr Fuß auf etwas, das mit einem metallischen Rattern wegrollte und dabei einen Blitz purer Macht quer über das Dach schleuderte. Erschrocken erkannte Eliseth, daß der Gral zumindest teilweise die Verantwortung dafür trug, daß sie hier war. Sie bückte sich, um ihn aufzuheben, und verstaute ihn sicher in einer tiefen Tasche ihrer Robe. Das Schwert jedoch sollte für den Augenblick bleiben, wo es war. Aus bitterer Erfahrung wußte sie jetzt, daß sie besser nicht versuchte, sich seiner zu bedienen. Es hatte sie bereits einmal verletzt – tatsächlich, sie konnte von Glück sagen, ihre erste Begegnung mit dem Artefakt überhaupt überlebt zu haben. Bevor sie nicht herausfand, wie es zu beherrschen war – oder zumindest, wie man seinen wilden und tödlichen Kräften standhalten konnte –, war es ihr von keinerlei Nutzen.

Es war nicht leicht, die Treppe hinunterzusteigen. Da Eliseth sich nicht besonders gut auf die Feuermagie verstand, waren ihre unbeholfenen Versuche, ein Maguschlicht zu produzieren, kaum von Erfolg gekrönt. Ihre ohnehin nur fahlen Lichter hatten die ärgerliche – und gefährliche – Neigung, beim geringsten Nachlassen ihrer Konzentration flackernd zu verlöschen und die bedrohlich schlüpfrigen Stufen unter ihren Füßen in unerwartete Dunkelheit zu stürzen. Eliseth ging an Miathans Gemächern im oberen Stockwerk und an Aurians Tür auf der Etage darunter vorbei, ohne diese Räumlichkeiten eines zweiten Blicks zu würdigen. Dann steuerte sie geradewegs ihr eigenes Quartier an. Mittlerweile verspürte die Magusch den verzweifelten Wunsch, in vertrauter Umgebung ein wenig Trost zu suchen. Aber der Verfall und die Zerstörung, die ihr in ihrem Gemach entgegenschlugen, hatten kaum etwas Tröstliches. Ihre Räume, die früher so makellos sauber gehalten wurden, waren kaum wiederzuerkennen.

Eliseth wanderte von Zimmer zu Zimmer und prallte angewidert zurück, als ihre Füße beinahe bis zu den Knöcheln in die fauligen Überreste eines verrotteten Teppichs sanken. Die einstmals schneeweiße Farbe des weichen Flors war jetzt grau und von schwarzem Moder und grünlichem Schimmel durchsetzt. Die Entdeckung ihrer Juwelen, die nach wie vor sicher in ihrer staubigen Schachtel verwahrt lagen, heiterte Eliseth jedoch ein wenig auf. Sie steckte den Schmuck unbeholfen ein – und zuckte fluchend zusammen, denn ein scharfer Schmerz durchzuckte ihre steifen, verbrannten Hände.

Aber ihre Hoffnung, noch etwas anderes zu finden, was ihr von Nutzen sein konnte, schwand bald dahin, denn ihre kostbaren Besitztümer, die sie wegen ihrer Schönheit und ihrem unschätzbaren Wert über die Jahre angesammelt hatte, waren schon lange unter einer dicken Decke aus Schimmel und Staub verschwunden. Ihre zahlreichen Kleider aus üppigen, luxuriösen Stoffen und Pelzen, die sie so sorgfältig in Schränken und Truhen aufzubewahren pflegte, waren ebenfalls den Verwüstungen der Zeit anheimgefallen. Ein dünner, kalter Wind blies durch die zerbrochenen Fensterscheiben und bauschte die zerlumpten Vorhänge auf, die immer noch dort hingen und die Atmosphäre der Verlassenheit und Trostlosigkeit unterstrichen.

Der erbärmliche Zustand ihres Quartiers war so unvorstellbar schrecklich, daß Eliseth es nicht ertragen konnte, hierzubleiben und sich weiter umzusehen. Obwohl sie zu stolz war, um Hals über Kopf davonzurennen, drehte sie sich jäh um und stieg den Rest des Treppenhauses in völliger Dunkelheit hinunter. Sie machte sich nicht mehr die Mühe, sich an einem Maguschlicht zu versuchen, und blieb erst wieder stehen, als sie die Tür im Erdgeschoß erreicht hatte. Mit einem einzigen Lichtstrahl sprengte sie sie weg. Dann trat sie vorsichtig über glimmende Trümmer und lief hinaus auf den Hof. Erst als sie endlich im Freien stand, hatte sie das Gefühl, wieder durchatmen zu können.

Dieses Gefühl der Erleichterung erwies sich jedoch als kurzlebig. Die Jahre des Schweigens lasteten auf der Akademie wie eine dichte, erstickende Decke und verstärkten das unheimliche Gefühl der Verlassenheit noch. Erinnerungen an Verrat und Gewalt stürmten auf die Wettermagusch ein – wie zum Beispiel die Todesgeister, die Miathan einst zu seinem eigenen Schaden heraufbeschworen hatte. Ein Schaudern durchlief sie, das nicht nur auf den kalten Wind zurückzuführen war, der sie umwehte. »Jetzt aber genug mit diesem Unsinn!« murmelte sie bei sich. »Nur weil du müde und hungrig bist, brauchst du noch lange kein so jämmerlicher Feigling zu sein.« Schließlich, dachte sie mit einem grimmigen Lächeln, hatte sie jahrelang nichts mehr gegessen. Plötzlich erinnerte sie sich an die Nahrungsmittel, die der Erzmagusch aus der Zeit genommen und in den Vorratsräumen hinter der Küche gehortet hatte. War es möglich, daß sie immer noch dort waren? Der Hunger verlieh ihren Schritten frische Energie, und sie eilte über den Hof, um nachzusehen.

Zumindest gab es in der Küche Kerzen. Sobald Eliseth den ersten Docht entzündet hatte, brauchte sie sich nicht mehr mit den Launen der Maguschlichter herumzuplagen. Als ihre Flamme aufflackerte und das bernsteinfarbene Leuchten des Kerzenlichts schließlich den ganzen Raum erhellte, stand Eliseth ein neuer Schrecken bevor. Eine Vielzahl huschender und trippelnder kleiner Füße wurde sichtbar. Schatten bewegten sich und huschten in Ecken und unter Bänke, während Küchenschaben und Ratten, die so lange die unbestrittenen Könige dieses Reiches gewesen waren, sich in Sicherheit brachten. Die Magusch zog angewidert die Nase kraus, setzte dann aber unbeirrt ihren Weg zu den Lagerräumen fort. An das Essen, das aus der Zeit herausgenommen worden war, konnten die kleinen Räuber nicht heran.

Traurigerweise wurden ihre Hoffnungen bald zunichte gemacht. Miathan war zu lange außerhalb der Welt gewesen, ein Opfer ihrer Magie. In seiner Abwesenheit waren die Zeitzauber nach und nach brüchig geworden, und die Vorräte, die dem Ungeziefer nicht zugänglich gewesen waren, waren zu einem stinkenden schwarzen Schlamm verrottet, dessen Geruch Eliseth in der Kehle würgte. Hastig drehte sie sich um und wischte sich über die tränenden Augen, dann stolperte sie aus der Küche, so schnell sie nur konnte.

Genug! Es dauerte nicht lange, bis der Ärger der Wettermagusch stärker war als ihr Hunger und ihr Entsetzen. Offensichtlich hatte ihr die Akademie nichts zu bieten. Als sie nun über andere Möglichkeiten nachsann, fielen ihr die Sterblichen in der Stadt ein. Unten in Nexis gab es zumindest einen – falls er noch am Leben war –, der in ihrer Schuld stand. Die Magusch zog sich ihre Kapuze tief in die Stirn und machte sich auf den Weg hügelabwärts in die Stadt.

Bern spürte, wie ihm alles Blut aus dem Gesicht wich, als er die Tür öffnete und die Lady Eliseth vor sich sah. Die Knie gaben unter ihm nach, und er mußte sich an der Tür festhalten, um nicht zu Boden zu sinken. Sein Mund öffnete und schloß sich wortlos, während er nach Atem rang. Ich träume, dachte er. Ich muß träumen. Das Ganze ist ein gräßlicher Alptraum – ich werde gleich aufwachen, und dann ist sie weg …

Die Magusch machte jedoch keine Anstalten, wegzugehen. Ein bösartiges Lächeln huschte über ihr makelloses Gesicht. »Was ist los, Bern?« fragte sie ihn mit giftig-süßer Stimme. »Du schaust mich ja an, als hättest du einen Geist gesehen.«

»Aber ich …« Endlich fand der Bäcker seine Stimme wieder. »Lady, ich dachte, du wärst tot. Als du in diesem Blitz verschwunden bist … Ich war sicher, daß er dich getötet hätte. Wir … Jeder hier – dachte, alle Magusch wären tot.«

Eliseth zuckte mit den Achseln. »Dann habt ihr euch eben geirrt.« Ohne auf eine Einladung zu warten, schob sie sich rücksichtslos an dem Bäcker vorbei und trat mitten ins Zimmer. Bern folgte ihr auf zittrigen Beinen. Mittlerweile hatte er sich immerhin genügend gefangen, um die Furchen der Anstrengung und Müdigkeit in Eliseths Gesicht zu entdecken. Auch die verkohlten und blasen- übersäten Hände waren ihm nicht entgangen. Abgesehen davon sah sie genauso aus wie bei ihrer letzten Begegnung. Ihr silbriges Haar, das normalerweise so gepflegt und glatt war, war vollkommen verfilzt und stank nach Holzrauch, als wäre sie gerade erst aus den brennenden Bäumen des Tals getreten. Wo im Namen aller Götter war sie all diese Jahre gewesen? fragte er sich. Und was hatte sie dort getan?

»Zweifellos hast du von der Abwesenheit der Magusch profitiert.« Die Wettermagusch musterte die neu eingerichtete Bäckerei mit kalten Blicken. »Als ich die Straße hinaufkam, ist mir aufgefallen, daß du das Haus nebenan gekauft hast, um dein Geschäft zu vergrößern.« Jetzt richtete sie ihren unerbittlichen, durchdringenden Blick voll auf ihn. »Da frage ich mich doch, ob all dieser neue Wohlstand nicht mit dem Korn zusammenhängt, das ich dir vor einiger Zeit geliefert habe?«

»In der Tat, Lady – ich bin jetzt ein wohlhabender Mann.« Bern sah keinen Sinn darin, es zu leugnen. Er wußte, daß ihr sein Wohlstand nicht entgehen würde. Wo sie auch hinblickte, würde sie Zeichen seines neuen Reichtums finden, angefangen von seiner üppigen, teuren Kleidung bis hin zu den blitzblanken, neuen Öfen und Theken. Gegen alle Hoffnung betete er, daß sie wenigstens die vielen dezenten Verschönerungen übersehen würde, die nur auf die Anwesenheit einer Frau zurückzuführen waren – aber es sollte nicht sein.

Die Magusch hob eine Augenbraue. »Nun, nun. Und geheiratet hast du auch, Bern, in meiner Abwesenheit? Sind da Glückwünsche angebracht?«

»Ah, Lady – was bringt dich auf diesen Gedanken?« fragte er – eine Spur zu hastig.

Gerade in diesem Augenblick erklang eine Stimme aus dem Hinterzimmer. »Wer ist da gekommen, Bern?«

Der Bäcker fluchte leise, als eine kleine Frau mit glattem, braunem Haar, das sie sich zu einem strengen Knoten zurückgebunden hatte, aus dem Hinterzimmer trat. Sie war hochschwanger, und zwei kleine Kinder, ein Junge und ein Mädchen, lugten hinter ihren Röcken hervor, um einen schüchternen Blick auf die Besucherin zu werfen. Bevor der Bäcker seine Familie wegschicken konnte, trat Eliseth vor und hielt der jungen Frau die Hand hin. »Sie müssen Berns Gemahlin sein«, sagte sie strahlend. »Es freut mich, daß er eine so charmante und bezaubernde Gefährtin gefunden hat – und so süße kleine Kinder hat er auch!«

Da Eliseth sich dazu herabgelassen hatte, mit ihr zu sprechen, blieb Bern nichts anderes übrig, als seine Frau vorzustellen.

»Das ist meine Frau, Alissana«, murmelte er. Die Frau hatte nun erkannt, daß eine Magusch vor ihr stand, und war offensichtlich erschrocken. Bern sah sie schaudern, als sie Eliseths Hand mit dem geschwärzten Fleisch ergriff, und er bemerkte auch das Entsetzen in ihren Augen, als die Magusch die Kinder betrachtete. Alissana versuchte einen Knicks zu machen, verlor aber wegen der Plumpheit ihres schwangeren Leibes das Gleichgewicht. Sie wäre gestürzt und die Magusch mit ihr, hätte Eliseth sie nicht beide davor bewahrt.

»Unbeholfenes Weibsbild!« fuhr Bern sie an und hob drohend die Hand. Die Frau erbleichte und legte schnell beide Hände über ihren Leib, als wolle sie ihr ungeborenes Kind schützen. Sie trat einen Schritt zurück, drehte sich um und huschte, den kleineren Jungen im Schlepptau, in das andere Zimmer. Das zweite Kind, ein Mädchen von vielleicht fünf oder sechs Jahren, blieb zaudernd in der Tür stehen und sah die Magusch mit großen, runden Augen an.

Eliseth zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder an Bern. »Ich nehme an, du hast irgendwo in diesem großen Haus ein Gästezimmer. Führ mich sofort hin. Dann werde ich ein Bad benötigen und eine gute, warme Mahlzeit – und morgen früh kann deine Frau alles in die Wege leiten, damit ich ein paar neue Kleider bekomme.«

Berns Augen traten aus ihren Höhlen. O ihr Götter, sie konnte doch unmöglich bleiben wollen! »Wirklich, Lady«, stieß er hervor, »es wäre uns eine große Ehre, aber …«

Wie eine Schlange schoß die Hand der Magusch hervor und umklammerte mit ihren schwarzgewordenen Krallen das Handgelenk des Bäckers. »Hör mir zu, du abscheulicher kleiner Mistkerl – du stehst in meiner Schuld, und das solltest du nie vergessen«, fauchte sie. Dann zeigte sie auf die neu eingerichtete Bäckerei und auf die behaglich ausgestatteten Wohnräume dahinter. »Wenn ich dir damals nicht das Korn geschenkt hätte, könntest du nichts von alledem dein eigen nennen.«

Sosehr er sich auch vor ihr fürchtete, lehnte sich Berns gierige Söldnernatur gegen eine solche Behauptung auf. »Lady, bei allem Respekt, du scheinst vergessen zu haben, daß das Korn kein Geschenk war, sondern ein Lohn dafür, daß ich in das Rebellenlager eingedrungen bin, um …«

»Um sie aus ihrem Versteck rauszulocken, damit ich mich weiter mit ihnen beschäftigen konnte – eine Aufgabe, bei der du kläglich versagt hast.« In Eliseths Stimme schwang eisiger Stahl mit. »Du diebischer, sterblicher Abschaum! Nachdem du deine Seite unseres Abkommens nicht eingehalten hattest – wie konntest du es wagen, dir dieses Korn anzueignen? Du hattest absolut keinen Anspruch darauf!«

Bern entwand sich ihrer Umklammerung und fiel, um Gnade winselnd, zu Boden. »Vergib mir, Lady – ich wollte dein Korn nicht stehlen«, wimmerte er. »Aber was sollte ich tun? Es wäre ein Verbrechen gewesen, es verkommen zu lassen. Obwohl es rechtmäßig den Magusch gehörte, dachte ich doch, die Magusch wären alle tot!«

»Offensichtlich«, erwiderte die Magusch schneidend. »Aber da hast du dich geirrt – und jetzt mußt du für deinen Irrtum büßen, es sei denn, du zögest es vor, an deiner Stelle deine Frau und deine Kinder zahlen zu lassen.« Ihre Stimme war so kalt und tödlich wie eine Stahlfalle.

Bern schauderte bei dem Gedanken, was sie seinem ungeborenen Kind antun konnte. Da ihm keine andere Wahl blieb, erstickte er seinen Zorn und gab sich geschlagen. »So sei es also, Lady«, flüsterte er.

Alissana blieb kaum genug Zeit, um von der Tür zurückzuspringen, an der sie gehorcht hatte, als Bern ins Zimmer stürzte.

»Die Lady wird bei uns wohnen.« Er spie die Worte aus, als hätte ein jedes davon einen widerlichen Geschmack. »Sie verlangt ein heißes Bad und Essen«, fügte er mit finsterem Blick hinzu, »daher werde ich jetzt das Feuer schüren und Wasser erhitzen, während du in die Küche gehst – und um unser beider willen sollte das die beste Mahlzeit werden, die du je in deinem Leben zustande gebracht hast. Und jetzt an die Arbeit – steh nicht mit offenem Mund da rum, du hirnloses Luder. An den Herd mit dir, aber schnell!« Seine Frau eilte davon, um ihm zu gehorchen; der mörderische Zorn in seinem Gesicht hatte sie mit eisiger Angst erfüllt. Während der Jahre ihrer Ehe hatte sie das Temperament ihres Mannes nur allzuoft am eigenen Leib erfahren, denn er ließ seinen Zorn, wenn etwas schiefging, stets an seiner Familie aus. Sorgenvoll machte Alissana sich an die Zubereitung der Mahlzeit. Sie war eine vernünftige, ausgeglichene Frau, die sich der Charakterschwächen des Bäckers vollauf bewußt gewesen war, als sie ihn heiratete. Aber sie hatte seinen Antrag dennoch angenommen, denn in der Zeit nach dem Verschwinden der Magusch war er der einzige einigermaßen wohlhabende Mann in dem verarmten, hungernden Nexis gewesen. Gezwungenermaßen hatte sie gelernt, sich und die Kinder vor seinen schlimmsten Wutanfällen zu schützen, und diesmal verstand sie seinen Zorn, denn sie teilte seine Furcht.

Die Entdeckung, daß ihr Wohlstand ursprünglich von einem lange zurückliegenden, unheiligen Handel mit den Magusch herrührte, erschreckte sie. So schwierig und manchmal auch brutal Bern sein mochte, er stellte für sie und die Kinder Sicherheit und sogar Luxus dar. Bei dem Gedanken an die verzerrte schwarze Kralle, die die Magusch ihr hingestreckt hatte, überlief Alissana ein Schaudern. Die Lady mit den eiskalten Augen flößte ihr Furcht ein. Alissana bangte um die Sicherheit ihrer Kinder – und jetzt hatte die Magusch Bern auch noch des Diebstahls bezichtigt … Mit zitternden Händen rollte sie den Teig für ihre Pastete aus. Was, wenn Eliseth ihn in ihrem Ärger ermordete oder in etwas Unnatürliches verwandelte? Was sollte dann aus seiner Familie werden?

Bern, der die ganze Zeit über vor sich hin brummte und fluchte, prüfte die Temperatur des Wassers in dem großen Kupferkessel überm Feuer. Er hatte seiner Frau den Rücken zugekehrt. Unwillkürlich wanderte Alissanas Blick zu der Metallschachtel mit dem fest schließenden Deckel, die sicher verstaut auf einem hohen Regal stand, an das die Kinder nicht herankommen konnten. Ratten und Mäuse stellten ein ständiges Problem in der Bäckerei dar, und vor kurzem war Bern zu der einheimischen Kräuterfrau gegangen, um eine neue Portion Gift zu kaufen. Mit einem einzigen schnellen Griff langte Alissana zu dem Kasten hinauf. Bern hatte ihr immer noch den Rücken zugewandt, während sie die weißen Kristalle zwischen die Äpfel in ihrer Pastete streute. Bevor ihr Mann Zeit fand, sich umzudrehen, war die Tat vollbracht, der Kasten zurück auf seinem Regal und die obere Teigschicht aufgelegt, um das Ergebnis ihres tödlichen Werks zu verbergen. Als Alissana die Pastete in den Ofen schob, bemerkte sie, daß ihre Hände aufgehört hatten zu zittern.

Einige Zeit später saß Eliseth, jetzt sauber und erfrischt, vor einem lodernden Feuer in dem Raum, der offensichtlich das beste Schlafzimmer im Haus war. Die Tatsache, daß Bern und seine schwangere Frau ihr dieses Schlafgemach überlassen mußten, weckte bei ihr nicht die leisesten Gewissensbisse. Es war äußerst unbequem und lästig gewesen, ohne Diener auskommen zu müssen, aber jetzt erfüllte sie zum ersten Mal seit ihrer überstürzten Rückkehr nach Nexis das beruhigende Gefühl, daß das Leben bald wieder seinen gewohnten Gang gehen würde. Sie schwelgte in der Vorstellung, wie der Bäcker mit seinen schweren Eimern die Treppe hinauf und hinunter taumelte, um ihr Bad zu füllen und später wieder zu leeren. Zumindest gelegentlich waren die Sterblichen doch zu etwas nütze!

Zu ihrer unaussprechlichen Erleichterung hatte die Magusch festgestellt, daß der Bäcker, auch wenn er gealtert war, doch nicht so viele Jahre älter zu sein schien als bei ihrer letzten Begegnung. Außerdem hatte der Ausdruck auf seinem Gesicht, als er ihr die Tür öffnete, sie mit einer tiefen, boshaften Belustigung erfüllt – vielleicht würde sie ihm dafür sogar verzeihen, daß er sich so gar nicht erfreut über ihr Erscheinen gezeigt hatte.

Jetzt, da sie wußte, daß sie sich nicht allzuweit in die Zeit verirrt hatte, galt Eliseths Hauptsorge dem Zustand ihrer Hände, die das Flammenschwert so übel versengt hatte. Oh, wie sehr sie sich wünschte, sie hätte sich die Mühe gemacht, von Meiriel mehr als nur die dürftigsten Grundlagen der Heilkunst zu erlernen. Obwohl sie alles in ihrer Macht Stehende tat, konnten ihre Kräfte sie bestenfalls von dem Schmerz befreien und ein gewisses Gefühl in ihren klauenartigen Fingern zurückgeben – genug, um ihre Hände wieder benutzen zu können, aber nicht genug, um kompliziertere Aufgaben auszuführen, die einer gewissen Geschicklichkeit bedurften. Die Haut war nach wie vor versengt und geschwärzt, und daran schien sich nichts zu ändern. Sie hatte das unheilvolle Gefühl, daß das für alle Zeit so bleiben würde. Die Wettermagusch biß sich auf die Lippen und versuchte den Kloß, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte, herunterzuschlucken. Sollten doch die Dämonen das verfluchte Flammenschwert nehmen! Was hatte es ihr bloß angetan?

Berns Erscheinen schreckte Eliseth aus ihrem düsteren Grübeln auf. Er trug ein Tablett mit Essen, ein Umstand, der sie überraschte, denn sie hätte gedacht, daß er sich nicht zu einem so unterwürfigen Dienst herablassen würde, solange eine Frau in der Nähe war. Es mußte ihn schon über die Maßen erzürnt haben, ihren Badezuber zu füllen. Andererseits hatte Alissana vielleicht zu große Angst, um sich einer Magusch zu nähern – oder, was wahrscheinlicher war, Bern versuchte, sie von seiner schwangeren Frau fernzuhalten.

Als er das Tablett vor sie hinstellte, schob Eliseth all ihre anderen Sorgen für den Augenblick beiseite. »Setz dich hierher, Bern, und leiste mir Gesellschaft, während ich esse«, sagte sie. »Ich möchte genau wissen, was während meiner Abwesenheit in der Stadt passiert ist.«

Nach und nach bekam Eliseth ein Bild von dem, was sich in den letzten Jahren in Nexis ereignet hatte. Sie fand heraus, daß sie sieben Jahre lang fort gewesen war – bei weitem genug Zeit für die törichten, leichtgläubigen Sterblichen, sich einzureden, daß die Magusch allesamt und für immer verschwunden waren. Nichtsdestoweniger hatte die Furcht vor Miathans rastlosem Geist die Nexianer davon abgehalten, die Akademie zu plündern – eine Tatsache, die Eliseth mit einigem Interesse verzeichnete. Dafür fiel es ihr sehr schwer, ihren Zorn und ihr Entsetzen darüber zu verbergen, daß der Rat der Drei aufgehoben worden war und nun ausgerechnet dieser Emporkömmling Vannor die Stadt regierte. Seit jener Nacht, in der sie versucht hatte, ihrer Magie durch den Schmerz seiner verstümmelten Hand größere Kraft zu verleihen und er ihr ein Schnippchen geschlagen hatte, war Eliseths Haß auf den Kaufmann unermeßlich gewesen. Kein Sterblicher konnte sie wie eine Närrin dastehen lassen und ungestraft davonkommen!

Dasselbe galt für Vannors Tochter. Die Magusch verlor alle Freude an ihrem Mahl, als sie sich daran erinnerte, wie das kleine Miststück sich in der Maske einer Dienerin in die Akademie eingeschlichen hatte. Sie hatte sich bei Eliseth eingeschmeichelt, bis diese sie zu ihrer persönlichen Zofe machte. Niemand hatte je genau herausgefunden, wie es Zanna gelungen war, ihren Vater zu befreien und dann mit ihm zu verschwinden, aber da das Mädchen Eliseths Dienerin gewesen war, hatte Miathan immer die Wettermagusch für ihre Flucht verantwortlich gemacht – wobei er die Tatsache, daß er das Mädchen mit der Versorgung des Gefangenen betraut hatte, geflissentlich übersah.

Bei dem Gedanken an Zanna drehte sich der Magusch vor Zorn der Magen um, und sie schob ihren Teller mit dem gerösteten Geflügel beiseite. »Weißt du, was aus Vannors Tochter geworden ist?« fragte sie Bern und versuchte, ihrer Stimme die Schärfe zu nehmen.

Bern schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie hat geheiratet, Lady.« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, wo sie jetzt lebt – in Nexis ist sie allerdings nicht. Ich glaube, sie ist aus Sicherheitsgründen nicht mehr zurückgekehrt, seit die Phaerie mit ihren Plünderzügen begannen. Von Zeit zu Zeit kommt sie ihren Vater besuchen und bringt auch ihre Kinder mit.«

Die Magusch seufzte. Ah, na gut – sie würde noch genug Zeit haben, herauszufinden, wo Zanna sich aufhielt. Zuerst würde sie sich auf den Vater des Mädchens konzentrieren, den selbsternannten Herrn von Nexis, auch wenn sie bisher noch nicht wußte, wie sie sich an ihm rächen würde. Dann durchdrang doch etwas von dem, was Bern gesagt hatte, ihre Rachegelüste, und sie fragte: »Was war das mit den Phaerie?«

Voller Entsetzen hörte Eliseth seiner traurigen Geschichte zu. Als sie aus der Welt herausgerissen wurde, hatte sie in dem Aufruhr der Ereignisse um sie herum den Waldfürsten und seine Untertanen vollkommen vergessen. Aber es sah so aus, als seien die verfluchten Phaerie in Abwesenheit der Magusch außer Kontrolle geraten. In den ersten drei oder vier Jahren seiner Herrschaft hatten die Plünderer, die den Himmel als ihre Straße benutzten, Vannor endlose Schwierigkeiten gemacht. In Nächten, in denen der Mond hell war und der Nordwind die Wolken peitschte, mußten die Bürger von Nexis und dem umhegenden Land schnell lernen, ihr Vieh wegzusperren und ihre Türen zu verriegeln, wenn die Phaerie auf ihren großen, kräftigen Pferden, die durch die Luft zu reiten vermochten, vom Himmel herunterschossen. Zuerst holten sie sich nur starke Männer, aber später verschwanden nach und nach bestimmte Handwerker – Zimmerleute, Ziegelbrenner, Maurer, Tischler und Schmiede. Alle wurden gen Norden davongetragen, zu schnell, als daß man ihnen hätte folgen können, und keiner war je zurückgekehrt.

Eine Weile später verschwanden auch die ersten Bauern und Schafhirten – und immer handelte es sich um Männer von den trostlosesten Besitzungen, auf denen sie der harten Vegetation und dem dünnen Boden der Hochlandhöfe das Bestmögliche abgerungen hatten. Hier kristallisierte sich jedoch ein anderes Muster heraus. Die Höfe wurden später leer vorgefunden, und ganze Familien waren verschwunden, die Scheunen und Felder mitsamt den Handwerkszeugen und der Ernte gestohlen. Das hatte Vannor, wie Eliseth mit boshafter Freude quittierte, fast um den Verstand gebracht. Er hatte erfolglos versucht, den rätselhaften Entführungen auf den Grund zu kommen. Schon bald wurden die Höfe aus einem anderen Grund verlassen, denn viele der außerhalb der Stadtmauern ansässigen Familien ließen ihr Land im Stich, um bei Verwandten in Nexis Zuflucht zu suchen.

Nicht daß Nexis wirklich sicherer gewesen wäre. Die Phaerie schlugen zu, wann immer es ihnen gefiel, und ergriffen jeden, den sie haben wollten. Jetzt wurden oft auch junge Mädchen entführt und manchmal sogar Kinder. Frauen wurden aus Heim und Familie weggerissen, um ein ungewisses Schicksal zu erleiden. Wollspinner und Weber verschwanden genauso wie Näherinnen und Spitzenklöpplerinnen – ganz zu schweigen von Bäckern, Brauern und den Mitgliedern des ältesten Gewerbes überhaupt. Die Garnison schien hilflos zu sein – nach so vielen Fehlschlägen bei dem Versuch, die Dinge unter Kontrolle zu bekommen, hatte der Kommandant aufgegeben und verbrachte den Rest seines Lebens damit, sich in ein frühes Grab zu trinken. Obwohl Nexis im großen und ganzen unter Vannors Herrschaft gediehen war, konnte es keinen wahren Frieden oder Wohlstand geben, solange das Problem der Phaerie nicht ein für allemal gelöst war.

Bern hatte Angst, soviel stand fest, dachte Eliseth. Er war den Phaerie einmal entronnen, an jenem Tag vor langer Zeit im Tal. Damals hatte er sich in den See gestürzt und sich in den überhängenden Büschen am Wasserrand versteckt, bis diese furchterregenden, fremdartigen Geschöpfe verschwunden waren. Erst dann war er aus seinem Versteck gekrochen und hatte eins der frei herumlaufenden Söldnerpferde eingefangen, um nach Hause zu reiten. Den grauenvollen Überfall der Phaerie, die Eliseths Streitmacht aus gedungenen Söldnern bis auf den letzten Mann abgeschlachtet hatten, konnte er jedoch nie vergessen. Er hatte die Bäckerei so gut es ging befestigt, lebte aber immer noch in der Furcht, daß eines Nachts auch er ergriffen werden könnte – und was, wenn die Phaerie seine Familie holten?

Eliseth war es vollkommen gleichgültig, ob sie das taten oder nicht – abgesehen davon, daß Bern sich ihr in Zukunft noch als nützlich erweisen konnte. Was die Magusch weit mehr interessierte, war die Frage, welche Bedrohung die Phaerie für ihre eigenen Pläne darstellten. Sie beabsichtigte, in Nexis die Zügel der Macht selbst in die Hand zu nehmen, und das konnte schwierig werden, wenn die verwünschten Phaerie immer noch durch die Stadt wüteten. Auf der anderen Seite waren ihr, wenn sie die Phaerie vertreiben konnte, die Bewunderung und der Respekt der Bevölkerung gewiß. Dann brauchte sie keinen Finger mehr zu krümmen, um Vannor aus dem Amt zu drängen – die törichten Nexianer würden sie anflehen, die Herrschaft zu übernehmen. Eliseth schenkte Berns schier endloser Klage kaum weiter Aufmerksamkeit, sondern dachte konzentriert über ihre eigenen Pläne nach, während sie sich die Apfelpastete heranzog und zu essen begann.

Als der erste scharfe Schmerz durch ihre Eingeweide schoß, riß Eliseth die Augen auf. Dann fiel sie von ihrem Stuhl, umklammerte mit beiden Armen ihren Leib und konnte schon das Gift spüren, das wie eine grausame, schwarze Flut in ihr Blut einsickerte. Sie griff sich an den Hals, ihre Beine zuckten hilflos auf dem Teppich, und sie würgte an einem widerlichen Gemisch aus Galle und Blut.

Es blieben ihr nur Sekunden, um sich zu retten. Eliseth kämpfte ihre Panik nieder, spannte all ihre Kräfte an, um den Schmerz zu ignorieren, und richtete ihren Willen nach innen, um ihr rasendes Herz zu einem langsameren Schlag zu zwingen. Wie mit unsichtbaren Fingern griff sie in ihre Venen, um das tödliche Gift in seine harmlosen Bestandteile zu zerlegen, die ihren Körper auf normalem Wege verlassen konnten.

Nach und nach ebbten die Qual und die Angst ab. Zu ihrer maßlosen Erleichterung spürte die Magusch, wie ihre Körperfunktionen wieder zur Normalität zurückfanden. Die abklingenden Wellen des Schmerzes spülten sie zurück an die Ufer des Bewußtseins. Eliseth öffnete schwach und von Übelkeit und Schwindel geplagt die Augen; ihr ganzer Körper schmerzte dumpf, als hätte man sie von innen wie von außen geprügelt.

Und wo war Bern? Wo war dieser janusgesichtige, kriecherische, hinterhältige Mistkerl von einem Sterblichen? Hinter sich hörte die Magusch das leise Quietschen der Tür, die geöffnet wurde. Nachdem dieser verräterische Bastard festgestellt hatte, daß sie seinen feigen Mordversuch überleben würde, ergriff er nun hastig die Flucht.

»Nein!« fauchte Eliseth, während sie sich zur Seite rollte. Ihr waren genug Sterbliche durch die Finger geglitten. Es blieb gerade noch Zeit für ein kurzes Aufblitzen von Entsetzen in Berns Augen – dann sandte die Magusch mit einer fließenden, schnellen Bewegung einen zischenden Lichtblitz auf ihn ab. Der Körper des Bäckers sackte schwelend zu Boden.

Mit einem furchtbaren Ruch packte die Magusch die Tischkante und zog sich hoch. Ein hastiger Schluck Wein aus der Karaffe auf dem Tisch half ihr, wieder zu sich zu kommen. Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, taumelte sie durch den Raum zu dem Bäcker hin und bückte stirnrunzelnd auf seine rauchende Leiche herab. Bei dem Gestank verkohlten Fleisches zog sie angewidert die Nase kraus. »Ewige Verdammnis möge diese kriecherische kleine Ratte befallen – ich hätte nie gedacht, daß er solchen Mut aufbringen würde«, murmelte sie bei sich. Trotzdem, jetzt da die erste wilde Woge ihres Zorns abgeebbt war, bedauerte sie es, ihn so vorschnell getötet zu haben. Sie hatte Pläne für Bern und seine Familie geschmiedet – und jetzt war er nutzlos geworden. Außerdem mußte sie nun auch seine Frau und seine Kinder töten, sonst würde sich die Nachricht von ihrer Rückkehr im Handumdrehen in ganz Nexis verbreiten, und Vannor würde gewarnt sein. Eliseth fluchte noch einmal. Diese verdammten Sterblichen! Das Ganze war äußerst unbequem.

Nun, zumindest hatte der Bäcker ihr vor seinem Tod die Informationen gegeben, die sie benötigt hatte. Jetzt konnte sie in die Sicherheit der Akademie zurückkehren – nachdem sie sich um den Rest von Berns Familie gekümmert hatte. Die Wettermagusch griff nach ihrem Umhang, den sie sorglos über eine Stuhllehne gehängt hatte. Als sie das Kleidungsstück an sich nahm, spürte sie ein ungewohntes Gewicht und berührte einen harten, klobigen Gegenstand, der in der tiefen, ins Futter eingenähten Tasche verborgen war.

Eliseth hielt den Atem an und blieb einen Augenblick wie erstarrt stehen. Der Mantel in ihren Händen war vergessen, und ein unglaublicher Gedanke schoß ihr durch den Kopf. Der Kelch, den sie bei sich trug, war angeblichem Teil des Kessels der Wiedergeburt! War es möglich, daß der Kelch immer noch die Macht hatte, die ursprüngliche Funktion des Kessels auszuüben? Und wenn ja – wahrhaftig, welch ungeahnte Möglichkeiten sich ihr dann boten!

Mit vor Aufregung leicht zitternden Händen nahm Eliseth den Gral aus ihrer Tasche und füllte ihn mit Wasser aus dem Krug auf dem Tisch. Während die Flüssigkeit in dem Kelch aufstieg, schienen die Eigenschaften der angelaufenen Innenseite des Gefäßes auf sie überzugreifen. Das Wasser nahm eine tiefe, bösartige Schwärze an, die weder Glanz noch ein Spiegelbild besaß. Über der lichtverschlingenden Oberfläche stieg ein dunkler, spiraliger Dampf auf. Die Magusch, die den Kelch mit äußerster Vorsicht festhielt, um nichts von seinem Inhalt über ihre Hände zu vergießen, kehrte zu Berns Leiche zurück und sprenkelte ein paar Tropfen über den immer noch schwelenden Leichnam.

Zuerst schien nichts zu geschehen. Die versengte, in sich zusammengekrümmte Gestalt ließ kein Zeichen von Leben oder Bewegung erkennen. Aber dann, gerade als Eliseth sich angewidert abwenden wollte, blinzelte sie und sah noch einmal genauer hin. Die Oberfläche von Berns Körper hüllte sich in eine dunkle, wogende Wolke, die aus der Entfernung wie ein Schwarm winziger, glitzernder, schwarzer Bienen aussah. Die Magusch bemerkte, daß die verkohlte Hülle seiner sich abschälenden Haut ein wenig weicher zu werden schien, und ganz allmählich nahm sie wieder die hellere Tönung gesunden Fleisches an. Binnen weniger Sekunden war der Bäcker wieder als Mensch erkennbar, obwohl er – sehr zu Eliseths Mißfallen – genauso tot war wie zuvor und weder atmete noch sich bewegte.

Einem Impuls gehorchend, hob Eliseth seinen Kopf und ließ ein paar Tropfen von dem dunklen Wasser aus dem Gral in seinen erschlafften Mund rinnen. Ein Augenblick verstrich und dann noch einer, während die Magusch in angespannter Erwartung den Atem anhielt. Ohne Vorwarnung sog Bern dann plötzlich und mit einem erstickten Aufstöhnen scharf die Luft ein – um einen Augenblick später unbeholfen aufzuspringen. »Lady – das war ich nicht! Ich war es nicht!« schrie er. Dann blinzelte er, und ein jähes Verstehen kehrte in seine Augen zurück. »Was ist passiert?« fragte er und vergaß in seiner Aufregung ganz, die Magusch mit dem geziemenden Respekt anzusprechen. »Was habe ich getan?«

Eliseth, der bereits eine wütende Erwiderung auf der Zunge lag, schluckte ihre halb formulierte Antwort herunter. Als ihr klar wurde, daß Bern nach seinen ersten gekreischten Unschuldsbeteuerungen kein einziges Wort laut gesprochen hatte, weiteten sich ihre Augen erschrocken. Sie konnte in seinen Geist blicken!

Sobald sie begriff, wie das vor sich ging, konnte sie viel klarer sehen und sammelte ihre ganze Konzentration. Dort, hinter dem unscharfen Tumult der Gedanken des Sterblichen, lag die tiefe Verwirrung des Bäckers vor ihr, während er vergeblich versuchte, sich darauf zu besinnen, was in den unheimlichen, leeren Minuten geschehen war, in denen er bewußtlos auf dem Boden gelegen hatte. Eliseth sah ganz deutlich sein Entsetzen und seine Angst, als er verzweifelt zurückdachte und ihm schließlich wieder einfiel, daß jemand versucht hatte, die Magusch zu ermorden – und daß dafür nur eine einzige Person in Frage kam.

Alissana! Eliseth nahm das Bild direkt aus den Gedanken des Sterblichen. Also hatte Berns verfluchte Ehefrau die Dreistigkeit besessen, ein Attentat auf sie zu wagen! Der Zorn der Magusch kochte über und wurde schier unerträglich – bis sie plötzlich mit einem erschreckenden Perspektivenwechsel feststellte, daß sie sich ansah. Eliseth keuchte und riß die Hände vor die Augen – aber es waren nicht ihre Hände, und es waren auch nicht ihre eigenen Züge, die sie unter ihren Fingern spürte. Sie sah den Raum durch Berns Augen!

Instinktiv prägte Eliseth Berns schwachen und feigen Gedanken ihren Willen auf. Dann spürte sie, wie diese Gedanken Sandkörnern gleich durch das Stundenglas ihres Geistes sickerten. Das Gefühl war ein ganz anderes, als der Besitz eines fremden Leibs, wo die Persönlichkeit des Opfers beiseite geschoben wurde und der Eindringling die Kontrolle übernahm. In diesem Falle waren die Gedanken des Bäckers immer noch seine eigenen – die Magusch beherrschte sie lediglich, als sei sein Geist ein rastloses Pferd, das sie festhalten und mit den Zügeln ihres eigenen Willens leiten konnte. Mit einem Beben freudiger Erregung wurde ihr klar, daß Bern nicht die leiseste Ahnung von ihrer Gegenwart in seinem Körper hatte. Das Gefühl der Kontrolle war überwältigend, und Eliseth fragte sich, wie weit ihre Herrschaft reichen mochte. Noch ein wenig zaghaft zuerst, begann sie die Grenzen ihrer neu entdeckten Macht zu erproben.

Für Eliseths eigenen Körper bestand nicht die leiseste Gefahr – sie setzte ihn vorsichtig auf einen Stuhl, wo ihm nichts geschehen konnte. Schon bald stellte sie fest, daß sie lediglich die sogenannten höheren Funktionen von Berns Geist zu kontrollieren brauchte, die Reaktionen seines Körpers erfolgten dann automatisch. Eine Weile amüsierte sie sich damit, ihn durchs Zimmer gehen und einfache Tätigkeiten verrichten zu lassen. Danach beschloß sie, ihre Macht über die Marionette einer Probe zu unterziehen. Wie eine Spinne, die ihrem Opfer auflauerte, ritt sie durch das Netz von Berns Gedanken und schickte ihn zur Treppe – und hinauf zu den Räumen, in denen seine Familie schlief.

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