27 In der Kammer der Winde

Nachdem Aurian die Höhle verlassen hatte, wurde Shia von Minute zu Minute unruhiger. Zuerst sagte sie sich, daß ihre düstere Laune Kummer über das Rätsel ihres verschwundenen Volkes war – oder vielleicht hatte sie einfach ein Gefühl des Unbehagens beschlichen, weil Aurian mitten in der Nacht mit dem Windauge verschwunden war. Was führte Chiamh im Schilde, daß er versuchte, Aurian in der Dunkelheit zu seinem Türm hinaufzujagen? Er wußte doch ganz genau, welche Angst die Magusch vor Höhen hatte!

»Wenn Aurian sich dort oben verletzt …« Shias langer schwarzer Schwanz zuckte hin und her, und sie stieß ein tiefes, kehliges Knurren aus. Außerstande, auch nur noch einen Augenblick stillzusitzen, erhob sie sich und begann, vor dem Eingang der Höhle mit langen, anmutigen Schritten auf und ab zu gehen. Was war nur los mit ihr? Sie spürte eine unvertraute Anspannung in Rückgrat und Schwanz, und sie schien am ganzen Leib zu brennen, als säße ein prickelnder Juckreiz direkt unter der Oberfläche ihrer Haut.

Bevor sie wußte, wie ihr geschah, lag Shia auf dem Rücken und wälzte sich mit zuckenden Gliedern im Staub. Plötzlich nahm sie einen neuen Geruch wahr – einen kräftigen, berauschenden Duft, der ihr bis dahin nicht aufgefallen war. Als sie aufblickte, sah sie Khanu, der steifbeinig um sie herum stolzierte. Sein Fell hatte sich aufgestellt, und aus seiner Kehle drang ein tiefes, donnergleiches Schnurren. O nein, dachte sie. Ich glaube es einfach nicht! Von allen unmöglichen … Dann überrollte sie eine weitere Woge von Khanus moschusartigem Duft, und ihre Sinne gingen in dem zwanghaften Taumel des Augenblicks unter.

Mit einem verführerischen kleinen Schnurren wälzte die Katze sich weiter auf dem Boden, lockte ihren Verehrer; forderte ihn heraus, den nächsten Schritt zu tun. Mit einem einzigen Satz war er über ihr – und Shia holte mit der rechten Pfote aus. Ihre Krallen landeten einen schmerzhaften Schlag auf seiner Nase. Dann war sie wieder auf den Beinen; ihre Augen flammten, sie umkreiste ihn, fauchte, sah, wie er sich die Nase rieb und verwirrt zurückwich. Aber sie wußte, daß die Verlockung, die von ihr ausging, zu machtvoll war; daß ihr brünstiger Geruch ihn zu ihr zurückzwingen würde …

Mit langen Sätzen entfernte Shia sich von dem Eingang der Höhle und den schlafenden Menschen darin. Das war nicht der Zeitpunkt, um sich in der Nähe der armseligen Zweibeiner aufzuhalten! Khanu setzte ihr nach und holte sie in dem Kiefernhain in der Nähe des Teichs ein. Gerissen, wie sie war, wandte die Katze ihm den Rücken zu; den Kopf und die Vorderpfoten hatte sie fest gegen den Boden gestemmt. Dann sah sie sich verstohlen und aufreizend nach Khanu um, der langsam näher kam; seine Augen leuchteten, spiegelten das Mondlicht wider wie zwei kleinere Monde, die auf die Erde gekommen waren. Genau in dem Augenblick, als Shia ihn in Reichweite wußte, sprang sie mit einem höhnischen Aufjaulen davon und wirbelte zu ihm herum, die Ohren angelegt, das Fell aufgestellt, eine Vorderpfote erhoben, die Krallen ausgestreckt.

Sie zischte – er sprang. Es folgte eine Balgerei: ein Wirbel von Gliedmaßen, die kaum noch als solche zu erkennen waren, so schnell, daß es vorüber war, bevor Shia überhaupt begriff, was geschah. Dann war sie wieder frei – rannte den steilen Hang des Tales hinauf, höher und höher, mit gewaltigen, weiten Sprüngen; Khanu jagte hinter ihr her, bis nur noch eine Krallenlänge die beiden Katzen voneinander trennte.

Gemeinsam schossen sie den Berg hinauf wie ein Wirbelwind, rannten, drehten sich, bissen, wälzten sich und balgten sich – bis Shia Khanu schließlich einmal zu oft herausforderte –, oder vielleicht wurde sie langsam müde und konnte nicht mehr so schnell ausweichen. Sie war hinter einem Felsbrocken in Deckung gegangen und erwartete ihn mit schmachtenden kleinen Seufzern und verführerisch zuckendem Schwanz auf der anderen Seite. Als er den Felsbrocken umrundete, sprang sie auf – aber zu spät. Khanus Gewicht drückte sie zu Boden, und seine Zähne gruben sich sanft, aber entschlossen in die lockere Haut in ihrem Nacken.

Shia heulte auf und holte mit den Krallen aus, aber er drückte sie so geschickt zu Boden, daß sie sich nicht bewegen konnte. Mit einem Aufheulen des Triumphes drang er in sie ein, und sie wappnete sich halb fauchend, halb schnurrend gegen den Ansturm, während er heftig zu stoßen begann. Dann war es vorüber – mit einem einzigen Schwall ergoß er sich in sie und sprang wieder auf. Als sie sich voneinander lösten, durchschoß ein weißglühender Schmerz Shias Organe, und sie stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus, bevor sie sich abermals daranmachte, mit den Krallen auf ihren Gefährten loszugehen.

Einen Augenblick lang standen beide Katzen wütend und zischend da, bis sich plötzlich eine träge Süße ihrer bemächtigte und sie sich ganz allmählich zu entspannen begannen. Kopfschüttelnd und wie betäubt sahen sie sich um, während die Welt um sie herum plötzlich wieder klar wurde. Khanu, dem aus einem zerkratzten Ohr das Blut tropfte, kam schnurrend zu ihr, um den Kopf an ihrem Hals zu reiben, aber Shia versteifte sich plötzlich unter seiner Liebkosung. »Khanu!« rief sie entsetzt. »Hast du gesehen, wo wir sind?«

Khanu sah sich um – und sein Schnurren blieb ihm in der Kehle stecken. »Schnell – wir müssen weg von hier! Schnell!«

Aber er war zu spät. Ihre wilde Jagd hatte die beiden Katzen vollkommen unbemerkt über den Drachenschwanz geführt. Jetzt befanden sie sich auf den verbotenen Hängen des Stahlklaue – und etwas war sich ihrer Anwesenheit bewußt.

Aurian versteifte sich, als sie zum ersten Mal das Heulen hörte, das der Wind wie ein fernes Echo zu ihr herüber wehte. Shia war in Schwierigkeiten. Im ersten Schrecken hatte sie beinahe den Halt verloren, so daß sie nun verzweifelt versuchte, ihr Gleichgewicht auf dem schmalen Felsvorsprung wiederzugewinnen. Als die Gefahr vorüber war, preßte sie sich zitternd, gegen den Stein, und ihr Herz hämmerte so heftig, daß das Blut in ihren Ohren rauschte wie die Brandung des Meeres. Sobald sie sich einigermaßen gefaßt hatte, streckte sie ihre Gedanken nach der großen Katze aus – und traf auf einen solchen Tumult roher, ungezügelter Gefühle, daß sie ihr Bewußtsein hastig zurückriß, als hätte sie sich verbrannt.

»Oho!« Trotz ihrer gefährlichen Position kicherte die Magusch vor Erleichterung wie auch vor Erheiterung. Shias Heulen hatte seinen Ursprung also in der Leidenschaft, nicht in der Gefahr. Bei dem Gedanken an kleine, zottelige, schwarze Kätzchen huschte ein Lächeln über Aurians Züge – obwohl ihr klar war, daß dies ihre Mission noch dringlicher machte. Nur allzugut erinnerte sie sich an ihre eigene schlimme Schwangerschaft in den Bergen, und sie wollte nicht, daß Shia denselben Unbequemlichkeiten und Gefahren ausgesetzt wurde.

Bei der Erinnerung an die Unbequemlichkeit und die Gefahr, in der sie sich selbst gegenwärtig befand, löste Aurian ihre Gedanken jedoch schnell von den Katzen und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die vor ihr liegende Aufgabe. Sie mußte ihr Ziel mittlerweile doch erreicht haben? Aber als sie zu dem hoch über ihr aufragenden Turm hinaufblickte, der nur drei Armeslängen von den Klippen entfernt stand, wurde ihr klar, daß sie noch immer einen beachtlichen Weg vor sich hatte. Voller Bitterkeit dachte sie an ihren letzten Aufenthalt hier oben, als Ibis und Falke Anvar und sie selbst zu dem Turm hinaufgetragen hatten – und sie hatte zugesehen, wie Chiamh mit fliegenden Füßen diesen schmalen Ziegenpfad hinauf gehuscht war, als wäre er die breiteste Straße der Welt. »Wie hat er das nur geschafft?« murmelte Aurian zornig vor sich hin. »Es ist nicht gerecht!« Mit großer Anstrengung gelang es ihr, sich zusammenzureißen. Ich habe jetzt mehr als die Hälfte hinter mir, dachte sie, um sich Mut zu machen. Das ist allein schon eine ziemliche Leistung für eine Magusch mit Höhenangst. Also los, ich werde im Handumdrehen auf dem Gipfel sein!

Aurian nahm ihren ganzen Mut zusammen. In geduckter Haltung kroch sie den schmalen, steilen Felsvorsprung hinauf, da sie es nicht wagte, sich aufzurichten. Ihre Knie bekamen Schürfwunden und Schnitte ab, und ihre Hände waren zerkratzt und blutig. Trotz der kalten Nachtluft war sie schweißnaß von Angst und Anstrengung, und der Schweiß sickerte in ihre Augen und brannte so furchtbar, daß sie kaum noch etwas sehen konnte. Um ihr Unbehagen noch zu vergrößern, stach ihr der Erdenstab bei jedem Schritt in die Rippen: eine schmerzhafte und gefährliche Ablenkung, wo sie doch ihre ganze Aufmerksamkeit für den Weg brauchte.

Zwischen dem Kliff und dem Turm klaffte ein Abgrund, so dunkel, so tief und so schmal, daß Aurian nicht einmal mit ihrer Maguschsicht bis auf den Grund schauen konnte. In gewisser Weise war es nur gut, daß sie nicht sehen konnte, wie tief sie fallen würde; andererseits hatte da, wo ihr Augenlicht endete, ihre Phantasie die unerfreuliche Neigung, das Kommando zu übernehmen. Außerdem lagen weite Teile des Felsvorsprungs ebenfalls in den tiefen, trügerischen Schatten, so daß Aurian sich zitternd millimeterweise weiterschieben mußte, bis sie aus der Gefahrenzone heraus war.

Aurian blickte stur auf den schmalen Pfad direkt vor ihren blutenden Händen, biß die Zähne zusammen, kroch immer weiter und versuchte, nur ja nicht innezuhalten. Jedes Mal, wenn sie gezwungen war stehenzubleiben, fiel es ihr anschließend noch schwerer, sich wieder in Bewegung zu setzen …

»Geh weiter, Aurian – du bist fast da.« Die leise Stimme des Windauges kam aus dem Nichts.

Die Magusch hob den Kopf und schüttelte sich das schweißnasse Haar aus den Augen. Direkt hinter ihrer rechten Hand befand sich ein verheddertes Netz aus dünnen Seilen, das sich über den Abgrund erstreckte; es war mit rostigen, tief in das Gestein getriebenen Eisennägeln am Gestein befestigt. Da der Turm sich nach oben hin verjüngte, hatte sich der Abstand zwischen ihm und dem Felsen mittlerweile verbreitert, und die Entfernung betrug nun ungefähr fünf Meter.

Aurian hatte schon vorher gespürt, daß ihr Mund sehr trocken war. Jetzt war ihre Kehle vollkommen ausgedörrt, während ihr Geist sich weigerte, die Möglichkeit, den Abgrund mit Hilfe dieser dürftigen Taue zu überqueren, auch nur in Betracht zu ziehen.

»Wirklich«, drängte das Windauge sie sanft, »es ist gar nicht so schwierig, wie es aussieht. Du stellst bloß deine Füße auf die unteren Seile, hältst dich an den oberen Tauen fest und schiebst dich ganz langsam weiter. Es ist praktisch unmöglich abzustürzen.«

Chiamh konnte von Glück sagen, daß Aurian in diesem Augenblick der Sprache nicht mehr mächtig war, aber er war doch nicht so weit entfernt, daß Aurian ihm nicht mit Hilfe der Gedankenrede das Bild einer extrem obszönen Geste hätte zusenden können.

Chiamh kicherte hinterhältig. »Das kannst du nicht in die Tat umsetzen, ohne hierherzukommen.«

»Und denk dran, Zauberin«, erklang nun auch Basileus’ Stimme, »wenn du nicht gehst, hast du nur eine Alternative: Du mußt über den Pfad wieder hinunterklettern – in deinem fall heißt das wahrscheinlich, daß du den ganzen Weg rückwärts zurücklegen müßtest.«

Aurian, die im Geiste alle beide verfluchte, holte tief Luft, kniete sich hin und griff nach den oberen Tauen über ihrem Kopf. Dann umklammerte sie sie so fest, daß ihre Hände wie Knoten aus Knochen waren, und benutzte sie, um sich auf die Füße zu ziehen. Anschließend schob sie die Füße mit äußerster Vorsicht Zentimeter um Zentimeter über die unteren Taue.

Wo die provisorische Brücke sich vom Felsen löste, sackte das Seil plötzlich unter dem Gewicht der Magusch zusammen. Aurian kreischte vor Entsetzen laut auf und klammerte sich an die oberen Taue. Der Magen schoß ihr in die Kehle, und sie biß sich auf die Zunge. Der Rest des Wegs lag in undurchdringlichem Nebel vor ihr. Aber in ihr Überlebensinstinkt schien Aurians bewußtem Denken das Kommando abzunehmen, und dieser Instinkt befand, daß sie den Abgrund so schnell wie möglich überwinden sollte. Sie erinnerte sich an ein hastiges, schlingerndes Taumeln, dem ein schrecklicher Augenblick erstarrten Entsetzens folgte, als sie beinahe ausrutschte – und dann streckte Chiamh die Hände nach ihr aus und zog sie auf sicheren Grund. Einen Augenblick später spürte sie seine Arme um ihren Leib, und sie fielen beide zusammen auf den festen Boden der Kammer der Winde. Es dauerte lange, bis das Zittern aus Aurians Gliedern wich. Ihr Geist hatte Mühe, das Entsetzen abzuschütteln, aber nach einer Weile dämmerte ihr langsam, daß sie nun in Sicherheit war.

»Gut gemacht, Zauberin«, dröhnte die Stimme von Basileus durch ihre Gedanken. »Du hast deine Furcht bezwungen, und du hast dich tapfer und des Stabes würdig erwiesen. Jetzt mußt du eine letzte, dunkle Reise bestehen, um sowohl seine Macht als auch deinen Glauben an dich selbst wiederherzustellen.«

Aurian setzte sich auf und schob sich in die Mitte der Kammer der Winde, so weit wie möglich von den klaffenden Abgründen entfernt, die sie zu allen vier Seiten umgaben. Dann zog sie den leblosen Stab aus ihrem Gürtel, legte ihn sich quer über den Schoß und ließ die Hände über das glänzende, gewundene Holz gleiten. »Aber wie soll ich das zuwege bringen?« fragte sie.

»Verlasse deinen Körper, Zauberin. Reite mit dem Windauge die Winde und sieh, was du finden wirst.«

Obwohl die Magusch keine Ahnung hatte, wie ihr das weiterhelfen sollte, war sie doch bereit, es wenigstens zu versuchen. Sie sah Chiamh an.

»Ich bin bereit, das Risiko einzugehen, wenn du es auch bist«, sagte er zu ihr, und seine braunen Augen blitzten.

»Na gut, Chiamh – ich vertraue dir.« Dann umfaßte sie den Stab mit einer Hand und hielt sich mit der anderen an dem Windauge fest. Als seine Augen sich mit einer leuchtenden Silberschicht bezogen, atmete Aurian tief durch, entspannte sich und ließ ihre Gedanken schweifen …

Und plötzlich war sie außerhalb ihres Körpers und frei, driftete wie Nebel über ihrer äußeren Hülle und sah sich in der durchscheinenden, kristallinen Struktur der Kammer der Winde um, die anscheinend gleichzeitig der Körper von Basileus war. Die Kammer verströmte ein warmes Leuchten wie Sonnenlicht, das durch die Blätter einer Rose fiel. Körperlos ließ die Magusch sich kreisen, bis sie Chiamh erblickte, der in Gestalt eines goldenen Lichtwirbels über seiner sterblichen Hülle schwebte. »Ihr beide seid wunderschön so«, sagte sie zu ihnen.

»Genau wie du, meine Freundin«, entgegnete Chiamh. »Du siehst aus wie ein Juwelenstrom aus der Edelsteinwüste oder wie Nebelschwaden im Sonnenlicht.«

»Statt da herumzuwehen und einander zu bewundern, solltet ihr euch besser ein wenig beeilen«, unterbrach Basileus sie. »Ich dachte, ihr wäret hier, um den Stab zu heilen?« Trotz der Schärfe seiner Worte war seine Stimme wie das langsame, weiche Fließen von Honig.

Aurian sah das Windauge an, und ein Funke der Erheiterung sprang über seiner glänzenden, goldenen Oberfläche auf. »Schon gut, Basileus«, sagte er. Dann streckte er Aurian einen langen, schillernden Fühler entgegen. »Komm, Magusch.«

Aurian antwortete mit einer schimmernden Strähne ihres eigenen Lichts. Die beiden glitzernden Gliedmaßen trafen sich in einem Aufblitzen warmen Leuchtens, und Aurian spürte, wie eine Woge der Freude in ihr pulsierte; ihr eigener Jubel mischte sich mit dem des Windauges, um das Gefühl um ein Vielfaches zu steigern. Chiamh griff mit einem anderen Lichtstrahl seines Wesens nach einem Luftzug, der an ihnen vorbeistrich, und eine Sekunde später stießen sie beide sich von dem Turm ab wie zwei leuchtende Blätter, die von einem Strom aus Licht in die Höhe getragen wurden.

Sie kamen schnell voran, und ihr Ziel war der höchste Gipfel des Windschleiers. Die Magusch entspannte sich und ließ sich von dem Windauge führen, vertraute einfach darauf, daß er und Basileus wußten, was sie taten. Als sie sich dem Gipfel näherten, stellte Aurian zu ihrem Erschrecken fest, daß sie nicht mehr allein waren. Vor sich und Chiamh sah sie die Zwillingsschlangen des Stabes durch die Luft schwimmen, als wollten sie ihnen den Weg weisen; die Schlange der Macht und die Schlange der Weisheit bewegten sich so mühelos durch die Luft, wie sie sich durch die geheimnisvollen Wasser des Brunnens der Seelen bewegt hatten. Erst da wurde Aurian klar, daß sie den Stab der Erde nicht länger in Händen hielt, weder in seiner weltlichen Gestalt noch in seiner körperlosen Wesenheit. Angst und Entsetzen durchfluteten sie, so daß sie sich angstvoll an den leuchtenden Schwaden klammerte, mit dem das Windauge sie umfaßt hielt. Augenblicklich verlangsamte Chiamh sein Tempo, obwohl er sie nach wie vor auf dem Ruß aus Luft weitertrug. »Stimmt irgend etwas nicht?«

»Der Stab«, rief Aurian, »ich habe den Stab verloren!« Wieder schimmerte dieses belustigte Funkeln über dem wirbelnden goldenen Nebel auf, der das Windauge war. »Keine Bange – natürlich hast du ihn nicht verloren. Du bist hier, um den Stab zu heilen und zurückzufordern, vergiß das nicht – das heißt, daß du ihn noch einmal ganz von neuem erschaffen mußt.« Aurian sah ihn zweifelnd an. »Aber ich …«

»Komm schon«, sagte Chiamh. »Du machst das ganz hervorragend.« Aurian bemerkte, daß sie geradewegs auf ein dunkles Loch zusteuerten; ein klaffendes, schwarzes Maul, das in den Gipfel des Berges eingelassen war. Instinktiv versuchte die Magusch, die Augen zu schließen, aber in diesem körperlosen Zustand war das unmöglich. Eine Sekunde später schien das gewaltige Maul auf sie zuzuspringen, als wolle es sie verschlingen, und genau in diesem Augenblick verschwand das Windauge plötzlich. Die Magusch war umgeben von einem Kokon aus dichter Dunkelheit, und sie war vollkommen allein.

Aurian hielt inne – oder glaubte es jedenfalls zu tun. Jetzt, da all ihre Sinne seltsam gedämpft waren, Heß sich das unmöglich feststellen. Die Schwärze stürmte auf sie ein; war wie ein erstickendes Gewicht, das sie lähmte und gefangenhielt, als wäre sie unter einer dicken, schwarzen Lehmschicht lebendig begraben. Obwohl die Magusch versuchte, ruhig zu bleiben, regte sich langsam das Entsetzen in ihr. Es gab keinen Ausweg – sie konnte weder sehen noch sich wehren oder um Hilfe rufen. Ist meinem Körper irgend etwas zugestoßen? dachte sie mit zunehmender Panik. Ist so der Tod? Aber sie hatte sich schon früher in das Reich des Todes gewagt und wußte, daß es ganz anders war als dieses Gefühl. Die Verachtung für ihre eigene maßlose Torheit gab ihr mehr Kraft, als alles andere es vermocht hätte. Denk dran, mahnte sie sich mit kalter Entschlossenheit, dies war von Anfang an als schwere Prüfung gedacht. Es ist ein Test, eine Herausforderung; also hör auf, dich so blödsinnig zu benehmen, und stelle dich deinen Aufgaben, Zuerst schien es unmöglich zu sein, die tiefe Schwärze, die sie umfangen hielt, zu erhellen – bis Aurian plötzlich an Chiamh denken mußte. Wo war das Windauge jetzt? Was war aus ihm geworden? Dann aber kamen ihr wieder die Worte in den Sinn, die Chiamh in der Kammer der Winde zu ihr gesprochen hatte: »Du siehst aus wie ein Strom aus Juwelen aus der Edelsteinwüste oder wie Nebel im Sonnenlicht.« Natürlich! dachte die Magusch. Ich kann mich selbst benutzen! Sie dachte an ihre funkelnde, durchscheinende Gestalt, wie das Windauge sie gesehen haben mußte, und ließ all ihre Energie in dieses Bild strömen, versuchte, es deutlicher und heller zu machen.

Nach und nach schienen die schwarzen Gefühle des Elends und der Angst, die die Magusch niedergedrückt hatten, ein wenig in den Hintergrund zu treten. Nach einer Weile erschien ihr auch die körperliche Dunkelheit weniger intensiv. Konnte das funktionieren? Aurian konzentrierte sich auf ihre körperlose Gestalt und rief sich abermals Chiamhs Worte ins Gedächtnis. Sie dachte an das vielfarbige Leuchten der Juwelenwüste; an das Glitzern weißer Brandung; an Sonnenlicht, das sich auf dem Ozean spiegelte; an Sterne in einer frostklaren Nacht; an Mondlicht auf einem Feld jungfräulichen Schnees.

Ja – es funktionierte tatsächlich! Die Entschlossenheit, mit der Aurian das Licht heraufbeschwor, schlug die Dunkelheit ganz allmählich in die Flucht. Sie konnte förmlich sehen, wie die Dunkelheit zurückwich: wie sie vor ihrer strahlenden Gestalt zurückschreckte.

Dann war die Dunkelheit plötzlich vollends vertrieben – und Aurian schrie vor Schmerz auf, als sie von Speeren und Splittern aus schillerndem und in verschiedenen Grüntönen funkelndem Licht wieder und wieder durchbohrt wurde. Es war ihr unmöglich, die Augen zu schließen – und es gab auch keine Möglichkeit, den scharfen Lichtstrahlen zu entrinnen, die sie wie tausend Schwerter durchbohrten. Erst als sie langsam wieder zu Verstand kam und ihr eigenes Leuchten dämpfte, wurde das Licht weicher und wirbelte dann wie glitzernde, grüne Schneeflocken um sie herum.

Endlich konnte die Magusch sich so sehen, wie Chiamh sie gesehen hatte – aber in der Gestalt von Myriaden grüner Lichtreflexe, die sich bis in eine schwindelerregende Unendlichkeit erstreckten. Als es ihr schließlich gelang, die vielen einander widerstreitenden, aufgesplitterten Reflexe zu durchschauen, stellte sie fest, daß sie in einem gewaltigen, hohlen Edelstein zu schweben schien. Und all dieses Grün … Es war, als wäre sie in dem Kristall gefangen, der die Macht des Erdenstabes barg – oder betrachtete sie die Szene durch das unheimliche Medium der Andersicht, und war dieser Ort in Wirklichkeit ein ganz anderer?

Am Rande ihres Gesichtsfeldes schoß plötzlich ein scharlachroter Blitz auf. Aurian fuhr herum und zog einen sonnengleichen, feurigen Komentenschweif hinter sich her. Dann sah die Magusch die rotsilberne Schlange der Macht auf sich zu kommen; das Tier schwamm mit zügiger Behendigkeit durch die schimmernde, grüne Leere. Von der anderen Seite näherte sich auch die Schlange der Weisheit, deren grüngoldene Spuren viel schwerer zu erkennen waren, da sie sich so nahtlos in den smaragdfarbenen Hintergrund einfügten. Aurians Herz machte einen Satz, als sie die beiden Schlangen sah. Zumindest hatte sie sie nicht in der Dunkelheit verloren!

Noch während sie sich fragte, warum die beiden Schlangen sich ihr näherten, schlugen sie zu und senkten ihre Fangzähne in das glitzernde, amorphe Plasma, das die Magusch war. Feuerströme jagten durch Aurians wehende Gliedmaßen bis in den innersten Kern ihres Wesens. Sie schrie, schrill und stimmlos, als die Qual sie in unendlichen Spiralen durchschoß. Wieder und wieder bissen die Schlangen zu, rammten ihre mit scharfen Zähnen bewehrten Kiefer in Aurians substanzlose Gestalt und rissen mit ihren Mäulern gewaltige Bissen von ihr ab wie Nebelfetzen aus einer glitzernden Wolke.

Tief in einem anderen Berg wurde der Erzmagusch aus unruhigen Träumen geweckt.

»Eindringlinge! Wir werden angegriffen!«

»Verdammt! Was ist bloß los mit dir, Ghabal?« murmelte Miathan gereizt.

»Wach auf! Wach auf! Wir werden belagert!«

Nicht schon wieder! Der Erzmagusch fluchte leise. In letzter Zeit hatte Ghabals Wahnsinn diese Gestalt angenommen – jedes Mal, wenn ein Vogel über sie hinwegflog oder eine Brise über seine steinernen Flanken strich, witterte der Moldan sogleich Eindringlinge. »Na komm schon – wer sollte dich angreifen?« beruhigte er das Elementarwesen. »Die Xandim? Das ist doch Unfug. Sie würden es nicht wagen. Was willst du – seit die Katzen verschwunden sind, hat sich niemand außer mir näher an dich herangewagt als bis zum Feld der Steine.«

»Eindringlinge! Sie haben einen Fuß auf mein Fleisch gesetzt! Sie haben mich berührt!«

Miathan seufzte. »Na schön – ich sehe mal nach. Bist du dann zufrieden? Also, wo sind deine sogenannten Eindringlinge?«

»Auf meiner westlichen Seite – sie müssen über den Drachenschwanz gekommen sein.«

»Na schön.« Der Erzmagusch griff in ein aus der Höhlenwand herausgehauenes Regal neben seinem Bett und nahm vorsichtig und mit beiden Händen eine große Silberschatulle herunter. Dann warf er den Deckel zurück, griff hinein und holte einen schwarzen Edelstein heraus, der fast so groß war wie sein eigener Kopf. Der Stein wies keinerlei Facetten auf, wie eine schwarze Perle – nur daß er nicht den weichen Schein einer Perle besaß. Statt das Licht widerzuspiegeln, schien der Edelstein es zu absorbieren – ja tatsächlich, als der Magusch ihn aus der Schatulle zog, schien der Raum sich zu verdunkeln, als würden ausschwärmende Schatten über die Wände und aus den Ecken kriechen.

»Mußt du diesen verfluchten Stein benutzen?« fragte der Moldan scharf. »Er ist böse, voller unruhiger Geister.«

»Rede keinen Unsinn!« fuhr Miathan auf. Die kalten Juwelen – seine Augen – versprühten ein gieriges Licht, während seine knochigen Hände die weiche Oberfläche des Steins liebkosten. »Dies ist meine Schöpfung, mein kostbarster Schatz«, sagte er sanft. »Und dieser Schatz wird auch meine Rache sein!«

Vor langer Zeit hatte Miathan einen Entschluß gefaßt. Da er kein eigenes Artefakt besaß und wohl auch keine Chance hatte, eines zu erlangen, gab es nur eine Lösung – er mußte versuchen, eins zu erschaffen.

In all den zehn Jahren, die Miathan hier gewesen war, hatte seine Niederlage durch Eliseth in ihm gegärt. Obwohl es ihr bisher nicht gelungen war, seinen Aufenthaltsort zu entdecken, würde er keine Ruhe finden, solange sie frei durch die Welt streifte. Unglücklicherweise mangelte es ihm, da Eliseth immer noch den gestohlenen Kessel der Wiedergeburt besaß, an der ausreichenden magischen Kraft, sie zu besiegen, aber das würde sich bald ändern.

Dieser kühne Plan fand den ungeteilten Beifall des Moldans. »Sobald wir über solche Macht gebieten, wird die Welt vor uns auf die Knie fallen!« hatte Ghabal frohlockt.

Miathan wollte ihm seine Illusionen nicht rauben – er brauchte Ghabals Hilfe bei den Kristallen, und er konnte sich die Erfahrung des Moldans bei der Speicherung von Energie in den Gitternetzen des Steins zunutze machen. Er experimentierte jetzt schon seit einigen Jahren und hatte schließlich die perfekte Methode entdeckt, wie sich die gesammelten Lebensenergien seiner Menschenopfer in diesem glatten Kristall speichern ließen. Bisher war er jedoch bei dem wichtigsten Faktor immer gescheitert: dem eigentlichen Charakter und der Intelligenz, dem Empfindungsvermögen, das alle ursprünglichen Artefakte besaßen – zumindest dachte er das. Der Moldan war da anderer Meinung. Er hatte eine starke Abneigung gegen den Stein gefaßt, die beinahe an Hysterie grenzte. Ghabal beharrte darauf, daß das Juwel von seiner Natur her böse war und erfüllt von den rachsüchtigen Geistern der Toten.

Blühender Unsinn! dachte Miathan. Den Kristall an die Brust gepreßt, legte der Erzmagusch sich wieder auf sein Lager und dankte im stillen den Xandim dafür, daß sie ihm stets duftendes Heu und Kräuter aus dem Tiefland herbeischafften, um den kalten Stein erträglicher zu machen. Über dem Heu lagen mit Federn und Vlies ausgepolsterte Behältnisse, die ihm als Matratzen dienten. Hinzu kamen Wolldecken in leuchtenden Farben und ein großzügiger Stapel Schafsfelle und Pelze, zu denen auch die schweren Felle einiger großer Katzen gehörten, die den Berg nicht rechtzeitig verlassen hatten. Insgesamt gar keine so schlechte Sache, ein Gott zu sein, ging es ihm durch den Sinn. Er mochte zwar in dieser elenden Berghütte festsitzen, aber zumindest bekam er von allem nur das Beste, auch wenn es um Essen und Wein ging. Die regelmäßigen Opfergaben, die ihm die Xandim brachten, konnten all seine Bedürfnisse stillen – bis auf eins. Rache.

»Hast du die Absicht, irgendwann im Lauf des Jahres noch einen Blick auf die Eindringlinge zu werfen?« Ghabals schneidende Stimme erinnerte den Erzmagusch an die Aufgabe, der er sich noch zu entledigen hatte, bevor er sich abermals in Gedanken verlieren durfte.

»Schon gut, schon gut«, fuhr Miathan auf. »Ich mach ja schon.«

Der Erzmagusch lehnte sich zurück und deckte sich sorgfältig mit einigen Pelzen zu. Dieser Tage konnte sein alter Körper es sich einfach nicht mehr leisten, zuviel Wärme zu verlieren, während er fort war. Als er sich bequem niedergelegt hatte, schloß er die Augen und entspannte sich, bis er das Innere der Höhle durch geschlossene Lider sehen konnte. Jetzt, da seine innere Gestalt sich von ihrer Hülle getrennt hatte, erhob er sich sanft über seinen abgestreiften Körper und bahnte sich schwerelos einen Weg durch die Höhlenwand und hinein in die dicken, dunklen Gesteinsschichten dahinter.

Als er auf dem verwüsteten Gipfel Stahlklaues wieder zum Vorschein kam, richtete Miathan sich nach Westen und glitt über den Drachenschwanz, wo er jäh verharrte. Zu seinem maßlosen Erstaunen hatte der Moldan ausnahmsweise einmal recht gehabt. Weit unter ihm, auf dem Berghang über dem Felsvorsprung, entdeckte er zwei der vertrauten schwarzen Gestalten, die er seit geraumer Zeit nicht mehr zu sehen bekommen hatte. Nun denn! dachte Miathan. So waren zumindest zwei der Katzen zum Stahlklaueberg zurückgekehrt. Was für ein überaus glücklicher Zufall – er konnte ein paar neue Felle gut gebrauchen. Angesichts des unerwarteten Erscheinens der Katzen fragte der Erzmagusch sich, ob vielleicht noch mehr dieser Geschöpfe auf dem Berg herumstreiften. Eine Katzenjagd war vielleicht eine günstige Gelegenheit, die Macht seines neuen Artefakts zu erproben – und wenn ihm dies nicht gelang, würde er zumindest ein wenig Spaß haben. Miathan, der bis auf seinen wahnsinnigen Gefährten vollkommen allein hier oben lebte, hatte nur höchst selten die Gelegenheit, sich zu amüsieren. Vermutlich waren die Tiere vom Windschleier herübergekommen, daher wandte Miathan sich in diese Richtung, so daß sein Weg ihn auch in die Nähe der Xandimfestung führen würde.

Als er das Hochtal mit den Hügelgräbern der Xandim entdeckte, erbückte der Erzmagusch zu seinem Erstaunen jenes seltsame Leuchten, das auf Lebewesen schließen ließ – und zwar hoch oben auf diesem seltsamen Turm, der am vorderen Ende des Tales stand. Was um alles in der Welt geht da vor? dachte er. Dieser Ort ist doch tabu für die Xandim? Sein Argwohn war geweckt, und er schlich näher an den Turm heran; vorsichtshalber sorgte er dafür, daß seine Gedanken leise waren, nicht mehr als ein formloses Murmeln, damit seine Ankunft unentdeckt blieb.

Als Miathan näher kam, konnte er zwei Gestalten auf dem luftigen Ausguck sehen, der die Spitze des Turmes bildete. Einer war ein Xandim, wie er bald entdeckte. Er schien über den anderen zu wachen, der reglos und offensichtlich tief in Trance versunken auf dem kalten Stein lag. In Trance? Ein Beben der Furcht, in das sich eine seltsame, erwartungsvolle Erregung mischte, durchlief den Erzmagusch. Die Xandim besaßen solch magische Kräfte nicht! Dann war Miathan schließlich nahe genug, um die Gestalt zu erkennen. Aurian? Er hatte die Absicht, in seinen Körper zurückzukehren, aber der Schock, sie dort zu sehen, war von solcher Heftigkeit, daß er niemals dort ankam.

Stück um Stück zerfetzten die Schlangen Aurians innere Gestalt, ohne sich um ihre Gegenwehr zu scheren. Die Magusch schlug um sich und verteidigte sich, aber es gab kein Entrinnen, weder vor ihren Angreifern noch vor den Qualen, die sie ihr zufügten, als sie sie in Stücke rissen. Ganz allmählich stellte Aurian fest, daß ihr Bewußtsein fortdriftete und verblaßte, während ihre Erinnerungen eine nach der anderen weggerissen wurden, zusammen mit jedem Fetzchen ihres Stolzes, ihrer Sturheit und ihrer Aufsässigkeit – mit allen guten Dingen und allen schlechten. Irgendwie verlor die Magusch jedoch nie vollends das Bewußtsein. Ganz gleich, was ihr genommen wurde, immer hielt sie an einem letzten tiefen Funken der Bewußtheit fest – und deshalb wußte sie auch, wann die Schlangen endlich den Kern ihres Wesens erreicht hatten. Wie aus gewaltiger Ferne beobachtete sie, losgelöst jetzt und in Frieden mit sich, wie die Schlangen die letzten Überreste ihres alten Selbst verzehrten – um im Zentrum ihres Wesens einen blitzenden, grünen Kristall zu entblößen, groß genug, um sich in ihre Hand schmiegen zu können.

Dann bildeten die beiden Schlangen einen Kreis; sie hatten die Schwänze ineinander geschlungen und ihre beiden Kiefer um den Edelstem gelegt. Einen Augenblick später begannen sie sich zu drehen, schufen einen magischen Wirbel, dessen Kern genau in der Mitte der sphärischen Kammer lag, innerhalb des Rings, den ihre Körper bildeten. Stück um Stück fügten sich die Fetzen von Aurians körperloser Gestalt, die durch die Kammer geweht waren, zusammen und verschmolzen wieder miteinander – bis die Magusch plötzlich wieder ganz und heil war, funkelnd und neugeboren und wunderschön – erneuert und neu geschaffen von den Schlangen der Hohen Magie, die Aurians leuchtende Gestalt noch immer wie ein Diadem umfangen hielten; in ihren Kiefern hielten sie den Kristall des Stabes.

»Sehr beeindruckend, meine Liebe.« Bei dem Klang der trockenen, sardonischen Stimme fuhr Aurian herum. Dort stand in der Gestalt einer brodelnden schwarzen Wolke, die mit Blitzen aus blutrotem Licht durchschossen war, der Erzmagusch Miathan.

Nachdem er die Magusch ihrem Schicksal überlassen hatte, kehrte Chiamh in die Kammer der Winde zurück, wo er in seine körperliche Gestalt zurückglitt. Und obwohl sein eigener Leib unter der bitteren Kälte der Nacht zitterte, zog er sich den Umhang aus und legte ihn über die reglose, bleiche Gestalt Aurians. »Ich fühle mich furchtbar«, sagte er zu Basileus. »Ich kann einfach nicht glauben, daß du mich dazu überreden konntest. Arme Aurian! Sie wird schrecklich leiden. Vielleicht sollte ich doch noch mal zurückgehen und sehen …«

»Nein, Windauge! Dies ist eine Prüfung, der Aurian sich allein stellen muß.«

»Aber …«

»Möchtest du, daß sie scheitert? Denn genau das wird geschehen, wenn du zu ihr zurückkehrst und dich einmischst. Und du würdest dich einmischen, mein Freund. Wenn du die Grausamkeit ihres Leidens erst gesehen hast, könntest du gar nicht mehr dagegen an. Laß es sein«, fügte Basileus mit freundlicher Stimme hinzu. »Solange sie den Mut und die Kraft hat und ihre Ziele rein und ehrlich sind, wird sie überleben und im Triumph aus diesem Martyrium hervorgehen.«

Widerstrebend beugte Chiamh sich der Weisheit des Moldans – aber er konnte die arme Magusch unmöglich ihrem Schicksal überlassen, ohne nicht zumindest im Geiste bei ihr zu sein – und eine Möglichkeit, dies zu tun, besaß er wenigstens. Als die vertraute, schmelzende Kälte seiner Andersicht sich über seinen Körper legte, nahm er einen silbrigen Windfaden zwischen Daumen und Zeigefinger und begann ihn zu dehnen und zu formen, bis er einen glänzenden Spiegel in Händen hielt. Dann erweckte er die Scheibe mit seiner Andersicht zum Leben, konzentrierte seinen Geist auf Aurian und spähte in die Tiefen.

Das Windauge schrie vor Entsetzen und Zorn auf. »Das hast du mir aber nicht gesagt! Du sagtest, sie könne den Stab neu schaffen. Statt dessen tötet er sie!« So tief ging Chiamhs Unglück, daß er die Kontrolle über den Spiegel verlor und er sich zwischen seinen Fingern zu formlosem Nebel auflöste.

»Geduld, Windauge. Hoffen wir, daß Aurian obsiegen wird. Statt daß die Magusch den Stab neu erschaß, erschafft der Stab sie neu. Ich habe dich gewarnt – du hattest nicht hinsehen sollen.«

Chiamh, der so außer sich war, daß er keinen neuen Spiegel schaffen konnte, setzte sich neben den reglosen Leib der Magusch und strich ihr das zerzauste Haar aus der Stirn. Was habe ich getan, dachte er verzweifelt. Was habe ich getan? Dann stockte dem Windauge plötzlich der Atem. Unter dem Umhang leuchtete, hell genug, um sogar den dicken, gewobenen Stoff zu durchdringen, ein funkelndes, grünes Licht auf, das zuerst noch hell und unstet war und dann kräftig und ruhig wurde.

»Gedankt sei der Göttin …« Chiamh schob den Umhang sanft beiseite. Dort lag, fest an die Brust der Magusch gepreßt, der Stab der Erde – und der große grüne Stein zwischen den Kiefern der Schlangen funkelte heller denn je.

Das Windauge vergaß zu atmen und beugte sich vor; Aurian müßte jetzt jederzeit die Augen öffnen und zu ihm zurückkehren. Er wartete und wartete – aber nichts geschah. Die Magusch regte sich nicht, und ihr bleiches Gesicht hätte aus Stein gemeißelt sein können.

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