10 Der Bote

Das schwache Mondlicht hatte kaum eine Chance, das dicke Buntglas der Bibliotheksfenster zu durchdringen, und so war es stockfinster in dem Raum. Aurian schuf ein geisterhaftes Maguschlicht und ließ es vor ihr her schweben, um den Weg zu beleuchten. Das war das erste Mal, daß sie, seit Finbarr von seinem Schicksal eingeholt worden war, einen Fuß in die Bibliothek setzte. Sie betrachtete voller Entsetzen die verfaulenden, von Ratten angenagten Bücher, von denen viele aus ihren Regalen gefallen waren und – wie Vögel mit gebrochenen Hügeln – aufgeschlagen auf dem Boden lagen. Die Magusch war froh, als sie das filigrane Metalltor am anderen Ende des riesigen Raumes erreichte. Obwohl sie der Gedanke schreckte, das Labyrinth der finsteren Katakomben unter der Bibliothek zu betreten, war es eine willkommene Erleichterung, dem herzzerreißenden Anblick solch unsinniger Zerstörung entfliehen zu dürfen.

Aurian hatte die Schreie nicht gehört. Als sie die Tür zur Bibliothek erreicht hatte, waren sie bereits verklungen, und jetzt lagen die Korridore still, kalt und dunkel unter ihnen. Die Magusch war dankbar dafür, daß Anvar – nein, Forral – dicht neben ihr her ging, immer rechts von ihr, damit er seine Schwerthand frei hatte. Er hielt sich argwöhnisch von den großen Katzen fern, obwohl Aurian ihm erklärt hatte, daß ihre beiden Freunde lange nicht so wild waren, wie sie aussahen. Der Schwertkämpfer hatte anscheinend nicht die Absicht, Aurian so ohne weiteres zu glauben, und Shia machte das Ganze auch nicht besser. Nachdem sie in seinen Gedanken geforscht und jemand anderes als ihren geliebten Freund Anvar darin gefunden hatte, legte sie die Ohren flach an ihren Kopf und warf ihm einen haßerfüllten Blick zu.

Gemeinsam mit den Katzen sahen sie in jeden Raum in der oberen Etage, fanden aber nichts, was ihnen einen Hinweis auf die Identität des Menschen gab, der vorhin geschrien hatte. Es gab auch keine Anhaltspunkte, was den Verbleib von Miathan und Eliseth betraf.

»Das ist doch lächerlich«, sagte Forral schließlich. »Wir verschwenden hier nur unsere Zeit – und werden dabei obendrein auch noch erfrieren. Der Schrei kann nicht von viel weiter unten gekommen sein, sonst hätten diese Riesenviecher ihn nicht gehört. Ich weiß nicht, was du hier unten erwartet hast, aber …«

»Ich habe denjenigen erwartet, der geschrien hat«, erwiderte Aurian scharf. »Und ich wollte wissen, was ihn dazu gebracht hat.«

»Bist du wirklich sicher, daß die Katzen überhaupt etwas gehört haben?« hakte Forral nach. »Ich bin sicher, daß sie sich geirrt haben – es müßte schon ein ziemlich lauter Schrei gewesen sein, um all diese Mauern zu durchdringen. Wenn du mich fragst, können wir genausogut umkehren«, bestürmte er sie.

Es war offenkundig, daß der Schwertkämpfer diesen Ort nicht mochte. Seit sie hier herunter gekommen waren, hatte er den Griff von Anvars Schwert befingert, das sie in Miathans Gemächern entdeckt hatten. Aurian war jedoch daran gewöhnt, ihren Instinkten zu trauen, und irgend etwas drängte sie hierzubleiben. »Nur noch ein klein wenig weiter«, beharrte sie. »Wenn Shia sagt, sie hätte einen Schrei gehört, dann hat sie einen gehört – und dieser Schrei kann nicht aus dem Nichts gekommen sein. Irgend etwas müssen wir hier finden – frag mich nicht warum, aber ich bin mir da ganz sicher.«

Forral schien von diesen Argumenten nicht besonders beeindruckt zu sein. »Aurian – laß uns umkehren …«

Er griff nach ihrer Hand und versuchte, sie mit sich fortzuziehen, ließ die Hand jedoch schnell wieder sinken, als Shia ein warnendes Knurren ausstieß.

»Es muß ganz nah sein, da bin ich mir sicher. Irgendwie habe ich das Gefühl …« Während Forral ihr mit sichtbarem Widerstreben folgte, öffnete die Magusch die nächste Tür.

Es war das letzte, was sie zu sehen erwartet hätte. Aurian schrie entsetzt auf, und ihr Maguschlicht erlosch, so daß das Zimmer augenblicklich in erlösende Dunkelheit getaucht wurde. Mit einem unterdrückten Fluch riß Forral die Magusch zurück in den Korridor und schlug die Tür hinter sich zu. »Geh da weg, du Idiotin! Beweg dich!« Nach kurzem Suchen fand er im Dunkeln ihr Gewand und zog daran.

Aurian widersetzte sich seinem Griff und lehnte sich schwer atmend an die kalte Steinmauer. Dann stieß sie ein schwaches, ohnmächtiges Lachen aus.

»Verdammt, Aurian, dafür haben wir jetzt keine Zeit!« schrie Forral sie an. »In dem Raum wimmelt es von diesen verfluchten Nihilim!«

»Forral – es ist schon gut.« Endlich hatte Aurian ihre Selbstbeherrschung wiedergefunden. »Die Todesgeister können uns nichts tun. Als mein Maguschlicht ausging, habe ich noch das Schimmern eines Zeitzaubers gesehen. Das müssen die Nihilim sein, die Forral aus der Zeit genommen hat, um mich zu retten.« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Es tut mir leid, Forral. Es muß ein schrecklicher Schock für dich gewesen sein, sie so zu sehen.«

Forral antwortete nicht sofort, aber schließlich murmelte er: »Verflucht. Ich komme mir ganz schön dumm vor.«

»Da bist du nicht der einzige«, gab Aurian zu. »Sie haben auch mich zuerst getäuscht.« Dann riß sie sich zusammen und entzündete ein neues Licht, das sie über sich schweben ließ. »Als ich die Tür öffnete und die Geister dort sah, dachte ich einen Augenblick lang, mir würde das Herz stehenbleiben.« Sie wollte gerade die Arme um ihn schlingen, als sie in Anvars Gesicht blickte und etwas in ihr zu zerbrechen schien. Hastig wandte sie sich ab. »Komm weiter«, sagte sie leise. »Laß uns von hier verschwinden. Die Todesgeister werden zwar bewegungsunfähig sein, und wenn sie die ganze Zeit über hier waren, sind sie gewiß auch harmlos, aber trotzdem jagen sie mir eine Gänsehaut ein.«

Forral nickte. »Das ist das erste vernünftige Wort, was ich von dir höre, seit wir hier runtergekommen sind.«

Shia hatte mit der Nase die Tür abermals einen Spalt breit geöffnet und sah sich die Todesgeister durch die schmale Öffnung neugierig an. »Also, das sind die Geschöpfe, die deine Alpträume heimsuchen«, sagte sie zu Aurian. Ihre Stimme klang ein wenig verwirrt.

»Du kannst mein Wort darauf nehmen – sie sind weit erschreckender und grausamer, wenn sie sich bewegen und fressen können«, versicherte die Magusch ihr.

Sie wollten gerade umkehren, als sie die Stimme hörten.

Aurian blieb wie angewurzelt stehen. »Habt ihr das gehört?« fragte sie ihre Freunde. »Was ist das …?«

Der Schwertkämpfer sah sie verwirrt an. »Was sollen wir gehört haben?«

Bestürzt sahen sie einander an. »Etwas, das anscheinend nur mit den Magusch reden kann«, flüsterte Aurian.

Forrals Hand fuhr zu seinem Schwert. Die Magusch ließ ihm Zeit, es zu ziehen, und dann, als sich das Echo des aus der Scheide gleitenden Stahls gelegt hatte, hob sie, Schweigen gebietend, die Hand. Aber als sie dann lauschte, durchdrang kein anderer Laut als ihr eigenes Atmen die Stille.

»Könnt ihr das hören, Shia, Khanu?« erkundigte sich Aurian hoffnungsvoll.

»Es tut mir leid«, sagte Shia. »Ich höre nichts außer uns.«

»Ich auch nicht«, fügte Khanu hinzu.

Die Stimme war jedoch nicht verstummt. Die Magusch konnte sie immer noch in ihrem Kopf hören – einen dünnen, kalten, schrillen Ruf. Es waren keine deutlich erkennbaren Worte, aber ihr Tonfall war eindeutig ein Flehen, ein Rufen, ein Locken. Aurian zitterte. »Es will uns«, murmelte sie. »Es will, daß wir ihm folgen.«

»Was? Du machst Witze!«

»Nein, wirklich«, beharrte Aurian. »Nur die Götter wissen, was es ist, aber es kann kein Todesgeist sein, sonst hätte es mittlerweile gewiß eine Möglichkeit gefunden, seine Kameraden zu befreien. Außerdem, wenn es uns etwas Böses wollte, warum hat es uns dann nicht angegriffen, als wir vorhin im Dunkeln hilflos waren? Das wäre der geeignetste Augenblick gewesen.«

»Ich hoffe, du hast recht«, meinte Forral, »weil du nämlich für diese merkwürdige Vorstellung unser Leben aufs Spiel setzt.«

Aurian hörte ihn kaum. Sie war bereits weiter den Flur hinunter gegangen, um dem Phantomruf zu folgen. Sie bemerkte kaum, daß die anderen ihr widerstrebend folgten und daß Forral düster vor sich hin fluchte.

Die Magusch ging weiter durch den Korridor, um dem unwiderstehlichen Murmeln dieses Rufs zu folgen, der nicht nachließ und auch niemals in seinem Tonfall schwankte, es sei denn, sie versuchte stehenzubleiben oder in einen der Räume längs des Korridors einzutreten. Wenn sie die falsche Richtung einschlug, verwandelte sich das unverständliche Wispern in ein kreischendes Wimmern, das Aurians Herz hämmern ließ, als wolle es in ihrer Brust bersten. Dasselbe passierte, wenn sie versuchte umzukehren. Schon bald hatte sie keine andere Wahl mehr als weiterzugehen.

Aurian spürte, daß Forral sich Sorgen machte. Sein Gesicht – Anvars Gesicht –, das von dem bleichen Maguschlicht beleuchtet wurde, sah fahl und kränklich aus, und seine Augen lagen in tiefen, unergründlichen Schatten. »Aurian, würdest du dieser Sache bitte ein Ende machen?« zischte er ihr zu.

Die Magusch schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Forral – ich kann nicht. Es ist jetzt zu spät – wenn ich ihr nicht folge, wird die Stimme mich in den Wahnsinn treiben.«

Es war nicht weiter schwierig, den richtigen Raum zu finden – Aurian brauchte lediglich dem lockenden Ruf zu folgen, der jetzt mit zunehmender Dringlichkeit in den Tiefen ihres Geistes wisperte. Ungeachtet möglicher Gefahren eilte sie weiter, magisch angezogen von dem Zauber des Rufenden; Forrals zunehmend verzweifelte Versuche, sie aufzuhalten, ignorierte sie vollkommen. Ihr Maguschlicht strömte hinter ihr her und zog einen Kometenschwanz winziger Funken nach sich. Die Stimme wisperte immer lauter und drängender. Obwohl Aurian sich nicht erklären konnte, woher sie es wußte, schienen die Rufe von einer Tür zu kommen, die weiter entfernt auf der rechten Seite lag. Dicht gefolgt von Forral, eilte sie auf die geöffnete Tür zu – und sobald sie eine Hand an das Holz gelegt hatte, brach die Stimme abrupt ab.

»Ich kann es nicht mehr hören«, sagte sie leise. »Aber es ist hier drin – ich weiß es. Was immer mich gerufen hat, ist in diesem Raum.«

Als die Tür aufschwang, fiel das lähmende Entsetzen plötzlich von Grince ab. Er fuhr herum – und spürte, wie seine Eingeweide sich zusammenkrampften. Dort in der Tür standen zwei Leute, die nur Magusch sein konnten – groß, einschüchternd und mit silbernen Augen, die bis in die Seele des Diebs einzudringen schienen.

Nach dem ersten Augenblick des Zitterns angesichts der großen, rothaarigen Magusch und ihres grimmigen Gefährten sowie der furchterregenden, mit Klauen und Fangzähnen bewehrten schwarzen Ungeheuer – es handelte sich offensichtlich um magische Dämonen oder etwas in der Art –, blieb Grince nichts anderes übrig, als sich zu Boden zu werfen und um sein Leben zu flehen. Die Akademie war also doch nicht verlassen – und er war unerlaubt hier eingedrungen! Während er so dalag und nicht wagte, auch nur den Kopf zu heben, sondern darauf wartete, daß irgendein schreckliches Schicksal ihn treffen würde, schien eine ganze Ewigkeit zu verstreichen.

»Oh, mach dich nicht lächerlich!« fuhr ihn eine Frauenstimme an. »Steh auf, Mann, und hör mit diesem jämmerlichen Geflenne auf. Na los – wir können nicht die ganze verdammte Nacht hier rumstehen.«

Ihr Gefährte kicherte trocken. »Das ist bestimmt genau die richtige Methode, um ihm klarzumachen, daß er keine Angst zu haben braucht.«

Die Frau beachtete ihn nicht, konzentrierte sich nach wie vor auf Grince. »Na, komm schon, du – antworte mir! Was hast du hier unten zu suchen? Hast du mich gerufen?« Jedes einzelne ihrer Worte schien von einem grauenerregenden Fauchen der Dämonen unterstrichen zu werden.

»Lady – verschone mich!« Grinces Stimme war kaum mehr als ein erschrockenes Quieken. »Ich konnte nicht dagegen an! Ich habe nichts gestohlen, ehrlich! Ich habe nichts angefaßt! Ich habe dich auch nicht gerufen – ich würde mir niemals anmaßen, dich zu stören, hochwohl-geborene Lady. Die Wachen haben mich bis hierher verfolgt, und ich habe mich verirrt, das ist alles. Wenn du mir den Weg hinaus ins Freie zeigst, werde ich nie, nie wieder zurückkommen!«

Die Magusch schnalzte ungeduldig mit der Zunge und stieß einen Laut aus, der halb Fluchen, halb Seufzen zu sein schien. »Ihr Götter steht uns bei!« murmelte sie. »Sieh mal, du törichter Sterblicher. Niemand wird dir etwas tun, klar? Reiß dich endlich zusammen und steh auf. Sobald du meine Fragen beantwortet hast, zeige ich dir, wie du hier rauskommst.«

Der Dieb riskierte einen verstohlenen Blick durch seine Finger – und entspannte sich ein wenig. Man konnte selbst vor einer gefürchteten Magusch kaum Angst haben, wenn sie in der Nähe des Feuers stand und sich auf so gewöhnliche, friedfertige Art und Weise die kalten Hände rieb. Außerdem saßen jetzt die beiden schwarzen Dämonen zu ihren Füßen und blickten wie zwei Hauskatzen versonnen in die Flammen.

Ohne seine beängstigenden Besucher aus den Augen zu lassen – für den Fall, daß einer von ihnen doch irgendwelche Einwände hatte –, erhob sich Grince langsam vom Fußboden. Aber bevor er aufrecht stand, gab das Bein mit der Schwertwunde unter ihm nach. Er schlug der Länge nach hin, fiel auf seine verletzte Schulter und schrie vor Schmerz auf.

Die Magusch war sofort neben ihm. »Bist du verletzt?« Sie Heß ihr Licht direkt über dem Dieb schweben. »Melisanda, erhöre uns – was hast du bloß angestellt?« Sie sah streng auf ihn herunter. »Ich nehme an, du hast dir all diese Verletzungen zugezogen, als du auf der Flucht vor diesen Wachen warst, von denen du gesprochen hast? Vielleicht erzählst du mir besser, warum sie dich überhaupt verfolgt haben.«

Wie gebannt von ihrem offenen Blick, stellte Grince plötzlich fest, daß er sie nicht belügen konnte, wie er es eigentlich beabsichtigt hatte. »Lady, ich … ich …«

»Bei Chathaks eisernen Reithosen! Woher hast du das?«

Bei den Worten des anderen Magusch zuckte Grince schuldbewußt zusammen. Der Mann hatte den Beutel des Diebs gefunden und kippte ihn neben dem Feuer aus. Die Maguschfrau stieß einen leisen Pfiff aus, als sich eine Kaskade funkelnder Edelsteine auf den dunklen Fußboden ergoß. Dann drehte sie sich mit unerbittlichem Blick wieder zu dem Dieb um. »Du hast diese Steine gestohlen. Wem gehören sie?«

Grinces Mund wurde sehr trocken. »P-Pendral«, stieß er atemlos hervor. »Dem Hohen Herrn Pendral.«

Die Magusch brach in schallendes Gelächter aus. »Pendral? Dieser schmutzige kleine Perverse lebt also immer noch?«

Grince, den ihre Reaktion zutiefst erstaunte, nickte wie betäubt.

»Und du hast ihm seine geliebten Juwelen gestohlen!

Gut gemacht, mein Junge. Das geschieht ihm recht, diesem knauserigen Mistkerl.« Sie kicherte leise und hätte ihm beinahe anerkennend auf die Schulter geklopft. Sie konnte sich gerade noch rechtzeitig zurückhalten und ließ statt dessen sanft eine Hand über seine Verletzungen gleiten.

Als Grince einen Schimmer violettblauen Lichts aus den Fingern der Magusch kommen sah, schrak er instinktiv vor ihrer Berührung zurück, bevor ihm zu seiner Überraschung klar wurde, daß sie ihm nicht im mindesten weh tat. Im Gegenteil! Wo das prickelnde, violette Licht seine Wunden berührte, waren der Schmerz und die Steifheit plötzlich wie weggeblasen und hinterließen statt dessen ein wunderbares Gefühl des Wohlbehagens. Fassungslos sah er zu, wie die klaffende Schwertwunde an seinem Bein sich zu schließen begann, bis nicht einmal eine Narbe zu sehen war.

Wieder ließ die Magusch ein leises Kichern hören. »Den Riß in deiner Hose wirst du allerdings selber nähen müssen«, meinte sie freundlich. »Bei solchen Sachen bin ich machtlos.«

Grince sah sie verwundert an. Er hatte mit zehn Jahren seine Mutter verloren, aber sie hatte sich ohnehin nie viel aus ihm gemacht. Seitdem hatte er immer für sich selbst gesorgt, obwohl Jarvas ihm einen Platz in seiner Herberge gegeben hatte. Niemand hatte sich jemals so um ihn bemüht. »Vielen Dank, Herrin«, flüsterte er. Sie erwiderte sein Lächeln, und in diesem Augenblick wußte er, daß sein Leben nie mehr wie früher sein würde.

Der andere Magusch hockte auf der Kante eines Tischs und lächelte ermutigend, obwohl der Dieb bemerkte, daß seine Hand sich niemals weit von seinem Schwertgriff entfernte. »Jetzt hör mal gut zu«, sagte er entschlossen. »Wir sind hier runtergekommen, weil wir jemanden schreien hörten. Warst du das?«

Die Maguschfrau wandte sich mit einem verblüfften Ausruf von Grince ab. »Die Schreie! Durch diesen anderen Ruf hatte ich sie ganz vergessen!«

»Warte, Liebste.« Der andere Magusch hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, und wandte sich dann wieder Grince zu. »Also«, sagte er sanft. »Warum hast du geschrien, Junge? Du siehst ziemlich mitgenommen aus – wer hat dich so zugerichtet? Hat dieselbe Person dich erschreckt? Ist außer dir noch jemand hier unten?«

Benommen schüttelte Grince den Kopf. »Es – es war schrecklich. Es ist … da drin …« Außerstande, mehr zu sagen, zeigte er auf die unsichtbaren Tiefen des düsteren Alkovens.

Aurian warf Forral einen scharfen Blick zu und trat dann achselzuckend von dem Feuer weg. »Wir sollten besser herausfinden, wovon er redet.« Aurian konzentrierte sich auf das fahle Maguschlicht, das über ihrem Kopf schwebte, und ließ es abermals zu leuchtendem Leben aufflackern. Als das Licht nun auch die letzten Winkel des Raumes beleuchtete, wurde ihr Blick von dem Alkoven auf der anderen Seite des Raumes angezogen, dessen Tiefen immer noch in der Dunkelheit lagen. »Da«, wiederholte der kleine Sterbliche und zeigte mit dem Finger in die Richtung. »Von dort ist es gekommen.«

»Sei vorsichtig«, warnte Shia. »Es könnte eine Falle sein.«

»Es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden«, erwiderte Aurian. »Behaltet diesen Sterblichen für mich im Auge, ja? Ich glaube, wir können ihm trauen, aber ich möchte nicht riskieren, daß er mir einen Dolch in den Rücken stößt, während ich beschäftigt bin.«

Forral ließ sich von dem Tisch heruntergleiten, um sich ihr anzuschließen, und gemeinsam schlichen sie sich vorsichtig auf diese dunkle Höhle am anderen Ende des Raumes zu. Aurians Maguschlicht schwebte über ihnen, und als es endlich auch in die Tiefen des Alkovens fiel, schrie der Schwertkämpfer auf, während die Magusch überrascht zurückwich. »Die Götter mögen uns beistehen«, stieß sie hervor. »Es ist Finbarr!«

Wie viele schreckliche Überraschungen die Akademie wohl noch für sie bereithielt? Aurian war entsetzt über den Anblick ihres guten alten Freundes, der äußerlich unverändert und vollkommen starr in dem blauen Netzwerk eines Zeitzaubers gefangen war. Sie holte tief Luft und biß sich auf die Lippen. »Ich glaube es einfach nicht«, sagte sie wütend. »Finbarr wurde bei dem Angriff der Todesgeister getötet – ich habe seinen Tod gespürt. Warum sollte ihn der Erzmagusch aus der Zeit nehmen? Das ist Wahnsinn!«

»War Miathan denn jemals etwas anderes als wahnsinnig?« erwiderte Forral grimmig. »Aber Aurian, bist du absolut sicher, daß du Finbarrs Tod gespürt hast?«

Die Magusch runzelte die Stirn und versuchte sich an jenen lang vergangenen Augenblick zu erinnern. »Es war das erste Mal, daß ich den Tod eines anderen Magusch erlebt habe. Das ist etwas, das man nicht verwechseln kann, glaub mir. Also, warum hat Miathan Finbarrs Körper auf diese Weise bewahrt? Ich verstehe es einfach nicht.«

»Miathan hatte den Gral, vergiß das nicht.«

Aurian sah sich zu Forral, der Anvars Gestalt trug, um. »Wir haben heute bereits eine Kostprobe von der Macht des Grals bekommen«, sagte sie nachdenklich. »Nach dem, was mit dir und Anvar passiert ist – glaubst du, hier könnte etwas Ähnliches geschehen sein?«

»Wer kann das sagen?« Forral zuckte die Achseln.

»Nun, ich finde, wir sollten ihn befreien«, sagte die Magusch entschlossen.

»Nein!« widersprach ihr Forral erschrocken.

»Nein!« Shias Stimme hallte scharf in Aurians Gedanken wider. »Was könnte uns das nutzen? Du hast selbst gesagt, der Mensch sei tot – und ich spüre hier böse Magie. Laß ihn, wie er ist. Und dann sollten wir zusehen, daß wir von diesem schrecklichen Ort verschwinden. Wenn wir uns in diese Sache einmischen, kann nichts Gutes daraus entstehen.«

»Das ist der beste Rat, den ich heute nacht bekommen habe.« Aurian bedachte erst den Schwertkämpfer, dann die Katze mit einem gequälten Lächeln. »Leider kann ich ihn aber nicht annehmen. Finbarr war mein Freund – ich kann ihn nicht so einfach hier zurücklassen, ohne es genau zu wissen. Ich würde mich bis an mein Lebensende fragen, ob ich mich, was seinen Tod betrifft, nicht vielleicht doch geirrt habe.«

»Aurian, du machst einen großen Fehler«, warnte Forral sie. »Was hier auch geschehen sein mag, du darfst dich nicht einmischen.«

»Das sagst du zu einer Magusch?« entgegnete Aurian. »Da könntest du besser dem Feuer verbieten zu brennen, als einem Abkömmling meiner Rasse die Einmischungen zu untersagen.« Sie wandte sich der großen, unbeweglichen Gestalt des Archivars zu. »Ihr anderen solltet jetzt besser in Deckung gehen«, sagte sie zu ihren Freunden.

Niemand schenkte ihrer Warnung Gehör – und genau das hatte sie erwartet. Also trat Aurian einen Schritt zurück, atmete tief durch, beruhigte ihren Geist und bündelte ihre gesamte Macht. Vorsichtig begann sie den Zeitzauber zu lösen. Der wabernde blaue Nebel, der Finbarr umgab, zuckte träge und begann sich zu lichten. Dann zerstob er mit einem lauten Krachen in eine Wolke winziger blauer Funken, die wie eine zersplitterte Eisschicht von dem Körper des Archivars wegsprangen. Finbarrs Augen wurden klar. Er blinzelte und taumelte kurz, richtete sich jedoch wieder auf, bevor sie ihm helfen konnten. Er wich vor ihren ausgestreckten Händen zurück.

»Berührt mich nicht. Ich bin nicht, was ich zu sein scheine.« Die Stimme war hell und trocken und ohne jede Betonung. Es war nicht die Stimme eines Menschen.

Shia stieß ein tiefes, kehliges Knurren aus. Unter ihrer Hand spürte Aurian, wie sich das Haar der großen Katze langsam aufstellte. Ihr selbst erging es nicht viel besser. »Was bist du dann?« fragte sie energisch. »Was hast du mit Finbarr gemacht?«

Die Stimme verfiel in ein tiefes, unheimliches Kichern, das hohl durch den Raum hallte. Das Geräusch weckte beklommene Erinnerungen, die für die Magusch jedoch irgendwie nicht ganz faßbar waren. »Du wirst dich doch gewiß daran erinnern, was ich bin, o Magusch. Die Nihilim jedenfalls haben dich nie vergessen.«

Aurian keuchte entsetzt und machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie hatte das Gefühl, als würde sich eine Eisschicht über ihre Haut legen. Forral, der hinter ihr stand, stieß einen Schreckensschrei aus, und einen Augenblick später hörte sie das Scharren von Stahl, als sein Schwert aus der Scheide fuhr.

»Laßt euch nicht anmerken, daß ihr Angst habt!« Die scharfe Warnung von Shia ließ die Magusch, die bereits die Flucht hatte ergreifen wollen, wie angewurzelt stehenbleiben.

»Du hast recht«, erwiderte Aurian grimmig. »Diese widerlichen Ungeheuer haben Forral getötet.« Sie hob den Stab der Erde, und die Luft wurde von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag zerrissen. Plötzlich flammte der Raum in einem zischenden, smaragdgrünen Licht auf. »Ich erkenne dich, Kreatur«, fauchte Aurian. »Und ich kann dich in das ewige Vergessen zurückschleudern, das du verdienst.«

»Warte. Bitte. Nicht.« Obwohl die Worte bar jeden Gefühls waren, kamen sie doch hastig genug, um große Dringlichkeit zu übermitteln. »Die Nihilim können dir helfen, Magusch – wenn du es zuläßt.«

»Was?« Aurian stand wie vom Donner gerührt da. Von all den unheimlichen Dingen, die sie seit ihrer Rückkehr in die Akademie erlebt hatte, mußte dies hier das Bizarrste sein. »Du willst mir helfen?« Sie wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

»Aurian, nein. Du darfst diesem – diesem Ding nicht vertrauen.« Forral stand neben ihr, und seine Stimme klang tief und drängend. Sie sah, daß seine Hände – Anvars Hände – zitterten, und trotz der Kühle des Kellerverlieses war seine Haut von dem Schweiß großer Angst benetzt. Ihr Herz flog ihm entgegen. Armer Forral. Die Nihilim waren die einzigen Dinge, die der Schwertkämpfer wahrhaft fürchtete – und diese gräßlichen Geschöpfe hatten ihn schließlich auch getötet. Aurian verstand ihn – sie war dabei gewesen, als er starb, und die Todesgeister hatten sie mit demselben Entsetzen und Abscheu erfüllt. Aber dennoch – wenn diese Monstrositäten ihr irgendeinen Vorteil über Eliseth verschaffen konnten, durfte sie ihrer Furcht nicht nachgeben und diese Chance vertun.

Mit einem entschuldigenden Blick in Forrals Richtung drehte die Magusch sich wieder zu dem gräßlichen Geschöpf um, das die Maske ihres alten Freundes trug. »Na schön. Ich werde dich anhören – aber denke daran, daß du diesmal allein bist. Wenn du einen Schritt gegen mich oder meine Gefährten unternimmst, wird es dein letzter sein.«

»Ich verstehe.«

»Gut.« Aurian holte tief Luft. »Also, Todesgeist? Was willst du von mir? Ich bin nicht so dumm zu glauben, daß du mir deine Hilfe ohne eine Gegenleistung anbietest.«

In den unmenschlichen blauen Augen funkelte ein feuriges Licht auf. »Mein Volk braucht dich, Magusch. Ich möchte es befreien.«

Aurian spürte, wie ihr der Kiefer herunterklappte. Forral stand neben ihr und keuchte. »Was?« schrie er. »Du mußt verrückt sein! Die Nihilim auf die Welt loslassen? Hältst du Aurian für eine solche Idiotin?«

»Halt den Mund, Forral«, murmelte Aurian. Dann wandte sie sich wieder an den Todesgeist. »Also, hältst du mich für eine Idiotin?«

»Geduld, Magusch. Erlaube mir, mich zu erklären. Ich habe nicht den Wunsch, daß du uns in dieser Welt die Freiheit schenkst – wir gehören hier nicht hin. Ich möchte, daß du uns hilfst, in unsere eigene Heimat zurückzukehren.«

»Eure Heimat?« Aurians Augen weiteten sich. Sie vergaß ihre Furcht vor dem Geschöpf, denn wieder einmal regte sich die altbekannte Neugier der Magusch in ihr. »Und wo liegt eure Heimat?« fragte sie sanft.

Finbarrs glitzernde blaue Augen nahmen ein lebhaftes Funkeln an, und zum ersten Mal hörte die Magusch einen Anflug von Gefühl in der Stimme des Todesgeistes. »Wir waren nicht immer so, wie du uns jetzt siehst«, sagte er zu ihr. »Einmal lebten wir in Schönheit und in Anmut Zwischen den Welten. Wir waren die dunklen Engel des Todes – seine Diener, die in die Welt voranstürmten, um dem Schmerz und dem Leiden der lebenden Geschöpfe ein Ende zu machen. Wir gingen zu den Alten, den Kranken, den Unglücklichen und den Schwachen und trugen sie sanft nach Hause, so daß sie wieder in den Brunnen der Seelen eintreten und ein neues, strahlendes Leben beginnen konnten.«

Der Geist seufzte, und seine Stimme verdüsterte sich abermals. »All das waren wir und noch mehr – Hüter des Gleichgewichtes, Wächter des Portals – bis die verfluchten Magusch eingriffen, die Artefakte der Macht schufen und sich einmischten, wo sie nichts zu suchen hatten. In den Kriegen der Verheerung machte Chiannala uns zu Sklaven des Kessels, um uns von Gnadenspendern in eine tödliche Waffe zu verwandeln. Und so blieben wir über lange, ermüdende Zeitalter hinweg – gräßlich und verzerrt, unsere Kräfte verstümmelt und aus dem Gleichgewicht gebracht. Ohne uns ist der Tod für die sterblichen Geschöpfe zu einem furchtbaren Ding geworden.«

Wieder einmal ruhten die unmenschlichen Augen auf Aurian. »Hilf uns, Magusch – ich flehe dich an. Eine solche Chance wird sich vielleicht nie wieder ergeben. Mache das Böse, das deinen Vorfahren begangen haben, wieder gut, und laß uns frei. Durchbrich die Sklaverei des Kessels, und schenk uns unsere Freiheit wieder.«

»Und ihr werdet mir helfen, den Gral wiederzufinden, der einst der Kessel war?«

»Das werden wir tun. Um unseretwillen müssen wir es tun.«

»Und was ist mit Finbarr? Wenn ich dir helfe, kannst du ihn mir dann wiedergeben?«

Der Geist seufzte. »Das weiß ich nicht. Wir hatten keine Möglichkeit, mit euch Menschen in Verbindung zu treten, ohne selbst eine menschliche Gestalt anzunehmen. Ich bin in dem Augenblick in diesen Körper eingetreten, als sein Besitzer starb – aber dein Feind hat mich aus der Zeit genommen, bevor ich handeln konnte. Finbarrs Geist hatte keine Zeit, ins Reich des Todes überzugehen, aber ich fürchte, daß er, wenn ich diese Hülle verlasse, genau dazu gezwungen sein wird. Wenn du nicht willst, daß sein Tod vollendet wird, besteht deine einzige Hoffnung darin, den Kessel zu finden und ihn zu dem Zweck zu benutzen, zu dem er bestimmt war.«

»Und was ist mit meinem Tod?« mischte sich Forral wütend ein. »Ihr hattet keine Skrupel, mich endgültig aus der Welt der Lebenden zu entfernen.«

Der kalte Blick der Kreatur fiel auf den Schwertkämpfer. »Ich habe es euch doch erklärt – die Nihilim waren nicht dafür verantwortlich. Deine Zeit zu sterben war noch nicht gekommen, aber wir wurden durch den Kessel versklavt. Wir sind gezwungen, zu tun, was sein Besitzer befiehlt.«

Forral machte ein finsteres Gesicht und setzte sich über Aurians Versuche, ihn zum Schweigen zu bringen, hinweg. »Nun, das macht euch doch zu sehr unsicheren Verbündeten, nicht wahr? Eliseth braucht euch nur zu befehlen, euch gegen Aurian zu wenden, und wir sind am Ende. Erwartest du wirklich, daß das Mädchen ein solches Risiko eingeht?«

Aurian funkelte ihn wütend an. »Wenn ich jetzt auch mal etwas sagen dürfte?« Dann wandte sie sich wieder an den Todesgeist.

»Aber er hat recht. Einen Augenblick lang dachte ich, du könntest unsere geheime Waffe gegen Eliseth sein, denn was könnte sich den Nihilim schon widersetzen? Aber solange sie den Gral in Händen hält, bist du eine Waffe, die sich jederzeit gegen uns richten kann.« Sie hob in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände. »Was kann ich tun? Ich wage es nicht, dieses Risiko einzugehen. Wenn ich die Herrschaft über das gewinne, was von dem Kessel übriggeblieben ist, gebe ich dir mein Wort, daß ich seine Macht benutzen werde, um euch freizulassen. Im Moment aber sieht es so aus, als müßte ich zunächst ohne eure Hilfe zurechtkommen.«

»Warte«, sagte das Geschöpf. »Denk nach. Das Risiko ist klein, denn der Besitzer des Kessels muß hierher zurückkehren, um den Zeitzauber zu lösen – bis dahin wird er …«

»Sie«, unterbrach ihn Aurian. »Der Gral hat seit eurer ersten Freilassung den Besitzer gewechselt – und die, die ihn gegenwärtig in ihrer Macht hat, ist nicht weniger zu fürchten als der erste Besitzer des Grals.«

»Na gut, es ist also eine Frau«, antwortete der Todesgeist. »Welche Rolle spielt das schon? Die Identität unseres Sklavenmeisters macht für die Nihilim kaum einen Unterschied. Die Besitzerin des Grals kann sich unserer erst bedienen, wenn sie zurückkehrt, um den Zeitzauber zu lösen – und solange sie nicht zurückgekehrt ist, wie soll sie da wissen, daß wir wieder frei sind?«

»Wenn ihr mir helft, sie anzugreifen, wird sie es sofort wissen – und dieses Risiko wage ich nicht.« Die Magusch dachte einen Augenblick lang angestrengt nach. »Höre – du hast gesagt, Finbarrs Geist sei noch nicht über die Schwelle getreten – gibt es irgendeine Möglichkeit, wie ich mit ihm reden kann?«

»Bist du dir bewußt, daß meine Macht alles ist, was ihn an diese Welt noch bindet? Du verstehst doch, daß ich, wenn ich ihm erlaube, mit dir zu sprechen, ihm nicht die Kontrolle über diese Gestalt überlassen kann, weil wir in dem Falle beide verloren wären?«

»Ich verstehe«, erwiderte die Magusch. »Trotzdem könnte seine Klugheit uns vielleicht weiterhelfen. Mir scheint, daß ihr einander vertrauen müßt – zumindest für den Augenblick.«

»Nun denn. Ich glaube, daß wir diese Gestalt zumindest teilen können.«

Vor Aurians Augen wandelten sich die Züge des Ungeheuers – dieses unheimliche, unirdische Glitzern verschwand aus Finbarrs Augen. Sein Gesicht nahm Regung und Leben an, und er sah wieder wie er selber aus. Er schüttelte sich, als erwache er plötzlich aus einem Traum, und blickte sich um. Seine Hände knisterten von der blauen Energie des Zeitzaubers, und in seinen Augen lag immer noch der Schatten des Entsetzens.

»Finbarr«, rief Aurian leidenschaftlich. »Es ist alles gut. Sie sind fort.«

Ohne Vorwarnung taumelte die große, hagere Gestalt aus dem Alkoven. Er schlang die Arme um die Magusch. »Aurian! Meine hebe Freundin! Es geht dir gut! Und Anvar! Dank sei den Göttern.« Finbarr sah sich staunend um, rieb sich die Augen und zog dann verwirrt die Brauen zusammen. »Aber wo sind wir? Das sind doch nicht Miathans Gemächer. Das sind meine Archive, ja. Wie sind wir hier herunter gekommen? Und wo sind die Nihilim? Haben wir sie alle erwischt? Wo ist der arme Forral …« Seine Stimme wurde härter. »Und dieser dreimal verfluchte Abtrünnige, Miathan?«

Zu ihrem Entsetzen wurde Aurian klar, daß der Archivar von Meiriels Tod nichts wissen konnte. Und wie sollte sie ihm den Wahnsinn seiner Seelengefährtin erklären und ihre mörderischen Anschläge auf das Leben der Magusch und auf das des kleinen Wolf? Trotzdem würde Finbarr davon erfahren müssen.

Die Magusch seufzte. »Finbarr, du wurdest von deinem eigenen Zauber aus der Zeit genommen. Seit jenem Kampf mit den Todesgeistern ist sehr, sehr viel geschehen – und ich bringe dir viele schlimme Neuigkeiten, fürchte ich. Wenn ich dir helfe, wirst du dann in der Lage sein, die Informationen direkt aus meinen Gedanken zu holen? Sonst brauchen wir Stunden.«

Trotz einer so direkten Methode dauerte es einige Zeit, um den Archivar auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen. Als Aurian geendet hatte, war sie schweißnaß und vollkommen erschöpft. Es war schwer für sie gewesen, die Vergangenheit noch einmal zu durchleben – sowohl das Gute wie auch das Schlechte. Für Finbarr war es noch schwerer gewesen. Der Archivar weinte unverhohlen. »Warum?« fragte er. »Warum hast du mich nicht in Frieden gelassen? Warum hast du mich zurückgeholt, um mir so das Herz zu brechen?«

Aurian nahm seine Hand. »Weil wir dich brauchen, Finbarr. Du weißt mehr über die Nihilim als jeder andere von uns – im Augenblick hast du die Gelegenheit, einen von ihnen aus nächster Nähe kennenzulernen. Können wir ihnen vertrauen? Können wir es wagen, unseren alten Zeitzauber zu lösen und sie freizulassen, oder ist das Risiko zu groß?«

Der Archivar schloß die Augen, und seine Konzentration war so groß, daß Aurian sie beinahe spüren konnte. »Ihr könnt ihnen trauen«, sagte er schließlich. »Was einer weiß, wissen alle – und ihr ganzes Volk sehnt sich verzweifelt danach, von den Ketten des Kessels freizukommen. Du bist die einzige, die ihnen helfen kann – und als Gegenleistung werden sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um dir zu helfen. Aber unglücklicherweise werden sie, solange sie Eliseths Herrschaft nicht wirklich abgeschüttelt haben, weiterhin ein Risiko und eine Bedrohung für dich darstellen.«

Finbarr öffnete die Augen. »Was ich zu sagen habe, gefällt dem, der meinen Körper teilt, nicht – aber ich würde dir nicht raten, sie von dem Zauber zu befreien. Das Risiko ist viel zu groß. Du mußt deine eigenen Kämpfe austragen, Aurian – aber daran bist du ja gewöhnt.« Er lächelte gequält. »Eines würde ich dir allerdings raten. Laß den Todesgeist, der meinen Körper bewohnt, frei. Laß ihn mit dir gehen – wenn es zum Schlimmsten kommt, würdest du mit einem einzigen Todesgeist wohl fertig werden.« Er zwinkerte. »Du mußt selbst entscheiden, ob meinem Rat selbstsüchtige Motive zugrunde hegen, denn falls der Geist dich begleitet, werde ich ebenfalls an deiner Seite sein.«

»Wenn das bedeutet, daß wir dich bei uns haben könnten, tue ich, was immer notwendig ist«, versicherte Aurian ihm. Sie sah ihre Gefährten an. »Finbarrs Rat klingt in meinen Ohren vernünftig.«

»Solange ich da bin, um dich zu beschützen«, sagte Shia. »Ich mag deinen menschlichen Freund, aber diesem anderen Ding – dem Todesgeist – traue ich nicht über den Weg.«

Jetzt meldete Forral sich zu Wort. »Nein. Das ist Wahnsinn, Aurian. Ich lasse es nicht zu – das Risiko ist einfach zu groß.«

Ach, er ließ es nicht zu? Was glaubte er denn, wer er war, daß er ihr Befehle gab? Aurian funkelte Forral mit steinerner Miene an. Nur weil er Angst hatte … »Nein«, erwiderte sie schroff, »ich bin nicht deiner Meinung. Ich verstehe zwar deine Zweifel, aber …«

»Zweifel? Diese Dinger sind kaltblütige Mörder«, brüllte Forral. »Sie sind böse – und niemand weiß das besser als ich.« Mit sichtbarer Anstrengung gelang es ihm, sich wieder zu fassen. »Hör mir zu, mein Liebes – ich verstehe, welche Vorteile uns dieser Pakt verschaffen würde, aber meiner Meinung nach …«

»Meiner Meinung nach ist das Risiko gerechtfertigt.« Aurian hatte selbst alle Mühe, nicht die Fassung zu verlieren. Sei geduldig, mahnte sie sich. Denk daran, daß Forral von diesen Geschöpfen getötet wurde. Er hat mehr Grund als jeder andere von uns, die Nihilim zu fürchten.

»Ich verstehe«, sagte Forral kalt. »In meiner Abwesenheit hast du alles gelernt, was es über die Kunst des Krieges zu wissen gibt, nicht wahr? Nun, komm in dreißig Jahren noch mal zurück, Aurian, und erzähl mir das – und selbst dann würde es nicht wahr sein. Laß dir von mir gesagt sein, du machst einen großen Fehler. Ich kenne deine Sturheit noch aus alten Tagen, mein Mädchen – aber diesmal bringst du uns alle in Lebensgefahr.«

Shia, die neben Aurian stand, fauchte leise. »Wirst du diesem Menschen erlauben, so mit dir zu sprechen?«

Die Magusch legte ganz sanft eine Hand auf den großen Katzenkopf. »Forral lebt immer noch in der Vergangenheit. Seit seinem Tod haben sich viele Dinge geändert, und er muß mich erst so kennenlernen, wie ich jetzt bin. Ich fürchte, es wird nicht leicht für ihn sein.«

»Und für dich auch nicht«, fügte Shia sanft hinzu.

Die Magusch sah den Schwertkämpfer an, bis die Spannung, die in der Luft lag, kaum noch auszuhalten war.

»Ich weiß deine Erfahrung zu würdigen, Forral«, sagte Aurian fest, »aber dies ist eine Angelegenheit der Magie und kein Krieg unter Sterblichen. Ich weiß mehr über unseren Feind – und über die Artefakte – als irgend jemand sonst. Ich bin durchaus bereit, Ratschläge anzunehmen, aber die Entscheidung wird immer bei mir liegen, und damit ist die Sache erledigt.«

»Damit ist die Sache nicht erledigt«, tobte Forral. »Bei allen Göttern, Aurian, ich habe dich großgezogen! Ich habe es nicht nötig, mir so etwas von dir anzuhören!«

Aurian hob das Kinn und sah ihm direkt in die Augen. »Das ist wahr«, sagte sie gelassen, »das brauchst du nicht. Es steht dir frei, jederzeit zu gehen.«

Forral starrte sie mit offenem Mund an. »Was? Und wohin, bitte schön, soll ich gehen? Glaubst du wirklich, ich mache einfach kehrt und lasse zu, daß du dich in alle möglichen Schwierigkeiten bringst?«

»Das hegt bei dir«, antwortete Aurian ungerührt, »aber wenn du bleibst, möchte ich kein Wort mehr über diese Angelegenheit hören. Du hast mir selbst vor langer Zeit beigebracht, daß es niemals gleichzeitig mehr als zwei Kommandanten geben kann.«

Forral sah sie an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. »Das habe ich gesagt«, erwiderte er leise. »Das habe ich gesagt. Also, was machen wir jetzt, Kommandant? Hier unten herumlungern, bis wir vor Hunger und Kälte sterben?«

Aurian knirschte mit den Zähnen. Sie wollte verdammt sein, wenn sie sich von ihm in Rage bringen ließ. »Wir brauchen Informationen«, sagte sie. »Wir wissen weder, wie lange wir von Nexis weg waren, noch, wer jetzt, da die Magusch fort sind, die Stadt beherrscht.«

Grince, der die ganze Zeit über vergessen in seiner Nische gestanden hatte, sah voller Ehrfurcht, wie die Magusch das Geschöpf in der Ecke befreite. Dies war also die legendäre Lady Aurian, die so lange Jahre verschollen gewesen war! Der alte Hargorn hatte oft mit großer Zuneigung und echtem Bedauern von ihr erzählt. Sie war gut zu ihm gewesen und hatte ihn geheilt – und der junge Dieb bewunderte die Gelassenheit, mit der sie dem anderen Magusch die Stirn bot, als dieser versuchte, sie zu beeinflussen. Obwohl ihm sein gesunder Menschenverstand sagte, daß es ein schwerer Fehler wäre, sich in die Angelegenheiten der Magusch einzumischen, wollte er sich für ihre Hilfe revanchieren – und außerdem würde mit dieser Frau ein wenig Magie in sein hartes und brutales Leben kommen. Und diesen Zauber wollte er nicht so bald wieder verlieren.

»Lady, ich kann euch helfen«, sagte er, bevor er selber wußte, wie ihm geschah. »Ich kann euch alles sagen, was ihr wissen wollt.«

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