13 Der Wirt des ›Einhorns‹

Nach einer schlaflosen Nacht Heß Jarvas, der sich mittlerweile ernsthaft Sorgen machte, sein Asyl am Kai in Benziorns Obhut und machte sich auf die Suche nach Grince. Der junge Dieb war in der vergangenen Nacht nicht nach Hause gekommen, und Jarvas befürchtete das Schlimmste. Er allein hatte gewußt, was Grince vorhatte – und er machte sich Vorwürfe, daß es ihm nicht gelungen war, dem Jungen solchen Wahnsinn auszureden. Er hätte ihn ohnmächtig schlagen oder einsperren sollen – selbst wenn Grince ihm die verpaßte Gelegenheit nie verziehen hätte, wäre das immer noch besser gewesen, als den dummen jungen Hund unter den Konsequenzen leiden zu lassen, die ein Diebstahl im Hause Lord Pendrals unweigerlich nach sich ziehen mußte.

Jarvas fühlte sich für Grince verantwortlich, seit er ihn – einen wilden, ungehobelten Raufbold von damals vierzehn Jahren – dabei erwischt hatte, wie er eines Nachts versuchte, das Asyl auszurauben. Lord Vannor hatte, bevor er im Laufe dieses wahnsinnigen Feldzugs gegen die Phaerie verschwunden war, der Stadt zu neuem Wohlstand verholfen. Das hatte zu der Wiedereröffnung der Großen Arkade geführt, und weil die mit neuen Männern ausgestattete Garnison in jenen Tagen so erfolgreich gegen das Verbrechen in der Stadt vorgegangen war, hatte der Junge sein Heim und seinen Lebensunterhalt verloren und war in Not geraten. Er hatte Jarvas’ Asyl nicht für sich selbst überfallen, sondern in dem verzweifelten Versuch, seinem Hund etwas zu essen zu beschaffen.

Bevor er Krieger sah und das Tier als einen unverkennbaren Sproß von Emmies Hund Sturm erkannte, war Jarvas nicht klar gewesen, daß es sich bei seinem jungen Einbrecher um Tildas Sohn handelte. Er und Benziorn waren davon ausgegangen, daß der Knabe bei der Zerstörung des Asyls vor etlichen Jahren ums Leben gekommen war, und ihn schmerzte der Gedanke, daß Grince seit jener Zeit sein Dasein in der Stadt als Verbrecher gefristet hatte. Seit damals hatte Jarvas versucht, dem Waisenknaben den Vater zu ersetzen, aber da Grince niemals wirklich von jemandem abhängig gewesen war – nicht einmal, als Tilda noch lebte –, blieb er so mißtrauisch und wachsam wie ein wildes Tier und reagierte weder auf Autorität noch auf Freundlichkeit. Emmie hätte es vielleicht vermocht, ihn für sich zu gewinnen, aber sie war bei den Schmugglern geblieben und hatte Yanis, den Anführer der Nachtfahrer, geheiratet. Schließlich hatte sie der zunehmend gebrechlichen Remana den größten Teil der häuslichen Pflichten in dem geheimen, unterirdischen Versteck abgenommen. Jarvas hatte gehört, daß sie glücklich sei, aber sie war seit Jahren nicht mehr in Nexis gewesen. Er hatte ihr nie mitgeteilt, daß der Junge wieder aufgetaucht war – sie hatte in diesen Jahren genug eigene Probleme gehabt, und wahrscheinlich hatte sie ihn ohnehin bereits vergessen.

Auch in den folgenden Jahren hatte Grince sich nicht geändert und Jarvas’ Vorschlag, ein Gewerbe zu erlernen, beharrlich verweigert. Nichts hatte ihm seinen Stehltrieb austreiben können – weder Bitten noch Strafen. Als Jarvas aus reiner Verzweiflung sogar zum Stock gegriffen hatte, war Grince einfach immer wieder wochenlang verschwunden und erst zurückgekehrt, wenn er einen zwingenden Grund dazu hatte. Gewöhnlich ging es um irgend etwas, was er für Krieger brauchte, etwas, das nur Jarvas und sein Asyl ihm geben konnten. Im Herzen war der Junge nicht schlecht – wäre er wirklich von Grund auf böse gewesen, wäre es Jarvas leichtgefallen, seine Hände in Unschuld zu waschen. Aber im Grunde seines Herzens war Grince ein guter Kerl, vor allem, wenn man seinen Hintergrund bedachte. Diebereien waren für ihn lediglich eine Überlebenschance – aber traurigerweise war er obendrein noch stolz auf seine Tüchtigkeit und auf die Unabhängigkeit, die sie ihm verschaffte.

Obwohl Jarvas fest entschlossen gewesen war, die zusätzliche Last der Verantwortung für den schwierigen Jungen auf sich zu nehmen, war es Grinces abgrundtiefer Haß auf jede Autorität, die ihm die größten Sorgen machte. Das provisorische Heim in der Großen Arkade war die einzige Sicherheit gewesen, die der Junge je gekannt hatte, und er gab die ganze Schuld an seiner Situation dem Hohen Herrn. Als Lord Pendral nach Vannors Verschwinden die Macht ergriffen hatte, hatte er den Diebstahl mit schweren Strafen belegt, und Grince so in ständige Gefahr gebracht. Jarvas seufzte. Der Dieb ging mit der Zeit immer größere Risiken ein – und in einer Stadt wie Nexis war es unvermeidlich, daß man ihn irgendwann auf frischer Tat erwischen würde.

Aber das war noch nicht das schlimmste. Letztes Jahr war etwas geschehen, das Grinces Haß zu einer tödlichen Flamme entfacht hatte. Pendrals Truppen hatten den weißen Hund Krieger getötet. Eine Patrouille hatte den Dieb erkannt und ihn gejagt, und Krieger, der damals zehn Jahre alt gewesen war, konnte nicht rechtzeitig entkommen. Bevor Grince ihm zu Hilfe eilen konnte, hatte ein Soldat den flüchtenden Hund mit einem Pfeil durchbohrt.

Eine Weile hatte Jarvas um Grinces Leben gefürchtet. Er war vor Kummer wie betäubt gewesen, sprach kein Wort, verweigerte die Nahrung und konnte nicht schlafen. Krieger war ihm alles gewesen – Familie, Kamerad, Beschützer und Freund. Tagelang war Grince in seiner kleinen Zelle im Schlafsaal des Asyls geblieben, hatte auf dem Bett gesessen und die dünne Trennwand angestarrt. Jarvas, der ihn mit wachsender Besorgnis beobachtete, sah ihn niemals weinen. Etwa acht Tage nach Kriegers Tod verschwand der Junge mitten in der Nacht. Der bestürzte Jarvas stellte gerade einen Suchtrupp auf, als Grince mit der Morgendämmerung zurückkam; er war kein Junge mehr. An seinen Händen klebte Blut, und in seinen Augen stand ein trostloser, kalter, erwachsener Ausdruck, den Jarvas noch nie bei ihm gesehen hatte. Trotzdem hatte er sich Jarvas in die Arme geworfen und wie ein verzweifeltes Kind geweint. Er sprach nie darüber, wo er gewesen war, aber es überraschte niemanden, als sich die Nachricht verbreitete, daß man in einer einsamen Gasse einen Soldaten mit aufgeschlitzter Kehle gefunden hatte.

Von jenem Tag an beobachtete Jarvas eine Veränderung in Grinces Persönlichkeit. Obwohl er seinen Kameraden vom Asyl gegenüber immer noch derselbe freundliche, ziemlich schüchterne Junge war, lächelte er nur selten und lachte nie. Sein Benehmen wurde noch verstohlener und seine Neigung zur Geheimniskrämerei nahm weiter zu. Seine Diebereien, die er früher einmal mit dem leichtfertigen Geist eines Spiels betrieben hatte, verwandelten sich plötzlich in eine todernste Angelegenheit. Grince spielte jetzt um höhere Einsätze – während er sich bisher mit Essen und Kleidung zufriedengegeben hatte und mit kleinen Mengen Geldes, um das Nötigste kaufen zu können, stahl er jetzt Gold und Juwelen und plünderte die Geldtruhen der dicken, wohlhabenden Kaufleute, wenn sie die Einnahmen eines ganzen Monats enthielten. Zuerst hatte Jarvas vermutet, daß er das Geld hortete, um sich irgend etwas zu kaufen – aber was? Kameradschaft? Sicherheit? Flucht vor dem wurzellosen Leben der Armut, die sein Los gewesen war? Aber jetzt war deutlich geworden, daß Grince mit seinen erweiterten Diebstählen einen anderen Zweck verfolgt hatte. Es waren Vorübungen für seinen gestrigen Einbruch gewesen. Pendral hatte dem Dieb das geraubt, was er am meisten auf der Welt Liebte, und seit jenem Tag hatte Grince seine Rache an dem Hohen Herrn von Nexis geplant.

Ein Schaudern durchlief Jarvas’ knochige Gestalt. Armer Grince! Er mochte zwar seine Fehler haben, und es war gewiß unrecht von ihm gewesen, diese Juwelen zu stehlen, aber die Gefahr, in die er sich begeben hatte, ließ das Herz des stämmigen Mannes erbeben. Gemeine Verbrecher wurden ausgepeitscht oder für einige Tage oder Monate zu Zwangsarbeit verurteilt; sie mußten dann beim Wiederaufbau der zerstörten Stadtteile helfen. Aber für ein so schweres Verbrechen wie einen Einbruch im Haus Lord Pendrals konnte es nur eine Strafe geben. Falls Grince verhaftet worden war, würde man ihm morgen die Hände abschlagen.

Als er endlich die letzte Stufe der Langen Treppe erreicht hatte, zogen sich Jarvas’ Wadenmuskeln zu einem Krampf zusammen, und der Schweiß lief ihm übers Gesicht. Er war vollkommen außer Atem, aber ihm blieb keine Zeit für eine Verschnaufspause. Mit jeder Minute, die verstrich, wuchs seine Gewißheit, daß man Grince gefangen hatte. Jeden Morgen wurden die Namen der Missetäter, die am Vortag verhaftet worden waren, an den Toren der Garnison angeschlagen. Und obwohl er die zu erwartende böse Kunde, fürchtete, war es besser, sofort Bescheid zu wissen – obwohl dieses Wissen für den Dieb selbst keinen Unterschied machen würde. Jarvas seufzte und machte sich auf das Schlimmste gefaßt. Er wandte sich nach rechts und ging, so schnell seine schmerzenden Beine ihn trugen, auf die Garnison zu.

Die Anschläge wurden bei Sonnenaufgang aufgehängt. Die Liste der Verhaftungen vom Vortag war nach der Schwere der Verbrechen geordnet und informierte auch darüber, welche Strafe dem Schuldigen bevorstand. Vor den großen, gewölbten Toren der Garnison hatte sich bereits eine kleine Traube von Menschen zusammengeschart. Einige weinten still, während andere fluchten und Beschimpfungen ausspien, obwohl alle dafür sorgten, den beiden Soldaten, die mit steinerner Miene Wache standen, nicht zu nahe zu kommen. Jetzt, wo er sein Ziel endlich erreicht hatte, verspürte Jarvas einen beklemmenden Widerwillen dagegen, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Er verfluchte sich für seine Feigheit, knirschte mit den Zähnen und drängte sich durch die Menge zu dem unheilverkündenden, quadratischen Stückchen Papier, das an das schwere Holz genagelt war.

Es waren an diesem Tag nicht viele Namen – eine Reihe von Auspeitschungen und eine Hinrichtung, die für den morgigen Tag angesetzt war. Jarvas sank vor Erleichterung in sich zusammen und spürte, wie seine müden Knie unter ihm nachgeben wollten. Wie ein Blinder tastete er sich wieder durch die Menschenmenge. Er war erleichtert, als sei ihm ein gewaltiges Gewicht von den Schultern genommen, und er taumelte die Straße hinunter auf das Unsichtbare Einhorn zu. Wären seine Beine jünger gewesen, hätte er am liebsten getanzt.

Als Jarvas die einstmals so schäbige Taverne erreichte, war er wie immer beeindruckt von ihrer gegenwärtigen Sauberkeit und ihrem Wohlstand. Die Fenster glitzerten, und der frische Anstrich von Mauern und Fensterläden leuchtete. Der Schankraum, der früher so primitiv und schmutzig gewesen war, strahlte Sauberkeit und Behaglichkeit aus, und auf der anderen Seite des Raums stand eine neue, blitzblanke Holztheke. Hinter der Theke präsidierte mit dem Gehabe des Gastgebers und der strahlenden Zufriedenheit des Wohlstands der alte Hargorn.

Der Schankraum füllte sich bereits. Es waren die gewohnten frühmorgendlichen Stammkunden, die zum Frühstück kamen – größtenteils Händler und Arbeiter aus der Stadt, gelegentlich aber auch ein Soldat aus der Garnison, der gerade von der Nachtwache kam. Heutzutage zählte das Einhorn zu den beliebtesten Schänken der Stadt. Trotz seiner fortgeschrittenen Jahre stand Hargorn in dem Ruf eines Mannes, der sowohl auf sich selbst wie auf seinen Besitz achtzugeben vermochte. Nach dem Verschwinden der Magusch hatte der alte Kämpe beschlossen, sich aus dem Soldatenleben zurückzuziehen, und die Taverne übernommen. Und als Partnerin hatte er sich – ausgerechnet! – Vannors alte Köchin Hebba ausgesucht.

Als Lord Vannor nach dem Verschwinden der Magusch in die Stadt zurückgekehrt war, hatte seine Köchin ihn begleitet – aber sie war nicht bei ihm geblieben. Als der alte Soldat sein Schwert abgelegt hatte, hatte Hebba mit Hargorn einen Plan ausgeheckt, und mit der großzügigen Hilfe Vannors war es ihnen gelungen, das Einhorn zu erstehen, das sich in besseren Tagen besonders bei den Soldaten größter Beliebtheit erfreut hatte – nicht zuletzt bei Hargorn selbst. Nach der Not und dem Elend unter Miathans Herrschaft war die Taverne in der Nähe der Garnison übel heruntergekommen, aber unter der Leitung von Hargorn und Hebba hatte das Geschäft bald wieder zu florieren begonnen.

Hargorn und Hebba waren ein seltsames Paar – vor allem in den Augen jener, die die beiden gut kannten. Wie konnte der praktisch veranlagte, lakonische, unerschütterliche Soldat sich nur mit den Hirngespinsten, den Panikanfällen und dem unaufhörlichen Geplapper der rundlichen, kleinen Köchin abfinden? Wie konnte eine so pedantische, übertrieben ordentliche Frau sich mit seinen rauhen Soldatensitten abfinden, mit Manieren, die geprägt waren von einem langen Leben in Baracken und auf Feldzügen? Aber obwohl es sich nur um eine geschäftliche Partnerschaft handelte, kamen die beiden immer besser miteinander zurecht.

Schon bald hatte es sich in Nexis herumgesprochen, daß man im Einhorn aufs wärmste willkommen geheißen wurde. Hargorn war ein hochangesehener und beliebter Soldat in der Garnison gewesen. Man kam gut mit ihm aus – und auf die eine oder andere Weise hatte er sich den größten Teil seines Lebens auf Bier spezialisiert. Er eignete sich in jeder Hinsicht zum Wirt einer Bierschänke – bis hin zu seiner Fähigkeit, auch einmal mit einer Rauferei fertig zu werden.

Hebba hatte das Innere der Taverne in ein Paradies ausgeprägter Behaglichkeit verwandelt, mit funkelnden Messinglampen, die an die Stelle der schummerigen Binsenlichter getreten waren. Die von zahllosen Kerben überzogenen alten Tische wurden jeden Tag auf Hochglanz poliert. Aber das war noch nicht alles. Hebba war fest entschlossen, ihre Kunden so richtig zu bemuttern – und das bedeutete auch, daß sie ihnen zu essen gab. Die Mahlzeiten, die sie servierte, waren in der ganzen Stadt zu einer Legende geworden.

Hargorn war Jarvas im Laufe dieser letzten, schwierigen Jahre ein guter Freund gewesen, und außerdem war seine Taverne ein Umschlagplatz für Geschwätz wie für Gerüchte, für Informationen wie für versteckte Andeutungen. Wenn es irgend etwas Neues über Grince gab, wußte Jarvas, daß er es hier in Erfahrung bringen konnte. Aber gerade als er auf die Theke zuging, kam Hebba aus dem Hinterzimmer gestürzt. Sie war noch aufgeregter als gewöhnlich und so bleich, als hätte sie einen Geist gesehen. Ohne zu zögern, umklammerte sie Hargorns Arm mit einem festen Griff, stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Sein Freund, der Hebbas Aufregung zunächst mit dem gewohnten duldsamen Gesichtsausdruck quittierte, erbleichte und versteifte sich. Einen Augenblick später taumelte er, als hätte man ihn geschlagen. Eine furchtbare Sekunde lang dachte Jarvas, der alte Mann würde einen Anfall erleiden, aber dann schien Hargorn sich ganz plötzlich wieder unter Kontrolle zu haben. Sein Gesicht verzog sich zu dem breitesten Grinsen, das Jarvas jemals untergekommen war. Dann packte er Hebba, hob sie hoch und schwang sie in dem engen Raum hinter der Theke zu einem Freudentanz im Kreis. Ihre schrillen Proteste und ihr erschrockenes Kreischen nahm er überhaupt nicht zur Kenntnis. In dem Raum hallte es wider von Gejohle und Pfiffen, und die Kunden begannen heftig zu applaudieren. Hargorn, der übers ganze Gesicht strahlte, blickte auf und bemerkte nun endlich sein Publikum. »Was starrt ihr denn alle so blöde?« fragte er streitlustig, und plötzlich hörte man wieder das Klappern von Tellern und Tassen; die Stammkunden machten sich wieder mit großem Eifer über ihr Essen her. Das Einhorn war ein so angenehmer, heimeliger Ort, daß niemand es sich mit dem Wirt verscherzen wollte.

Hargorn rief eine junge Frau, die in der Ecke des Schankraumes Tische abwischte, zu sich, damit sie ihn ablöste. Da fiel Jarvas auch wieder ein, warum er eigentlich hergekommen war, und ihm wurde klar, daß er nicht mehr lange zögern durfte, sonst würde er den Wirt nicht mehr zu fassen bekommen. »Hallo, Hargorn. Warte!« rief er und eilte zur Theke. Hargorn hatte den Arm noch immer um Hebba gelegt und war bereits halb im Hinterzimmer verschwunden. Bei Jarvas Worten drehte er sich mit einem ungeduldigen Seufzer um. »Nicht jetzt, Jarvas. Siehst du nicht, daß ich beschäftigt bin?«

»Aber …«

»Nicht jetzt, sagte ich. Was es auch ist, es wird warten müssen. Hör mal, Sallana soll dir was zu trinken geben, und Hebba wird dir etwas zum Frühstück holen. Ich bin gleich wieder zurück, das verspreche ich.«

»Verflucht, du wirst mir wenigstens einen Augenblick lang zuhören. Grince hat Lord Pendrals Juwelensammlung gestohlen, und die Wachen durchkämmen die Stadt nach ihm!«

Obwohl das Grinsen des alten Soldaten ein wenig ins Wanken geriet, schien diese Eröffnung ihn nicht vollkommen zu überraschen. »Nun, Jarvas, so wie dieser törichte Bettler sich benahm, mußte ja früher oder später etwas Derartiges passieren.«

»Verflucht – ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Das es früher oder später passieren mußte?« fragte Jarvas aufgebracht.

Hargorn hatte wieder zu seiner guten Laune zurückgefunden. »Was ich sage und was ich tun kann, sind zwei verschiedene Dinge. Und sieh mich nicht so finster an, Mann – dein Gesicht ist schon häßlich genug. Halt den Mund und komm mit mir.«

Hargorn führte Jarvas durch einen kurzen Korridor und in ein gemütliches Wohnzimmer mit behaglichen, gepolsterten Stühlen und einem großen Kamin, in dem ein helles Feuer loderte. Als Jarvas den Raum betrat, schob ihn eine hochgewachsene Gestalt so heftig beiseite, daß er beinahe hingefallen wäre. Eine Sekunde später schoß jemand an ihm vorbei durch die Tür, um den Wirt mit einer überschwenglichen Umarmung zu bedenken. Jarvas staunte nicht schlecht, als Hargorn, der in seiner Taverne keinen Unfug duldete, den Angreifer nicht sofort aus dem Haus warf. Noch verblüffender aber war die Tatsache, daß es sich um eine Frau in Kriegergewandung handelte. Hargorn – der bei seinen Kunden nicht gerade als gefühlsbetonter Mensch bekannt war – umarmte sie und lachte und weinte gleichzeitig.

»Bei den Göttern, Mädchen, es tut gut, dich zu sehen – ich hätte nie gedacht, daß ich diesen Tag noch erleben würde! Und Anvar auch! Weißt du, ich habe mit Parric um fünfzig Silberstücke gewettet, daß ihr zu uns zurückkehren würdet!« Bei der Erwähnung des Kavalleriehauptmanns verdüsterte sich Hargorns Gesicht für einen Augenblick, und Aurian war auch nicht entgangen, daß er sich bei seinem Eintritt hastig umgeschaut hatte – wahrscheinlich in der Hoffnung, Maya zu sehen. Aber jetzt zog Hargorn Aurian zum Feuer und ließ sie nicht zu Worte kommen. »Du siehst schrecklich aus, Aurian – schrecklich müde, meine ich. Hier – komm und setz dich, Herzchen. Ruh dich aus, bevor ich mit meinen Fragen über dich herfalle. Ich hole dir etwas Bier.«

Aurian ließ sich ohne Widerspruch von Hargorn zu einem der tiefen Stühle am Kamin ziehen. Sie streckte die Beine vor dem Feuer aus und schloß die Augen. Als Hargorn ihr einen randvollen Bierhumpen in die Hand drückte, fühlte sie sich, als wäre sie gerade durch einen Hurrikan gesegelt und endlich an ein friedliches Gestade gelangt.

Nur Grince war es zu verdanken, daß sie es überhaupt bis hierher geschafft hatten. Da Finbarr noch immer verwirrt und desorientiert war und die Magusch selbst als auch Forral von Aurians Angriff auf die Soldaten völlig benommen waren, hatte der Dieb das Kommando übernommen. Er hatte sie aus der Akademie gebracht und in die Stadt geführt; nach Möglichkeit hatten sie die Abwasserkanäle genommen, bevor sie über eine seiner Geheimrouten durch wenig benutzte Gäßchen und Nebenstraßen, die gelegentlich auch eine Abkürzung durch Hinterhöfe und verfallene Häuser vorsahen, weitergegangen waren. Shia und Khanu hatten ihre Menschenfreunde auf einem anstrengenden, aber weniger verdächtigen Weg über Dächer und Mauern begleitet. Nach den steilen Hängen des Stahlklauebergs stellten menschliche Gebäude kaum noch eine Herausforderung für sie dar. Ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, hatten sich die Gefährten durch eine Hintergasse dem Einhorn genähert und waren dann durch einen Nebeneingang eingetreten. Dabei hatten sie Hebba einen solchen Schrecken eingejagt, daß sie fast den Verstand verloren hätte.

Aurian nahm einen tiefen Schluck von Hargorns köstlichem Bier. Auf der anderen Seite des Raumes konnte sie hören, wie Grince den häßlichen Mann begrüßte, der ihn offensichtlich ebenfalls gesucht hatte. Forral versuchte, seinen alten Freund davon zu überzeugen, daß er trotz seines Aussehens wirklich nicht Anvar war. Die Magusch ließ die beiden reden und war dankbar für ein paar herrliche Augenblicke des Friedens, denn sie war wirklich müde. Außerdem machte es ihr schwer zu schaffen, daß sie ihre Magie benutzt hatte, um Pendrals Soldaten niederzumetzeln. Diese Gewalttat verstieß gegen alles, wozu man sie erzogen hatte – und schlimmer noch, es war eine Tat, die Miathan oder Eliseth ähnlich sah, aber nicht ihr. Dennoch war es nicht das erste Mal, daß sie ihre Magie benutzt hatte, um einen hilflosen Sterblichen zu töten – nur allzugut erinnerte sie sich an ihre Reise nach Süden; damals hatte sie die Männer ermordet, die den Leviathan töten wollten. Aber es war nicht zu ändern gewesen, weder diesmal noch beim letzten Mal, und was geschehen war, war geschehen.

Aurian wußte jedoch, daß sie dafür einen Preis zahlen würde. Das letzte Mal, auf dem Schiff nach Süden, hatte sie durch ihr Verhalten Miathan ihre Position preisgegeben, und er hatte seinen Sturm gesandt. Die Folgen waren katastrophal gewesen. Was diesmal passieren würde, wagte sie sich nicht auszumalen. Sie konnte nur abwarten – und beten, daß die Menschen, die sie liebte, nicht unter ihrer Tat zu leiden haben würden.

Was Aurian bei der ganzen traurigen Angelegenheit am meisten bekümmerte, war Forrals Haltung. Man sollte doch glauben, daß er als Soldat meine Tat besser als jeder andere versteht, dachte die Magusch verbittert. Was gibt ihm das Recht, mich zu verurteilen?

»Er hat dich noch nie über solche Macht gebieten sehen.« Die Stimme, die in Aurians Gedanken eindrang, gehörte Shia. »Früher hast du die Magie aus deinem Leben mit ihm herausgehalten – bis auf ein einziges Mal …« Die Katze klang verwirrt. »Er erinnert sich an ein Ereignis, bei dem es um dich und irgendwelchen Regen ging – und aus irgendeinem Grund war er damals ebenfalls wütend auf dich. Aber jetzt richtet sich seine Wut mehr gegen sich selbst als gegen dich, denn er weiß im Grunde, daß du nur getan hast, was du tun mußtest. Deine Zauberkraft macht ihm angst.« Die Katze legte angewidert die Ohren an. »Die Menschen werde ich nie verstehen, selbst wenn ich älter würde als Hreeza.«

»Einen Augenblick mal«, sagte Aurian und sah die große Katze fragend an. »Shia, woher weißt du das alles?«

Shia wich ihrem Blick aus. »Was meinst du?« sagte sie schließlich. »Dieser Mann hat Anvars Körper gestohlen – die körperliche Gestalt eines Magusch. Diese Gestalt besitzt immer noch Anvars Fähigkeiten – zu denen auch die Möglichkeit gehört, mit mir Kontakt aufzunehmen. Der Narr hat jedoch keine Ahnung von seinen neuen Fähigkeiten – er weiß nicht, wie man seine Gedanken abschirmt. Es überrascht mich, daß du sie nicht selbst gehört hast …«

»Was?« unterbrach Aurian sie. »Du hast gelauscht?«

»Ja, habe ich, und ich habe auch nicht die Absicht, damit aufzuhören«, sagte Shia ohne eine Spur von Reue. »Ich vertraue ihm nicht, Aurian – du magst ihm trauen, aber ich tue es nicht.«

Die Magusch bückte ihrer Freundin tief in die goldenen Augen und wußte, daß jeder Einwand sinnlos gewesen wäre. Außerdem, wer konnte sagen, ob Shia nicht im Grunde recht hatte? »Aurian, wo ist Maya?« Hargorns Stimme unterbrach ihren Gedankengang.

»Sie ist gesund und munter durch den Riß in der Zeit gekommen, aber dann haben die Phaerie sie und D’arvan geraubt – kurz nach unserer Rückkehr in die Welt.« Aurian wußte, daß es keinen Sinn hatte, die Wahrheit zu verbergen oder auch nur zu versuchen, sie abzumildern.

Hargorn schluckte. »Ich werde ihr folgen«, sagte er tonlos. »Erst Parric und Vannor und jetzt Maya – ich werde die Höhle dieses Phaerieungeziefers finden, und wenn es das letzte ist, was ich tue. Selbst wenn ich versagen sollte, werde ich zumindest mit meinen Freunden zusammen sein.«

Die Magusch legte ihm eine Hand auf den Arm. »Dafür ist später noch Zeit«, sagte sie leise. »Der Herr der Phaerie wird D’arvan nichts antun, und D’arvan wird dann schon dafür sorgen, daß Maya außer Gefahr ist. Wenn sie nicht bald zurückkommen, werde ich mich selbst auf den Weg machen.« Sie runzelte die Stirn. »Ich habe dem Waldfürsten das eine oder andere zu sagen.«

Hebbas Wohnzimmer platzte aus allen Nähten, obwohl sie selbst nicht anwesend war. Die Wirtin des Einhorns hatte nur einen entsetzten Blick auf Shia und Khanu geworfen und war kreischend in ihre Küche geflüchtet. Aurian war nun so lange mit Shia befreundet, daß sie kaum noch daran dachte, wie beängstigend die erste Begegnung mit der Katze sein konnte; sie konnte nur hoffen, daß die Frau sich in der Küche wenigstens nützlich machen würde und Essen kochte oder Wasser für ein heißes Bad wärmte.

Forral mußte feststellen, daß seine Hoffnung, Hargorn werde ihn verstehen, vergeblich war. Während Aurian ihr Bad nahm, hatte er seinen alten Freund beiseite genommen und ihm erzählt, was die Magusch in den Tunneln unter der Akademie getan hatte. Hargorns Reaktion war eine Überraschung für ihn.

»Nun, du kannst sagen, was du willst, Forral, aber ich glaube, du bist ein verfluchter Narr«, stellte der alte Soldat unumwunden fest. »Also ehrlich, ich weiß nicht, was du dich so aufregst – du hast selbst gesagt, ihr hättet diese Soldaten auf gar keinen Fall entkommen lassen dürfen. Tot ist tot – was macht es für einen Unterschied, ob Aurian das Dach über ihren Köpfen zusammenstürzen läßt, oder ob du ihnen ein Schwert in den Leib rammst?«

»Der Unterschied liegt in der Magie«, beharrte der Schwertkämpfer. »Verstehst du denn nicht – diese Männer hatten keine Chance, sich zu wehren! Sie wußten ja nicht mal, wie ihnen geschah. Aurian beschreitet einen gefährlichen Weg. Was sie getan hat, war genau die Art von Mißbrauch magischer Kräfte, den sie selbst bekämpft!«

»Und meinst du, das arme Mädchen wüßte das nicht?« erwiderte Hargorn. »Ich konnte es in ihrem Gesicht sehen – und so wie ich Aurian kenne, wird sie länger brauchen, um sich selbst zu vergeben als du.« Er seufzte. »Forral, du warst lange fort. Ich glaube, du hast Aurian mit einer Aura der Vollkommenheit umgeben, die sie nie hatte. Du weißt genausogut wie ich, daß wir im Krieg alle Dinge tun, auf die wir nicht stolz sind – und du hast vergessen, daß Aurian schon sehr lange Krieg führt – einen unheimlichen, unmenschlichen Krieg, in dem es keine großen Schlachten gibt und dessen Scharmützel für uns Sterbliche unsichtbar bleiben. Ich will nicht entschuldigen, was sie getan hat – es ist eine beängstigende Entwicklung, da bin ich ganz deiner Meinung. Aber solange sie sich das nicht zur Gewohnheit macht, glaube ich nicht, daß du dir darüber den Kopf zerbrechen solltest. Ich denke, sie hat heute eine Lektion gelernt.«

Forral öffnete protestierend den Mund, aber bevor er auch nur ein Wort hervorbrachte, kam Hargorn ihm zuvor. »Nein – jetzt hörst du erst mal mir zu, Forral. Du erzählst mir, daß du enttäuscht bist von Aurian – wie muß sie da erst von dir enttäuscht sein? Wenn es ihr schlechtging, wußte sie, daß sie sich immer auf dich verlassen konnte, ganz egal, worum es ging. Du kannst nicht plötzlich wieder auftauchen und anfangen, sie so zu verurteilen. Sie ist nun seit langer Zeit recht gut ohne dich ausgekommen – oder ist es das, was dich wirklich so aufbringt?«

Der Schwertkämpfer runzelte finster die Stirn. »Also, hör mal zu …«

»Nein, du hörst zu. Statt jetzt wütend auf mich zu werden, solltest du besser eine Weile nachdenken. Und um deinetwillen rate ich dir, versöhne dich mit Aurian – wenn eure Auseinandersetzung ein Streit war. Sie braucht dich, Forral, so wie sie dich noch nie gebraucht hat, und du kannst sie weit besser vor Schwierigkeiten schützen, wenn ihr Freunde seid.«

Forral seufzte. »Du hast wahrscheinlich recht, Hargorn. Du alter Knabe – seit wann bist du so weise und einfühlsam?«

Der Veteran grinste. »Das kommt von dem Zusammenleben mit Dulsina, Vannors Haushälterin, wenn du es unbedingt wissen willst. Ich habe sie kennengelernt, als wir beide bei den Rebellen waren.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Es hat ihr fast das Herz gebrochen, als die Phaerie Vannor holten. Danach war sie eine Weile bei mir und Hebba, aber dann ist sie zu den Nachtfahrern gegangen – da ist sie immer noch. Zanna gibt gut acht auf sie.«

Sehr zu Aurians Freude hatte die respekteinflößende Hebba allen, die dies wünschten, ein Bad ermöglicht. In einer Spülküche hinter der Hauptküche, in der über einem flammenden Feuer kübelweise Wasser erhitzt wurde, stand ein großer Badezuber. Zusammengefaltet auf einem Stuhl lag saubere Kleidung, die ungefähr die richtige Größe zu haben schien, und auf dem Trockengestell über der Feuerstelle hingen mehrere Handtücher zum Aufwärmen. Aurian, die in dem heißen Badezuber lag, hatte ihren kalten Humpen Bier auf den Rand gestellt und spürte, wie sie sich langsam für Hebba erwärmte. Die freundliche Frau hatte an alles gedacht, und die Magusch fühlte sich mit einem schmerzlichen Sehnen an Nereni erinnert. Sie fragte sich, was Eliizars Frau wohl gerade tun mochte – und ob sie sich über das Überraschungsgeschenk freute, das Aurian bei ihrem Abschied für sie dagelassen hatte.

Als die Magusch mit noch feuchtem Haar aus der Spülküche kam, hatte Hargorn inzwischen seinen Schock überwunden, Forral in einem anderen Körper wiederzutreffen. Er und der Schwertkämpfer waren tief ins Gespräch versunken, und Aurian lächelte bei sich. Die stille, selbstverständliche Freude, die sie an der Gegenwart des anderen hatten, rührte sie.

Forral bückte auf und sah sie. Hargorn stieß ihm heftig mit dem Ellbogen in die Rippen, und er streckte die Arme aus. »Es tut mir leid, Mädchen, daß ich dich so hart verurteilt habe«, sagte er einfach. »Ich konnte einfach nicht klar denken.«

Aurian ging auf ihn zu, aber statt die Arme um ihn zu legen, griff sie nach seinen Händen. Irgendwie konnte sie es kaum ertragen, Anvars Arme um sich zu spüren, wo eine andere Seele aus seinen blauen Augen schaute. »Erinnerst du dich an unsere erste Begegnung vor Jahren, als du mir verboten hast, im Wald mit Feuerbällen zu spielen? Weißt du noch, was ich damals gesagt habe?«

Der Schwertkämpfer grinste. »Und ob ich das weiß, du kleines Biest – du sagtest, es sei ein Notfall gewesen.«

»Nun, das heute war auch ein Notfall. Ich weiß, daß es falsch war – mir fiel nur kein anderer Ausweg ein.«

Forral seufzte. »Ich weiß, Mädchen. Aber gerate nicht in Versuchung, es noch einmal zu tun. Erinnere dich daran, was geschehen ist, als ich dich das nächste Mal dabei erwischte, wie du mit Feuerbällen spieltest.«

»Also wirklich!« schnaubte Aurian. »Da hättest du aber ein hartes Stück Arbeit vor dir, wenn du das noch einmal machen wolltest!« Jetzt, da es ihr leichter ums Herz war, konnte sie ihn plötzlich doch umarmen. Es hatte eine Weile gedauert, aber langsam war sie froh darüber, Forral zurückzuhaben, obwohl sie Anvar immer noch unendlich vermißte. Seine Abwesenheit war ein ständiger Schmerz für sie, ein Schmerz, für den es keine Linderung gab und der erst von ihr abfallen würde, wenn sie ihn wieder in die Arme nehmen konnte. Wenn nur Forral bleiben könnte, ohne Anvar zu opfern, dachte Aurian mit einem Seufzen. Es mußte doch einen Ausweg aus diesem Dilemma geben – aber ich will verflucht sein, wenn ich wüßte, wie der aussehen könnte.

»Hör mal zu, Grince …« Jarvas’ häßliches Gesicht legte sich in tiefe Falten. »Ich möchte unter vier Augen mit dir reden, solange die anderen abgelenkt sind.«

Grince wurde flau im Magen. Obwohl Jarvas im Grunde ein sanftmütiger Mensch war, hatte er doch ein ungewisses Temperament und eine kompromißlose Art, die Welt zu betrachten. Der Dieb fragte sich, ob seine Eskapade in der vergangenen Nacht den großen Mann wohl sehr aufgeregt hatte, und ob er heute abend mit noch mehr blauen Hecken, als er ohnehin schon hatte, nach Hause gehen würde.

Jarvas faßte den Dieb am Ellbogen und zog ihn in eine stille Ecke. »Grince – ich kenne dich, seit du ein kleiner Junge bist, und ehrlich, es ist langsam Zeit, daß du dich zusammenreißt.« Jarvas runzelte die Stirn, und sein häßliches Gesicht war vor Sorge gefurcht. »Ich mache dir keinen Vorwurf«, fuhr er fort. »Jeder hier weiß, was für ein elender Bastard Lord Pendral ist. Mir ist auch klar, was er dir angetan hat, und ich verstehe, warum du auf Rache sinnst. Aber begreifst du nicht, was du getan hast? Pendral läßt seine Truppe bewaffneter Schläger die Stadt nach dem Juwelendieb durchkämmen, und selbst wenn du die Juwelen jetzt zurückgibst, würde das keinen Unterschied mehr machen. Er wird keine Ruhe geben, bis er dich aufgespürt hat – und früher oder später wird er dich wohl bekommen. Du hast dich in tödliche Gefahr gebracht, Junge. Ich fürchte, du wirst für eine Weile verschwinden müssen – und zwar schnell.«

Grince starrte Jarvas entsetzt an. So sehr war er auf seine Rache versessen, daß er niemals wirklich über die Konsequenzen seiner Tat nachgedacht hatte. Was für ein Narr er gewesen war! Wenn Pendral etwas über seinen Aufenthaltsort erfuhr, hatte er sich gestern nacht sein eigenes Grab gegraben.

Jarvas legte dem jungen Dieb eine große, schwielige Hand auf die Schultern. »Keine Bange«, sagte er freundlich. »Wir holen dich da schon raus. Pendrals Männer werden nicht hierher kommen, daher bist du für den Augenblick in Sicherheit …«

»Ich kann jemanden damit beauftragen, ihn aus Nexis herauszuschmuggeln«, warf Hargorn ein. Er wandte sich an die anderen. »Und so leid es mir tut, euch so bald wieder verlieren zu müssen, glaube ich, ihr solltet besser mit Grince gehen. Weder Eliseth noch Miathan sind hier, Aurian – du mußt sie anderswo suchen. Und solange Pendral die Stadt regiert, bist du außerhalb von Nexis besser aufgehoben – bevor du die falsche Art von Aufmerksamkeit auf dich lenkst. Jarvas hat recht – Pendrals Männer werden es nicht allzu eilig haben, diese Schankstube zu durchsuchen – ich zweifle sogar daran, daß sie überhaupt hier suchen werden. Dafür ist ihnen das Einhorn zu wichtig – es ist ihre Zuflucht, wenn sie es in der Kaserne nicht mehr aushalten. Sie werden nicht so leicht das Risiko eingehen, mich vor den Kopf zu stoßen.«

Grince spürte, wie sich die kalte Hand der Furcht um ihn schloß. Der Gedanke, zum ersten Mal in seinem Leben die Stadt verlassen zu müssen, entsetzte ihn. »Aber wo soll ich denn hin?« protestierte er. »Wie soll ich leben?«

Hargorn grinste. »Keine Bange«, sagte er. »Die Nachtfahrer werden sich schon um dich kümmern. Sie können dich mit deinen Talenten sicherlich gut gebrauchen.«

Aurian grinste. »Du hinterhältiger, alter Fuchs! Daher kriegst du also dein Bier und deinen Schnaps, ja?«

Hargorn sah sie gekränkt an. »Aber natürlich! Wofür hältst du mich? Glaubst du, ich wäre dumm genug, diesem Bastard Pendral Steuern zu zahlen? Und was noch wichtiger ist – ich erwarte noch für heute nacht eine Ladung.«

Aurians Herz hatte bei der Erwähnung der Nachtfahrer einen Satz getan. »Hargorn – was ist mit Wolf? Hast du ihn gesehen? Geht es ihm gut?«

Die Miene des Gastwirts verdüsterte sich. »Parric hat mir von Wolf erzählt«, sagte er sanft. »Es tut mir leid, Aurian, Forral. Wolf ist nicht bei den Nachtfahrern, fürchte ich. An dem Tag, an dem du das Tal verlassen hast, sind die Wölfe, die ihn beschützt haben, mit dem Jungen verschwunden. Seither hat sie niemand mehr gesehen.«

Einen Augenblick lang hörte Aurians Herz auf zu schlagen. Es war, als hätte sich die Erde unter ihren Füßen aufgetan. »Nein«, flüsterte sie.

Tränenblind spürte sie, wie Forral nach ihrer Hand griff. »Es wird schon wieder gut, Liebes.« Die Magusch hörte, daß auch seine Stimme beinahe brach. »Wir werden ihn finden, keine Angst. Er ist ein zäher, kleiner Bursche, und du hast ihn sicher durch alle Gefahren geleitet, die sich dir in den Weg gestellt haben, als du ihn unterm Herzen trugst. Du hast nicht soviel durchgemacht, um ihn jetzt zu verlieren.«

»Du begreifst nicht«, rief Aurian weinend. »Seine Zieheltern waren Wölfe aus dem Süden, die hier, in einem fernen Land und ohne ihr Rudel, verloren sind. Sie hatten kein eigenes Territorium und keine anderen Wölfe, die ihnen bei der Aufzucht eines Jungen halfen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die heimischen Wölfe sie töten würden – und Wolf mit ihnen.«

Forral preßte Aurians Hand so kraftvoll, als wolle er ihr die Knochen brechen. »Hör mir zu«, sagte er fest. »Sehr wahrscheinlich ist nicht gewiß, und ich weigere mich zu glauben, daß mein Sohn tot ist, bis die Ereignisse mich eines anderen belehren. Vergiß nicht, mein Liebes – ich habe dich vor vielen Jahren gelehrt, immer das Wichtigste zuerst zu erledigen. Alles andere wird sich dann schon fügen.«

Aurian nickte, ohne ihn anzusehen.

»Nun, genau das werden wir jetzt tun. Zuerst gehen wir den Vorgängen in Nexis auf den Grund, dann werden wir Parric retten. Dann suchen wir Wolf, und danach kümmern wir uns um Eliseth und den Gral. Na, wie hört sich das an?«

Aurian faßte Mut aus seinen Worten. Sie holte tief Luft und lächelte ihn dankbar an. »Wenn du es so ausdrückst, hört es sich nach einem hervorragenden Plan an.«

Forral ließ ihre Hand nicht los. »Es wird alles wieder gut, Liebes«, sagte er mit leiser Stimme. »Du mußt immer daran glauben. Die ganze Zeit, in der ich in der Domäne des Todes geschmachtet habe, habe ich niemals jemanden wie Wolf durch das Tor kommen sehen. Ich bin sicher, daß er noch lebt – und falls er lebt, werden wir ihn finden, selbst wenn wir hinter jedem Grashalm zwischen Nexis und dem Eis des Nordens suchen müssen.«

Trotz ihrer Probleme heiterte das prächtige Mahl, das Hebba zubereitet hatte, die Magusch beträchtlich auf; es gab Suppe, Gänsebraten, Wurzelgemüse und den ersten Frühlingssalat, und das alles wurde mit dem schmackhaften Bier aus Hargorns Fässern heruntergespült. Alle hatten sich um den großen Küchentisch versammelt – bis auf die Katzen, die in der nahen Spülküche kurzen Prozeß mit einem Schwein machten, das der großzügige Hargorn eigens für sie geschlachtet hatte.

Nach den ersten paar Bissen hellte sich auch Hebbas Stimmung auf. Die Frau hatte das Mahl mit angespanntem und wachsamem Schweigen begonnen und Hargorns erschreckende Ansammlung von Gästen mit vielen zweifelhaften Blicken bedacht, aber schon bald strahlte auch sie und errötete unter der Flut von Komplimenten. Aurian widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Essen auf ihrem Teller. Seit Ewigkeiten hatte sie kein ordentliches Mahl mehr zu sich genommen – und etwas, das so gut war, hatte sie seit Königin Rabes Krönungsfest nicht mehr gekostet.

Als Hebba schließlich die leeren Teller wegtrug, füllte Hargorn ihre Humpen erneut mit seinem exzellenten Gebräu. »So«, sagte er. »Wollen doch mal sehen, ob wir euch nicht das eine oder andere beschaffen können – Kleider, Decken und solche Dinge eben. Unterhalten können wir uns dann immer noch auf der Reise.«

»Was?« rief Aurian freudig. »Du kommst mit uns?«

»Nur bis zu den Nachtfahrern«, antwortete er. »Da sind ohnehin einige Leute, die ich besuchen möchte, und ich werde wahrscheinlich Dulsina hierher zurückbegleiten.« Er blickte vielsagend zu Hebba hinüber, die eifrig hin und her lief, und legte sich einen Finger an die Lippen. Mit einem flauen Gefühl im Magen wurde Aurian klar, daß der alte Krieger daran dachte, noch einmal zum Schwert zu greifen. Hargorn hatte nicht die Absicht, ins Einhorn zurückzukehren.

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