24 Zithra und Eyrie

Eliizar ging auf der überdachten Veranda des großen, einstöckigen Holzhauses auf der Lichtung unruhig auf und ab, und seine Stiefel schlugen auf dem Bretterboden einen hohlen Trommelwirbel. Obwohl es noch immer ziemlich früh am Morgen war, hielt er es für angebracht, seine Frau ein wenig zur Eile zu treiben. Ich werde nie begreifen, dachte er, warum Frauen so lange brauchen, um sich für einen großen Anlaß anzukleiden. »Nereni, bist du immer noch nicht fertig?« rief er ihr durch das geschlossene Fenster zu. »Die Zeremonie soll gegen Mittag beginnen – wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Er bekam keine Antwort. Eliizar lief noch ein paar Minuten länger auf und ab und blieb dann mit einem Seufzer stehen. »Was in Teufels Namen tut sie bloß da drin?« murmelte er gereizt.

»Schwertmeister – wird es nicht langsam Zeit, daß du aufbrichst? Die anderen warten sicher schon alle.« Jharav kam eilig durch Nerenis Garten gelaufen und stieg lautstark die Verandatreppe hinauf, bevor er sich das Gesicht abwischte; er keuchte vor Erschöpfung. Seit seiner beinahe tödlichen Verwundung in der Schlacht im Wald, bei der der Tyrann Xiang sein Ende gefunden hatte, hatte Jharav sich aus dem aktiven Soldatendienst zurückgezogen und die letzten zehn Jahre damit zugebracht, Zufriedenheit und gute Laune zu verbreiten – und sich einen beachtlichen Bauch wachsen zu lassen. »Es ist noch ein ganz schönes Stück bis zu dem neuen Palast und …«

»Wie oft soll ich es dir noch sagen – es ist kein Palast«, brauste Eliizar auf.

»Na, wie soll ich das Ding denn sonst nennen?« gab der ergraute Krieger mit derselben Gereiztheit zurück. »Du bist der Herrscher der Waldländer, auch wenn wir dich Schwertmeister und nicht König nennen sollen. Dein neues Heim ist das große Steingebäude, wo der Herrscher leben wird – mit anderen Worten der Palast. Das heißt, falls du je dort einziehen wirst. Bist du immer noch nicht fertig?«

»Ich bin fertig.« Eliizar zeigte angewidert auf seine neue Prachtuniform. »Und weil du und Nereni darauf bestehen, daß ich diesen verfluchten, lächerlichen Flitterkram trage, wage ich es nicht mal, mich hinzusetzen, damit ich nur ja nichts schmutzig mache oder zerknittere. Ich sehe aus wie das Schmuckkästchen einer billigen Hure …«

»Du siehst prächtig aus«, versuchte Jharav ihn zu beschwichtigen. »Genau wie ein Kö …«

»Wenn du dieses Wort noch einmal aussprichst, werde ich dich mit dem juwelenbesetzten Butterverstreicher durchbohren, den Nereni und die Himmelsleute so gern ein Schwert nennen.« Eliizar funkelte Jharav zornig an und betrachtete dann mit seinem einen gesunden Auge den anstößigen Gegenstand, der über und über mit Juwelen geschmückt und mit Gold beschlagen, in der glitzernden Scheide an seiner Hüfte hing. »Und ich verspreche dir, es wird ein langer, qualvoller Tod sein«, fügte er säuerlich hinzu.

»Nur gut, daß du ihr die bestickte Augenklappe ausreden konntest.« Der grauhaarige, ehemalige Soldat kicherte. »Zusätzlich zu dem Schwert wäre das doch ein bißchen viel gewesen. Du bist nervös, Eliizar, das ist alles, was dir zu schaffen macht. Hier …« Er nahm eine Silberflasche von seinem Gürtel. »Das müßte dich eigentlich heilen – Ustilas frisch gebrauter Met. Trink einen Schluck davon, und die Welt wird freundlicher aussehen. In der Zwischenzeit gehe ich besser und hole Nereni …«

»Nein, ich gehe.« Nachdem er noch einen letzten, tiefen Zug aus der Flasche genommen hatte, gab Eliizar sie seinem Freund zurück. »Du gehst besser rauf zum Pa … zu dem neuen Haus und sagst Amahli Bescheid, daß wir kommen.«

Jharav ging mit einem fröhlichen Winken davon, nahm ebenfalls einen Schluck aus seiner Hasche und überließ den Schwertmeister seinen verdrossenen Gedanken. Er blieb auf der Veranda eben jenes Hauses zurück, in dem er und Nereni ihr ganzes neues Leben verbracht hatten, seit sie damals mit nichts als ihren Gefolgsleuten in diesen Wald gekommen waren – und mit dem Traum, in Freiheit und fern von Tyrannen und Zauberern zu leben.

Eliizar war sehr stolz auf die Gemeinschaft, die er gegründet hatte, und das mit Recht. Von ihren ärmlichen Anfängen in einigen wenigen Holzbaracken, die sich wie ängstliche Kinder zwischen den düsteren Bäumen zusammenscharten, war die Siedlung immer weiter gewachsen. Ihre Gründer, die Soldaten und Hausdiener des unglücklichen Prinzen Harihn, hatten eine Gruppe erfahrener Soldaten damit beauftragt, heimlich nach Taibeth zu gehen. In der Hauptstadt der Khazalim hatten sie dann nach Freunden und Verwandten gesucht, die sich schließlich den Siedlern angeschlossen hatten. Und als sich dann die Nachricht von der Existenz einer neuen Kolonie verbreitete, hatten auch andere die Chance auf ein neues Leben genutzt. Menschen, die es müde waren, unter dem Joch der Khazalim zu leben, hatten der todbringenden Juwelenwüste getrotzt, um sich der unabhängigen Waldgemeinschaft beizugesellen. Sogar ein paar entlaufene Sklaven hatten den gefährlichen Marsch durch die Wüste gemacht, und Eliizar hatte sie, in Erinnerung an Anvar, willkommen geheißen und sie offiziell zu Freien erklärt, die dieselben Rechte hatten wie die übrigen.

Heute zählte die Waldkolonie dreihundertneunundzwanzig Seelen, und ihr Wachstum vollzog sich langsam, aber stetig. Eine Wende ihres Geschicks, so überlegte Eliizar, war die lange zurückliegende Schlacht im Wald gewesen. Die Bedrohung, die der Tyrann Xiang für sie alle darstellte, war von der Klinge seines ehemaligen Schwertmeisters ein für allemal aus der Welt geschafft worden. In der verständlichen Verwirrung nach der Ermordung des Khisus war noch einmal eine beträchtliche Anzahl von Leuten aus Taibeth geflohen und zu den Abtrünnigen übergelaufen – bis die Ereignisse sich mit der Geburt von Xiangs Sohn, Quechuan, ein wenig beruhigt hatten. Seine Mutter, die Khisihn, und Aman, Xiangs ehemaliger Wesir, hatten sich gemeinsam zu Regenten erklärt und die Herrschaft an sich gerissen, indem sie einfach jeden ermordeten, der sich ihnen in den Weg stellte. Taibeth war unter Kriegsrecht gestellt worden, und die Bevölkerung wurde mittlerweile so scharf kontrolliert, daß das dünne Rinnsal der Flüchtlinge fast vollkommen abgestorben war. Auf der anderen Seite hatten die neuen Herrscher von Taibeth viel zuviel mit der Festigung ihrer eigenen Position zu tun, um sich wegen einer kleinen, unabhängigen Kolonie an ihrer Grenze den Kopf zu zerbrechen. Außerdem hatten sie Xiangs abschreckendes Beispiel vor Augen – und da keiner der beiden Regenten das Dahinscheiden des ehemaligen Khisus bedauerte, verfolgten sie die Siedler, die sie schließlich von Xiang befreit hatten, wohl auch nur halbherzig.

Der andere Wendepunkt in der Geschichte der Siedlung war ebenfalls, wenn auch indirekt, eine Folge der Schlacht, denn damals hatten Fink und Sturmvogel, die geflügelten Kuriere, beschlossen, sich Eliizar und seinen Leuten anzuschließen und im Geiste der Freundschaft und der Nachbarschaftshilfe in den nahe gelegenen Bergen eine Kolonie des Himmelvolkes zu gegründet. Die beiden Kolonien waren nicht nur mit der Zeit immer weiter aufgeblüht, sondern hatten gemeinsam Fortschritte erzielt, die jeder Gruppe allein verwehrt gewesen wären.

Eyrie, die Gemeinschaft der Geflügelten, bewohnte nun den Gipfel, der Eliizars bewaldetem Tal am nächsten war. Im Gegensatz zu den Erdlingen hatten sie von Anfang an ihre Häuser aus Stein gebaut, denn wenn es auch auf den niedrigeren Hängen mehr als genug Holz gab, war im Winter das Wetter in solcher Höhe im Winter für bloße Holzhäuser einfach zu grimmig. Eliizar hatte Steinmetze und Zimmerleute zu den Geflügelten geschickt, damit sie ihnen beim Bau halfen, genauso wie die Geflügelten ihre Leute in den Wald beordert hatten, um ihren erdgebundenen Freunden zu helfen, die Bäume zu fällen, die sie für ihre Holzhäuser brauchten.

Die Khazalim hatten den Himmelsleuten bei der Anlage und Kultivierung ihrer Weingärten auf den niedrigen Berghängen geholfen, und geflügelte Späher hatten ihre Runden über dem Wald gezogen, um für Eliizars Jäger das Wild auszumachen. Während die Siedlung der Erdlinge – mit Namen Zithra, was in der Sprache der Khazalim »Freiheit« bedeutete – sich immer weiter ausdehnte, wurden weitere Abschnitte des dichten Waldlands gerodet und schließlich die ersten Felder bestellt. Nereni durchkämmte mit ihren Frauen den Wald und versuchte herauszufinden, welche Pflanzen sich als Heilmittel gegen gewöhnliche Leiden anbauen ließen und welche nahrhaft waren und wohlschmeckende Speisen abgaben. Die Himmelsleute jagten die auf den Gipfeln ansässigen Ziegen und Schafe, um sie dann später zu züchten und große Herden aufzubauen. Auf diese Weise bekamen sie nicht nur Fleisch, sondern auch weiche, dicke Felle und Häute von bester Qualität, die sie bei den Zithranern gegen Gemüse, Früchte und saftige Flußforellen tauschten.

Beide Kolonien entwickelten Eifer und Wohlstand. Geflügelte wie Ungeflügelte beackerten die Felder, jagten oder hüteten Tiere, suchten Beeren, fischten, hielten sich Bienen oder bauten in den Gebirgsausläufern zwischen den beiden Gemeinschaften Metalle ab. Es gab Färber, Weber und Gerber, Zimmerleute, Töpfer und Schmiede. Und die ganze Zeit über nahmen die beiden Gemeinschaften an Größe, an Behaglichkeit – und an Freundschaft – zu.

Es war keine geringe Leistung für einen Mann, der sein Leben als bezahlter Mörder begonnen hatte, über- legte Eliizar. Er wußte jedoch, daß er das alles ohne Nereni niemals zuwege gebracht hätte – und wo er gerade an Nereni dachte, wo steckte sie überhaupt? Schuldbewußt blickte er auf und stellte fest, daß die Sonne sich dem Zenit weiter genähert hatte; leise trat er ins Haus. »Nereni? Nereni! Wir müssen gehen – wir sind ohnehin schon zu spät dran. Wo steckst du denn bloß, Frau?« Sie war nicht im Schlafzimmer, aber schließlich fand Eliizar sie doch; sie trug ihr neues, mit Goldfäden durchwirktes Gewand und sah in dieser strahlenden Pracht tatsächlich wie eine Königin aus. Und sie saß am Küchentisch und weinte sich die Augen aus. Eliizar eilte zu ihr und griff nach ihren Händen. »Aber Nereni – was ist denn nur los?«

Nereni sah ihn an und brach in neuerliches Schluchzen aus. »Ich will nicht weg«, jammerte sie. »Das ist unser Zuhause – ich liebe es. Wir waren so glücklich hier!«

Eliizar seufzte. »Aber Nereni, unser neues Heim ist soviel größer. Du hast die Pläne und den Bau selbst überwacht – es ist alles so, wie du es haben wolltest. Die Zimmerleute und Weber sind seit Monaten damit beschäftigt, wunderschöne neue Möbel zu fertigen – weil sie dich gern haben. Und dieses Haus braucht jetzt jemand anderes.« Er stand auf und hielt ihr die Hand hin. »Komm, meine Liebe – es ist immer schwer, vertraute Dinge zurückzulassen, aber wir haben es schon einmal geschafft, erinnerst du dich? Als wir mit Aurian Taibeth verließen, um hierherzukommen. Und sieh nur, wie gut sich alles entwickelt hat.«

Nereni brachte ein wäßriges Lächeln zustande. »Alles, was du sagst, stimmt. Es ist nur so, daß dieses Haus so viele glückliche Erinnerung enthält …«

»Die Erinnerung kannst du mitnehmen«, entgegnete Eliizar sanft. »Nichts kann daran etwas ändern – und denk nur all an die wunderbaren Erinnerungen, die wir in unserem neuen Haus noch ansammeln werden.«

Nickend erhob sich Nereni. »Ich weiß«, seufzte sie. »Du hast natürlich recht, Eliizar. Laß mich nur mein Gesicht waschen und …« Ihre Worte gingen in dem Getöse galoppierender Hufe unter.

Eliizar lachte. »Ich kann mir gut vorstellen, wer das ist.«

Augenblicklich hatte Nereni ihre Tränen vergessen. »O nein«, rief sie entsetzt. »Das kann doch nicht wahr sein!«

Der Schwertmeister trat ans Fenster und bückte hinaus. Ein schwarzes Pferd jagte die staubige Straße hinunter, und auf seinem Rücken saß eine kleine, weißgekleidete Gestalt. Die Reiterin brachte das riesige Tier mit einem heftigen Ruck vor der Hütte zum Stehen und glitt aus dem Sattel.

»Mutter, Vater – wo steckt ihr? Kommt ihr denn überhaupt nicht mehr?«

»Wir sind hier drin, mein Schatz.« Eliizar wußte, daß sich ein liebevolles Lächeln über sein Gesicht gelegt hatte – und es scherte ihn nicht im mindesten. Dieses Kind war Aurians überraschendes Abschiedsgeschenk an ihn und Nereni gewesen – nicht der Sohn und Erbe, den er sich immer gewünscht hatte, sondern die Tochter, die er verehrte und anbetete.

»Amahli!« rief Nereni, als das schlanke, dunkelhaarige Mädchen die Küche betrat. »Oh, du verflixtes, verflixtes Mädchen – wie konntest du nur?« Sie lief auf ihre Tochter zu und begann, den Staub aus ihrem weißen, bestickten Kleid zu klopfen, und zwar heftiger, als notwendig gewesen wäre. Die ganze Zeit über schimpfte sie vor sich hin. »Du Dämonenbalg – ich schwöre, ich habe dich nie geboren! Habe ich dir nicht extra eingeschärft, dich heute nicht schmutzig zu machen?«

Welche Antwort das kleine Mädchen auch immer im Sinn gehabt haben mochte, ihre Worte wurden von den Bemühungen ihrer Mutter erstickt, die mit einem feuchten Tuch die Flecken in Amahlis Gesicht bearbeitete. »Und was tust du? Reitest wie ein Wildfang auf diesem gefährlichen, großen Tier durch die Gegend – wie du jemals einen Ehemann bekommen willst, weiß ich wirklich nicht, es sei denn, du änderst dein Benehmen von Grund auf …«

»Nereni«, protestierte Eliizar mild, »das Kind ist noch keine zehn Jahre alt. Sie ist noch zu jung, um an Ehemänner zu denken.«

»Mach dich nicht lächerlich, Eliizar«, brauste Nereni auf. »Das Kind ist deine Erbin – es ist nie zu früh, um über ihre Zukunft nachzudenken.« Sie hatte Amahlis Zopf mit wieselflinken Fingern aufgezogen und riß jetzt einen Kamm durch ihr taillenlanges Haar. Eliizar bemerkte mit liebevollem Stolz, daß das Mädchen zwar finster dreinblickte und auf seinem Stuhl hin und her zappelte, daß es sich aber die energische Behandlung seiner Mutter ohne Klage gefallen ließ.

»So.« Nereni hatte das Haar neu geflochten. Sie drehte ihre Tochter um und drückte sie fest an sich. »So, jetzt bist du wieder schön. Und denk dran, Amahli«, fügte sie gestreng hinzu, »wenn ich nur noch ein einziges Stäubchen auf deinen Kleidern sehe, bekommt deine Kehrseite die Rute zu spüren! Hast du mich verstanden?«

»Ja, Mutter«, antwortete das Mädchen pflichtschuldigst – und warf dann einen verstohlenen Blick auf ihren Vater, der ihm mit seinem gesunden Auge zuzwinkerte.

»Kommt jetzt – wir können die Leute unmöglich länger warten lassen.« Plötzlich legte Nereni ungeheure Geschäftigkeit an den Tag und maskierte mit diesem Eifer ihre Traurigkeit darüber, ihr altes Heim verlassen zu müssen. »Ich weiß nicht«, brummte sie, »wenn ihr beide so weitermacht, werden wir heute überhaupt nicht mehr hinkommen.«

»Na, wenn das nicht die Höhe … Dir warst doch diejenige, die nicht weg wollte«, fuhr Eliizar aus der Haut.

»Also hör auf zu reden, Frau, und beweg dich durch diese Tür da!« Dann reichte er jeder seiner geliebten Damen eine Hand und führte sie aus dem Haus zu den Pferden hinüber, die am unteren Ende des Gartens geduldig warteten.

Die in der Verbannung lebende Königin Rabe und ihr Gemahl warteten zusammen mit Sturmvogel, Fink und einer Schar verschiedener anderer Würdenträger auf der großen Terasse von Eliizars neuem Palast. Nun blickten sie auf die zahllosen Siedler nieder, Geflügelte und Ungeflügelte, die unter ihnen die breiten Wiesen säumten. Aguila stieß seine Frau an. »Lächele, meine Liebste. Die Leute beobachten uns.«

»Sollen sie uns doch beobachten«, gab die geflügelte Frau schmollend zurück. »Was schert es mich? Ich sehe nicht ein, warum wir herkommen mußten und zusehen, wie Eliizar und Nereni mit den Errungenschaften ihrer Macht und ihres Erfolges angeben, wo wir gerade ein Königreich verloren haben!«

Ihr Mann warf ihr einen dieser Blicke zu, die sie so maßlos erzürnten – als hätte er ein schlecht erzogenes Kind geheiratet, dessen Benehmen der Korrektur bedurfte. »Nereni ist deine Freundin«, sagte er tadelnd. »Sie war immer wie eine Mutter für dich, Rabe. Wie kannst du ihr ihr Glück verübeln?«

Rabe drehte sich mit einem Aufblitzen von Zorn zu Aguila um. »Sei doch nicht so ein Esel! Ich würde Nereni niemals etwas mißgönnen. Was ich jedoch unerträglich finde, ist der Verlust meines Throns und die Tatsache, daß meine elenden, undankbaren Untertanen mich einfach verraten haben.«

»Aber deine Untertanen hier sind loyal.« Aguila sah sich hastig um und hoffte, daß niemand den Wutanfall seiner Frau bemerkt hatte. »Sie haben uns hier aufs herzlichste willkommen geheißen und uns ein Heim gegeben.«

»Diese Leute sind nicht meine Untertanen – sie sind eine unabhängige Kolonie, die von einem Rat regiert wird«, sagte Rabe verbittert, »und wir sind ganz von ihrer Barmherzigkeit abhängig.« Das Bild vor ihr verschwamm vor ihren Augen, die sich mit Zornestränen gefüllt hatten. »Was mache ich nur falsch, Aguila? Ich bin ein solcher Versager. Ich habe meinen Thron keine zehn Jahre gehalten, und jetzt bin ich wieder einmal eine Verbannte.«

Aguila nahm ihre Hand und drückte sie fest. »Wir leben in bösen Zeiten, meine Liebste – es sind schicksalsschwere Tage, da sich in der Welt große Veränderungen zutragen, sei es zum Bösen oder zum Guten, und auch das Leben der Menschen ändert sich. Viele Generationen lang haben deine Vorfahren ihr Leben in Frieden und Wohlstand gelebt – und welche besonderen Fähigkeiten brauchte man schon in solch einer Situation? Du kannst nicht sagen, ob deine Vorfahren als Herrscher besser oder schlechter waren als du, denn sie sind nie auf die Probe gestellt worden.« Mit einem Lächeln bückte er auf sie herab. »Außerdem ist unsere Geschichte noch nicht vorüber, meine kleine Königin. Wir werden den Thron eines Tages zurückgewinnen – wenn nicht für uns selbst, dann für unsere Kinder.« Er blickte zur Seite, wo die Kindermädchen ihren dreijährigen Sohn und ihre noch nicht einmal zwei Monate alte Tochter versorgten.

Voller Dankbarkeit erwiderte Rabe seinen Händedruck. »Aguila, was täte ich nur ohne dich? All die Zeit, seit ich Königin war, hat Elster mir mit ihrem unschätzbaren Rat zur Seite gestanden – aber als sie mir sagte, ich solle dich heiraten, war es das Beste, was sie je getan hat.«

»Elster war klug«, sagte Aguila, und Rabe konnte den ungeheuren Kummer hinter seinen Worten hören. »Ich verdanke ihr all mein Glück. Ich wünschte nur, sie hätte lange genug gelebt, um ihre Namensvetterin kennenzulernen.«

»Sie ist in jener Nacht gestorben, um uns zu retten.« Die geflügelte Frau schloß die Augen, als sie an das Opfer der alten Ärztin dachte. In der Nacht, als Skua Rabe und ihre Familie ermorden wollte, hatte er den Königinnenturm mit Wachen umkreist, die ihm treu ergeben waren. Dann hatte er die Dienstboten durch seine eigenen Leute ersetzt und auf diese Weise den königlichen Haushalt jeglicher Hilfe beraubt. Irgendwie – Rabe hatte nie herausgefunden wie genau – hatte Elster die Verschwörung aufgedeckt und es bei Einbruch der Nacht geschafft, durch die Absperrung geflügelter Wachen zu fliegen, die den Turm umringten.

Sobald sie gewarnt waren, hatten Rabe und Aguila ihren Sohn Lanneret aus dem Bett geholt und waren zusammen mit Elster geflohen. Zu Fuß waren sie durch die Korridore und die luftigen Wege des Palastes geeilt, denn Skua hatte seine gesamte Streitkraft in der Luft postiert. Mit den Wachen im Palast waren sie mühelos fertig geworden – sie waren ihnen entweder ausgewichen, oder Aguila hatte sich um sie gekümmert. Erst als sie sich endlich doch in die Luft erhoben, aus einem kaum benutzten Ausgang in den unteren Bereichen der Burgzinnen, war ihre Flucht entdeckt worden. Die Flüchtlinge konnten nicht so schnell fliegen, wie sie es sich gewünscht hätten; Aguila trug Lanneret, der mit seinen drei Jahren eine nicht unbeachtliche Last darstellte, und Rabe wurde durch ihr ungeborenes Kind behindert, mit dessen Geburt erst in einem Monat zu rechnen war. Ihre Feinde kamen ihnen immer näher – bis Elster Aguila sein Schwert direkt aus der Scheide stahl und zurückkehrte, um sich auf die Verfolger ihrer geliebten Rabe zu stürzen. Obwohl die Königin Elster nicht hatte sterben sehen, hatten ihre Todesschreie doch geklungen, als hätten die Männer sie in Stücke gehackt. Rabe wachte des Nachts noch immer häufig auf und hörte diese grauenhaften Schreie – sie wußte, sie würden sie für den Rest ihrer Tage verfolgen –, aber Elster hatte durch ihren Mut und das Opfer ihres eigenen Lebens der königlichen Familie gerade genug Zeit verschafft, um zu fliehen. Damals konnten sie um Elster nicht trauern. Die Flüchtlinge brauchten mehrere hungrige, angsterfüllte Tage, um bis nach Eyrie zu kommen; meistens flogen sie in der Nacht und wichen den Patrouillen aus, die Jagd auf sie machten. Sobald sie jedoch Incondors Turm erreicht hatten, nahm die Verfolgung ein Ende, und sie kamen, wenn auch von Hunger und Kälte geschwächt, schneller voran. Bevor jedoch die ersehnte Silhouette der Kolonie in Sicht kam, hatten bei Rabe die Wehen eingesetzt. Sie konnte gerade noch so weit fliegen, um sich in Sicherheit zu bringen – und ganz früh am folgenden Morgen hatte endlich ihr lang ersehntes Töchterchen das Licht der Welt erblickt.

Nie würde die Königin das Gefühl vergessen, als sie ihre Tochter das erste Mal im Arm hielt. Die kleinen Stummelflügel, die während der Geburt fest an ihren Rücken gepreßt worden waren, begannen sich langsam zu strecken und zu glätten. Rabe betrachtete die Kleine – und konnte einen Augenblick lang nicht weiteratmen. Obwohl die Federn noch immer feucht und zerknittert waren, wiesen die schwarzen Flügel doch dasselbe exquisite Fächermuster weißer Federn auf, das die Schwingen der großen Heilerin so einzigartig gemacht hatte. In Gedanken schien sie ein letztes Mal diese geliebte, vertraute, alte Stimme zu hören: »Wie willst du mich im Gedächtnis behalten, wenn du keine kleine Prinzessin hast, die du nach mir benennen kannst?«

Rabe preßte die kleine Elster an sich und lachte durch ihre Tränen. »Wie, im Namen Yinzes, hast du das nur zuwege gebracht?« fragte sie.

»Da kommen sie.« Aguilas Stimme holte die verbannte Königin jäh aus der Vergangenheit zurück. Sie drehte sich zu dem Kindermädchen um und nahm ihr geliebtes Kind in die Arme; ihre Augen waren immer noch erfüllt von Liebe und Erinnerungen. Die Menschenmenge brach in lauten Beifall aus, und Rabe verbannte die Erinnerung an Elster für den Augenblick aus ihrem Kopf, um Eliizar und Nereni zu betrachten, wie sie, gefolgt von ihrer Tochter, die Stufen der Terrasse hinaufschritten.

Amahli war so aufgeregt wegen des neuen Hauses – sie konnte es gar nicht erwarten, dort einzuziehen. Es war in der Nähe der östlichen Grenze des großen Waldtals erbaut worden, wo der wichtigste Fluß, der Vivax – Onkel Jharav hatte ihn scherzhaft nach seinem Lieblingspferd benannt – in einer Abfolge von Stromschnellen und Wasserfällen aus dem Tal floß. An dieser Stelle stieg der Nordrand des Tals in einer sanften Abstufung von Terrassen leicht bergan. Das Haus lag hoch oben auf dem Hang, und seine terrassenförmig angelegten Gärten reichten bis zum Fluß hinunter. Man hatte zum Bau den heimischen, blaugrauen Stein verwandt, und weil so viele Menschen, Khazalim wie Himmelsleute, an der Planung des Gebäudes beteiligt gewesen waren, wies es nun flache Dächer auf, gewölbte Dächer, Türmchen, Balkone, Terrassen, Bogenfenster und Erkerfenster, spitze Fenster und quadratische. Obwohl es neu war, sah es aus, als wäre es seit Jahrhunderten aus dem Fels herausgewachsen und hätte sich die ganze Zeit über verändert und entwickelt.

Als ihre Eltern sich der obersten Treppenstufe näherten, konzentrierte Amahli sich nicht länger auf das Haus selbst, sondern auf die Schar von Würdenträgern, die sich auf der Terrasse versammelt hatten. Bei einem solch großen Anlaß ging es nicht an, daß sie ihr gutes Benehmen vergaß. Amahli sah Königin Rabe und ihren Gemahl, Lord Aguila, mit ihren beiden kleinen Kindern. Auf der anderen Seite der Treppe standen Fink und Sturmvogel, die Gründer der Himmelsvolkkolonie, die sich wie Eliizar geweigert hatten, irgendwelche Titel anzunehmen. Amahli war froh zu sehen, daß sie ihre Familien mitgebracht hatten: Sturmvogels Gefährtin Feuerhaube und ihren Sohn, Habicht – der sich mit seinen fünfzehn Jahren noch an das Leben in Aerillia erinnern konnte – und Finks Gefährtin Drossel sowie ihre Tochter Pirol, die genauso alt war wie Amahli und ihre beste Freundin.

Jharav stand ebenfalls mit breitem Lächeln oben auf der Treppe. An seiner Seite sah man seine Frau, Ustila – ein stilles Mädchen, das viel jünger war als er selbst. Amahli wußte aus Gesprächen der Erwachsenen, die gewiß nicht für ihre Ohren bestimmt waren, daß Ustila nach Xiangs Angriff auf die Siedlung zwei Jahre lang keinen Mann auch nur in ihre Nähe gelassen hatte. Daher hatte es für einige Überraschung gesorgt, als sie Jharav heiratete, nachdem seine erste Frau, die er in der Entstehungszeit der Kolonie aus Taibeth geholt hatte, gestorben war. Amahli mochte Ustila – sie war sanft und freundlich. Sie war froh darüber, daß die junge Frau bei dem lieben, alten Jharav ihr Glück gefunden hatte.

Der ehemalige Krieger verbeugte sich tief. »Meine lieben alten Freunde«, begann er, »erlaubt mir zuerst, euch in eurem neuen Heim willkommen zu heißen.« Er holte tief Luft. »Wer hätte, als wir uns das erste Mal als Feinde im Turm von Incondor gegenüberstanden, gedacht, daß wir eines Tages hier stehen würden, nachdem wir so viel erreicht haben …«

O nein, dachte Amahli. Wenn Onkel Jharav erst mal in dieser Art loslegte, konnte er ohne Pause stundenlang weiterreden. Aber als die Tochter des Anführers der Kolonie hatte man sie früh dazu erzogen, solch stumpfsinnige, offizielle Anlässe mit Anstand über sich ergehen zu lassen. Also heuchelte sie Aufmerksamkeit, heftete ihren Blick auf das Geschehen vor sich und ließ ihre Gedanken schweifen.

Die Reden nahmen einfach kein Ende. Als Jharav endlich fertig war, begann Sturmvogel zu sprechen. Amahli seufzte und tauschte einen gequälten Blick mit Pirol. Es war wahrhaftig zuviel verlangt, die ganze Zeit über stur geradeaus zu schauen – die Gedanken des Mädchens waren schon vor einer ganzen Weile weitergezogen, nun folgten auch seine Augen. Amahli blickte gerade zu dem spitz zulaufenden Türmchen hinauf, in dem ihr Zimmer lag, und fragte sich, wie es wohl sein würde, jeden Morgen dort aufzuwachen und aus dem Fenster zum Fluß hinunterzuschauen. Plötzlich fesselte eine Bewegung am Himmel ihre Aufmerksamkeit. Zuerst dachte sie, es seien nur ein paar graue Wolken, die von Norden herbeizogen – dann bemerkte sie, daß dieses Gebilde am Himmel sich in die andere Richtung bewegte als die übrigen Wolken, dem Wind entgegengesetzt. Was konnte das nur sein? Eine gewaltige Vogelschar vielleicht? Aber was waren das für winzige Lichtblitze in ihrer Mitte? Amahli blickte blinzelnd in den hellen Himmel auf und versuchte, sich einen Reim auf das Ganze zu machen.

Plötzlich ließ ein scharfer Stoß in die Rippen das Mädchen aufkeuchen. »Was machst du da?« zischte Nereni. »Hör gefälligst zu!« Dann weiteten sich ihre Augen, als sie Amahlis Blick folgte. »Die Götter mögen uns beistehen!« stieß sie hervor. »Eliizar! Jharav! Gebt acht – wir werden angegriffen!«

Und dann stießen die Himmelsleute von oben auf sie herab; das Licht fing sich blitzend auf ihren Schwertern und Speeren, und ihre Gesichter waren hinter finsteren, schwarzen Masken verborgen.

Einen Augenblick später brach die Hölle los. Die Menschenmengen in den Gärten stoben auseinander und versuchten schreiend, sich in Sicherheit zu bringen; hinter ihnen blieb eine Vielzahl niedergetrampelter Körper zurück. Nereni packte Amahlis Hand und zerrte sie über die Terrasse aufs Haus zu, wobei sie den wild durcheinanderlaufenden Gestatten der anderen Siedler ausweichen mußten, während gleichzeitig wie ein schwarzer und tödlicher Regen die Pfeile des Feindes auf sie niedergingen. Aus den Augenwinkeln sah Amahli, daß Ustila hinter ihnen her lief, und daß Eliizar und Jharav ihre Schwerter gezogen hatten und die Frauen in einem tapferen, aber nutzlosen Versuch, sie zu beschützen, flankierten.

Als Fink und Sturmvogel fast gleichzeitig abhoben, hätte der gewaltige Luftzug ihrer großen Schwingen Amahli beinahe umgeworfen. Kaum eine Sekunde später wurde sie von einem heißen, stinkenden Regenguß durchweicht, und ein Ball zerfetzten Fleisches und blutiger Federn, der beinahe unkenntlich war, versperrte ihr den Weg. Fink war direkt vor ihr auf die Pflastersteine geschlagen. Amahli schrie auf, und als sie die Hände vom Gesicht nahm, waren sie klebrig vom Blut des Freundes ihres Vaters; des Vaters ihrer Freundin.

Wo war ihre Mutter? Amahli sah sich hastig um, aber Nereni war verschwunden. Eliizar und Jharav waren nirgends zu sehen. Auf der Terasse waren zahllose Kämpfe entbrannt, und weitere Scharmützel fanden über ihr in der Luft statt, so daß es Blut regnete – und Schlimmeres. Die Luft erbebte unter der Last von Flüchen, Stöhnen und Schreien.

Durch eine Lücke in der Menschenmenge sah Amahli ihre Freundin Pirol über dem Körper Finks knien, eine Faust gegen die Lippen gepreßt und die Augen weit aufgerissen und leer vor Entsetzen; ihre Freundin achtete gar nicht auf die aufblitzenden Schwerter, die direkt über ihr in einem gnadenlosen Kampf aneinanderschlugen. Amahli ergriff die Gelegenheit, ihr eigenes Entsetzen mit einer energischen Tat zu verdrängen. Sie duckte sich durch das Getümmel, rannte zu ihrer Freundin hinüber, ließ sich auf alle viere fallen und rollte sich unter den tödlichen Klingen eines Siedlers und seines geflügelten Angreifers hindurch. Dann packte sie Pirol bei der Hand und versuchte, ihre Freundin wegzuziehen. »Pirol, komm! Du kannst nicht hierbleiben – sie werden dich töten!«

Pirol sah sie mit wilden Augen und ohne eine Spur von Wiedererkennen an. »Nein!« kreischte sie. »Laß mich in Ruhe!« Mit zu Krallen ausgestreckten Händen stürzte sie sich auf Amahli – und rannte direkt in den funkelnden Bogen eines herabsausenden Schwerts. Blutfontänen sprudelten aus ihrem Hals, und ihr Kopf rollte wie trunken zur Seite weg. Für die entsetzte Amahli schien es, als brauche der Körper ihrer Freundin eine Ewigkeit, um in sich zusammenzusinken und zu Boden zu stürzen. Langsam wurde auch Amahli schwarz vor Augen. Glücklicherweise trat die furchtbare Welt in den Hintergrund, entfernte sich immer weiter von ihr und wurde dabei immer kleiner …

Die krachende Ohrfeige war unbarmherzig genug, um ihr den Atem zu rauben und ihren Kopf hochschnellen zu lassen. Benommen blickte sie in Habichts weißes Gesicht. »Du kannst jetzt nicht in Ohnmacht fallen«, brüllte er. Erst als sie den heißen Schmerz in ihrer Schulter spürte, wurde ihr klar, daß er sie an einem Arm weiterzerrte, während er mit der anderen Hand – und mit mehr Eifer als Geschick – sein Schwert schwang. Als sie aufblickte, hatte sich der Kampf ein kleines Stück von ihr entfernt. Amahli, die plötzlich nur noch den einen Wunsch hatte, dieses entsetzliche Szenario hinter sich zu lassen, erhob sich taumelnd auf die Füße und ließ sich von Habicht zum Haus zerren.

Sie hatten beinahe die Sicherheit des Gebäudes erreicht, als über ihren Köpfen ein Sirren von Flügeln laut wurde und ein Schatten über sie hinwegglitt. Amahli spürte, wie eine Hand an ihrer Schulter zerrte und schrie vor Furcht auf. Habicht wirbelte herum; sein Gesicht war starr vor Entschlossenheit, und er stieß mit seinem Schwert zu. Dann hörten sie einen schrillen Schmerzensschrei, als die Hand Amahlis Schulter losließ und ein Körper sie beinahe unter sich begraben hätte. Der geflügelte Krieger war eine junge Frau gewesen – mit ihrem langen, dunklen Haar und den dunklen Augen hätte sie Amahlis ältere Schwester sein können. Eine Sekunde lang stand Habicht wie gebannt da und starrte die Leiche entsetzt an. Nun war es an Amahli, ihn von der grauenhaften Szene wegzuzerren. Einen Augenblick später rannten sie wieder weiter; das tropfende Schwert in Habichts Hand hinterließ eine blutige Spur auf dem Weg, den sie nahmen.

In der Nähe der Tür waren besonders heftige Kämpfe im Gange – eine kleine Gruppe von Siedlern hielt den Eingang gegen etwa ein Dutzend Geflügelte. Habicht lief um das Haus herum, zerrte Amahli hinter sich her und schlug ein Fenster ein. Dann legte er seinen Umhang über die scharfkantigen Kristallscherben im unteren Teil des Rahmens, und die beiden zwängten sich hindurch. Aus den Räumen über ihnen kamen ebenfalls Geräusche von splitterndem Kristall. Habicht zerquetschte Amahli beinahe die Finger, so fest hielt er ihre Hand umfaßt. »Können wir uns hier irgendwo verstecken?« rief er Amahli zu.

»Ja – im Keller. Hier entlang.«

Amahli kannte jeden Zoll des Hauses. Im Laufschritt führte sie Habicht in den hinteren Teil des Gebäudes, wo die Kellertür mit ihrer langen, dunklen Treppenflucht von der Küche aus in die Tiefe führte. Sie hatten kein Licht – sie mußten einfach so gut es ging die Steinstufen hinunterstolpern und die Tür hinter sich ins Schloß werfen. Die Kellerräume schienen kein Ende zu nehmen.

Amahli hielt sich mit einer Hand an Habicht fest und tastete sich mit der anderen an der Wand entlang, während sie sich zu erinnern versuchte, wie die Kellergewölbe angelegt waren. Endlich fand sie, wonach sie suchte – eine schmale Nische, die direkt unter der Treppe lag. »Hier hinein – schnell.«

Es war furchtbar eng. Sie kauerten sich Seite an Seite in den winzigen Raum und wagten kaum zu atmen, während sie den Schreien und den Lauten der Zerstörung von oben lauschten. Nach einer Weile erstarb das Krachen und das Dröhnen, und alles wurde grauenvoll still. Wenig später fand Habicht die Stimme wieder. »Vielleicht können wir es jetzt wagen …« Weiter kam er nicht. In dem Haus über ihnen nahm das Prasseln von Feuer eine gewaltige, tosende Lautstärke an.

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